Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Wie denkt man einen Denkakt?

Bemerkungen zu Lindenbergs Kritik an Witzenmanns Denken des Denkaktes

Teil IV

(Stand 13.03.05)

VIII.

Schauen wir uns jetzt einmal die oben zitierte Passage Witzenmanns in ihrer überarbeiteten Fassung von 1977 an. Wir werden sehen, daß er manches ändert und präzisiert, aber im Kern dieselbe Haltung einnimmt wie fast dreißig Jahre zuvor. Nach wie vor ringt er mit dem Problem der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens und zieht sich schließlich auf eine rein formale Position des Denkakt-Denkens zurück.

Witzenmann schreibt in seinem Aufsatz Intuition und Beobachtung im ersten Band des gleichnamigen Doppelbandes (Herbert Witzenmann, In­tuition und Beobachtung, Bd. 1, Stuttgart 1977, S. 79f): "Der Denkakt ist als ein mittelbar bewußtes Hervorbringen selbst ein Hervorgebracht-Ge­gebenes, denn er tritt nicht ohne unser Zutun auf. Die Denkinhalte sind hervorgebracht, weil ihnen die Akte ihre eigene Beschaffenheit mitteilen. Der Einwand, diese Beschaffenheit sei Täuschung, weil hinter den Akten undurchschaute Ursachen stünden, trifft nicht. Denn die Beobachtung, auf die es hier ankommt, betrifft den Denkakt, wie er sich unmittelbar darstellt, wie er bewußt ist. Ferner könnte auch das Unbewußte, wenn es in diesem Zusammenhang von Belang wäre, nur durch Bewußtes inter­pretiert werden, nicht aber wäre das Umgekehrte möglich. Außerdem führt das Bewußte (nicht aber das Unbewußte) zu dem sich selbst bestim­menden Denken, durch welches nicht nur das Unbewußte als solches, sondern auch sein Zusammenhang mit anderen Erscheinungen bestimmt wird Damit der Denkakt erkannter Bewußtseinsinhalt sei, muß ich ihn selbst zum inhaltlichen Ergebnis eines auf ihn abzielenden Aktes ma­chen. Ich muß also den (zur Hervorbringung eines zuvor gedachten Be­griffs erforderlichen) vorangehenden Denkakt denken. Denn Denken ist das Hervorbringen eines Denkinhaltes durch einen Denkakt. Denken be­deutet aber stets das Denken eines bestimmten Inhaltes, dessen Hervor­bringen durch einen ihm zugeordneten Akt. Inhalt ist im vorliegenden Fall jenes Denkgebilde, welches, bevor es durch einen ihm zugeordneten aktualisierten Inhalt gedacht wird, selbst einen Inhalt hervorbringt (denn das Hervorbringen gehört ja zum Wesen des Aktes). Ich bringe also im Denken eines Aktes einen Akt durch einen Akt als dessen Inhalt hervor. Durch diese Begegnung meiner Akte, weiß ich mich als den in diesen Akten Identischen, sich in ihnen selbst Begegnenden als «Ich». "

Als Ziel des Denkakt-Denkens wird jetzt die Erkenntnis des Denkaktes genannt. Das Anliegen, ihn zum Bewußtseinsinhalt zu machen scheint nun dem Vorhaben seines Erkennens gewichen zu sein. Doch dieser Un­terschied ist nur ein vordergründiger, denn unmittelbarer Bewußtseinsin­halt ist die Aktivität des Denkens immer noch nicht, sondern nur ein "mittelbarer", wie es einleitend heißt. Bewußt wird sie erst unter Verwen­dung eines zweiten Denkaktes als Hilfsmittel. Das Procedere dieser Be­wußtmachung ist noch exakt dasselbe wie 1948: Der Denkakt wird ge­dacht.

Ergänzend zur früheren Fassung macht Witzenmann hier einige kritische Bemerkungen über mögliche unbewußte Ursachen des Denkens. An sich wäre das die ideale Stelle gewesen, auch etwas über bewußte Erfahrun­gen des Denkaktes auszuführen. So wie es Steiner im Zusatz von 1918 zum 3. Kapitel der Philosophie der Freiheit in Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmann  wenigstens andeutungsweise tut. Denn die beste Falsifikation einer Theorie der unbewußten Denkursachen liegt denn doch im Verweis auf die bewußte Erfahrung der Denktätigkeit. Wenn also von dieser Falsifikationsstrategie kein Gebrauch gemacht wird, so steht sie ganz offensichtlich nicht zur Verfügung. So auch bei Witzen­mann: Die einzigen von ihm vorgebrachten Gegenargumente sind rein formaler Natur. Nicht ein Beispiel taucht in diesem Zusammenhang auf, das die Bewußtheit der Akt-Erfahrung demonstrieren und illustrieren könnte. Was bei der philosophischen Tragweite der Argumentation nur heißen kann: Witzenmann hat 1977 keine derartigen Beispiele zur Hand, sonst würde er sie auch verwenden. Lediglich ein einzelner Hinweis zielt auf die Art und Weise, wie der Denkakt bewußt ist, bleibt aber ohne em­pirischen Gehalt, denn da Witzenmann bereits eingangs des Zitats die nur mittelbare Bewußtheit des Aktes hervorhebt, kann er wenige Sätze weiter nicht seine unmittelbare Bewußtheit meinen, ohne sich zu widersprechen.

