Michael Muschalle Ende zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home Michael Muschalle Der Verfall der introspektiven Psychologie und das Methodenproblem der Anthroposophie (Stand 10. 11. 12) Aktualisiert 17.03.22
Kapitel 4 + 5 Potentielle Konvergenzen von Anthroposophie und introspektiver Psychologie. Eine so klare Scheidung erscheint aus der Retrospektive weniger einleuchtend, als sie vielleicht für Steiner selbst war, dem es hier mehr um die Akzentuierung der Differenzen als der Gemeinsamkeiten ging. Aus der historischen Distanz konturieren sich solche Berührungspunkte jedoch weit stärker als aus der unmittelbaren Gegenwart seiner Zeit. Steiner deutet auf den wesentlichen methodologischen Unterschied zu dieser, aus seiner Sicht "naturwissenschaftlich" genannten Psychologie hin: es geht ihm nicht darum, das gewöhnliche Denken, Fühlen und Wollen zu untersuchen, um auf diesem Wege Auskunft über die höheren Fragen des Seelenlebens zu erhalten, sondern er verändert diese Grundkräfte durch "Seelenübungen" in spezifischer Weise, damit sie das ihnen innewohnende Verborgene offenbaren, und erst dieses kann Auskunft über jene höheren Fragen geben. Steiner gebraucht nicht zufällig in diesem Zusammenhang das Bild einer chemischen Analyse. So wie eine solche Analyse erst nach einer gehörigen Scheidung der Stoffe, einer Reinigung und Verdichtung der Ausgangssubstanzen, den Charakter der beteiligten Elemente sichtbar macht, so muß in analogem Sinne das Seelische durch entsprechende Seelenübungen gereinigt und verdichtet werden, wenn dessen Wesen erkennbar werden soll. Es muß - um bei der Steinerschen Metapher zu bleiben - "labormäßig" zubereitet, aus seinem üblichen Milieu herausgearbeitet und der weiteren Beobachtung erst zugänglich gemacht werden. Die gezielte Veränderung der seelischen Grundkräfte in diesem Sinne ist zentraler Bestandteil der Steinerschen Methodologie. An dieser Stelle scheinen sich die Wege von Anthroposophie und herkömmlicher Selbstbeobachtungspsychologie zu trennen. Doch diese Trennung, so meine ich, ist keine absolute, weder im Hinblick auf die Methode noch im Hinblick auf die Thematik. Für die Methode gilt, daß diese sich bei Steiner gemäß seiner besonderen Fragestellung verfeinert, weiter ausdifferenziert, womit aber die grundlegenden methodischen Bedingungen und Problemstellungen der gewöhnlichen Introspektion keineswegs obsolet werden. Im Gegenteil setzt die methodologische Verfeinerung der Anthroposophie die Lösung der basalen Probleme einer wissenschaftlichen Selbstbeobachtung voraus. Das heißt, sie hat es nach wie vor mit Fragen des Typs zu tun, die oben angeführt wurden und dazu gesellen sich jene besonderen, die ihr aus ihrer spezifischen Zielrichtung erwachsen. Doch damit nicht genug. Steiner hat in seiner Schrift "Von Seelenrätseln" (GA-21, 1976, S. 170 f) im Zusatzkapitel 8. Ein oft erhobener Einwand gegen die Anthroposophie ausdrücklich auf die Bedeutung der Psychologie für die wissenschaftliche Grundlegung der Anthroposophie hingewiesen, und zwar in einer Eindringlichkeit, die kaum noch überboten werden kann. Er schreibt dort unter Anknüpfung an Franz Brentano: "Auf einem ganz anderen Felde als diese Forderung nach bequemen Experimentalbeweisen für die anthroposophischen Wahrheiten liegt, was Brentano wollte, indem er immer wieder darnach strebte, in einem psychologischen Laboratorium arbeiten zu können. Die Sehnsucht, ein solches zur Verfügung zu haben, tritt in seinen Schriften oft zutage. Die Umstände haben tragisch in sein Leben eingegriffen, die ihm ein solches versagt haben. Er würde gerade durch seine Stellung zu den psychologischen Fragen Wichtigstes durch ein solches Laboratorium geleistet haben. Will man nämlich die beste Grundlage schaffen zu anthropologisch-psychologischen Ergebnissen, die bis an die «Erkenntnis-Grenzorte» gehen, an denen sich Anthropologie mit Anthroposophie treffen muß, so kann dieses durch ein psychologisches Laboratorium geschehen, wie ein solches Brentano in Gedanken vorgeschwebt hat. Um die Tatsachen des «schauenden Bewußtseins» herbeizuführen, brauchten in einem solchen Laboratorium keine Experimentalmethoden gesucht zu werden; aber durch diejenigen Experimentalmethoden, die gesucht werden, würde sich offenbaren, wie die menschliche Wesenheit zu diesem Schauen veranlagt ist, und wie von dem gewöhnlichen das schauende Bewußtsein gefordert wird. Jeder, der auf dem anthroposophischen Gesichtspunkt steht, sehnt sich ebenso wie Brentano, in einem echten psychologischen Laboratorium arbeiten zu können, was durch die heute noch gegen die Anthroposophie herrschenden Vorurteile unmöglich ist." Die Psychologie wird hier von Steiner als Vorbereitungswissenschaft verstanden. Als eine, die den Weg ebnet, auf dem die Anthroposophie weiterschreiten kann. Sie vermag dies, weil sich Anthroposophie und herkömmliche Psychologie notwendigerweise in einem Punkte treffen müssen, wie Steiner ausführt. Man kann es auch anders wenden und sagen: Die Psychologie ist natürlich noch keine Anthroposophie, aber sie kann, ja sie muß von einem bestimmten Punkt an zu ihr werden, wenn sie bis zu den Erkenntnis-Grenzorten geht, an denen sie sich mit der Anthroposophie treffen muß, weil dann die ihr immanente Logik ein Weiterschreiten zur Anthroposophie erfordert. Der gemeinsame Treffpunkt gehört dann konsequenterweise beiden Wissenschaftsrichtungen an. Steiners teils kritisches, teils affirmatives Aufgreifen einiger Fragestellungen Franz Brentanos in der Schrift Von Seelenrätseln unterstreicht diesen Sachverhalt der Durchlässigkeit. Es gibt keine starren Grenzen zwischen einer Psychologie der inneren Beobachtung hier und der Anthroposophie dort. Latent ist die Methode der Anthroposophie in der Psychologie der Selbstbeobachtung schon vielfach vorhanden. Die Anthroposophie verfeinert und kultiviert allerdings etwas in besonderer Weise, das als methodische Möglichkeit und Forderung durchaus zutage tritt, wenn man nur genau genug hinschaut. Der oben von Steiner geschilderte Sachverhalt wird von anthroposophischen Autoren gern übersehen oder in seiner Bedeutung arg verkleinert. Da werden dann lieber die Grenzen und Differenzen aufgezeigt anstelle von zwingenden Gemeinsamkeiten, die ja in der Natur der Sache liegen. So auch von Lorenzo Ravagli, nach dessen Bewertung in seiner Meditationsphilosophie (Schaffhausen 1993, S. 334 f) eine eingehendere Betrachtung zeigt, "daß die von Steiner entwickelte Methode der geistigen Selbsterfassung mit der psychologischen Introspektion kaum mehr als die allgemeine Richtung der Aufmerksamkeit gemein hat." - Mit Steiners obiger Einschätzung ist diese Beurteilung wohl kaum zu begründen. Ravaglis Auffassung kann nicht für die Anthroposophie im allgemeinen gelten, weil diese zumindest an den von Steiner genannten Erkenntnis-Grenzorten und Grundlagen sich in ihrer Methode nicht grundsätzlich unterscheiden kann von derjenigen einer Psychologie, die dasselbe Feld bearbeitet. Sie gilt auch nicht für die Philosophie der Freiheit, auf die sich Ravagli im engeren Sinne bezieht, weil diese sich selbst methodisch im Bereich der von Steiner erwähnten Erkenntnis-Grenzorte bewegt. - Und das muss sie auch! Denn die Philosophie der Freiheit versteht sich für Steiner ja nicht nur als Grundlegung der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Sondern von Wissenschaft schlechthin. Und da sie diese Grundlegung auf der Basis empirischer Tatsächlichkeit von Erfahrungen des Denkens und nicht nur logischer Analysen und Erörterungen durchführt, kann es gar nicht anders sein, als dass sie damit einem Felde der Innenbeobachtung zuzurechnen ist, zu dem jeder Zugang hat, der sich um Grundlegung von Wissenschaft bemüht. Er ist, wenn man Steiner recht versteht, für wissenschaftliche Grundlegungsbemühungen sogar verpflichtend. Um hier Verwirrung zu bremsen, die sich möglicherweise aus einer Kollision von empirischer Wissenschaft und erkenntnistheoretischen Grundforderungen nach Voraussetzungslosigkeit von empirischen Wissenschaften ergibt, möchte ich den Leser auch hier an ein wichtiges Werk von Johannes Volkelt verweisen, der diese Frage dort eingehend thematisiert. Mit der Bemerkung versehen, dass Volkelt in dieser Hinsicht erkenntnistheoretisch und methodisch / psychologisch für Steiner vorbildlich war. Wofür Steiner sich in Wahrheit und Wissenschaft (Einleitung S. 7) später ausdrücklich noch bei Volkelt bedankte. Siehe dazu, Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken, Leipzig, 1886. Im Internet alternativ hier zugänglich. Und in einem, so meine ich, tut Ravagli der Philosophie der Freiheit gedanklich Gewalt an, die geeignet ist, die methodische Verbindung zwischen Anthroposophie und Psychologie der Selbstbeobachtung zu verschleiern: So geht er auf S. 335 ff in Abweisung jeder näheren Verwandtschaft zwischen Anthroposophie und introspektiver Psychologie der für sich genommen durchaus berechtigten Frage nach, was denn vom Standpunkt der Grundlinien oder der Philosophie der Freiheit "als Innenschau und Selbstbeobachtung bezeichnet werden kann." Im engeren Sinne: "Was kann ... vom Standpunkt ... des im Denken tätigen Ich «innen» sein?" Wobei er allerdings außer Acht läßt, daß uns in der Philosophie der Freiheit Steiner im Kapitel IV. (S. 76 f) eine ganz andere methodologisch relevante Unterscheidung präsentiert: "Ich bin in der Lage, die Vorgänge in meinem Organismus bis zu den Prozessen in meinem Gehirne zu verfolgen, wenn auch meine Annahmen immer hypothetischer werden, je mehr ich mich den zentralen Vorgängen des Gehirn es nähere. Der Weg der äußeren Beobachtung hört mit dem Vorgange in meinem Gehirne auf, und zwar mit jenem, den ich wahrnehmen würde, wenn ich mit physikalischen, chemischen usw. Hilfsmitteln und Methoden das Gehirn behandeln könnte. Der Weg der inneren Beobachtung fängt mit der Empfindung an und reicht bis zum Aufbau der Dinge aus dem Empfindungsmaterial. Beim Übergang von dem Hirnprozeß zur Empfindung ist der Beobachtungsweg unterbrochen." (Anzumerken ist: Steiners Darlegung ist hier auf die spezielle Frage gerichtet, wie wir Kunde von den äußeren Gegenständen erhalten, daher reicht im vorliegenden Fall die innere Beobachtung bis zum "Aufbau der Gegenstände aus dem Empfindungsmaterial". Der genannte Aufbau der Gegenstände ist hier nicht im Sinne einer absoluten Grenze der inneren Beobachtung gemeint, sondern auf den sachlichen Kontext bezogen.) Für die methodische Gliederung der Erkenntniswissenschaft in innere und äußere Beobachtung, so viel ist ersichtlich, ist im vorliegenden Fall für Steiner nicht die Frage relevant, was vom Standpunkt des Ich innen oder außen ist, sondern: Wo liegt die Grenze zwischen naturwissenschaftlicher und seelenwissenschaftlicher Beobachtung? Ob die Empfindung auch vom Ich aus gesehen innen liegt, d.h. der Innerlichkeit des Ich selbst angehört, oder ob sie vom Ich aus wie etwas relativ zum Ich Äußeres angeschaut wird, ist eine durchaus ernstzunehmende Frage, ebenso wie die Frage, ob es relativ zum Ich eine geistige Außenwelt gibt und woran man das festmacht. Doch unabhängig davon wie man das beantwortet, gilt: Die inneren Vorgänge des unmittelbaren Seelenlebens sind für das externe, naturwissenschaftliche Verfahren nicht erreichbar. Die physiologische Untersuchung des Gehirns stößt nie auf Empfindungen, geschweige denn auf Gefühle, Gedanken, Willensprozesse oder gar auf ein «Ich». Sie findet stets materielle Vorgänge, bzw. deren Korrelate. Schon die Empfindung aber ist etwas Seelisches. Zwischen dem physiologisch-materiellen Hirnprozeß und dem Seelenerlebnis der Empfindung liegt für die Naturwissenschaft eine unübersteigbare Grenze, die zugleich jene der äußeren und inneren Beobachtung ist. Und genau diese von Steiner angeführte Grenzziehung zwischen äußerer und innerer Beobachtung ist es, die für die Introspektion entscheidend und wissenschaftlich für sie schicksalsbestimmend geworden ist. Und sie ist es auch für die Anthroposophie. Fazit: Die geistige Selbsterfassung des «Ich» kann überhaupt nur in der Form der inneren Beobachtung stattfinden. Soweit es also um diese Selbsterfassung geht ist die Anthroposophie apriori eine introspektive Wissenschaft. Aber die innere Beobachtung bleibt nicht auf die geistige Selbsterfassung des «Ich» beschränkt, sondern richtet sich auf sämtliche Erscheinungen des seelischen Innenlebens. Innerhalb dieser Erscheinungen liegt auch das «Ich» mit allem was sich daran knüpft. Wie das alles miteinander zusammenhängt, das zu klären ist eben Aufgabe einer Wissenschaft der inneren Beobachtung, die demnach sehr verschiedene Teilbereiche dieses Innenlebens ins Auge fassen kann. Es kann demnach gar nicht um die Frage gehen, ob andere Vertreter einer Wissenschaft der inneren Beobachtung auf dem selben Feld forschen wie die Anthroposophie oder nicht, sondern darum, ob ihre Methoden, wenn sie denn denselben Fragen nachgehen, dem Gegenstand adäquat und leistungsfähig genug sind. Und was ihnen die Anthroposophie in dieser Hinsicht möglicherweise voraus hat. Mit Ausgrenzungen ist hier überhaupt nichts gewonnen. Vielmehr muß konkret und nicht nur im allgemeinen gezeigt werden, worin denn die besondere Leistungsfähigkeit der anthroposophischen