Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Wirklichkeitsbegriff Rudolf Steiners

(Stand 27.07.05)

Kapitel 1

Ontologisches oder erkenntnistheoretisches Verständnis der Wirklichkeitserzeugung?

Wenn man die Abbildungsproblematik zunächst zurückstellt, dann könnte man die von Werner Firgau skizzierte Streitfrage zunächst aus zwei Perspektiven zu beleuchten versuchen: aus einer ontologischen und aus einer erkenntnistheoretischen. Das »Schaffen der Wirklichkeit« ontologisch verstanden könnte etwa heißen, daß mein Erkenntnisakt als ein realer primärer Schöpfungsakt zu begreifen wäre - dergestalt, daß ich in meinem Erkennen zugleich auch das Sein der erkannten Dinge mitschaffe und an diesem Verständnis entzündet sich wohl in erster Linie die Kritik Werner Firgaus. Dieses Sein hätte dann unabhängig von meinem Erkennen keinen Bestand (gehabt). Es gäbe dann keine objektiv von uns unabhängige Realität. Eine solche Auffassung kann man eine solipsistische, unter Umständen eine illusionistische nennen. 5 Ihr polar gegenüber stände ein objektiver Realismus, das heißt die Überzeugung vom Bestand der Realität unabhängig von uns und unserem Erkennen. Auf Steiners Auffassung bezogen würde sich daraus die Frage ergeben: denkt sich Steiner das Erzeugen der Wirklichkeit in diesem ontologischen Sinne? Ist er der Auffassung, daß eine unabhängig von uns und unserem Erkennen bestehende Wirklichkeit nicht existiert? Mit anderen Worten vertritt Rudolf Steiner eine solipsistische oder illusionistische Auffassung der Wirklichkeit? Wir können diese Frage, ohne hier schon näher darauf einzugehen, abschlägig beantworten.

Betrachten wir das »Schaffen der Wirklichkeit« ausschließlich aus einer epistemologischen Perspektive, dann legen wir Wert auf die Feststellung, daß wir Zugang zu einer wie immer beschaffenen Wirklichkeit nur auf dem Erkenntniswege haben. Wir bräuchten uns vorderhand noch nicht einmal speziell auf Steiner zu beziehen, sondern könnten das generell als Faktum konstatieren, etwa als Ausdruck eines vorläufigen Standpunktes, der den naiven Realismus beziehungsweise Positivismus verabschiedet wissen möchte, weil er ziemlich sicher ist, daß der Charakter der vorgefundene Wirklichkeit auf eine noch etwas unbestimmte Weise von unserem Erkenntnisvermögen geprägt ist. Aber er sieht noch keinen angemessenen Ersatz für die abgelegten Überzeugungen. In genau dieser Lage befindet sich beispielsweise Thomas S. Kuhn, wenn er ratlos anmerkt, daß er an den landläufigen Ansichten über den Zusammenhang von Tatsache und Theorie keinen Halt mehr findet und dennoch keinen Weg erkennt, sich zu einem neuen tragfähigen Verständnis durchzuringen. 6 Der naiven positivistischen Auffassung hat er den Boden entzogen, weil sich kein theoriefreier Zugriff auf die Wirklichkeit herstellen läßt. Es gibt keine stabilen, denkfreien "Fakten" innerhalb der Wahrnehmungswirklichkeit. Dieses und der Umstand, daß im Laufe der Wissenschaftsgeschichte wesentliche Tatsachen der Wirklichkeit unter dem unentrinnbaren Einfluß der Theorien völlig unterschiedlich und auf unvereinbare Weise gesehen wurden, läßt ihn zu der These der verschiedenen Welten greifen, die ihm wegen ihrer beängstigenden Nähe zum Solipsismus nicht weniger Mißbehagen bereitet wie Werner Firgau.

Das, was wir Wirklichkeit nennen, ist aus dieser erkenntnistheoretischen Sicht eo ipso ein Resultat unserer Erkenntnistätigkeit, denn wir haben keinen anderen Zugang zur Wirklichkeit als auf dem Erkenntniswege. Selbst die Annahme einer erkenntnisheterogenen Wirklichkeit - so könnte man ergänzen - also einer solchen, die unserem Erkennen völlig unzugänglich sein soll, ist letztendlich ein Fazit unserer Erkenntnistätigkeit, womit denn auch die unterstellte Heterogenität keine mehr ist. 7 In diesem grundsätzlichen Sinne könnte man erst einmal provisorisch davon sprechen, daß Wirklichkeit von uns im Erkennen geschaffen wird. Diese elementare Überzeugung muß einstweilen noch kein abschließendes Urteil darüber enthalten, wie die "Hervorbringung" der Wirklichkeit im einzelnen vonstatten geht und ob die so geschaffene Erkenntnis-Wirklichkeit objektiv realistisch oder solipsistisch, ob sie kantianistisch, oder im Sinne des Steinerschen objektiven Idealismus oder sonstwie zu denken ist. Ob sie schon die "echte" Wirklichkeit ist oder eine subjektiv von unserem Erkenntnisorgan gefärbte, ob sich überhaupt von hier aus ein Zugang zur "wahren" und "echten" Wirklichkeit eröffnet, das bleibt dann noch zu klären. Vor dieser Klärung steht, wie gesagt, die von mir skizzierte Wissenschaftsphilosophie Thomas Kuhns.8

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