Analoges gilt auch bezüglich der Ich-Identität im Denken, die Witzen­mann ausschließlich auf formale Mittel gründet, ohne jeden Hinweis auf die unmittelbare Erfahrung der vom Ich ausgehenden Aktivität. Recht hat er darin, daß die begriffliche Bestimmung des Ich als Ich vom Denken vorgenommen wird. Aber vorgenommen wird diese Bestimmung doch nur vor dem Hintergrund der vom Ich unmittelbar erlebten eigenen Akti­vität. Nur weil ich mich als das Zentrum erlebe, von dem die Aktivität ausgeht, ist es mir überhaupt möglich das Denken als Resultat meiner Tä­tigkeit anzusehen. Das Primäre ist doch nicht der formale Beweis der Identität, sondern die unmittelbare Erfahrung meiner Aktivität. Wäre die­se nicht vorhanden, dann könnten alle logischen Beweise wenig ausrich­ten. Nicht erst durch irgendwelche Akt-Begegnungen weiß ich mich als Ich, sondern zuvörderst, weil ich mich als derselbe erlebe, von dem die Akte ausgehen. Diese Gegebenheitspriorität des Erfahrenen vor dem For­malen wird von Witzenmann geradezu beseitigt und in seiner Wertigkeit umgekehrt, wie insgesamt die gesamte Erlebnis- und Erfahrungsebene als Grundlage begrifflicher Bestimmungen bei ihm vollständig aus dem Be­gründungszusammenhang herausfällt und keines Gedankens gewürdigt wird.

In der Substanz also ändert sich in der ganzen Passage gegenüber der Fassung von 1948 so gut wie nichts, bis auf das Ziel den Denkakt zu er­kennen. Also schauen wir uns jetzt noch einmal dieses Ziel näher an.

Um an Lindenbergs Vorhaltung anzuknüpfen, Witzenmann wolle "abs­trakt das Denken beobachten": - Witzenmann will 1977 nicht "abstrakt das Denken beobachten", sondern er möchte explizit den Denkakt erken­nen und fragt sich vernünftigerweise wie das möglich ist. An sich ist das ein sehr konkretes, nicht anzufechtendes Vorhaben, das er an dieser Stel­le mit allgemeinen methodisch-theoretischen Argumenten und Reflexio­nen zu begründen sucht. Diese sind von ihrer Anlage her auch nicht per se unplausibel, da sie sich auf einfache Weise aus Steiners eigenen Anga­ben zur Erkenntnistheorie im allgemeinen und zur Methode der Denk-Beobachtung im besonderen herleiten lassen: Um Säugetiere, Pflanzenfa­milien und astronomische Objekte zu erkennen muß ich mein Denken auf sie richten. Um das Denken zu erkennen muß ich entsprechend mein Denken auf Erfahrungen des Denkens richten. Und für den Denkakt im speziellen gilt genau dasselbe: Um ihn zu erkennen muß ich mein Den­ken auf meine Erfahrungen des Denkaktes richten, sie also zum Inhalt meines Denkens machen und mich damit auseinandersetzen. Diesen an sich trivialen Sachverhalt nennt Steiner Beobachtung des Denkens: Rich­ten des Denkens auf Erfahrungen des Denkens um es zu erkennen.

Bis hierhin haben wir es eigentlich nur mit methodologischen Prälimina­rien zu tun. Und diesbezüglich sind Witzenmanns Überlegungen vorder­gründig durchaus nachvollziehbar und überzeugend, wenn er sagt: Der Denkakt muß zum Denkinhalt werden. Denn selbstverständlich muß der Denkakt zum Denkinhalt werden wenn ich ihn erkennen will. Doch der wichtigste Schritt kommt erst noch - er besteht in der pragmatischen Um­setzung der methodischen Prinzipien. Hier lautet die alles entscheidende Frage: Wie wird der Denkakt zum Denkinhalt? Und halten wir uns jetzt vor Augen daß dann im Fall des erfahrenen Denkaktes eine Erkenntnis des Denkaktes das inhaltliche Ergebnis meines Denkens ist und nicht etwa der Akt selbst, denn der ist als erfahrenes oder erlebtes Faktum ja schon da bevor ich ihn erkenne. Ich betone das ausdrücklich mit Blick auf Witzenmanns Redeweise. Denn bei ihm sieht das anders aus. Seine Formulierungen zeigen wie schon 1948, daß er mit der Erkenntnis des Denkaktes auf seine Konstruktion abzielt. Er schreibt S. 80: "Damit der Denkakt erkannter Bewußtseinsinhalt sei, muß ich ihn selbst zum in­haltlichen Ergebnis eines auf ihn abzielenden Aktes machen." [Hervor­hebung MM] Nicht nur seine Erkenntnis, sondern der Akt selbst wird bei Witzenmann zum inhaltlichen Ergebnis des auf ihn zielenden Aktes.

Achten wir einmal auf logische Details: Angenommen wir unternehmen eine Reise und fassen nach der Heimkehr unsere Reiseerlebnisse in ei­nem Bericht zusammen. Dann machen wir unsere Reiseerfahrungen zum Inhalt unseres Denkens. Was ist jetzt das inhaltliche Ergebnis dieses Denkens? - Die Reise oder der Reisebericht?

Und wenn wir einen Baum anschauen und erkennen es handelt sich um eine Korkeiche - was ist dann das inhaltliche Resultat unseres Nachden­kens: der Baum oder die Einsicht in seine Artzugehörigkeit?

Darum noch einmal als Frage: Wenn ich einen erlebten Denkakt erkenne, ist dann dieser Denkakt selbst das inhaltliche Ergebnis meines auf ihn ge­richteten Denkens oder nur das, was ich hernach über ihn zu sagen weiß?

Unter welchen Bedingungen aber ist der Denkakt selbst das inhaltliche Ergebnis meines auf ihn abzielenden Denkens? - - - Wenn ich ihn aus­denke oder folgernd erschließe!

Den erfahrenen Denkakt zum Inhalt des Denkens zu machen und ihn zu erkennen ist ersichtlich etwas anderes als den Denkakt selbst zum inhalt­lichen Ergebnis eines Denkaktes zu machen. Im ersten Fall liegt seine bewußte Erfahrung vor, und lediglich seine Erkenntnis ist das Resultat ei­ner auf diese Erfahrung gerichteten kognitiven Operation. Im zweiten Fall aber existiert diese Erfahrung nicht und der Denkakt selbst ist nur das logische Fazit meiner Denkbemühungen. Er wird lediglich gedacht. Die erkannten Denkakte Witzenmanns sind rein hypothetischer Natur. Sie werden im Erkennen sozusagen erst geschaffen.