Methode besteht, und was einen Nichtanthroposophen dazu bewegen könnte sie sich zu eigen zu machen. Ich möchte Ravagli, den ich im übrigen ja sehr schätze, hier weiter keinen Vorwurf daraus machen, daß er da etwas wichtiges übersehen hat. Vielleicht ist ja in der zweiten Auflage seiner Schrift die Sache anders dargestellt. Aber es scheint mir doch symptomatisch für den desolaten Stand der Steinerforschung insgesamt, wenn in einem so umfangreichen und anspruchsvollen Projekt, wie es sich Ravagli mit seiner Meditationsphilosophie vorgenommen hat, eine so grundlegende Steinersche Begrifflichkeit wie die von innerer und äußerer Beobachtung schlichtweg ungeklärt ist, und sich der Autor infolgedessen zu wissenschaftlichen Abgrenzungen versteigt, die wenigstens zum guten Teil Folge einer unzulänglichen Begrifflichkeit sind. Während Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln (S. 11-33) und in allerlei weiteren Kapiteln dort vor allem auf die gemeinsame Grundlage und auf das gemeinsame Forschungsfeld von «Anthropologie und Anthroposophie» mit Nachdruck aufmerksam macht. Ravagli, darin sehe ich das Kernproblem, ist in gewisser Hinsicht auch ein Leidtragender der weltanschaulichen Schicksalsgemeinschaft, der er angehört. Und in dieser Schicksalsgemeinschaft ist eingehendere Forschung über derartige Sachverhalte nicht eben angesagt. Normalerweise gehören offene Detailfragen dieser Art sicherlich nicht in Bücher wie die Meditationsphilosophie - da sollten sie längst geklärt sein - sondern in Fachaufsätze. Und dafür braucht es Finanzmittel, Publikationsmöglichkeiten und vor allen Dingen - Leser, die an solchen Fragen interessiert sind. Es wird also von Anthroposophen (vielleicht in der allerbesten Absicht) mitunter einiges getan, um nur ja den Eindruck nicht aufkommen zu lassen, Steiners Anthroposophie habe sachlich irgend eine mehr als nur oberflächliche Verbindung zur introspektiven Psychologie. Mit der Folge, daß die eigenen methodischen und erkenntniswissenschaftlichen Grundlagen auch für die eigenen Leute vollkommen verschleiert und unsichtbar werden. Das führt wahrlich nicht weiter, sondern auch noch zur Blindheit gegenüber den methodischen Schwierigkeiten der Introspektion, aus dem trügerischen Glauben heraus, Anthroposophie sei keine introspektive Wissenschaft und daher von deren Schwierigkeiten nicht betroffen. Mancher auch hält sich lieber an Husserl und seine Phänomenologie und ist geneigt alles andere als psychologische Verirrung zu etikettieren. Angesichts des Umstandes, daß es im gesamten schriftlichen und Vortragswerk Steiners keinen einzigen (!) sachlichen Verweis auf Husserl, wohl aber mannigfache Verweise auf die Psychologie der Selbstbeobachtung und ihre Methodenfragen gibt, ein erstaunlicher Fall von anthroposophischer Tatsachenverdrängung. - Mindestens ebenso erstaunlich wie das vollständige Übergehen Husserls durch Steiner. (Siehe hierzu auch "Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens, Vorwort") Jene Wissenschaft, von der Steiner in diesem Zusammenhang spricht, jene Psychologie, welche die "inneren Erlebnisse des Denkens, Fühlens und Wollens" betrachtete, war damals weit entfernt von einem allgemeinen Konsens hinsichtlich ihrer Vorgehensweise und noch viel weiter entfernt von der Überwindung jener methodischen Hürden, die sich dem Selbstbeobachter zwangsläufig stellen - vermutlich waren ihr diese Probleme noch nicht einmal zur Gänze bewußt, weil sie einfach keine Zeit hatte, sie zu entdecken und zu benennen. Bezeichnenderweise verlangte Karl Bühler 1908 vor dem Hintergrund methodologischer Kontroversen mit Wilhelm Wundt ausdrücklich die Entwicklung einer psychologischen Quellenkritik, und zwar: "sowohl eine allgemeine, welche eine Theorie der Selbstbeobachtung überhaupt enthält, als eine individuelle, welche uns ein Maß der Zuverlässigkeit für das einzelne Protokoll einer bestimmten Versuchsperson zu bieten imstande ist."33 Die introspektive Psychologie stand noch ganz am Anfang der Entwicklung und war tragischerweise von ihrem Beginn ebensoweit entfernt wie von ihrem vorzeitigen Ende. Bei allem Pluralismus an Methoden und Theorien war eines aber sehr bald klar: eine wissenschaftliche Selbstbeobachtung, wenn sie mehr als nur oberflächliche Erkenntnisse über seelische Zusammenhänge gewinnen will, muß den Beobachter in sehr gezielter Weise verändern, muß sein Denken, Fühlen, Wollen und Wahrnehmen schulen, stärken und sensibilisieren, damit eine solche Beobachtung überhaupt Aussicht auf Erfolg hat. Vieles, was in diesem Zusammenhang seinerzeit offen ausgesprochen wurde, findet sich bei Steiner schon vorweggenommen. Ich habe dies an anderer Stelle ausgeführt.34 Aus den spezifischen Bedingungen der Selbstbeobachtung heraus kommt man ganz naturgemäß zu der Frage: Was muß alles am Beobachter geschult und verändert werden? Wie umfassend können und sollen diese Veränderungen sein, wie macht man das und was stellt sich möglicherweise in der Folge einer solchen Schulung als Beobachtungsresultat ein? Obwohl es spekulativ klingen mag: ich halte es nicht für abwegig, hier analogisierend auf die evolutionäre Verzahnung von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und technologischer Entwicklung zu verweisen. Eine technologische Kultivierung und Steigerung der externen Beobachtungsmöglichkeiten bleibt bekanntermaßen nicht folgenlos für den Erkenntnisstand der Naturwissenschaften und vice versa. Das aktuellste und spektakuläre Beispiel solcher Verzahnung bietet zur Zeit das Hubble Weltraumteleskop mit seinen außerordentlichen optischen Möglichkeiten. Die technisch verfeinerte Wahrnehmungsfähigkeit dieses Instruments führt gerade zu einer Neubestimmung der Hubble-Konstante mit allen sich daraus ableitenden Folgerungen für die Theorie der Kosmogenese, der Sternentstehung und des Weltalters. Die Instrumente des Selbstbeobachters sind seine seelischen Fähigkeiten, sein Denken, Fühlen, Wollen und Wahrnehmen ebenso wie die ihm zur Verfügung stehende Begrifflichkeit. Was hindert uns daran anzunehmen, daß eine Revision dieses Instrumentariums nicht analoge Erkenntnisschübe nach sich zieht wie die technologische Verfeinerung des naturwissenschaftlichen Instrumentariums? Steiner zielt sehr konsequent auf eine solche Revision hin und sieht man sich zeitgenössische Abhandlungen zur introspektiven Methode an, so stößt man auch dort allenthalben auf die Forderung einer Beobachterschulung: da wird expressis verbis auf die Notwendigkeit einer guten Ausbildung hingewiesen, wie etwa bei Külpe, oder aber man kommt an Grenzen der inneren Wahrnehmungsfähigkeit, die sich im Prinzip durch ein entsprechendes Training hinausschieben lassen. Die Grundkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens stellen solche Grenzen dar und lassen sich durch entsprechende Maßnahmen erweitern. Äußerungen in dieser Richtung finden sich etwa bei Külpe und Müller. Grenzen anderer Art liegen im Bereich sprachlicher Kennzeichnung und der Begrifflichkeit vor. Was man nicht benennen und denken kann, darüber läßt sich schlecht reden und man übersieht es eben in der Regel. Deswegen hält Müller auch den Fachpsychologen für den erfolgreicheren Beobachter und für Dodge ist völlig klar, daß es in der Selbstbeobachtung nicht anders zugeht als in anderen Wissenschaftsbereichen. Anfänger und Laie sehen in einem Mikroskop und bei der Introspektion nur Belangloses, wo sich dem Fachmann eine höchst bedeutsame Welt auftut. (Siehe Anm. 18) Die Forderung nach Beobachterveränderung geht verständlicherweise noch nicht so weit wie bei Steiner und wird auch nicht mit dessen Entschlossenheit vorangetrieben. Der grundlegende Sachverhalt ist bekannt, was fehlt ist die folgerichtige Umsetzung dieser Einsicht. Gibt es nicht, wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, einen natürlichen Ort der Konvergenz zwischen der Anthroposophie und ihrer wissenschaftlichen Nachbarin? Muß aus der Sicht der introspektiven Psychologie die anthroposophische Methode nicht als eine sachgemäße Weiterentwicklung ihres eigenen Vorgehens erscheinen? Und müßte die Anthroposophie in dieser Psychologie nicht so etwas wie einen noch unvollständigen Vorläufer ihrer selbst sehen können? Daß diese Veränderungen des Beobachters bei der Selbstbeobachtungspsychologie zunächst nicht so weit gingen wie beim Steinerschen Verfahren und zum Teil auch nur als explizite wissenschaftliche Forderungen fern von ihrer praktischen Realisierung im Raum standen, mag aus der einfacheren Fragestellung heraus einleuchten, aber auch aus dem Umstand, daß natürlich auch in dieser Hinsicht die Dinge Zeit brauchten. Institutionalisierte Wissenschaft läßt sich schwerlich innerhalb weniger Jahre umorganisieren, zumal dann nicht, wenn wesentliche Fragen ihrer Vorgehensweise kaum über das reine Stadium der Exploration hinausgekommen sind. Ich möchte den grundsätzlichen Sachverhalt jedenfalls als deutliches Indiz dafür werten, daß es einen Strang der Kontinuität von dieser Psychologie zur Anthroposophie geben muß und daß die letztere sich durchaus sachlogisch in den Kontext der introspektiven Psychologie eingliedern läßt. Die Konturen dieses Stranges der Kontinuität können noch deutlicher werden, wenn man sich vor Augen hält, wie einer der führenden Psychologen, Oswald Külpe, die weitere methodische Entwicklung seiner Disziplin einschätzte und zu methodischen Kategorien von einer Offenheit kommt, die immerhin eine Verständigungsmöglichkeit über das anthroposophische Vorgehen sichtbar werden läßt. Ein Beispiel dafür ist der Külpesche Terminus des "inneren Experiments".35 "Unter einem Experiment" erläutert Oswald Külpe in seinen Vorlesungen über Psychologie von 1922, S. 57 ff "verstehen wir die willkürliche Herstellung eines Phänomens zum Zwecke seiner Beobachtung. ... Beim inneren Experiment ruft der Beobachter in sich selbst das zu bestimmende Phänomen hervor. Es gibt ja eine willkürliche Reproduktion von Vorstellungsbildern und Gedanken und deren Verläufen: man kann sich optische, akustische u.a. Sinneseindrücke willkürlich vergegenwärtigen, ebenso Gedanken, die bei bestimmten Gelegenheiten aufgetreten sind. Man kann sich aber auch phantasiemäßig Vorgänge vorstellen, die noch nie erlebt waren, z.B. anschauliche Gebilde räumlicher und qualitativer Art, man kann Urteile erzeugen, Schlüsse bilden und an ihnen studieren, was für Eigenschaften sie haben. Alle Betätigungen ferner, wie das Beachten, Wollen, Erwarten lassen sich durch das innere Experiment hervorbringen, auch in affektive Zustände, wie Mitleid, Zorn, Freude kann man sich willkürlich hineinversetzen. ... Schon in der alten Psychologie hat das innere Experiment eine Rolle gespielt, wenn es auch nicht als besonderes Hilfsmittel anerkannt worden ist. Man darf es als ein Verfahren bezeichnen, das auch für die praktische Menschenkenntnis seine Bedeutung hat. Denn das Nacherzeugen eines berichteten oder beobachteten Vorganges läßt ihn und damit seine Träger besser verstehen. Der Schauspieler, der sich in einen Charakter und seine Äußerungen hineinversetzt, der Seelenarzt, der sich den Krankheitszustand seines Patienten verdeutlicht, der Verteidiger, der die Tat seines Klienten aus dessen Seele herausentwickelt, der Beobachter einer Statue in ungewöhnlicher Haltung, der diese nachahmt, um sich ihre Wirkung nahezubringen, der Seelsorger, der die Geständnisse aus bekümmertem Herzen völlig begreifen will - sie alle bedienen sich eines solchen Verfahrens. Aber freilich zum psychologischen Experimente wird es nur durch den Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis, dem es dient. Hier wird man sich auch des Hilfsmittels der Wiederholung gern bedienen, um durch häufigere Beobachtung eine genauere und sichere Beschreibung herbeizuführen." 36 Diese Ausführungen zeigen einen außerordentlich freilassenden und weitgefaßten Begriff des inneren Experiments, der sich im Gegensatz zum Wundtschen Beobachtungs- und Experimentalbegriff schon sehr weitgehend von naturwissenschaftlichen Vorbildern emanzipiert hat und der hinreichend geschmeidig erscheint, sich dem psychischen Gegenstand anzupassen. Er scheint mir auch für ein Vorgehen wie das Steinersche offen genug zu sein. Die systematische Anwendung der Introspektion war freilich ein noch junges Verfahren und so bedauert Külpe denn auch, daß es eine eigentliche Theorie des inneren Experimentes und seiner Möglichkeiten noch nicht gäbe: "Die vielgeübten Vorgänge des Sichhineinversetzens, der willkürlichen Beeinflussung des eigenen Seelenlebens sind noch viel zu wenig erforscht. Und doch hat das innere Experiment zweifellos eine große Bedeutung für die Psychologie der höheren Prozesse,...". 