Vielleicht unter Hinweis auf die Gepflogenheiten anderer anthroposophi­scher Autoren, bei denen der unglückliche Ausdruck Denken des Den­kens als terminus technicus Eingang gefunden hat 8, könnte mancher Le­ser meine Einschätzung für überinterpretiert und etwas weit hergeholt halten, und zugunsten Witzenmanns einwenden, daß seine Wortwahl vielleicht ein wenig inadäquat ist und er nur im übertragenen Sinne vom Denken des Denkaktes spricht. Doch bei anderen Autoren, am klarsten bei Dietrich Rapp, wird zumindest aus dem Kontext unmißverständlich deutlich, daß sie dies tatsächlich nur im übertragenen Sinne meinen. Die­se Klarheit fehlt bei Witzenmann, und die Frage ist: Warum fehlt sie? - Warum unterscheidet Witzenmann nicht ausdrücklich zwischen erfahre­nen und gedachten Denkakten, wo es doch immerhin um ihre Erkenntnis geht, und wo doch jedermann zwischen einer erfahrenen und einer bloß gedachten Reise klar unterscheiden würde? Ist es nebensächlich? Muß man das vielleicht alles nicht so genau nehmen? Mangelte es ihm an phi­losophischer Sprachkompetenz? Hatte er ein Problem mit dem logischen Denken? Oder liegen andere Gründe vor? Ich meine das letztere: Bei ihm sind explizit keine direkten Erfahrungen des Denkaktes im Zusammen­hang seiner Ausführungen vorgesehen. Er schließt sie vielmehr ausdrück­lich aus wenn er im Vorfeld darauf hinweist, daß der Denkakt nur mittel­bar bewußt sei. An dieser Einschätzung der Sachlage hat sich bis zu sei­nen letzten Lebensjahren nichts geändert. 9 Auf einen unmittelbar und bewußt erfahrenen Denkakt kann er sich hier folglich auch nicht stützen. Witzenmann sagt es nicht nur - er meint es auch so: Der Denkakt wird gedacht - ganz im direkten Wortsinn wie schon 1948: "Ich muß also den (zur Hervorbringung eines zuvor gedachten Begriffs erforderlichen) vor­angehenden Denkakt denken." Der Denkakt ist ein logisches oder theore­tisches Erfordernis aber keine wirkliche Erfahrung. In einem einge­schränkten Sinne hat Lindenberg schon recht: Den von Witzenmann ge­dachten Denkakt gibt es auf der Erfahrungsebene gar nicht - weder 1948 noch 1977. Er ist lediglich ein theoretisches Konstrukt. Eine bloß hypo­thetische Entität. Er tritt zwar "nicht ohne unser Zutun auf", bleibt selbst aber unsichtbar. Witzenmann ist also begründet entgegenzuhalten, daß er mit dem methodischen Verfahren, das er uns hier nahelegt, den Denkakt allenfalls konstruieren und nur folgernd erschließen will, ohne sich auf seine konkrete Erfahrungen zu stützen.

Wenn Witzenmann dann am Ende seiner methodischen Reflexionen ihr Resultat in der Wendung zusammenfaßt: "Ich bringe also im Denken ei­nes Aktes einen Akt durch einen Akt als dessen Inhalt hervor", so besagt dies auch nichts anderes als wir bereits wissen: nämlich daß der Denkakt zum Denkinhalt eines anderen (Denk-)Aktes wird. Dies einzusehen hätte es der zusätzlich vorgebrachten Hinweise auf Akt-Inhalt-Beziehungen - "Denn Denken ist das Hervorbringen eines Denkinhaltes durch einen Denkakt. Denken bedeutet aber stets das Denken eines bestimmten Inhal­tes, dessen Hervorbringen durch einen ihm zugeordneten Akt." - einer­seits nicht bedurft, denn der Sachverhalt ist für sich genommen äußerst simpel und ergibt sich mit Notwendigkeit schon aus Steiners allgemeinen erkenntnistheoretischen Überlegungen. Andererseits aber wird hier der Zusammenhang zwischen Akt und Inhalt und damit generell der Charak­ter des Denkaktes von Witzenmann viel zu linear und eindimensional dargestellt, weil die Aktivität des Denkens bei weitem nicht so eng und eindeutig mit Inhalten korreliert ist, wie er meint. Weder mit Inhalten im allgemeinen noch mit spezifischen Inhalten im besonderen. Denken be­deutet bei Steiner eben nicht nur das "Hervorbringen eines Denkinhaltes durch einen Denkakt"; und schon gar nicht nur "Denken eines bestimm­ten Inhaltes", wie wir oben gezeigt haben. Vielmehr wird ein Teil der Denkaktivität - und nicht der geringste - darauf gewendet, die leiblich-seelische Organisation zurückzudrängen, auch wenn noch kein spezieller Inhalt gedacht wird. Dieses Zurückdrängen durch die Denkaktivität ge­schieht sowohl, um das "Erscheinen des Denkens vorzubereiten", wie Steiner sagt. Aber auch um die Autonomie gegenüber dieser Organisati­on kontinuierlich weiter aufrecht zu halten.