37 Külpes Vorlesungen erschienen posthum 1922, sieben Jahre nach Külpes Tod, zu einer Zeit, als die Steinersche Methodologie längst vorlag, und zu dieser Zeit gab es - was Külpe ausdrücklich bedauert - keine hinreichenden Erfahrungen mit inneren Experimenten, so daß man daraus hätte zukunftsweisende methodische Folgerungen ziehen oder gar die Umrisse eines anthroposophischen Weges sich abzeichnen sehen können. Man darf vielleicht konstatieren, daß Steiner seiner Zeit voraus war, daß aber seine Vorgehensweise durchaus im Bereich dessen liegt, was Külpe hier als Denkmöglichkeit andeutet. Die methodologischen Denkformen waren bei Külpe gewissermaßen schon angelegt, um die anthroposophische Verfahrensweise wenn nicht vom Grundsatz her schon vollständig zu erfassen, so doch wenigstens eine sinnvolle Verständigung darüber in den Bereich des Möglichen zu rücken. In einem ganz analogen Sinn wie Külpe, allerdings ohne explizit den Terminus des "inneren Experiments" einzuführen, spricht G. E. Müller elf Jahre früher, faktisch aber annähern zeitgleich wie Külpe auf S. 72 ff von willkürlich und zu Beobachtungszwecken erzeugten Bewußtseinsinhalten, sog. "gezwungenen" Bewußtseinszuständen und man hat auch bei ihm den Eindruck, er sei auf dem Wege zu einer Begrifflichkeit, die eine sinnvolle Verständigung über die Schritte der Anthroposophie erlaubt. 38 Müller wendet sich S. 77 ff in diesem Zusammenhang gegen die pauschale Ansicht Wilhelm Wundts, die Beobachtungsabsicht müsse immer den Vorgang der inneren Beobachtung durchkreuzen. Müller kommt dagegen zur Auffassung, dies sei nur bei "natürlichen" Bewußtseinszuständen der Fall, bei solchen, die von selbst kommen und gehen und ganz ihrer eigenen Dynamik folgen. Bei jenen dagegen, die zum Zwecke der Beobachtung willkürlich evoziert werden, sei die Beobachtungsabsicht nicht anders wirksam als bei externen Beobachtungen. Bei äußeren Beobachtungen, so Müller, "dient die Absicht der Beobachtung eines äußeren Objektes dazu, die verschiedenen Teile des Objekts überhaupt erst zur Wahrnehmung zu bringen oder wenigstens zu deutlicherer Wahrnehmung gelangen zu lassen. Oft hat sie die Wirkung, daß sich die Aufmerksamkeit gewissen Seiten oder Eigenschaften des Objektes... besonders zuwendet. Außerdem pflegt sie die eintretenden Apperzeptionen des Objektes dadurch in ihrem Sinne zu beeinflussen und zu fördern, daß sie einen Kreis geeigneter Vorstellungen in Bereitschaft setzt. Ganz Analoges finden wir in den obigen Fällen, wo es sich um die Selbstwahrnehmung bei gezwungenen psychischen Zuständen handelt. Auch in diesen Fällen dient die Beobachtungsabsicht dazu, den zu beurteilenden Zustand überhaupt erst eintreten zu lassen oder wenigstens mit größerer Deutlichkeit auftreten zu lassen. Auch in diesen Fällen macht sie sich oft dahin geltend, daß sich die Aufmerksamkeit einer bestimmten Seite oder Eigenschaft des auftretenden Bewußtseinszustandes ... besonders zuwendet." 39 Müller sieht sehr klar, daß wesentliche qualitative Aspekte des seelischen Beobachtungsgegenstandes überhaupt erst auf dem Wege solcher gezielten Bewußtseinsakte greifbar werden und Müller ist neben Külpe auch einer derjenigen, die nachhaltig für eine Schulung des Beobachters eingetreten sind. Die gezielte Anwendung solcher Bewußtseinsakte fordert eine systematische Ausbildung geradezu heraus. Für Külpe würden die von Müller erwähnten "gezwungenen" Bewußtseinszustände ausnahmslos unter die Kategorie "inneres Experiment" fallen, da sie zum Zwecke der Beobachtung planmäßig hervorgerufen werden. Andererseits sind auch Steiners Gedanken- und Seelenübungen keine "natürlichen" Bewußtseinszustände im Müllerschen Sinne sondern es handelt sich um solche, die ebenfalls absichtlich (zu Beobachtungs- oder Erlebniszwecken) evoziert werden. Dies gilt für sämtliche Meditationsinhalte und in besonderer Weise für solche gedanklicher Art. Schon eine einfache Gedankenübung gehört diesem Typ von experimentellen Innenerlebnissen an, insbesondere dann, wenn die Aufmerksamkeit auch auf jene subtilen Vorgänge und Wandlungen gerichtet wird, die sich im Zuge solcher Seelenübungen zunehmend deutlicher einstellen. Man kann sehr genau den Erlebnisunterschied daran studieren, der besteht zwischen selbsttätigem Denken und einem assoziativ hin- und herschweifenden. Man kann daran studieren, wie sich das ganze Seelenleben nach solchen Übungen klarer, sicherer und konzentrierter darstellt als vorher, wie das Denkvermögen als solches kräftiger, sachgemäßer und präziser wird. Und was hier für eine simple Gedankenübung gilt, gilt in analoger Weise auch für alle anderen Seelenübungen. Es wird da tatsächlich experimentiert und Külpe hat völlig recht, wenn er dem inneren Experiment eine große Bedeutung für die "Psychologie der höheren Prozesse" beilegt. Insbesondere wenn man sich die von ihm erwähnten Schwächen des inneren Experimentierens vor Augen hält, wird die Folgerichtigkeit des Steinerschen Vorgehens deutlich, zeigt sich, wie sehr der Steinersche Weg dieses wissenschaftlich-experimentelle Prädikat verdient, weil er konsequent auf die offenkundigen Schwierigkeiten der Selbstbeobachtung reagiert. "Die Nachteile des inneren Experiments", so Külpe, "sind namentlich folgende: Zunächst sein Versagen gegenüber dem ganzen Gebiet der Sinneswahrnehmung, ferner gegenüber feineren Variationen, den Versuch, den Vorgang längere Zeit konstant zu erhalten und simultan einen gewissen Umfang von Gegenständen zu überschreiten. ... Endlich spielt beim inneren Experiment die Abhängigkeit von der Individualität, insbesondere von dem Willen des Beobachters und seinem Wissen um den Zweck des Experiments und seine Bedingungen eine entscheidende Rolle. Diese Abhängigkeit aber bringt erstens die individuellen Unterschiede übermäßig zur Geltung und erschwert zweitens die Wiederholung desselben Versuchs durch andere Beobachter. Gelingt es einem anderen nicht, dasselbe zu finden, so kann das einfach daran liegen, daß es ihm nicht gelungen ist, das Experiment in derselben Weise auszuführen. Und so ergibt sich denn drittens daraus ein Mangel an hinreichender Kontrolle, die auf das kritische Bewußtsein der Vpn selbst beschränkt bleibt. Sie selbst muß untersuchen, und niemand kann ihr dabei helfen, ob sie den zu beobachtenden Vorgang wirklich so erzeugt hat, wie das Ziel des Versuches es erfordert." 40 Die Einsamkeit und Selbstverwiesenheit beim inneren Experiment ist es, die Külpe auch die Forderung nach moralischer Qualifikation des Selbstbeobachters stellen läßt: "Neben den intellektuellen Anforderungen werden in psychologischen Untersuchungen nicht selten auch beträchtliche moralische Anforderungen an die Vpen gestellt. Grundbedingung für das Gedeihen aller menschlichen Leistungen ist ja der gute Wille, die Bereitschaft, übernommene Aufgaben auch sachgemäß zu Ende zu führen; psychologische Versuchsreihen erfordern meist eine große Ausdauer und Regelmäßigkeit, wenn sie zu guten Resultaten führen sollen. Auch die ganze Lebensweise muß unter Umständen streng geregelt und ihnen angepaßt werden; das verlangt Pflichtbewußtsein und Herrschaft über sich selbst." 41 Es macht keine Schwierigkeiten, Steiners Verfahren vor diesem Hintergrund ein experimentalwissenschaftliches zu nennen, schon wenn man nur die speziellen Rahmenbedingungen seines Vorgehens ins Auge faßt. Schaut man sich an, wie er innere Bedingungen des seelischen Erlebens herstellt, die für introspektive Beobachtungsverhältnisse ungemein klar, begrenzt und präzise sind, so fühlt man sich unwillkürlich an das Vorgehen eines experimentierenden Naturwissenschaftlers erinnert, der die Randbedingungen seines Versuchs möglichst exakt definieren möchte, um das fragliche Phänomen übersichtlich und rein vor sich zu haben. Die außerordentliche Inanspruchnahme des Beobachterwillens und der Konzentration, um Bewußtseinsfluktuationen durch assoziativ hin- und herhuschende Gedanken- und Erinnerungsfragmente abzustellen, die Schaffung eines Zustandes völliger innerer Ruhe, die sorgfältige Fokussierung eines willkürlich ins Bewußtsein gerückten Erlebnisgegenstandes bei maximal konzentrierter Aufmerksamkeit. Die entsprechend langfristige und systematische Ausbildung (Schulung) der entscheidenden Bewußtseinsparameter: Gedanken-, Willens- und Gefühlskontrolle, des inneren Gleichgewichts, der Unbefangenheit gegenüber neuen Erfahrungen, der Urteilssorgfalt und Wahrheitsliebe - all dies unterstreicht diesen Experimentalcharakter vollends und fügt sich sehr gut zu der von Külpe implizit und explizit gegebenen Charakterisierung des "inneren Experimentierens" und seiner Voraussetzungen. Steiner selbst hat gelegentlich zur Kennzeichnung seiner Seelenübungen den Terminus "Seelenexperiment" verwendet 42, freilich eher en passant und nicht in einem systematisierenden Sinn, doch eine genauere Untersuchung könnte diesen "experimentellen" Charakter vermutlich minutiös nachzeichnen, wenn sie sich am Sprachgebrauch der zeitgenössischen Fachpsychologie und an deren methodischen Kategorien orientiert. Ein solcher Ausdruck ist nicht notwendig eine Metapher und die Art, wie Steiner die "Seelenübungen" durchgeführt wissen will, rechtfertigt ihn allemal. Kapitel 5
Zu den Pionieren der modernen Denkpsychologie zählt die Würzburger Schule um Oswald Külpe, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erstmalig experimentelle Selbstbeobachtungsversuche über das Denken im größeren Stil durchführte. Zu den beruflichen Eigentümlichkeiten dieses Psychologen zählte, daß er zugleich Philosoph war, denn die Psychologie war damals noch ein Zweig der Philosophie. Ein Umstand, der enorme Doppelbelastungen mit sich brachte, worunter Külpe schwer ächzte: " ... die Verbindung von Philosophie und Psychologie ist kaum mehr zu leisten. Ich habe deshalb eine Abhandlung geschrieben, die den Vorschlag der Trennung macht und begründet. Anfang Januar soll sie herauskommen und Ihnen natürlich auch vorgelegt werden. Man kann in der Psychologie nicht auf dem Laufenden bleiben, wenn man nicht wirklich mitarbeitet, d. h. namentlich an Einzeluntersuchungen selbst teilnimmt, und dann bleibt für andere Aufgaben auf philos. Gebiet wenig Zeit übrig - wenigstens bei einem Ordinariat, das Staats- und Doktorprüfungen, Seminar- und Vorlesungstätigkeit, Fakultäts- und Universitätsgeschäfte an sich kettet." (An Wilhelm Wundt am 24.12.1911. Zitiert nach Steffi Hammer, Denkpsychologie - Kritischer Realismus. Eine wissenschaftshistorische Studie zum Werk Oswald Külpes. Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/M, 1994, S. 254) Einer der philosophischen Schüler Külpes war Friedrich Rittelmeyer, der 1903 bei diesem in Würzburg mit dem Thema Nietzsche und das Erkenntnisproblem promovierte (Siehe S. Hammer, S. 216) und zu ihm sogar, wie er (Friedrich Rittelmeyer, Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner, Stuttgart 1983, S. 71) schreibt, in einer sehr nahen menschlichen Beziehung stand. Rittelmeyer war es auch, der 1915 Steiner dazu bewegte, den wissenschaftlichen Kontakt zu Külpe aufzunehmen, was leider über das Anfangsstadium nicht hinauskam. Nicht nur sachlich, sondern auch menschlich war also die Anthroposophie der Psychologie seinerzeit sehr nahe. Was in einer Phase der wissenschaftlichen Prägung der Psychologie nach Wissenschafts- und Methodenverständnis und angesichts der führenden Rolle, die Külpe in dieser Wissenschaft damals innehatte, folgenreich für die Zukunft dieser Disziplin hätte sein können. Külpe wiederum war als Wissenschaftler ungewöhnlich freilassend und für viele Fragen aufgeschlossen. Man hätte, wie Rittelmeyer (S. 71) schreibt, in der damaligen Zeit als Anthroposoph keinen besseren für einen wissenschaftlichen Austausch bekommen können: "Wer Oswald Külpe kannte, weiß, daß man einen Universitätsprofessor, der philosophisch besser durchgebildet, psychologisch gründlicher geschult, dem Charakter nach reiner, vorurteilsloser und offener gewesen wäre, im damaligen Deutschland kaum finden konnte." Ein Eindruck, der durch die eben erwähnte wissenschaftshistorische Studie Steffi Hammers volle Bestätigung findet. Für eine Begegnung zwischen Anthroposophie und Psychologie war die Konstellation geradezu idealtypisch. Nun ging es in dem von Rittelmeyer anvisierten Forschungskontakt nicht darum, ein psychologisches Experiment durchzuführen, sondern einen Mann der Wissenschaft mit Steiners "außerordentlichen Fähigkeiten" zu konfrontieren. Rittelmeyer schreibt (S. 71 f): "Nicht an ein psychologisches Experimentieren im üblichen Sinne dachte ich. Vielmehr sollte der Versuch gemacht werden einen möglichst unbefangenen Mann der gegenwärtigen Wissenschaft den außerordentlichen Fähigkeiten Rudolf Steiners gegenüberzustellen und mit ihm in freiem Gespräch darüber zu reden, wie vielleicht Methoden gefunden werden könnten, mit denen sich die Wissenschaft auf ihre Weise überzeugen kann, ohne sich selbst etwas zu vergeben - aber auch ohne der Eigenart der Phänomene ungerecht zu werden. Es lebte in mir das Gefühl: Rudolf Steiner darf nicht sterben, ohne daß dieser Versuch gemacht ist; eine würdige Auseinandersetzung zwischen der heutigen Wissenschaft und den heraufkommenden menschlichen Fähigkeiten müßte für die ganze Menschheit von unersetzlicher Bedeutung sein." Diese ganze Strategie Rittelmeyers scheint mir wenig realitätsverankert und mußte sich früher oder später als Totgeburt erweisen, weil sie auf einen der Hauptakteure und seine Belange wenig Rücksicht nimmt. (Bei Lichte besehen steht sie den Belangen beider Hauptakteure ziemlich verständnislos gegenüber.) Denn: - Wie überzeugt man einen unbefangenen, anspruchsvollen, gewissenhaften und von Arbeit überhäuften Mann der psychologischen Wissenschaft von den "außerordentlichen Fähigkeiten" eines Menschen den er gar nicht kennt, ohne auf psychologische Experimente in irgend einem Sinne zurückzugreifen? Irgendwie hätte sich Külpe als ernsthafter Psychologe ja erst einmal ein Bild von diesen "außerordentlichen Fähigkeiten" Steiners machen müssen. Die kann er ja nicht apriori auf Treu und Glauben voraussetzen. Er wäre also, um seinen wissenschaftlichen Anspruch und Sachverstand zu befriedigen, um psychologische Experimente gar nicht herumgekommen. Und das ist eine Angelegenheit, der selbst Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln weit mehr ablehnend als nur skeptisch gegenübersteht: "Es wird oft ein Einwand gegen die Anthroposophie erhoben, der ebenso begreiflich aus der Seelenstimmung der Persönlichkeiten heraus ist, von denen er kommt, wie er unberechtigt ist gegenüber dem Geiste, aus dem heraus das anthroposophische Forschen angestellt wird. Mir erscheint er deshalb ganz unbeträchtlich, weil die Widerlegung für jeden nahe liegt, der mit wirklichem Verständnisse den vom anthroposophischen Gesichtspunkte gegebenen Darstellungen folgt. Nur weil er immer von neuem auftritt, sage ich hier einiges über ihn, wie ich es auch schon in der 6. Auflage meiner «Theosophie», am Schlusse, 1914 getan habe. - Es wird, um diesen Einwand aufzustellen, gefordert, daß die geistigen Beobachtungsergebnisse, die von der Anthroposophie vorgebracht werden, im Sinne der rein naturwissenschaftlichen Experimentiermethode «bewiesen» werden sollen. Man stellt sich etwa vor, einige Personen, die behaupten, sie können zu solchen Ergebnissen kommen, werden einer Anzahl anderer Personen in einem regelrecht angeordneten Experiment gegenübergesetzt, und die «Geistesforscher» hätten dann anzugeben, was sie an den zu untersuchenden Personen «geschaut» haben. Ihre Angaben müßten dann übereinstimmen, oder doch wenigstens in einem genügend großen Prozentsatze sich ähnlich sein. Man kann begreifen, daß, wer Anthroposophie nur kennt, ohne sie verstanden zu haben, eine solche Forderung immer wieder erhebt, denn durch deren Erfüllung würde ihm erspart, sich zu dem richtigen Beweiswege durchzuarbeiten, der in der Aneignung des jedem erreichbaren eigenen Schauens besteht. Wer aber Anthroposophie wirklich verstanden hat, der hat auch die Einsicht, daß ein in der angedeuteten Art angestelltes Experiment zur Gewinnung wahrhaft geistiger Anschauungsergebnisse ungefähr ebenso geeignet ist wie zur Beobachtung der Zeit an einer Uhr die Stillesetzung der Zeiger. Denn zur Herbeiführung der Bedingungen, unter denen Geistiges geschaut werden kann, führen Wege, die aus den Verhältnissen des seelischen Lebens selbst sich heraus ergeben müssen." So Steiner dort (GA-21, 1976, S. 169 f). Man vergleiche auch, was Steiner am Ende seiner Theosophie (GA-09) im Kapitel Einzelne Bemerkungen und Ergänzungen ausführlich zu diesem Thema sagt. 42a Desgleichen einiges dazu im Kapitel Charakter der Geheimwissenschaft in seiner Geheimwissenschaft im Umriss (GA-13, 1977, S. 40 f). Insgesamt ist es schon erstaunlich genug, daß Steiner selbst, wie Rittelmeyer (S. 72) sagt "zu Experimenten in gewissem Sinn bereit war." Denn die Bandbreite an Möglichkeiten zu derartigen Tests war unter den von Steiner genannten Beschränkungen - vor allem wenn man sich seine diesbezüglichen Ausführungen in der Theosophie vor Augen hält - außerordentlich schmal. Ein wenig davon schimmert durch Rittelmeyers Worte hindurch, wenn er (S. 72) schreibt: "Nur sollte es nicht so sein, daß ein beliebiger Wissenschaftler ihn in seinem Institut einer »Prüfung« unterzieht und ihn dabei womöglich behandelt wie einen zu entlarvenden Verbrecher. Vielmehr sollte es so geschehen, daß ein für die Sache aufgeschlossener Geist seine Fragen stellt und in freier Weise eine Verständigung darüber herbeizuführen sucht, wie die Wissenschaft forschend an die Phänomene herankommen kann." Und Külpe wiederum, mit einigen Schriften Steiners versehen, sah sich außerstande, in einer angemessenen Zeit ein seriöses Projekt ins Leben zu rufen, ohne seine übrige Arbeit gründlich zu vernachlässigen. Die Sache schien ihm einfach zu kompliziert. Ohne Experimente also wäre es aus der Sicht des Psychologen nicht gegangen, und aus der Sicht Steiners wären Experimente, wenn überhaupt, dann nur in sehr begrenztem Umfang möglich gewesen. Man versetze sich nun weiter in Külpes Lage: Was hätte eine derartige experimentelle Überprüfung ihm als Psychologen geben können außer vielleicht einigen unerwarteten Resultaten? Er hätte ja nicht die leiseste Ahnung gehabt, warum sie so ausfielen. Außer der bekannten Einsicht, daß es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als sich die Schulweisheit träumen läßt, hätte er wissenschaftlich nichts davon mitnehmen können. D. h.: der psychologische Detailzusammenhang, auf den es eigentlich ankommt, wird bei derartigen Versuchen gar nicht sichtbar, wie ja auch Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln schreibt. Und aus der Sicht des Psychologen leisten Experimentalbeweise in Fragen übersinnlicher Wahrnehmung zunächst herzlich wenig, denn die Zahl der möglichen Erklärungen geht für ihn schier ins Grenzenlose. Wissenschaftstheoretisch gesehen haben sie allenfalls den Charakter von Anomalien: Sie offenbaren eine Diskrepanz zwischen unseren sachlich begründeten Erwartungen und dem, was tatsächlich eintritt, so wie das Leuchten von Röntgens Schirm als er es gar nicht sollte, und damit die Entdeckung der Röntgenstrahlen erst initiierte, aber noch nicht war. Die Arbeit fängt mit der Anomalie erst richtig an. Was im vorliegenden Fall für den Untersucher bleibt, ist allenfalls ein Überraschungsmoment - aber wie geht man weiter damit um? Sollte Külpe sich Steiners Erklärungen zu eigen machen, wo er doch dessen Bücher ohnehin schon nicht verstand? Die gesamte Veranstaltung hätte für ihn nicht sehr viel mehr Aussagekraft als irgend eine spiritistische Sitzung. Bestenfalls ein interessantes Spektakel, und die waren zu Külpes Lebzeiten schon hinreichend bekannt. Die eigentliche Arbeit wäre, ohne apriorische Aussicht auf seriöse und befriedigende Resultate, erst noch vor ihm gelegen und zwar mit einem immensen Zeitbedarf. Und Zeit hatte er nicht. Folglich lehnte er ab, und zwar, wie mir scheint, aus sehr vernünftigen Gründen. Damit war dieses Zeitfenster für den direkten und nachhaltigen Forschungskontakt von Anthroposophie und Psychologie ein für allemal geschlossen, denn Külpe verstarb kurz darauf (1915) unerwartet. Soweit das hier in der Kürze darstellbar ist, haben wir eine eigentümlich widersprüchliche und spannungsgeladene Konstellation: Einmal Friedrich Rittelmeyer, der aus menschlich vielleicht verständlichen Gründen danach strebt, daß sich die zeitgenössische Wissenschaft mit den einzigartigen Fähigkeiten Rudolf Steiners befaßt. Wobei ihm einerseits wenigstens ahnungsweise klar sein mußte, daß Rudolf Steiner diesem seinem Vorgehen keinen besonderen Stellenwert beimessen konnte; ja, es eher ablehnte als ihm zuzustimmen. Und ihm ferner auch klar sein mußte, daß es ein naturwissenschaftlich orientiertes experimentelles Verfahren, sich mit Steiners persönlichen Bewußtseinseigenarten mit Gewinn und Verständnis vertraut zu machen, weder unter den wissenschaftlichen Voraussetzungen der Anthroposophie, noch unter denen der zeitgenössischen Psychologie geben konnte, das die Ansprüche beider Wissenschaftsrichtungen gebührend abzudecken in der Lage war. Die einzige tatsachen- und wissenschaftsadäquate Möglichkeit, die ein Psychologe damals (und heute) zwecks Überprüfung von Steiners Aussagen gehabt hätte, wäre die gewesen, sich selbst auf den inneren Weg zu begeben: "Was die Geisteswissenschaft zu erfüllen hat, ist, anzugeben, auf welchem Wege der Mensch zum Schauen der Aura kommt; auf welchem Wege er sich also selbst die Erfahrung von ihrem Vorhandensein verschaffen kann. Es kann also die Wissenschaft dem, der erkennen will, nur erwidern: wende die Bedingungen des Schauens auf deine eigene Seele an, und du wirst schauen." (Theosophie a.a.O., S. 160) Wir haben weiter einen - sagen wir ruhig: mit Fähigkeiten begnadeten - Menschen (Rudolf Steiner), der wohl Interesse an einer sachlichen Begegnung mit der nichtanthroposophischen Wissenschaft haben mußte und konnte, aber keines an einer Durchleuchtung seiner Hellseherfähigkeiten, die an den experimentellen Methoden der Naturwissenschaft orientiert war. Und das letztere nicht etwa aus persönlichen Gründen, sondern aus Gründen, die in der Eigenart der übersinnlichen Phänomene wurzelten. Und um diese Beschränkungen wissend, läßt er Rittelmeyer in der Kontaktanbahnung mit Külpe mehr oder weniger nach dessen eigenem Geschmack schalten und walten. Schließlich haben wir mit Oswal Külpe einen hervorragenden und führenden Psychologen seiner Zeit, der sich sachlich als idealtypischer Gesprächspartner für die Anthroposophie erweisen könnte, und auch in einer engen menschlichen Beziehung zu einem exponierten Vertreter der Anthroposophie steht. Darüber hinaus ein ausgesprochenes Forschungsinteresse an den höheren Seelenfähigkeiten des Menschen hat, über die er in langen denkpsychologischen Forschungsreihen gearbeitet, publiziert, und entsprechende Forschungsvorhaben ihm verbundener Forscher initiiert und betreut hat. Auf diesen engeren sachlichen Kontext seiner Arbeit im Hinblick auf das Gespräch mit der Anthroposophie aber offenbar gar nicht zielgerichtet angesprochen wird. Rittelmeyer schreibt (S. 73), daß nicht Steiner in diesem Fall versagt habe. Ich meinerseits erhebe hier nicht den Anspruch allen Beteiligten historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - dazu ist meine Materialbasis zu dünn. Aber wenn es denn so war wie Rittelmeyer schreibt, dann sehe ich mich zur Frage gedrängt, ob Rittelmeyer Külpe nicht vielleicht ein falsches Stichwort gegeben und eine sich bietende Gelegenheit ein wenig verschlafen hat? Will sagen: Mit diesem Ansinnen sah sich der Mann mit Recht überfordert, denn was von ihm erwartet wurde, war viel zu hoch gegriffen und nahm auf seine existentiellen Bedingungen im allgemeinen und die Bedingungen seiner Wissenschaft im speziellen wenig Rücksicht. Steiner war ihm weitgehend unbekannt, und dessen Schriften machten auf ihn nach flüchtiger Durchsicht nicht den Eindruck, daß man hier sofort hätte zugreifen müssen. Es war überhaupt nur das Vertrauen und die menschliche Beziehung zu Rittelmeyer, die ihn bewogen sich näher mit der Angelegenheit zu befassen, wie Rittelmeyer schreibt. Ein bescheideneres, einfühlsameres und zeitlich längerfristig angelegtes Vorgehen, das sich in Külpes Interessenlage einklinkt und nicht verlangte, daß dieser sich aus seinen Angelegenheiten ausklinkt, hätte da wohl mehr Aussicht auf Erfolg gehabt. Zum Beispiel ein Projekt auf rein methodologischer Ebene. Denn Külpe war auch für methodische Fragen außerordentlich aufnahmefähig. Und Anlaß dazu gab es in einer Zeit, in der methodische Fragen der inneren Beobachtung öffentlich und breit diskutiert wurden, reichlich genug. Also wenn überhaupt, dann hätten die Vertreter der Anthroposophie hier die Chance gehabt, ihre methodischen Vorstellungen und deren Überlegenheit mit Vertretern der Fachwissenschaft zu diskutieren und faktisch unter Beweis zu stellen. Gelegenheiten dazu hätten sich unter den gegebenen Bedingungen bei Vermittlung Rittelmeyers mit Sicherheit herstellen lassen, denn Külpe schätzte auch den Dialog mit entlegeneren Richtungen. Die Pflege geistiger Geselligkeit und des Gedankenaustausches auch im Külpeschen Hause, außerhalb des unmittelbaren Universitätsbetriebes, hatte Tradition. Külpe hatte für philosophische Außenseiter ein Ohr - sogar für Okkultisten (Siehe Hammer, S. 23 f), wenn es denn eine sachliche Verbindung gab. Seine sprichwörtliche Offenheit ging so weit, daß schließlich Rittelmeyer in Verkennung der Verhältnisse glaubte, er könne ihm fern von jedem fachlichen Bezug allein mit Steiners Fähigkeiten kommen. Und damit hat er sich verkalkuliert. Hätte er weniger verlangt, so hätte er vielleicht vieles bekommen. Er aber verlangte zu viel - und bekam nichts. Rittelmeyers Zugang zur Anthroposophie bahnte sich erst seit 1910 an. Insofern muß man natürlich den Zeitbedarf dieses Annäherungsprozesses hinreichend würdigen. Aber Külpe kannte er 1915 schon seit mehr als zwölf Jahren und hätte vielleicht ahnen können, daß diesem mit dem Hinweis auf Steiners "außerordentliche Fähigkeiten" fachlich nicht geholfen war. Wie dem auch sei: Als Unbeteiligter kommt man angesichts solcher Umstände unweigerlich ins Grübeln darüber, wieso ein Mann wie Rittelmeyer sich etliche Jahre Zeit nimmt, den nach seiner Auffassung einzigen zugänglichen und ihm auch noch nahestehenden Menschen der Wissenschaft mit der Anthroposophie in Berührung zu bringen, und dabei ausschließlich auf Steiners Fähigkeiten fixiert vorzugehen, anstatt sich an Sachfragen der damaligen Psychologie zu orientieren. Denn die hätten einen Mann wie Külpe weit mehr motivieren können. Und zwar aus guten Gründen. Damit war er nämlich tagtäglich konfrontiert. Das hätte eine persönliche Einbeziehung Steiners ganz und gar nicht ausgeschlossen. Aber sie wäre sachorientiert vorbereitet gewesen. Man hätte Külpe, einem pädagogischen Prinzip folgend, da abgeholt, wo er selbst stand, anstatt ihn