Was die Zuordnung von Denkakten zu spezifischen Inhalten angeht, so stimmt vor allem die lineare, fast mechanisch anmutende Beziehung zwi­schen Akt und Inhalt bei Witzenmann nachdenklich. Wenn er (S. 80)schreibt: "Der Denkakt ist aber dem Denkinhalt nicht nur gleichartig. Er steht zu ihm auch im Verhältnis einer ganz bestimmten Zuordnung. Der Akt, welcher dem Begriffsinhalt Dreieck zugeordnet ist, ist nicht ge­eignet, den Begriffsinhalt Säugetier hervorzubringen.", so ist dem mit großer Skepsis zu begegnen. Denn Witzenmann überträgt hier auf dem Wege der einfachen Folgerung Eigenschaften von Inhalten, nämlich ver­schieden zu sein, unbesehen auf Akte, ohne die Zulässigkeit und Grenzen eines solchen Transfers zu prüfen. Vom begrifflich-logischen Zusam­menhang des Gedachten wird hier, wenn wir den Betrachtungswinkel ein wenig erweitern, auf eine Eigenschaft des Bewußtseins an sich geschlos­sen, ohne das Bewußtsein einer gesonderten und unabhängigen Analyse zu unterziehen. Ein Wesen, das nach Witzenmanns Zuordnungsmodell verfährt, lebt eigentlich in einer gedanklichen Fadenwelt, in der es endlos Gedankenfäden auf- und abspult und doch nie dazu kommt, einmal einen begrifflichen Gesamtzusammenhang vor sich zu haben. Denn dazu müßte es eine Fähigkeit besitzen, die Witzenmann hier implizit in Abrede stellt: Verschiedene Begriffe in einem einzigen Denkakt zu denken. Konse­quent zu Ende gedacht führt Witzenmanns Zuordnungsmodell zu einer Atomisierung der Denktätigkeit. Denn seine Zuordnung gilt logischer­weise auch für sämtliche Teilbegriffe, die in Begriffen wie "Dreieck" und "Säugetier" eingeschlossen sind, sowie neuerlich für deren Teilbegriffe und so weiter, - ad infinitum. So daß letztendlich mit ungeheuerlichem Aufwand sämtliche Begriffshierarchien, die in einem Ausdruck wie "Säugetier" oder "Dreieck" enthalten sind, in je einzelnen Denkakten ohne Ende herauf und herunter zu denken wären, und doch nie ein ge­danklicher Überblick zustande käme. Das faktische Denken aber, vor al­lem in seinen herausragendsten Eigenschaften von Einsicht und Über­sicht, ähnelt viel mehr dem Prozeß des Sehens, in dem wir Differentes gleichzeitig in einem Panorama vor uns haben, als dem des Spinnens, wo winzige und winzigste Fädchen und Fasern sukzessiv mit einander ver­drillt werden. Der Zusammenhang von Begriffen allein, wie er sich auf einem an der Logik orientierten kategorialanalytischen Wege ergibt, ist kaum geeignet den faktischen Zusammenhang und die Eigentümlichkei­ten des Bewußtseins verständlich zu machen, die hinter solchen Phäno­menen wie Einsicht und Übersicht stehen.

Akt und Inhalt sind bei weitem nicht so eindeutig einander zugeordnet wie es von Witzenmann dargestellt wird. Bei der Beziehung zwischen Akt und Inhalt kommt es viel mehr auf die Umstände und das Ziel mei­nes jeweiligen Denkens an. Und es kommt auf auf die Frage an: Wiewiel kann und will ich nach Inhalt und Umfang jeweils zur selben Zeit im Be­wußtsein haben? Um einen etwas groben Vergleich zu gebrauchen: Ähn­lich wie bei einer Kamera das Objektiv läßt sich das Denken einmal mehr auf Weite und größere Vielfalt einstellen oder mehr auf Einzelheiten und Detailschärfe. Im einfachsten Fall lassen sich Dreiecke und Säugetiere rein visuell vorstellen, und zwar sowohl isoliert in zwei Akten, aber auch gleichzeitig in Gemeinschaft und in einem einzigen Akt. Im zweiten Fall ist der Akt, der die Säugetiervorstellung hervorbringt, derselbe wie der, der die Dreiecksvorstellung hervorbringt, während die Akte im ersten Fall verschieden sind.

Und hinsichtlich des begrifflichen Denkens gilt: Natürlich können wir uns ausschließlich auf den Begriff "Dreieck" konzentrieren und nichts anderes dabei im Auge haben. Dann grenzen wir alles aus unserem Den­ken aus, was nicht sachlich zum Begriff des Dreiecks gehört. Und zwar aktiv, indem wir unseren Gedankenrahmen zielgerichtet verengen. Auf der anderen Seite können wir aber ebensogut Gedanken bewegen, die ein riesiges Gebiet mit den gegensätzlichsten Inhalten umspannen. Etwa wenn wir über das gesamte Sein reflektieren. Dann weiten wir unseren momentanen Gedankenhorizont aus, und zwar ebenfalls aktiv und zielge­richtet. Speziell auf Witzenmanns Beispiel bezogen könten wir uns jetzt versuchsweise einmal fragen: Was haben Säugetiere und Dreiecke ge­meinsam und was unterscheidet sie? Dann bringen wir unter Umständen beide Denkinhalte in einem einzigen Denkakt hervor. Im Prinzip muß ich ja nur den Begriff "Wirklichkeit" denken; da ist alles drin was ich benöti­ge, um Witzenmanns Zuordnungstheorie schon im Grundsatz zu entkräf­ten, wenn ich in diesem Wirklichkeitsbegriff die Begriffe von Säugetier und Dreieck implizit mitdenke. Auf der rein begrifflichen Ebene brauche ich also nur einen Begriff oder einen Gedankenzusammenhang, der die beiden anderen in sich enthält. Die Frage ist dann: Läßt sich das simulta­ne Hervorbringen der beiden Begriffe auch pragmatisch im faktischen Denken umsetzen und vor welche bewußtseinstheoretischen Probleme und Gesichtspunkte stellt uns das? Ist das grundsätzlich Denkbare auch bewußtseinsfaktisch denkmöglich? Wieviel können wir gleichzeitig den­ken? Hat die zeitlose Struktur des Begriffs oder eines umfassenderen be­grifflichen Gefüges – sein Inhalt - ein ebenso zeitloses Pendant im Be­wußtsein? Sind Inhalte eines Begriffs nur nacheinander oder (auch) zeit­gleich präsent? Diese Frage ist von genereller Bedeutung für jedes be­griffliche Denken, aber auch für die oben erwähnten Sinnbildmeditatio­nen Steiners, weil ich mir ja einmal überlegen kann, wo eigentlich die be­deutungsgebenden begrifflichen Inhalte des Sinbildes sind, wenn ich sei­nen anschaulichen Anteil meditiere. Sind sie ganz verschwunden? Oder sind sie so vorhan­den, wie etwa der Begriff vorhanden ist, wenn wir ei­nen Gedanken in ei­nen sprachlichen Ausdruck kleiden, oder wenn ein schriftkundiger alter Ägypter sich eine Hieroglyphe vorstellte? Ist das Sinnbild nicht auch ein Medium des Denkens, so wie es Worte, Sätze und bildliche Symbole ei­ner Schriftsprache sind – nur vielleicht viel in­haltsgesättigter? Wenn das aber so ist, dann ist zugleich mit dem Sinnbild ein umfangreicher Halo von Begriffen und Gedankenzusammenhängen im Bewußtsein präsent. Und zwar ein umso inhaltsreicherer, je gediege­ner und tiefgründiger der Aufbau des Sinnbildes war. So daß ein einzel­nes Sinnbild eine ganze Philosophie enthalten kann, die bei seiner Medi­tation simultan anwesend ist.