mit spektakulären Fähigkeiten zu konfrontieren, zu denen er keinen operationalisierbaren fachlichen Zugang hatte. Vor diesem Hintergrund mutet es primadonnenhaft selbstgerecht an, wenn Rittelmeyer in diesem Kontext (S. 74) Klage darüber erhebt, daß sich die Wissenschaft nie um Rudolf Steiner gekümmert habe. Vielleicht hätte man sich nur ein wenig mehr und ein wenig tatsachenorientierter auf diese Wissenschaft zubewegen müssen, anstatt darauf zu bauen, daß diese kommt und Steiners Fähigkeiten entdeckt. Eine realistische Aussicht zu einer solchen Begegnung auf Sachebene hat zu Külpes Lebzeiten zweifellos bestanden. Vielleicht hat Rittelmeyer recht wenn er schreibt, daß nicht Steiner derjenige gewesen sei, der in diesem Fall versagt habe - aber war es Külpe mit seiner blassen Aura? (S. 72) Die Sachlage verdient sicherlich eingehender (und wohl auch angemessener) untersucht zu werden als wir das an dieser Stelle tun können. Ein Eindruck, der sich allerdings aufdrängt wenn man Külpes Schaffen ein wenig kennt, ist der: Külpe war sich auf grund seiner fachlichen Erfahrung der explorativen Dimension des Rittelmeyerschen Anliegens in einer Deutlichkeit bewußt, die Rittelmeyer offenbar nicht nur damals fehlte, sondern auch noch Jahre später, als er seine Lebenserinnerungen in Buchform brachte. Külpe war alles andere als ein Oberflächling. Und bei seiner Zugänglichkeit war es sicherlich nicht der esoterische Aspekt allein, der ihn zurückschrecken ließ. Vielmehr hätte ihn die Aufgabe, so wie sie gestellt war, bei seinen Ansprüchen schlicht überfordert. Es war offensichtlich Rittelmeyers Strategie, ihn mit Steiners Fähigkeiten zu konfrontieren und von dort ausgehend mit ihm gemeinsam nach gangbaren Wegen zu suchen, "wie die Wissenschaft forschend an die Phänomene herankommen kann", wie Rittelmeyer es auf S. 72 beschreibt, was ihn letztlich zum ablehnenden Entschluß führte. Denn das ist - vorausgesetzt man nimmt sie wirklich ernst - eine ungeheuer komplexe Aufgabe für einen Psychologen von Külpes Format. Und sie ist nicht nur für den Psychologen schwer zu erfüllen, sie ist ja auch für Steiner selbst alles andere als ein Mittel erster Wahl, sich mit der Anthroposophie vertraut zu machen. Das letztere vor allem führt zur Verwunderung angesichts der Rittelmeyerschen Ausführungen, die immer wieder in den Gestus des anklagenden Bedauerns zurückfallen, die Wissenschaft hätte sich mehr um das Phänomen Rudolf Steiner kümmern müssen - obwohl Steiner selbst dieser Form der Begegnung weder einen tieferen Sinn noch irgend eine Art von nennenswerter wissenschaftlicher Fruchtbarkeit beimißt. Vielleicht hat dieser Fehlschlag einen oder einen letzten Anstoß dazu gegeben: In der bald danach erschienenen Schrift Von Seelenrätseln jedenfalls scheint Steiner den Realitäten mehr Rechnung getragen zu haben, indem er einen vermittelnden Weg vorschlägt, der sich auch bei Külpe als gangbarer erwiesen hätte: Er besteht im explizit geäußerten Wunsch oder der Forderung in einem psychologischen Laboratorium arbeiten zu können, um zu zeigen wie das menschliche Wesen zum Schauen veranlagt ist. Wenn man weiß, daß bei Steiner das reine respektive sinnlichkeitsfreie Denken schon zum schauenden Bewußtsein gehört, und Külpe wiederum in der Untersuchung von Denkvorgängen vor allem in den Jahren zuvor einen ausgesprochenen Forschungsschwerpunkt hatte, dann braucht es nicht viel Phantasie um sich auszumalen, was bei einer entsprechenden Anreicherung des Külpeschen Forschungsprogramms mit Fragen und Ideen seitens der Anthroposophie unter Umständen hätte erreicht werden können. Man muss sich dazu vorstellen, was in Külpe eigentlich lebte, als Rittelmeyer ihn auf Rudolf Steiner ansprach: Noch im Jahre 1912 hatte Külpe in einem Aufsatz, Über die moderne Psychologie des Denkens, (hier ab S. 297) überblicksartig die Resultate aus den vergangenen Versuchen zur Beobachtung des Denkens publiziert. Und was er dort voller Enthusiasmus vorträgt, hätte jeden Anthroposophen eigentlich hellhörig machen müssen. Er beschreibt dort die Entdeckung des sinnlichkeitsfreien, anschauungslosen Denkens in seinem Würzburger Institut. Und zwar zu einer Zeit, als die übrige zeitgenössische Psychologie des Denkens zumeist weit davon entfernt war, so etwas zu erwarten oder ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Was Külpe letztlich dort - aus Steiners Sicht gesehen - beschreibt, und was ihn förmlich begeistert, wie man seinem Text unmittelbar ablesen kann, ist wohlgemerkt: aus Steiners Sicht gesehen, die elementare Stufe der Hellsichtigkeit, der übersinnlichen Wahrnehmung! - Das sinnlichkeitsfreie Denken! Das alles war zu dieser Zeit in Külpe ausserordentlich virulent. Und so schreibt er 1912: "Es ist dem Denken in der früheren Psychologie meist nicht die genügende Beachtung geschenkt worden. Und die experimentelle Richtung hatte zunächst so viel in dem massiveren Hause der Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle Ordnung zu schaffen, daß sie sich erst spät der luftigen Gedanken annehmen konnte. Die robusten Sinnesinhalte der Drücke und Stiche, der Geschmäcke und Gerüche, der Töne und Farben fielen zuerst im Bewusstsein auf, ließen sich am leichtesten wahrnehmen, nächst ihnen die Vorstellungen von ihnen und die Freuden und Leiden. Daß es außerdem noch etwas gab, ohne die anschauliche Beschaffenheit dieser Gebilde, entging dem dafür nicht geschulten Auge der Forscher. Von der naturwissenschaftlichen Erfahrung her waren sie auf Sinnesreize und Empfindungen, auf Nachbilder, Kontrasterscheinungen und phantastische Veränderungen der Wirklichkeit eingerichtet. Was solchen Charakter nicht an sich trug, schien einfach nicht vorhanden zu sein." (Oswald Külpe, Über die moderne Psychologie des Denkens. In, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, 6, 1912. Wiederabdruck in Paul Ziche, Herausgeber, Instrospektion, Texte zur Selbstwahrnehmung des Ichs, Springerverlag, Wien New York, 1999, S. 45). Külpe dann (Ziche a.a.O., S. 52) später weiter: "Es ist bezeichnend, daß eines der ersten Ergebnisse unserer Denkpsychologie negativ war: die von dem bisherigen Begriffsmaterial der experimentellen Psychologie zur Verfügung gestellten Termini der Empfindung, des Gefühls, der Vorstellung und ihrer Verbindungen gestatteten nicht, die intellektuellen Prozesse zu erfassen und zu bestimmen. [...] Schon die Untersuchung primitiver Leistungen des Denkens zeigte alsbald, daß auch Unanschauliches gewußt werden kann, daß die Selbstbeobachtung ungleich der Naturbeobachtung wahrzunehmen, als vorhanden und in bestimmter Beschaffenheit ausgeprägt und festzustellen vermag, was weder farbig noch tönend, was weder bildhaft noch gefühlsmäßig gegeben ist. Die Bedeutungen abstrakter und allgemeiner Ausdrücke sind auch dann im Bewusstsein nachweisbar, wenn sich außer den Worten nichts Anschauliches entdecken läßt, und werden selbst ohne Worte oder andere Zeichen erlebt und vergegenwärtigt. [... ] Die experimentelle Psychologie ist damit vor neue Erfahrungen gestellt, die nach allen Seiten hin große Perspektiven eröffnet." Külpe wusste wovon er redet, denn er war ja selbst als Versuchsperson, und natürlich auch als wissenschaftlicher Gesprächspartner und in seiner Funktion als Institutsleiter an den Versuchen direkt beteiligt. - Und mit Blick auf Steiner und die Bedeutung des reinen Denkens in dessen Weltanschauung kann man zu seinem abschliessenden Resüme nur sagen: Wie wahr! Mit den Worten: "Die Bedeutungen abstrakter und allgemeiner Ausdrücke sind auch dann im Bewusstsein nachweisbar, wenn sich ausser den Worten nichts Anschauliches entdecken lässt, und werden selbst ohne Worte oder andere Zeichen erlebt und vergegenwärtigt." legt Külpe den Finger auf die empirische Schlüsselstelle der Steinerschen Weltanschauung: Begriffe existieren im Bewusstsein in einer Form, die mit herkömmlichen sinnlichen Wahrnehmungen jedweder Beschaffenheit nichts gemein hat. Für Rudolf Steiner liegt darin der Erfahrungsbeweis dafür, dass der Mensch mit seinem begrifflich denkenden Bewusstsein in den Bereich des Übersinnlichen, des Geistigen, schon in seinem gewöhnlichen Leben hineinragt.
Und Steiner an anderer Stelle: "Wer dasjenige, was ich als Forschungsmethode meiner anthroposophischen Geisteswissenschaft zugrunde lege, Hellsehen nennt, der muß auch schon das gewöhnliche reine Denken, das durchaus aus dem Alltagsleben heraufströmt in das menschliche Bewußtsein, das hineinströmt in das menschliche Handeln, Hellsehen nennen. Ich selber sehe qualitativ keinen Unterschied zwischen dem reinen Denken und demjenigen, was ich als Hellsehen bezeichne. ... Dann aber, wenn man den Vorgang kennt, durch den man zu solchem reinen Denken kommt, kann durch das, was wahre tiefergehende Philosophie gibt, etwas ausgebildet werden, was ich dann in der verschiedensten Weise als Erkenntnismethode für die höheren Welten dargestellt habe in meinem Buch << Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> und in meiner <<Geheimwissenschaft>>. Geradeso, wie aus den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen Seele zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine besondere Schulung braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang weiter ausbildet, zu dem kommen, was ich in dem genannten Buch und im zweiten Teil meiner <<Geheimwissenschaft>> die Stufen der höheren Erkenntnis - also Imagination, Inspiration, Intuition - genannt habe. Was sich im reinen Denken äußert, das wird uns Menschen einfach eigen dadurch, daß wir geboren sind; es ist uns in unserem jetzigen Stadium der Menschheitsentwicklung vererbt." (GA 255b, Dornach 2003, Vortr. Stuttgart, 25. Mai 1923, S. 300 f) Angesichts der Külpeschen Charakterisierung des Denkens wird sich mancher heute, zumal aus dem anthroposophischem Umfeld, vielleicht wundern, warum ich diese Parallelität hier so hervorhebe. Denn so aussergewöhnlich und spektakulär scheint das auf den ersten Blick ja gar nicht zu sein, was Külpe oben ausführt. Das Aussergewöhnliche tritt erst hervor, wenn man sich die Zeitverhältnisse und die vorherrschenden wissenschaftlichen Ansichten über das Denken vor Augen führt. Es fällt in der heutigen Zeit dem Nichtfachmann in der Regel schwer, den Fund Külpes realistisch einzuordnen, weil zumeist die psychologiegeschichtlichen Detailkenntnisse fehlen. Deswegen ist es erhellend Külpes Überblick über die Methoden und Ansichten seiner Zeit zu studieren. Als Wissenschaftler hatte er diese Entwicklung von den Anfängen an schon als Assistent im psychologischen Institut bei Wilhelm Wundt hautnah miterlebt. Umso beachtlicher ist es, dass er jetzt, eingebunden in das akademische Wissenschaftsleben seiner Zeit, und zwar ganz unabhängig von Steiner, und entgegen dem psychologischen mainstream seiner Zeit, zu Auffassungen über das Denken kommt, die in den basalen Kennzeichen denen Steiners aufs Haar gleichen. Man kann diese sachliche Annäherung angesichts der damaligen Zeitverhältnisse gar nicht hoch genug würdigen. Zumal diese Dinge ja heute noch ihre Gültigkeit haben. Denn Külpes Ansichten waren nicht nur damals, sondern sie sind auch heute noch weitgehend unbeachtet, und keineswegs allgemein anerkannt. Das Gegenteil dürfte wohl eher der Fall sein. Dies aus einem naheliegenden Grund, auf den Külpe auch aufmerksam macht: Alle Theorien des Denkens, und das gilt wohl fast ausnahmslos für die Zeit Külpes und auch für unsere heutige Gegenwart, hatten und haben ein Riesenproblem auf der empirischen Ebene. Es fällt den Untersuchern kolossal schwer das Denken überhaupt in den Fokus der empirischen Aufmerksamkeit zu bekommen, um darüber brauchbare und realistische Ansichten zu formulieren. Aus diesem Grunde ist es ebenso erklärlich wie bemerkenswert, dass Külpe den Fund seines Instituts vor allem an methodischen Veränderungen fest macht. Und zwar ganz ausdrücklich. Wenn man ihm folgt, so besteht eines der Hauptprobleme in der empirischen Beobachtung des Denkens darin, etwas zu bemerken, das gar nicht da zu sein scheint, weil es sich nicht in den Formen und Eigenschaften des sinnlichen Lebens darstellt. Da geht es dem Wissenschaftler kaum anders als dem Laien: Er ist auf dieses sinnlichkeitsfreie Nichts nicht eingerichtet und vorbereitet. Und weil er nur nach sinnlichen Parallelen und Verhältnissen sucht, wird er im Zweifel dort, beim Gröbsten seine Zuflucht suchen und sich im Bedarfsfall, weil er nicht anders kann und weil er ja nicht weiss, wie es um die Sache tatsächlich steht, ein phantastisches Hypothesengebäude zurecht zimmern, das ihm ein pseudorealistisches Modell davon liefert, wie es um die Sache stehen könnte. Das nennt er dann je nach wissenschaftlichem Geschmack und Zeitgeist Assoziationstheorie, Sprachtheorie, Rechen- bzw Computertheorie des Denkens, oder neuronales Zusammenspiel. Wie auch immer. Der wissenschaftlichen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Oder er wird vielleicht gar zu der Auffassung neigen, über das Denken lasse sich überhaupt nichts empirisch Gesichertes aussagen, weil es als Prozess nicht zugänglich ist. Auch diese Position ist vorhanden. Der Beobachter muss, will er in dieses unrealistische Prozedere nicht verfallen, daher ein Verfahren entwickeln, mit dem er dieses scheinbare Nichts bemerken und kategorisieren kann, ohne dabei in blinde Spekulation oder Hypothesenbildung zu verfallen. Und weil das alles so furchtbar schwierig ist, darum ist das meiste, was heutzutage gleichermassen wie zu Külpes Zeit aus dem mainstream an populären und wissenschaftlichen Veröffentlichungen die Welt überflutet, nichts weiter als eine Ausgeburt an hypothesenbildender Phantasterei, die sich ihren Gegenstand nie gründlich angesehen hat. Denn darauf ist - vor allem unsere Zeit - gar nicht eingerichtet. Noch weit, weit weniger als die Zeit Külpes. Und weil das alles so furchtbar schwierig ist, darum ist auch die Frage angebracht, was denn unsere Altvorderen für ein Verständnis vom Denken hatten, und worauf sie diese ihre Ansicht stützten. Was ist, wenn wir den Blick in das Zeitalter Kants richten, und vielleicht noch viele Jahrhunderte darüber hinaus in die Vergangenheit? Ist, was wir dort unter dem Stichwort Denken in der Literatur vorfinden, überhaupt vergleichbar mit dem, was wir, oder vielleicht besser: ein Rudolf Steiner darunter versteht? Aber das nur am Rande. Nicht nur menschlich stand also die Anthroposophie in jener Zeit der introspektiven Psychologie ausgesprochen nahe, sondern auch im Hinblick auf die Einschätzung ganz entscheidender erkenntniswissenschaftlicher Grundtatsachen der Anthroposophie - der empirischen Anerkennung des anschauungslosen respektive intuitiven oder sinnlichkeitsfreien Denkens. Man braucht sich also nicht zu wundern, wenn Steiner dann wenig später in der Schrift Von Seelenrätseln den Blick so sehr hinlenkt auf die Arbeit in einem psychologischen Laboratorium, wo die Veranlagung zum Schauen so exzellent nachgewiesen werden könne. Denn das hatte ja, wenn man Külpes Aufsatz liest und die entsprechenden Arbeiten der Würzburger studiert, dort längst stattgefunden. Es wartete nur darauf methodisch angereichert, weiter vertieft und verfeinert zu werden. Auch in eine Richtung hin, an die Steiner vielleicht in diesem Zusammenhang besonders denkt, wenn er die Aufmerksamkeit in diesem Kontext sehr auf Franz Brentano richtet. Und es wartete auch darauf als empirischer Befund in die allgemeine und nicht nur anthroposophisch orientierte philosophische Reflexion aufgenommen zu werden. Auf der anderen Seite muss man sich angesichts von Külpes Charakterisierung der zu seiner Zeit weithin üblichen Methoden der Denkpsychologie fragen, was denn heutzutage da überhaupt möglich wäre. Schon zu Külpes Zeit dominierte die Naturwissenschaft diesen Bereich. Und das in einer Zeit, als man weit mehr als gegenwärtig bereit war, sich Fragen der inneren Beobachtung überhaupt akademisch zuzuwenden. Selbst in dieser Zeit also war Külpes Standpunkt in der Psychologie des Denkens absolut revolutionär. Was auch die dadurch ausgelösten heftigen akademischen Debatten, etwa mit Wilhelm Wundt, erklärt. In der Gegenwart existiert kaum noch eine Kultur der inneren Beobachtung im akademischen Leben. Die Psychologie ist inzwischen weit mehr veräusserlicht als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Tradition Külpes bestand nach dessen Tod 1915 nicht dauerhaft fort, und den Rest erledigten in Deutschland auf brutale Weise die Nazis. Karl Bühler floh auf Umwegen nach Amerika, um seine Frau Charlotte vor dem Zugriff der nationalsozialistischen Rassenideologen zu schützen. Und Otto Seltz, einer der führenden Vertreter der Denkpsychologie, obwohl der Würzburger Schule nur assoziert, flüchtete, im Zuge der "Arisierung" deutscher Hochschulen um seine berufliche Existenz gebracht, zunächst in die Niederlande, und starb dann bald darauf nach der Vereinnahmung der Niederlande durch die Hitlerdiktatur auf dem Weg ins Konzentrationslager. (Diese Dinge sind im Internet für jeden Leser leicht zu recherchieren, deswegen verzichte ich hier auf eingehende Literaturangaben und Quellenhinweise. Man muss sich nur einmal klar machen, wie viele hoffnungsvolle Wissenschaftsvertreter in dieser Zeit aus Deutschland geflohen sind, wenn es ihnen überhaupt gelang den Schergen der Nazidiktatur zu entkommen.) Einiges Wenige dazu siehe hier: http://introspektion.net/Introspektion4Phasen.pdf Von den in den Jahren 1933 bis 1945 angerichteten, verwüsteten Verhältnissen hat sich der geistige Wissenschaftsbetrieb in Deutschland jedenfalls bis heute nicht erholt. Es wäre daher blauäugig zu erwarten, diese Sachlage würde sich in kurzer Zeit drastisch ändern. Wenn überhaupt, dann ist nur mit einer ganz allmählichen Öffnung des etablierten Wissenschaftslebens für Fragen der inneren Beobachtung des Denkens zu rechnen. Und hier und da gab und gibt es ein paar hoffnungsvolle Knospen. Siehe etwa hier: http://introspektion.net/ Und die Anthroposophen? - Da scheint sich inzwischen ein positiver Wandel in der Rezeptionsbereitschaft anzubahnen. So weit es allerdings das oben erwähnte Buch Ravaglis betrifft muss man zumindest für die 1990er Jahre konstatieren (inzwischen mag das auch anders sein): Sie kultivieren die erwähnte nationalsozialistische Verwüstung unbewusst auch noch, wenn und indem sie die Verbindung zur introspektiven Psychologie weitgehend leugnen. Und zwar, auch das ist zumindest im Falle von Ravaglis Buch oben zu sagen, ohne auch nur den leisesten Beleg dafür beizubringen, dass sie sich mit dem, worüber sie urteilen - die introspektive Psychologie im allgemeinen und die Denkpsychologie der Steinerzeit im besonderen - überhaupt im nennenswerten Umfang vertraut gemacht haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß in zeitlicher Nähe zu diesem mißglückten Versuch Walter Johannes Stein unter direkter Teilhabe Steiners seine Dissertation schrieb und eben das tat, was Rittelmeyer offensichtlich unterließ - nämlich an Methoden- und Sachfragen anzuknüpfen und nicht an "außerordentlichen Fähigkeiten" einer Ausnahmepersönlichkeit. Er thematisierte die Methode der Meditation als Mittel der Beobachtung des Denkens. (Siehe: Thomas Meyer, Walter Johannes Stein/Rudolf Steiner. Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens. Dornach 1985, S. 191) Freilich tat er das auch nur in homöopathischer Verdünnung ohne wirklich konkret zu werden, so daß man im Rahmen eines Forschungsprojektes davon hätte Gebrauch machen oder sich davon zu konkreten Schritten hätte anregen lassen können. Und als Steins Dissertation erschien war Külpe längst verstorben. Doch immerhin, es gab die Möglichkeit über Methoden der Anthroposophie auch im akademischen Umfeld zu reden. Und Külpe, um wieder an Rittelmeyer anzuknüpfen, hatte einen ausgesprochenen Interessenschwerpunkt gerade in diesen Dingen (siehe oben). Hatte auch hinreichende Erfahrungen mit unzulänglichen Methoden der Denkbeobachtung in den Jahren zuvor gesammelt, die dann breit in der Welt der Psychologen und Philosophen diskutiert wurden. Man war ja selbst bei diesen früheren Versuchen schon darauf gekommen, daß die Beobachtung des Denkens spezifische methodische Vorkehrungen in Richtung "Urwüchsigkeit" des Denkens verlangt um seiner erlebnismäßig hinreichend habhaft zu werden. Hier hätte sich vielleicht ein fruchtbarer Gesprächsfaden zu Külpes Zeit aufnehmen lassen. So schreibt Karl Bühler, ein Külpeschüler, im Jahre 1907: "Es entspricht durchaus den hergebrachten Anschauungen über die Denkvorgänge, wenn man sie für etwas sehr Kompliziertes hält und glaubt, die Schwierigkeit ihrer Analyse liege hauptsächlich in dieser ihrer komplexen Natur. Daraus ergibt sich aber von selbst die Konsequenz, daß man sich, wenn man an eine solche Analyse herangeht, zunächst an die anscheinend einfachsten unter ihnen, alltägliche Urteile oder einfache Subsumptionen hält. Diese waren es denn auch, die man zuerst untersuchte. Dabei hat man aber, wie ich glaube, nicht genügend mit der Tatsache gerechnet, daß unsere seelischen Vorgänge mechanisiert werden können und dann aus dem Bewußtsein fast vollständig verschwinden. Nun ist es jedoch von vornherein klar, daß ein Vorgang der Beobachtung umso leichter zugänglich sein wird, je urwüchsiger er im Bewußtsein auftritt. Wenn das für das Denken der Fall sein soll, dann muß der Denkstoff dem Denkenden einige Schwierigkeiten bieten und ihm auch ein gewisses sachliches Interesse ablocken." (Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 300 ff. ) Bühler glaubte sicherlich nicht zu unrecht, man könne dieses urwüchsige Erleben des Denkens dadurch erreichen, indem man der Versuchsperson interessante und relativ schwierige Fragen stellt, weil dann die Denkvorgänge nicht mechanisiert werden können. Denn das Denken hat dann etwas zu tun. Das liegt durchaus schon auf der Linie Steiners. Das gilt für das Grundsätzliche. Und im Grundsätzlichen ist Steiner durchaus bereit so einem Verfahren beizupflichten. Nämlich dort, wo es in den Grenzbezirken darum geht die Veranlagung zum schauenden Bewusstsein in einem psychologischen Laboratorium nachzuweisen. Man kann, wie ich oben sagte, auch die Thematik der Philosophie der Freiheit, soweit in ihr Fragen des empirischen Denkens behandelt werden, diesem Bereich zuordnen. Denn sie ist ja per se eine erkenntniswissenschaftliche Grenzwissenschaft, und als solche aber zugleich über die Grenze hinausweisend. Diese Bereich lassen sich der herkömmlichen Psychologie oder besser, um systematischen Konflikten zu entgehen: der erkenntniswissenschaftlichen Bewusstseinsphänomenologie zuordnen. Darüber hinaus, jenseits dieses Grenzbereichs, geht Steiner in diesen Dingen allerdings sehr, sehr viel weiter als Bühler. Steiner war der Auffassung, man könne ein weit tiefgründigeres Erleben des Denkens dadurch erreichen, indem man Meditationen macht - vor allem Sinnbildmeditationen. Man darf aus Steiners Sicht, wenn man tieferen Aufschluss über das Denken erhalten will, nicht bei dem stehen bleiben, was das gewöhnliche Denken der Untersuchung bietet. Sondern man muss es stärken, vertiefen und intensivieren in einer Art und Weise, die das gewöhnliche Bewusstsein gar nicht kennt. Auch nicht das Bewusstein des akademischen Psychologen. Das Mittel, dies zu erreichen, stellen für Steiner neben verschiedenen anderen Übungen eben die Meditationen dar. Und eben diese werden auch von Walter Johannes Stein aufgeführt. Aber wie gesagt: auf eine Weise, daß für den Außenstehenden kaum klar zu erkennen ist, wovon er überhaupt spricht, geschweige denn daß man sie methodisch einsetzen könnte. Dabei hat die Sache einen vollkommen durchsichtigen und methodisch-rationalen Kern, der sich mit den Intentionen Bühlers durchaus deckt. Über den man sich auch vernünftig und fachbezogen unterhalten kann. Denn es geht in diesen Meditationen vor allem darum, die Kraft des Denkens zu verstärken. Das ist ein Punkt, der sich in den methodischen Überlegungen Karl Bühlers noch nicht findet. Der aber einem an methodischen Fragen interessierten Denkpsychologen unmittelbar einleuchten wird. Gewiß ist es auch in manchen anderen Forschungsfeldern aussichtsreich, den trainierten Geist zu untersuchen, wie es in einem Spiegelartikel vom 09. Juni 1905 unter Hinweis auf entsprechende Überlegungen im Wissenschaftsmagazin Science hieß. 42b Bei der tiefer gehenden Untersuchung von Denkvorgängen spielt dieses Training für Steiner eine Schlüsselrolle. Bei Steiner wird Urwüchsigkeit des Denkens also nicht bloß mittelbar erreicht durch eine die Denktätigkeit belebende interessante und ausgewählte Fragestellung im Denk-Experiment, sondern sie wird erreicht, indem die Denk-Kraft schon weit im Vorfeld direkt und nachhaltig befördert und verstärkt wird. Was ohne Frage von erheblicher qualitativer Bedeutung für ein Denk-Experiment ist. Das empirische Feld des erlebten Denkens wird dadurch in einer ganz anderen und gesättigteren Weise zugänglich, als dies in den bisherigen akademischen Laborexperimenten möglich war. Darauf beziehen sich anthroposophische Autoren natürlich mit einem gewissen Recht, wenn sie davon sprechen, (siehe Ravagli oben), dass das anthroposophische Forschungsverfahren mit dem der introspektiven Psychologie relativ wenig zu tun habe. Nur blenden sie dazu unberechtigterweise den gesamten Kontext der erkenntnistheoretischen Fundierung aus, der dieses Verfahren erst wissenschaftlich verständlich und begründbar macht. Und der ist laut Steiner, Volkelt und vielen anderen nun einmal im Bereich einer Wissenschaft der inneren Beobachtung beheimatet. Bühler etwa bescheinigt seinen psychologischen Zeitgenossen: Eure Versuchsverfahren taugen nichts, um über das faktische Denken Aufschluss zu erhalten. Denn ihr erlebt ja gar nichts infolge eurer experimentellen Vorgehensweise, und ihr habt nur nichtssagende mechanisierte Prozesse im Bewustsein. Und Külpe bestätigt das auf seine Weise (Ziche, S. 47) dahingehend, dass sowohl die inadaequate Methode als auch die bisherige begrifflich fundierte Erwartungshaltung dazu führt, entscheidene Dinge nicht zu sehen - in diesem Fall die unanschaulichen, sinnlichkeitsfreien Charakterzüge des Denkens: "Und so haben denn auch die ersten experimentellen Psychologen, die über Bedeutungen von Worten Versuche angestellt haben, nur dann etwas angeben können, wenn anschauliche Repräsentanten oder Begleitphänomene auftraten. In anderen zahlreichen Fällen, namentlich wenn die Worte Abstraktes oder Allgemeines