Es deutet einiges darauf hin, daß verschiedene Inhalte gleichzeitig im Be­wußtsein gegenwärtig sein können. Dem Vermögen des aktiven Veren­gens und Ausweitens des Denkhorizontes entspricht die Tatsache, daß das Denken einen ausgesprochen holistischen oder ganzheitlichen We­senszug hat, dem ein ebenso ganzheitlicher Wesenszug der Begriffswelt entspricht, was Witzenmann hier wohl übersehen hat. Potentiell geht da­durch die Zahl der Denkzusammenhänge, die gleichzeitig Dreieck und Säugetier enthalten, gegen Unendlich. Und entsprechend gegen Unend­lich geht infolgedessen die Zahl möglicher Denkakte in denen sie simul­tan gedacht werden könnten. Das Denken ist nun nicht darauf angelegt nur eng umrissene Inhalte in zeitlicher Aufeinanderfolge zu präsentieren, etwa nach dem Muster einer linearen Sequenz sprachlicher Symbole oder von Steuerimpulsen bei Elektronenrechnern, sondern nach dem Vorbild des Sehens oder Anschauens eine Fülle von disparaten Inhalten gleich­zeitig, die aus den unterschiedlichsten Sphären des Denkens stammen können, so daß die Begriffe "Säugetier" und "Dreieck" unter bestimmten Bedingungen durchaus zeitgleich nebeneinander im Bewußtsein zu ko­existieren vermögen - in einem einzigen Akt. Und zwar ebenso wie die disparaten Begriffskomponenten, aus denen sich Begriffe wie Dreieck und Säugetier selbst zusammensetzen.

Jeder Begriff schon enthält implizit eine Vielzahl an ungleichartigen Gliedern, die seine Eigenheit und Eigenschaften ausmachen. Einen einzi­gen Begriff im Bewußtsein haben müßte daher daher per se heißen: Un­gleichartige Inhalte simultan im Bewußtsein haben. Zugleich ein Ineinan­der und Auseinander oder eine gleichzeitige Überlagerung seines Ge­halts. Ein größerer gedanklicher Zusammenhang – etwa eines Vortrages - enthält noch weit mehr solcher Glieder und kann unter Umständen die ganze Welt umfassen. Davon ist vieles, vor allem wenn der Sachzusam­menhang gut durchschaut ist, im vorsprachlichen oder vorsymbolischen Bereich bewußt. Die entscheidende Frage ist jetzt nicht, welches Element dieser Glieder wird durch welchen Denkakt hervorgebracht und wie sind Akt und Inhalt einander zugeordnet? Sondern: Was ist das für ein vor­symbolischer Bereich, in dem uns die Inhalte gleichzeitig bewußt sind? Wie und was können wir von ihm wissen? Welche weiteren Eigenschaf­ten zeichnen ihn aus? Welche Form haben die Inhalte dort? Und wie ge­langen sie von dort auf die symbolische Bewußtseinsebene? Ferner: Wie­viel vom Denkbaren ist uns jeweils bei einer gedanklichen Aktion be­wußt? Nicht zu verwechseln mit: Was können wir in einem gegebenen Augenblick davon aussprechen? Denn Sprache kann nur einen Bruchteil dessen aussagen, was gleichzeitig bewußt ist. Jeder Sprecher oder Schriftsteller kennt das Problem, diese zeitgleich vorhandene Fülle auf einen adaequaten Ausdruck zu bringen und eine multidimensionale Be­wußtseinswelt in eine lineare Sprachstruktur zu transformieren. Was in Sekunden überschaut ist braucht unter Umständen Stunden, Tage oder Wochen um versprachlicht zu sein. Die augenblickliche Bewußtseinsfül­le aber hängt von ganz anderen Parametern ab, als nur von vordefinierten Akt-Inhalt-Beziehungen. Daß Begriffen immer eine Inhaltsfülle inhäriert ist keine neue Einsicht. Wieviel an Inhaltsfülle aber einen gegenwärtigen Bewußtseinszustand ausmacht ist eine der spannendsten Fragen der Be­wußtseinstheorie überhaupt. Und um das herauszufinden nützt mir eine Untersuchung von Begriffsbeziehungen allein herzlich wenig. 10