bezeichneten, hatte man <<nichts>> gefunden. Daß ein Wort verstanden werden konnte, ohne Vorstellungen auszulösen, daß ein Satz beurteilt und begriffen werden konnte, obwohl nur seine Laute im Bewußtsein nachweisbar zu sein schienen, gab diesen Psychologen keine Veranlassung, unanschauliche Inhalte neben anschaulichen anzunehmen und festzustellen." Und fügt dann wenig später (Ziche, S. 48) hinzu: "Was uns in der Psychologie zu einer anderen Theorie schließlich geführt hat, ist die systematische Anwendung der Selbstbeobachtung gewesen. Früher war es üblich, nicht nach jedem Versuch über alle Erlebnisse während desselben Bericht erstatten zu lassen, sondern gelegentliche Aussagen der Versuchspersonen über auffällige oder abnorme Erscheinungen einzuholen, und sich etwa erst nach einer ganzen Reihe zusammenfassende Auskunft über die noch erinnerlichen Haupttatsachen zu erbitten. So trat nur das Gröbste ans Licht. Auch verhinderte der Anschluß an die herkömmlichen Begriffe der Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen ein Bemerken und Benennen dessen, was weder Empfinung noch Gefühl noch Vorstellung war. Sobald man nun anfing, in der Selbstbeobachtung geübte Personen über die Erlebnisse eines Versuchs unmittelbar nach dessen Ablauf vollständige und unbefangene Mitteilung machen zu lassen, wurde die Notwendigkeit einer Erweiterung der bisherigen Begriffe und Bestimmungen offensichtlich. Man entdeckte in sich Vorgänge, Zustände, Richtungen, Akte, die sich dem Schema der älteren Psychologie nicht fügten." Was nicht in irgendwelchen Formen des Sinnlich-Anschaulichen gegeben war, so Külpe, das existierte einfach für seine wissenschaftlichen Zeitgenossen nicht. Die Forschung seines Instituts richtete sich nun ganz betont auf dieses Nichts, das frei war von sinnlich anschaulichen Eigenschaften. Und fand ziemlich rasch durch eine beträchtliche Variation und Veränderung der Methode heraus, dass dieses Nichts eine Fülle von klar zu beobachtenden Eigenschaften in sich barg. Vor allem legt er hier Wert auf die Feststellung, dass es vorrangig die Ablösung und Befreiung von bislang üblichen Methoden und Begriffen der Denkpsychologie war, die den Würzburgern ein völlig neues Gebiet mit völlig neuen Einsichten erschloss. Diese herkömmlichen Methoden und Begriffe waren allenfalls geeignet nur das "Gröbste" zu bemerken. Der entscheidende Rest war anders als gedacht, und darauf war man nicht vorbereitet und bemerkte infolgedessen nichts. Dies sagt Külpe, Bühlers Institutsleiter, der als erfahrener wissenschaftlicher Selbstbeobachter auch in Bühlers Versuchen als Versuchsperson fungierte. Und was er sagt zeugt von einer grossen Bereitschaft, sich auf Neues und Ungewohntes einzulassen, wenn es denn sachlich zu begründen war. Und Steiners methodisches Motto hinsichtlich des Denkens geht noch viel weiter in der Ablösung von gebräuchlichen Methoden und Begriffen und lautet: Üben, üben und noch einmal üben! Damit ihr überhaupt etwas Essentielles im Denken vorfindet, worüber ihr urteilen könnt. Denn eine nebulose Erfahrungsbasis führt zwangsläufig zu nebulosen Theorien. Das heisst, die Übung und Schulung des Selbstbeobachters, auf die Külpe oben ausdrücklich mit den Worten hinweist: "Sobald man nun anfing, in der Selbstbeobachtung geübte Personen über die Erlebnisse eines Versuchs unmittelbar nach dessen Ablauf vollständige und unbefangene Mitteilung machen zu lassen, wurde die Notwendigkeit einer Erweiterung der bisherigen Begriffe und Bestimmungen offensichtlich.", sie tritt jetzt in den Fokus der methodischen Aufmerksamkeit. Bei Külpe ist es nicht so sehr der wissenschaftliche Versuchsleiter oder Organisator, auf den es ankommt, sondern viel mehr auf den in der inneren Beobachtung erfahrenen Erlebenden. Denn was der nicht bemerkt, das kann der Organisator und Versuchsleiter auch nicht thematisieren. Und so ist es auch bei Steiner, indem er dieses Erleben in einem bis dahin in der Psychologie unbekannten Ausmass steigert und kultiviert. Also bei dem ansetzt, der die entscheidende qualitative Grösse bei den Versuchen ist. Wobei bei ihm der wissenschaftliche Organisator und Versuchsleiter dieselbe Person ist, wie der Erlebende. Was freilich bei Külpe, der in seiner Funktion als Institutsleiter und wissenschaftlicher Gesprächspartner auch Versuchsperson war, nur geringfügig anders ist. Wieder sind es die veränderten Methoden und Begriffe, die ein neues Gebiet, beziehungsweise ein altes in neuer Form und in unerwarteten Aspekten und Eigenschaften zugänglich machen. Man möchte meinen: mit so einer Vorstellung hätte Steiner in dieser Zeit und angesichts dessen Wissenschafthaltung und -erfahrung bei Külpe einige Aussicht gehabt, offene Türen einzurennen. Auf einen anderen Punkt möchte ich an dieser Stelle noch hinweisen, auf den Külpe in seiner Arbeit aufmerksam macht, und der eher bewusstseins- und wissenschaftsgeschichtlicher Natur ist. Anthroposophische Leser möchten sich vielleicht auch in diesem Falle wundern, warum ich dies tue, weil ihnen einige Fragestellungen dieser Art eventuell etwas fremd sind. Und einige andere Tatsachen, von denen Külpe spricht, in den Ohren von Anthroposophen vielleicht etwas abgedroschen klingen. Ich denke die Sache wird verständlich, indem man Külpe im folgenden zuhört, wenn er von einer beträchtlichen Erweiterung des Gebietes der Selbstbeobachtung spricht. So schreibt er (Ziche, S. 53): "Die Unabhängigkeit der Gedanken von den Zeichen, in denen wir sie ausdrücken, ebenso wie die eigentlichen, freien, von den Gesetzen der Vorstellungsassoziation nicht beeinflussten Beziehungen, die sie mit einander eingehen, haben uns die Selbständigkeit der Gedanken als einer besonderen Klasse von Bewußtseinsinhalten dargetan. Damit erweitert sich nun auch das Gebiet der Selbstbeobachtung in beträchtlichem Umfange. Nicht nur das Anschauliche, Sinnenfällige und dessen Beschaffenheiten und Färbungen gehören zu unserem Seelenleben, sondern auch das Gedachte, Gewußte, an dem wir keine Farbe oder Gestalt, keine Annehmlichkeiten oder Unannehmlichkeiten wahrnehmen können. Wir wissen, wie schon die alltägliche Erfahrung lehrt, daß wir über eine große Spontaneität im Suchen, Aufnehmen und Erfassen von Gegenständen, in der Beschäftigung mit ihnen, in der Wirkung auf sie verfügen. Auch von dieser Aktivität der Seele hatte die Psychologie bisher nur wenig Notiz genommen. [Hervorhebung, MM ] F. A. LANGE hatte das Wort von der wissenschaftlichen Psychologie ohne Seele geprägt, in der die Empfindungen und Vorstellungen mit ihren Gefühlstönen die alleinigen Bewusstseinsinhalte seien und die Physiologie darüber zu wachen habe, daß sich keine mystischen Kräfte wie etwa ein Ich in diese psychologische Welt einschlichen. Man dürfte exakterweise nur noch sagen: es denkt, nicht aber: ich denke, und das Spiel solchen Denkens bestand in nichts anderem, als in dem durch Assoziationsgesetze geregelten Kommen und Gehen der Vorstellungen. Es gibt noch heute Psychologen, die sich über diesen Standpunkt nicht erhoben haben. Ihnen gilt der Vorwurf, daß ihre Psychologie wirklichkeitsfremd ist, ..."
In Steiners Philosophie der Freiheit wird diese von vielen wissenschaftlichen Zeitgenossen übersehene Aktivität dann zum Kernanliegen, das sie ja schon in den Grundlinien … war, überhaupt im Rahmen der Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des Denkens. Und auch hier ist eine Parallele zu Külpe unübersehbar. Külpe lenkt (Ziche, S. 54 f) auch hier den Blick wiederum auf den historischen Kontext der Tatsache, warum die innere Aktivität des Ich oft so hartnäckig übersehen worden ist, und macht methodische Gründe dafür namhaft. Es liegt an der Beobachtungsveranstaltung, die dieses Übersehen begünstigt hat: "Nun erkannte man abermals, warum die bisher angewandte Beobachtungsweise das Denken und andere Äußerungen unserer Aktivität nicht zu finden wußte. Das Beobachten selbst ist ja ein eigenes Tun, ein mit Hingabe zu übendes Verhalten des Ich. Daneben ist eine andere Betätigung zur gleichen Zeit unausführbar. Unsere psychische Leistungsfähigkeit ist begrenzt, unsere Persönlichkeit ist eine Einheit. Aber nach Ablauf einer Funktion kann jederzeit die Beobachtung einsetzen und sie zum Gegenstande der Selbstwahrnehmung machen. So wurden nun viele Akte wahrgenommen, die für die Psychologie bisher nicht existiert hatten: das Beachten und Erkennen, das Wollen und Verwerfen, das Vergleichen und Unterscheiden und vieles andere. Sie alle entbehrten des anschaulichen Charakters der Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle, obwohl sie von solchen begleitet werden konnten. Und es ist bezeichnend für die Hilflosigkeit der früheren Psychologie, daß sie diese Akte durch solche Begleiterscheinungen definieren zu können glaubte. So betrachtete sie die Aufmerksamkeit als eine Gruppe von Spannungs- oder Muskelempfindungen, weil die sogenannte gespannte Aufmerksamkeit solche Empfindungen auftreten ließ. Ebenso wurde das Wollen in Bewegungsvorstellungen aufgelöst, weil diese einer äußeren Willenshandlung vorauszugehen pflegten. Diesen Konstuktionen, deren Künstlichkeit sofort einleuchten sollte, war der Boden entzogen, sobald man die Existenz besonderer psychischer Akte eingesehen, und damit die Empfindungen und Vorstellungen ihrer Alleinherrschaft im Bewußtsein beraubt hatte." Dass die Beobachtung von (Denk) Akten zwei getrennte Akte verlangt, bzw im Nachhinein zu erfolgen hat, war offensichtlich für viele psychologische Zeitgenossen eine sehr befremdliche Vorstellung. Deswegen, so Külpe kamen sie nicht darauf, und entdeckten ensprechend auch nichts in der Richtung, in der Külpe dann in seinem Institut fündig wurde. Man muss als Aussenstehender sagen: weil Külpe ein Beobachtungsverfahren anwandte, wie es Rudolf Steiner im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit beschreibt - beobachtet wird in zwei getrennten Akten und aus der Retrospektive - deswegen, und nur deswegen findet er Eigenschaften und Vorkommnisse im Bewusstsein, die man sonst nicht hat erkennen können. Das sind die Worte Külpes, die ich hier wiedergebe. Und er bringt im Kern die selben Gründe vor, wie sie auch Steiner in der Philosophie der Freiheit im dritten Kapitel anführt. Gedanken lassen sich nicht betrachten wie die sinnlich anschaulichen Dinge, so Külpe (Ziche, S. 54): "Man machte die Erfahrung, daß sich das Ich nicht trennen ließ. Denken, mit einer gewissen Hingabe und Vertiefung denken und die Gedanken gleichzeitig beobachten - das ließ sich nicht durchführen. Zuerst das eine und dann das andere, so hieß darum die Losung der jungen Denkpsychologie. Und das gelang überraschend gut." Steiner spricht von einer "Spaltung" und Külpe von einer "Trennung" des Ich, die sich nicht durchführen lasse. Und es ist einleuchtend, warum dies so ist: Das Beobachten des Denkens und der Gedanken verlangt dieselbe Aktivität des Ich, wie das Denken selbst. Denn es geht bei dieser Beobachtung um die erkennende Reflexion von Erfahrungen oder Erlebnissen des Denkens und über diese Erfahrungen. Und diese Reflexion solcher Erfahrungen kann schlechterdings erst dann stattfinden, wenn die Erfahrungen bereits gemacht worden sind. Vorher nicht, und auch nicht gleichzeitig! Sofern diesbezügliche Reflexionen vorher stattfinden sind es allenfalls theoretische Vorüberlegungen, die durchaus auch Sinn haben. Zahlreiche Beispiele solcher vernünftigen Vorüberlegungen finden sich etwa in oben bereits genannten Schrift Erfahrung und Denken von Johannes Volkelt. Siehe: Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken, Leipzig, 1886. Solche Vorabüberlegungen sind kaum anders zu bewerten und kaum weniger nützlich als theoretische Vorüberlegungen zu naturwissenschaftlichen Versuchen jedweder Art. Sie haben in erster Linie einen prognostischen aber auch problematisierenden Charakter. Man reflektiert dann, was sinnvollerweise anhand bisheriger Theorien und Annahmen in der Erfahrung zu erwarten ist. Im Rahmen solcher Reflexionen kann man sich selbstverständlich, wie Volkelt dies S. 336 ff tut, auch Gedanken dazu machen, welchen Bedingungen oder logischen Forderungen das rein begriffliche Denken genügen müsse. Und was dort gegebenenfalls dann bewusstseinsphänomenologisch in den Denkerlebnissen zu erwarten ist. Und an der Erfahrung überprüfen lassen sich solche Vorausüberlegungen freilich ebenfalls nur, - und da geht es im faktischen Betrieb der empirischen Wissenschaft des Denkens in der Reihenfolge der Schritte prinzipiell nicht anders zu als in den Naturwissenschaften -, wenn man auch wirklich denkt, das heisst: empirische Erfahrungen damit macht. Und dann diese empirischen Erfahrungen des Denkens mit dem vergleicht, was die prognostischen Vorüberlegungen haben erwarten lassen, und ob die erlebten Tatsachen eventuell anders sind als prognostiziert oder vermutet. Im Falle der Beobachtung des Denkens - und das ist eben die Besonderheit hier - ist die nachträgliche empirische Reflexion (Beobachtung) von derselben Art wie die Tätigkeit selbst, auf die anschliessend wissenschaftlich reflektiert wird. Und diese Aktivität, so sagt es Külpe nachfolgend, ist ein unverwechselbarer und höchster Ausdruck des Ich, oder: des im Bewusstsein anwesenden Monarchen, der dort regiert.