Ich hatte an anderer Stelle schon einmal darauf hingewiesen, daß längst nicht alles, was sich "seelische Beobachtung des Denkens" nennt auch tatsächlich eine solche sein muß. Und oft auch der vermeintliche Denk-Beobachter nicht unterscheiden kann, wann aus einer echten Beobach­tung Spekulation wird, zumal wenn er selbst nicht genau weiß, was diese Beobachtung überhaupt sein soll.  11 Bei Witzenmann wird dieses Um­schlagen von echter Beobachtung in Spekulation geradezu augenfällig, während es der Autor selbst gar nicht bemerkt, weil er weder einen kla­ren Begriff von dieser Beobachtung hat, noch von der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens, und infolgedessen die logische Verknüp­fung von begrifflichen Hyposthasen mit seelischer Beobachtung ver­wechselt. Was die empirisch-phänomenologische Untersuchung von Denkvorgängen angeht, so war der Psychologe Karl Bühler zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon sehr viel weiter als der Anthroposoph Witzen­mann, der hier, wie Lindenberg ganz richtig sieht, eine offensichtliche Scheu an den Tag legt, sich "auf wirkliche Denkvorgänge" einzulassen und "einer Chimäre nachjagt". Es deutet bei Witzenmann alles darauf hin, als bemühe er sich um eine Retrodiktion des Denkaktes aus den Den­kinhalten. Weil der Denkakt in seinen Augen kein unmittelbarer Bewußt­seinsinhalt ist versucht er ihn aus den Inhalten zu erschließen, wobei so­wohl eine bestimmte einseitige Charakteristik der Denkwirksamkeit als auch ein enges und lineares Verhältnis zwischen Akt und Inhalt rein hy­pothetisch unterstellt wird. Dieses Verfahren ist unrealistisch, spekulativ und abzulehnen, weil die gemachten Voraussetzungen empirisch nicht bestätigt werden können und das Denken in ein wirklichkeitsfremdes abstraktes Korsett gepreßt wird. Für den Denkakt ist weniger eine Be­griffstheorie zuständig als vielmehr eine Theorie des Bewußtseins, die auch faktische Bewußtseinsphänomene untersucht und sich nicht nur mit Rückschlüssen von Begriffen auf das Bewußtsein begnügt. Rein theore­tisch gibt es nahezu unbegrenze Möglichkeiten Denkakte zum Inhalt an­derer Denkakte zu machen. Aber ein wie immer geartetes Denken von Denkakten heißt noch längst nicht seine Erkenntnis. Es bleibt vollständig unklar wie er es bewerkstelligen will, wenn er vom: "Hervorbringen ei­nes Aktes als eines Denkinhaltes" spricht. Und es ist eigentlich auch schon alles, was Witzenmann zur Methode ausführt. Was sich jetzt noch anschließt, sind keine methodischen Überlegungen mehr, sondern nur noch logische Folgerungen, die sich ihm aus dem Verhältnis eines präsu­mierten Aktes zum Inhalt ergeben. Der Denkakt selbst bleibt ein irgend­wie geisterhaftes, nur logisch relevantes Gebilde, das an keiner Stelle konkrete Gestalt annimmt. So daß Kritiker wie Lindenberg sich hier mit Recht zu Zweifeln veranlaßt sehen, ob es ihn als eigenständige Kompo­nente des Denkens überhaupt gibt. Dieser gedachte Denkakt ist kein Re­sultat seelischer Beobachtung mehr, wie Witzenmann in der überarbeite­ten Fassung von 1977 (S. 79) beteuert, sondern nur noch Schöpfung sei­ner philosophischen Phantasie.

Die entscheidende Frage ist eben, wie und auf welcher Grundlage ich ihn zum Inhalt meines Denkens mache. An dieser Stelle beginnt bei Witzen­mann Nebel aufzuziehen. Hier wird, abgesehen davon, daß das Denken des Denkaktes streng logisch gar nicht möglich ist, ein entscheidender Schritt ausgelassen - nämlich die Erfahrung oder das Erleben des Denkaktes. Dieser empirische Zugriff auf die gegenwärtige Denktätig­keit, kommt bei Witzenmann in der ganzen Passage nicht vor - und das ist nicht zufällig so, wie ich oben schon ausgeführt habe. Witzenmann hat sich durch eine theoretische Barriere selbst den Weg dorthin verbaut - durch die mangelnde Unterscheidung zwischen Erfahrung und Beobach­tung des Denkaktes infolge einer mißverstandenen Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens. Deswegen ist er außerstande zu sagen, wie er den Denkakt denken will, sondern kann nur noch ganz im allgemeinen bestimmte Konsequenzen aus Steiners methodischen Angaben zur Denk-Beobachtung reflektieren und Folgerungen daraus ableiten, die zwangs­läufig ebenso spekulativ bleiben wie die Ausgangsprämissen, die Witzen­manns bei seinem Denkakt-Denken zugrunde legt.

Ich weiß nicht ob irgend ein Leser von Witzenmanns Aufsatz einmal ver­sucht hat Denkakte nach der dort vorgeschlagenen Verfahrensweise zu denken. Auf eine Vorstellung wird er vermutlich dabei nicht gekom­men sein: nämlich daß meditative Übungen der Art wie sie im Verlauf der vorliegenden Arbeit wiederholt erwähnt wurden, irgend etwas mit diesem Thema zu tun haben könnten. Denn ein negativer methodischer Effekt von Witzenmanns Gedankengang liegt vor allem darin, daß er sich wie eine theoretische Schranke vor diese Tatsache legt. Wer aber durch sei­nen philosophischen Lehrer nur mit der Aufforderung konfrontiert wird er müsse den Denkakt denken, jedoch nicht zugleich mit der Emp­fehlung ihn zunächst zu erleben, dem mag es wohl nicht leicht in den Sinn kom­men, daß die Rosenkreuzmeditation aus der Geheimwissen­schaft mit dem Problem der Beobachtung des gegenwärtigen Denkens aus dem dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit überhaupt irgend et­was zu schaffen hat. Er glaubt womöglich gar es fehle ihm nur an philo­sophischem Wis­sen um Witzenmanns Aufforderung erfolgreich in die Tat umzusetzen.

Eine andere negative Auswirkung von Witzenmanns Gedankengang be­steht darin, daß selbst Anthroposophen, wenn sie mit einer derart bizar­ren und ernstgemeinten Anleitung konfrontiert werden, gegenüber allem mißtrauisch werden, was von philosophisch-erkenntnistheoretischer Seite zum Verständnis von Steiners Werk vorgebracht wird. Nach dem Motto: Nicht nur grau, sondern abwegig ist alle Theorie. Denn daß mit einer an­throposophischen Philosophie, die zu so verstiegenen methodischen Vor­schlägen greift, irgend etwas nicht stimmen kann, das sagt ihnen schon ihr gesunder Menschenverstand. Und so lehnen sie denn auf grund schlechter Erfahrungen alles ab, was von dieser Seite kommt, und man­cher anthroposophisch orientierte esoterische Pragmatiker behauptet lie­ber - (so geschehen vor einiger Zeit) -, daß eine Übung wie die Rosen­kreuzmeditation etwas mit Autosuggestion zu tun habe als mit grundle­genden Fragen der Erkenntniswissenschaft. Sie können sich gar nicht vorstellen, daß diese Meditationen sachlich auf der selben methodischen Linie liegen wie Steiners erkenntnistheoretische Schriften oder das dritte Kapitel der Philosophie der Freiheit. So wenig wie derjenige, der an die Sinnhaftigkeit von Witzenmanns Vorschlag des Denkakt-Denkens glaubt.

Bei allen Verdiensten, die sich Witzenmann zweifellos um die akademi­sche Akzeptanz der Anthroposophie erworben hat, hat er sie doch zugleich infolge eines tragischen Mißverständnisses in eine metho­dologische Sackgasse geführt. Das wird selten irgendwo deutlicher als in den hier diskutierten Passagen seines Aufsatzes Intuition und Beobach­tung.

Wenn ich Steiners Angaben wirklich konsequent und stringent auf den Denkakt anwenden und diesen erkennen will, dann jedoch darf ich nicht den Denkakt denken, sondern ich muß vordringlich versuchen die Aktivi­tät des Denkens selbst in den Fokus meiner Aufmerksamkeit zu bekom­men und zu erleben. Über diese Erfahrungen muß dann weiter reflektiert werden, aber das ist doch entschieden etwas anderes als den Denkakt nur zu denken. Um bei Witzenmanns Beispiel zu bleiben: Ich könnte den zu­vor gedachten Begriff noch einmal denken, und noch einmal und ein wei­ters mal und in diesem Sinne fort. Also - den Denkakt nicht denken, son­dern ihn im Rahmen einer systematischen Übung vollziehen und versu­chen, die reine Aktivität des Denkens in ihrer zurückdrängenden und her­vorbringenden Eigenschaft zu erleben, so wie es hier verschiedentlich und speziell in den drei oben angeführten Beispielen Steiners exempla­risch geschildert ist. - Und damit bin ich bei einer Form der anthroposo­phischen Gedankenmeditation angelangt, die sich bei Steiner im Fall der Sinnbildmeditationen durch ihren typischen Aufbau noch einmal ganz besonders für das Erleben von Denkakten eignen. Dann kann ich, ausge­hend von den Erfahrungen, die ich während solcher meditativen Übun­gen mache, daran gehen, die Aktivität des Denkens und was sich weiter erlebnismäßig daran anschließt zu beschreiben.

Diese Beschreibung aber ist auch kein Denken des Denkaktes sondern ein Denken über Erfahrungen des Denkaktes und stellt inhaltlich seine Verbildlichung, Charakterisierung oder Veranschaulichung dar, und hat durchaus ihre Ähnlichkeit mit einem Reisebericht: Sie stellt sich Erfah­rungen rückblickend gegenüber und betrachtet sie aus der Distanz. Sie ordnet die Erlebnisse, benennt Details, stellt in die verschiedensten Rich­tungen Zusammenhänge her, schafft Übersicht und bewertet. Es ist eine Aufgabe, die an sich dem anthroposophischen Schulungsweg zugeordnet ist, aber bereits in der Erkenntnistheorie beginnt. Wenn Rudolf Steiner im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit (S. 44 f) darauf hinweist, daß wir uns beim Denken nach den Inhalten von Begriffen richten und nicht nach physiologischen Hirnprozessen, so ist das eine Beobachtung, welche die Aktivität des Denkens, den Denkakt, unmittelbar zum Gegen­stand hat. Im Zentrum des Interesses liegt hier diese Tätigkeit im Zusam­menhang mit der Frage, woran sie sich orientiert oder was sie bestimmt respektive regiert. Diese Frage ließe sich nicht beantworten, wenn die Tätigkeit selbst der unmittelbaren Erfahrung verschlossen bliebe. Die Er­kenntnis, daß sie sich an begrifflichen Inhalten orientiert, beruht auf fak­tischer Erfahrung der Denkaktivität und nicht auf theoretisch gefolgerten Denkakten. Demgemäß wird hier schon die Erfahrung des Denkaktes zum Inhalt des Denkens. In der direkten, sachlogischen Verlängerung der Beobachtungsmethode wie sie Steiner in der Philosophie der Freiheit darstellt, aber liegen meditative Übungen der Art wie sie im Verlauf die­ser Arbeit kurz geschildert wurden. Sie sind auch eine spezifische Metho­de zur Beobachtung des Denkens beziehungsweise des Denkaktes. Die bekannte Rosenkreuzmeditation steht im unmittelbaren sachlichen Zu­sammenhang mit der Beobachtung des Denkens. Denn eine weitergehen­de Frage könnte sein, was diese Aktivität des Denkens selber eigentlich ist. Wie kommt es, daß sie sich nach begrifflichen Inhalten überhaupt richten kann? Was geschieht in den Untergründen meines Wesens wenn ich denke? Welche Wirkungen hat das Denken auf das gesamte Gefüge von Leib, Seele und Geist? Die Beobachtung des Denkaktes müßte also die Tiefendimension dieser Aktivität erschließen und und die weitere Na­tur der seelisch-geistigen Organisation des Menschen offenlegen. Und dazu muß sie sich diese erst einmal mit Hilfe solcher Übungen weiter zu­gänglich machen.