Külpe, das muss man hier - leider - in Parenthese hinzufügen, steht Rudolf Steiner in den grundlegenden methodischen Fragen viel näher, als diesem bis heute dessen eigene Anhänger aus der Anthroposophie häufig selber stehen. Die vielfach bis in die Gegenwart das Beobachtungsprozedere der Philosophie der Freiheit nicht begriffen haben. Die auch wenig Neigung erkennen lassen, sich mit der Problemstellung etwas ausführlicher zu befassen. Und infolgedessen über allerlei Veränderungen in Steiners Beobachtungsbegriff sinnieren, offensichtlich ohne die Dinge jemals selbst gründlich in Augenschein genommen zu haben - weder die Steinersche Quelle, noch das Verfahren selbst, noch die historisch wissenschaftliche Diskussion darüber. Sondern sich, davon ziemlich unberührt, allerlei wirklichkeitsfremde und haltlose Hypothesen darüber zusammen phantasieren. Und vor allem ohne sich bei den Psychologen der Steinerzeit darüber etwas Rat zu holen. Ich darf den Leser hierzu an vier meiner übrigen Arbeiten auf meiner Website verweisen, die das eingehend thematisieren. (1, 2, 3 , 4) Külpes eben von ihm selbst skizzierte Beobachtung von (Denk) Akten läuft, das ist sehr zu betonen, nach dem selben Muster ab, wie es Steiner im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit für das Denken skizziert. Ich habe auch schon häufig darauf hingedeutet, dass dies von Steiner sachlich sehr begründet so gesehen wird. Begründeter übrigens, als es Külpe im vorliegenden Vortrag erläutert, von dem man sich wünscht, dass er in diesen entscheidenden Fragen etwas ausführlicher ausgefallen wäre. Präziserweise müsste Külpe nämlich von einem nachträglichen Erkennen, und nicht von einem nachträglichen Wahrnehmen von Akten sprechen, denn das Wahrnehmen (Erleben) des Aktes hat ja während des Aktes in Form des Akterlebnisses bereits stattgefunden. Sonst liesse sich hinterher darüber nichts Detailliertes und empirisch Tatsachenhaltiges sagen. Die spezifische Natur und die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Erlebnisse könnten dann nicht auf den Begriff gebracht werden. Das geht natürlich nur unter der Voraussetzung, dass sie auch stattgefunden haben. So wird es von Bühlers Versuchspersonen in dessen Versuchsprotokollen auch dargestellt. Was aber nicht stattgefunden haben kann während des Aktes ist sein gleichzeitiges Erkennen. Und das kann auch gar nicht anders sein. Die Erlebnisse des Denkens bleiben eben so lange reine Denkerlebnisse, die nicht näher begrifflich spezifiziert worden sind, bis der nachfolgende begriffliche Bestimmungsvorgang erfolgt ist. Merijn Fagard hat das in einem Artikel auf meiner Website noch einmal in praktischer Anwendung sehr ausgiebig und für den Leser nachvollziehbar durchexerziert. Es ist lohnend sich vor dem Hintergrund der Ausführungen Külpes diese Dinge einmal anzusehen. Ich kann Ihnen, lieber Leser nur die dringende Empfehlung geben, in Ihrem eigenen Bewusstsein nach solchen Tatsachen wie Aktivitätserlebnissen zu suchen. Und seien Sie versichert, wir reden hier nicht über Fragen, die weit jenseits Ihrer praktischen Möglichkeiten oder Ihres theoretischen Fassungsvermögens lägen. Sondern zunächst über äusserst triviale Dinge des alltäglichen Bewusstseins, über die man auch nicht sachlich urteilen kann, wenn man sie nicht selbst erlebt und seine eigenen Gedanken dazu formuliert hat. Mir scheint nämlich sehr bezeichnend zu sein, dass Külpe auch ein unzulängliches Verständnis von Beobachtung dafür verantwortlich macht, dass seine Zeitgenossen all die Vielfalt an Akten und sinnlichkeitsfreien Vorkommnissen im Bewusstsein nicht bemerkt haben. Und dies, das sage ich hier noch einmal in aller Offenheit und aller Deutlichkeit, ist für mich auch der naheliegende Grund dafür, warum Herbert Witzenmann sich bis an sein Lebensende mit dem Verständnis der Beobachtung von aktuellen (Denk) Akten so verzweifelt schwer tat, während Külpe und seine Leute dieses Problem mit derselben methodischen Lösung klärten, wie es Steiner im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit erläutert, und infolgedessen auf Anhieb eine Fülle solcher Akte und vieles andere mehr fanden. Welche Folgen das für Witzenmanns Schüler hatte, können Sie an einem exemplarischen Beispiel hier beim Witzenmannschüler Marcelo da Veiga studieren. Die ganze Hilflosigkeit der jüngeren Anthroposophie wird daran, am Schüler und seinem Lehrer augenfällig, methodisch mit der Frage der Beobachtung von Denkakten umzugehen. Eine Hilflosigkeit, die wahrlich nicht geringer ist, als jene seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen, von denen Külpe spricht. Näheres zu diesem Thema siehe auch hier. Man darf sich weiter fragen, welche mittelbaren Folgen das wohl für Hartmut Traub hatte, der speziell über diese Dinge, wie mir scheint, ebenfalls wenig Sinnhaltiges schreibt, worüber wir uns später an anderer Stelle noch ausführlicher äussern werden. Und dessen steinerkritisches Buch Philosophie und Anthroposophie, Stuttgart 2011 (siehe die einleitenden Worte dort) immerhin über weite Strecken im Umfeld und in der Diskussion mit der Alanushochschule gewachsen ist. Offensichtlich war in diesem Umfelde niemand imstande, die Sachverhalte hinreichend zu verdeutlichen. Nebenbei gesagt kann man sich auch überlegen, wie weit Eduard von Hartmann, mit dem Steiner am Ende des dritten Kapitels der Philosophie der Freiheit in deren Zweitauflage 1918 eine Art Debatte darüber führt, wie weit das Denken beim Beobachten seiner selbst getäuscht werden könne, als ausdrücklicher Assoziationpsychologe auch ein methodischer Gefangener seiner eigenen Denktheorie war? Dieser Assoziazionismus nämlich, das sagt Külpe weiter oben, war eigentlich ganz unfähig, die Aktivitäten und die die unanschaulichen Bestandteile des Denkens überhaupt zu bemerken. Und wer unanschauliche Bewusstseinsanteile nicht zu bemerken vermag, der muss zwangsläufig glauben, diese nicht bemerkten Anteile seien generell unbewusst. Dazu einiges hier. Dies alles wie gesagt in Parenthese angemerkt.
Philosophisch, so sagt Steiner 1921 einmal vortragsweise, sei es alles andere als ein Kinderspiel, die Aktivität des Denkens zu erfassen: "Dennoch ist es außerordentlich schwierig, auf diesem Wege rein philosophisch hinzukommen zu der Erfassung der Aktivität des Denkens, und ich kann es vollständig verstehen, daß Geister wie Richard Wahle, der sich einmal klar vor die Seele gestellt hat, wie das Wahrnehmen eigentlich nur Chaotisches vor unsere Seele hinsetzt, und wie solche Denker, die wirklich nur dasjenige vor sich haben, was Johannes Volkelt mit Recht genannt hat die einzelnen nebeneinandergesetzten Fetzen des äußeren Wahrnehmens, die das Denken erst ordnen muß - ich kann es verstehen, wie solche Denker dann, weil sie sich ganz einleben in das Wahrnehmen, nicht dazu kommen, sich auch einleben zu können in die aktive Wesenheit des Denkens, sich nicht aufschwingen können dazu, anzuerkennen, daß wir, indem wir die Aktivität des Denkens erleben, in einer Tätigkeit ganz drinnenstehen, und weil wir ganz drinnenstehen, sie mit unserem Bewußtsein völlig verbinden können. Ich kann mir gut vorstellen, wie unbegreiflich es solchen Denkern ist, wenn man ihnen aus dem vollen Erleben dieser Aktivität des Denkens die Worte entgegnet: Im Denken haben wir das Weltgeschehen selber an einem Zipfel erfaßt! -, wie ich es in meiner «Philosophie der Freiheit» ausgesprochen habe." ( GA-78, Dornach 1986, S. 41 f. Vortrag vom 30. August 1921.) Die von ihm betonten Schwierigkeiten, philosophisch die Aktivität des Denkens in den Blick zu bekommen, decken sich auffallend mit dem, was Külpe seiner Zeit aus psychologischer Sicht bescheinigt. Und man hat vor diesem Hintergrund allen Anlass sich zu fragen: Woran liegt das eigentlich? - Psychologiegeschichtlich und methodisch kann Oswald Külpe eine plausible Antwort darauf geben.
Auf diesen methodischen Gesichtspunkt der Meditation - Verstärkung der Denk-Kraft - weist Steiner so häufig hin, daß ich mir hier einen ausführlicheren Beleg spare. Einiges dazu findet der Leser an anderer Stelle auf dieser Homepage. Sehr prägnant wird dieser Aspekt auch angesprochen im gemeinschaftlich von Ita Wegmann und Rudolf Steiner herausgegebenen Band Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst (GA-27, Dornach 1977, S. 8 ff. Ferner in den Gesamtausgaben GA-84 und GA-25, um nur wenige zu nennen). Man könnte ebenso den ganzen Bereich der sogenannten Nebenübungen methodisch ins Gespräch bringen, denn die sind nicht minder interessant und bedeutsam für die Psychologie des Denkens. (Siehe dazu Steiners "Geheimwissenschaft im Umriss", (GA-13), weiter auch die Schriften GA-10; GA-12) Es gibt also reichlich Anlass und Gelegenheit mit Denkpsychologen ins methodische Gespräch zu kommen, ohne in irgend einen nebulösen Mystizismus oder nur ins abstrakt Philosophische abgleiten zu müssen. Man muß nur konkret werden, das ist eine Forderung, die sich aus dieser methodischen Verwandtschaft ableiten läßt. Und konkret werden könnte etwa heißen, daß eine Einrichtung wie das Friedrich von Hardenberg Institut in Heidelberg sich einmal mit dem Institut für Sozialpsychologie der Universität Hamburg (im Internet erreichbar unter www.introspektion.net\index.html ) in Verbindung setzt und sondiert, ob und wie weit Möglichkeiten einer Zusammenarbeit bestehen. Denn in diesem Hamburger Institut versucht man unter anderem experimentell an die Überlegungen der Würzburger anzuknüpfen. Das wäre also ein passender Gesprächspartner. Vielleicht ist es nur ein Zufall ohne innere sachliche Verbindung, wenn Walter Johannes Stein in seiner Dissertation schreibt: "Und so kann man auch die Wirklichkeit des Denkens nicht erfassen, wenn man bloß das Logische am Denken beachtet. Das Denken, das für das gewöhnliche Bewußtsein unbeobachtetes Element ist, muß nicht bloß gedacht, sondern auch beobachtet werden. Das Denken selbst muß wahrgenommen werden. Mit dieser Forderung deuten wir auf ein Zweifaches im Denken. Einmal auf das, was jeder kennt, das in der Erinnerung anschaubare Denken, von dem zum Beispiel Husserl spricht. Dann auf das aktuell gegenwärtige Denken, das völlig unanschaulich ist für das gewöhnliche Bewußtsein." (Thomas Meyer, a.a.O., S. 195) Eben auf dieses gegenwärtige und nicht bloß vergangene logische Denken hatten die Würzburger unter Külpe, namentlich Bühler in seinen Versuchen, ihre Aufmerksamkeit gerichtet. Und das Vorhandensein völlig unanschaulicher, aber substantiell tragender Elemente, war gerade eines der bedeutendsten und spektakulärsten Resultate ihrer Untersuchung. Wer sich von anthroposophischer Seite eingehender mit Steiners Begriff des intuitiven Denkens befaßt, der kommt sehr bald darauf, daß dieses intuitive Denken dasselbe bedeutet wie das reine oder sinnlichkeitsfreie Denken. Was so viel heißt wie: dieses intuitive Denken ist von seiner wesentlichen Erfahrungsseite her anschauungslos oder sinnlichkeitsfrei. Und diese Sinnlichkeitsfreiheit wiederum ist das entscheidende Merkmal des schauenden Vermögens für Rudolf Steiner. Anders gesagt: die Wüzburger haben (siehe oben) eigentlich dasjenige entdeckt, was Steiner in Wahrheit und Wissenschaft die intellektuelle Anschauung genannt hat. Und was dann in der Philosophie der Freiheit unter anderem unter dem Ausdruck intuitives Denken firmiert. Und das ist für Steiner die elementartse Stufe des rein geistigen Erlebens respektive der übersinnlichen Wahrnehmung. (Näheres siehe hier) Diese Gemeinsamkeit verdient näher betrachtet zu werden. Solange man nur philosophisch-distanziert über diese Dinge redet oder sich gedanklich in einen Kokon anthroposophischer Selbstgenügsamkeit einspinnt, wird man die Frage, ob hier nur eine äußerlich-zufällige Koinzidenz oder ein innerer sachlicher Zusammenhang besteht, nicht klären können. Man muß sich schon konkret darauf einlassen. Nun berichte ich diese Episode nicht um nur etwas mit Rittelmeyer oder Walter Johannes Stein auszufechten, sondern weil die Zeiten inzwischen so sind, daß früher oder später eine analoge Konstellation wie die zwischen Rittelmeyer und Külpe mit einiger Wahrscheinlichkeit eintreten kann. Denn Fragen der Bewußtseinspsychologie, die man lange tabuisiert hatte, sind wieder vermehrt Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. (Siehe dazu das oben angeführte Buch von Paul Ziche, Herausgeber, Instrospektion, Texte zur Selbstwahrnehmung des Ichs, Springerverlag, Wien New York, 1999) Sie kommen allmählich aus ihrem Nischendasein wieder ans Freie. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, wann sich eine ähnlich günstige Gelegenheit für den Forschungskontakt neuerlich bietet. Und darauf sollten die Anthroposophen vorbereitet sein. Leider, so muß man festhalten, war es der introspektiven Psychologie nicht vergönnt, sich so weit zu entfalten, daß sie in den Weg hätte einmünden können, den die Anthroposophie beschreitet, oder wenigstens soweit, daß sich die Konturen eines solchen Weges hinreichend deutlich abgezeichnet hätten, so daß man ihm im Rahmen eines Forschungsprogramms vielleicht nachgegangen wäre. Angelegt scheint diese Möglichkeit im Prinzip gewesen zu sein, wenn man sich an die Überlegungen Oswald Külpes erinnert. Nach der heutigen Lage der Dinge ist es für die Anthroposophie ganz unverzichtbar, sich unter Einbeziehung des psychologischen Umfeldes mit dem Begriff der Selbstbeobachtung neu und weitläufig auseinanderzusetzen, wenn sie nicht der fundamentalen und vernichtenden Kritik an ihrer Grundlage und an ihrer Methode ebenso hilflos ausgeliefert sein will wie seinerzeit die introspektive Psychologie. Das ist ein Resultat, das sich bei entsprechender Beschäftigung mit dem Werdegang der introspektiven Psychologie ableiten läßt. Hält man sich zudem die potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten dieser Psychologie vor Augen, dann dürfte das allein schon Anlaß genug sein, sich mit ihr eingehender zu befassen und es kann auch nicht überraschen, daß Steiner selbst auf die Notwendigkeit eines unabhängigen psychologischen Zugangs zur Anthroposophie eindringlich hingewiesen hat. Er war überzeugt von der Realisierbarkeit eines vermittelnden Wissenschaftsweges zur Anthroposophie, der die letztere nicht immer schon voraussetzt, sondern die Verfahren der nicht-anthroposophischen Psychologie aufgreift. Was ihm in dieser Hinsicht unentbehrlich schien, war ein psychologisches Laboratorium, wie wir es bereits oben angeführt haben: "Will man nämlich die beste Grundlage schaffen zu anthropologisch-psychologischen Ergebnissen, die bis an die <Erkenntnis-Grenzorte> gehen, an denen sich Anthropologie mit Anthroposophie treffen muß, so kann dies durch ein psychologisches Laboratorium geschehen, wie ein solches Brentano in Gedanken vorgeschwebt hat. Um die Tatsachen des <schauenden Bewußtseins> herbeizuführen, brauchten in einem solchen Laboratorium keine Experimentalmethoden gesucht zu werden, aber durch diejenigen Experimentalmethoden, die gesucht werden, würde sich offenbaren, wie die menschliche Wesenheit zu diesem Schauen veranlagt ist, und wie von dem gewöhnlichen das schauende Bewußtsein gefordert wird. Jeder, der auf dem anthroposophischen Gesichtspunkt steht, sehnt sich ebenso wie Brentano, in einem echten psychologischen Laboratorium arbeiten zu können, was durch die heute noch gegen die Anthroposophie herrschenden Vorurteile unmöglich ist." 43. Dem wäre weiter nichts hinzuzufügen als die Bemerkung, daß eine solche Arbeit sich zweifellos in den Kontext der zeitgenössischen Psychologie eingefügt und sich deren Sprachgebrauch, methodologische Kategorien und Problembewußtsein zu eigen gemacht hätte. Top zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home |