Den Denkakt erkenne ich noch nicht, wenn ich bloß im Denken eines Aktes einen Akt durch einen Akt als dessen Inhalt hervorbringe, sondern wenn ich ihn erlebe und mir über meine Erfahrungen Gedanken mache.

IX.

Witzenmann unternimmt jedoch wenigstens den ernsthaften und sachlich begründeten Versuch, sich mit der methodischen Schlüsselaussage Stei­ners zu befassen. Man kann ihm also wahrlich nicht die Konsequenz ab­sprechen, wenn er den Denkakt durch Denken erkennen oder beobachten will. Nur kann Witzenmann für diese Tätigkeit keinen konkreten Inhalt angeben, - und das ist die eigentliche Misere bei ihm -, weil er den Denkakt nicht unmittelbar in die bewußte Erfahrung bringen zu können glaubt, sondern nur mittelbar. Er wird davon geleitet, daß man den Denkakt irgendwie zum Inhalt des Denkens machen muß, aber dann ge­rät die Sache ins Stocken und bleibt bei einem abstrakten Denken des Denkaktes stehen. Das ganze Dilemma dieses Denkakt-Denkens wird au­genblicklich gegenstandslos, wenn das Denken auf die unmittelbare und bewußte Erfahrung des Denkaktes gerichtet wird, was selbstredend nur im Nachhinein geht. Nur muß diese dazu auch vorhanden sein, wogegen sachlich rein gar nichts spricht. Dann kann man streng genommen den Denkakt zwar immer noch nicht denken, weil das grundsätzlich nicht möglich ist, aber man kann sich weiteren Aufschluß über ihn verschaf­fen, ihn beschreiben und zu anderen Aspekten der Realität oder unserer geistig-seelischen Organisation in Beziehung setzen.

Das alles entgeht Christoph Lindenberg, weil er sich selbst mit den Schlüsselstellen des dritten Kapitels der Philosophie der Freiheit nicht näher befaßt. Weder klärt er uns immanent darüber auf, was es heißt, wenn das Denken nach Steiner vom Denken beobachtet wird, noch unter­nimmt er auch nur den geringsten Schritt, den Argumenten nachzugehen, die von Steiner für die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens angeführt werden. Besonders augenfällig auf S. 89, wenn Lindenberg dort das zentrale Problem der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens und ihre scheinbare Widersprüchklichkeit von verschiedenen Seiten her aufgreift: "Da sich aber mein Denken Objekten zuwendet, ver­gesse ich es, ja genauer: Ich bemerke es nicht, da ich in ihm lebe. Hier scheint sich nun ein Widerspruch aufzutun: Wie kann ich etwas beobach­ten, was ich gar nicht bemerkt habe? Mein Denken ist eine Tätigkeit, die ich während derselben nicht beobachten kann. Kann man aber eine Tätig­keit, die man nicht bemerkt hat, nachdem sie zu einem Ende gekommen ist, beobachten? Ich kann doch, wenn ich gegangen bin, mein Gehen nicht beobachten - verhält es sich mit meinem Denken nicht ebenso?" Für den Leser erstaunlich genug, daß Steiners eigene Argumente für die­se Unbeobachtbarkeit vom Autor vollkommen unbeachtet gelassen wer­den, der stattdessen seine eigene Plausibilisierungsstrategie für einen Sachverhalt entwickelt, ohne sich zuvor überhaupt um dessen Verständ­nis zu bemühen. Steiners Plausibilisierungen werden links liegen gelas­sen, so, als hätten sie mit dem Thema der Arbeit nichts zu tun. Wenn Lindenberg darauf hinweist, daß nach Steiner das gegenwärtige Denken nicht beobachtbar ist, dann kommt es zu Interpretationszwecken doch nicht primär darauf an, was Lindenberg als Referent anschließend an Argumenten, Verdeutlichungen und Illustrationen vorbringt, um dies zu erklären, sondern darauf, welche der Autor der Philosophie der Frei­heit höchstpersönlich an zentraler Stelle anführt. Der Leser will vom In­terpreten schließlich nicht wissen, über welchen Begriff von Denk-Beob­achtung der selbst verfügt und dieser Angelegenheit zugrundelegt, son­dern welchen Steiner verwendet. Und darum hätte es doch eigentlich in Lindenbergs Aufsatz gehen sollen.

Ende Teil IV

 

Anmerkungen Teil IV

8 Siehe etwa Dietrich Rapp, Von der Intuition zur Erfahrung. Denkbeob­achtungen über ihren inneren Zusammenhang. In Karl-Martin Dietz (Hgr), Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit, Stuttgart 1994, S. 232

Ebenso: Martin Basfeld, Denken in der Zeit. Die <Philosophie der Frei­heit> Rudolf Steiners und das naturwissenschaftliche Zeitverständnis. In Karl-Martin Dietz (Hgr), Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit, Stutt­gart 1994, S. 53 ff.

9 Siehe dazu auch: Michael Muschalle, Ausnahmezustand und Spaltung der Persönlichkeit, In: Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 1999, S. 61-66 sowie S. 88-107.

10 Siehe dazu die Internetfassung meines Aufsatzes: Zur Unbewußtheit des aktuellen Denkens. Kapitel 3.3: Exkurs II über die Simultanpräsenz von Gedanken. Im Internet erreichbar unter der Adresse: http://www.Stu­dienzuranthroposophie.de/UnbewKap3.3.html

11 Siehe dazu: Michael Muschalle, Ausnahmezustand und Spaltung der Persönlichkeit, In: Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 1999, S. 121 f.

Ende Anmerkungen Teil IV


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