Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Wie denkt man einen Denkakt?

Bemerkungen zu Lindenbergs Kritik an Witzenmanns Denken des Denkaktes

Teil III

(Stand 16.06.08.)

V.

Wenden wir uns zunächst wieder Christoph Lindenberg zu. An seinen kritischen Bemerkungen zu Witzenmann scheint mir bei aller Berechti­gung sehr vieles schief und wenig fundiert. Weder stützt sich Lindenberg seitens des verwendeten Textmaterials auf eine akzeptable Grundlage um eventuelle Mißverständnisse Witzenmanns daran zu demonstrieren, noch macht er sich überhaupt selbst die Mühe, eine plausible und immanente Interpretation oder Erläuterung von Steiners Begrifflichkeit vorzulegen, um mit ihrer Hilfe eventuelle Schwächen von Witzenmanns Gedanken­gang aufzuzeigen. Er bietet zu Witzenmann keinerlei Alternative an, son­dern läßt es weitgehend bei leeren, unsubstantiierten Statements.

Sein Vorgehen im einzelnen: Unter Hinweis auf Steiners Auffassung vom dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit >>Der beobachtete Ge­genstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet<<, und unter Bezugnahme auf das oben besprochene Vortragszitat Steiners bemerkt Lindenberg mit einem gewissen Recht, ein Mißverste­hen dieser qualitativen Gleichwertigkeit habe zu der Vorstellung geführt, das Denken beobachten heiße, das Denken denken. Fährt dann mit Blick auf den angeführten Gedankengang Witzenmanns fort: "Spricht man dem Denken die Fähigkeit des Beobachtens ab, so meint man, das Denken beobachten heiße: das Denken denken. Man will dann den Denkakt den­ken und so einen Akt durch einen Akt als dessen Inhalt denkend hervor­bringen. Solche Überlegungen sind formal-logisch richtig. Sie beruhen auf der Unterscheidung von Denkinhalt und Denkakt. Bei näherem Hin­sehen aber fällt das ganze logische Gebäude zusammen, weil die ge­machte Trennung von Denkakt und Denkinhalt in Wirklichkeit nicht existiert."

Drei Aspekte scheinen mir hier einer Erwähnung wert. Zunächst Linden­bergs Tadel: "Spricht man dem Denken die Fähigkeit des Beobachtens ab, so meint man, das Denken beobachten heiße: das Denken denken." Hierbei handelt es sich um eine provokante These, die interessant wäre, falls Lindenberg uns selbst irgend eine alternative Auskunft darüber gäbe, worin denn die von Steiner dem Denken zugeschriebene Fähigkeit des Beobachtens überhaupt besteht. Speziell die Fähigkeit zur Selbstbe­obachtung! Und was es in diesem Zusammenhang vor allem mit der von Steiner erwähnten qualitativen Gleichwertigkeit von Beobachtungstätig­keit und -gegenstand auf sich hat, die doch augenscheinlich auch als heu­ristisches Leitmotiv hinter Witzenmanns Bemühungen steht. Denn nur wenn man bereits weiß, was Steiner unter diesem Vermögen oder dieser methodisch relevanten Gleichwertigkeit versteht und diese Einsicht mit guten Argumenten zu plausibilisieren vermag, kann man sich entspre­chend kritisch positionieren. Das aber setzt auf jeden Fall eine Sichtung und Erörterung der entsprechenden Passagen der Philosophie der Frei­heit voraus. Doch eine diesbezügliche Textarbeit findet sich in Linden­bergs Aufsatz kaum in Spuren, womit denn seine Vorhaltungen weitge­hend substanzlos bleiben. Der Autor operiert hier auf der Ebene leerer und haltloser Polemik.

Ferner: Ob der von Witzenmann vorgebrachte Gedankengang formal-lo­gisch richtig ist, wie von Lindenberg angenommen, dafür möchte ich per­sönlich meine Hand nicht ins Feuer legen. Dazu die Frage: Was kann "formal-logisch richtig" in diesem Zusammenhang eigentlich bedeuten? - Zunächst ganz generell: Witzenmann skizziert mit wenigen Gedanken ein Verfahren, wie der Denkakt zum Bewußtseinsinhalt werden soll. Es kann vorrangig also nur um die Korrektheit und Effizienz seines metho­dischen Weges gehen, den er empfiehlt. Die Logik seines Vorschlages zu beurteilen heißt hier im wesentlichen: die Verfahrenslogik seiner Emp­fehlung auf ihre Stringenz hin zu prüfen und zu bewerten. Abgesehen davon, daß man im logisch strengen Sinne die Denktätigkeit wohl kaum denken kann, - (wie Lindenberg selbst durch Steiner bemerken läßt, wie also könnte dann der fragliche Gedankengang formal-logisch trotzdem richtig sein?) - bleibt bei Witzenmann indessen offen, wie er auf ernstzu­nehmende Weise auf Denkakte kommen will ohne diese als Bewußt­seinsinhalt schon vorher erlebt zu haben. Da die verfahrenslogische Inte­grität seiner Methode notwendigerweise abhängig ist von den zugrunde­liegenden methodischen Prämissen, über die entscheidende Prämisse, nämlich das Wie dieses Denkens des Denkaktes, aber Dunkelheit herrscht, kann die Frage nach der formal-logischen Qualität seines Ver­fahrens schlechterdings nicht entschieden werden, weil die zu bewerten­de Struktur in den maßgeblichen Details gar nicht sichbar ist. Hier kommt alles auf die Methode an. Und eine Methode, von der man nicht weiß wie sie aussehen soll, kann man logisch auch nicht bewerten. Sie ist weder richtig noch falsch, sondern gar nicht vorhanden.

Soweit Witzenmanns Gedankengang darüber hinausgehend methodische Aspekte enthält, beruhen auch diese nicht auf einer Unterscheidung von Denkakt und Denkinhalt, sondern auf einer Verkennung von zweierlei: sowohl auf einer Verkennung dessen, was Steiner im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit "Beobachtung des Denkens" nennt, und im en­geren Sinne auch der von Steiner dort hervorgehobenen Unbeobachtbar­keit des gegenwärtigen Denkens. Die Unterscheidung Akt-Inhalt dagegen findet sich der Sache nach bei Steiner selbst, und zwar im philosophi­schen Schrifttum wie auch in methodischen Abschnitten zum anthropo­sophischen Schulungsweg. Witzenmann versucht lediglich auf der Basis seiner Mißverständnisse das Verhältnis dieser beiden von Steiner behan­delten Aspekte des Denkens auf philosophischer Ebene näher zu beleuch­ten und zu einer Bestimmung des Denkaktes zu kommen, wobei ihm die­ser infolge der genannten Verkennungen zu einem sterilen und irrealen philosophischen Kunstprodukt eines Denkens über das Denken gerät, an­statt das zu sein was er ist: eine bewußte Tatsache des seelischen Erle­bens.

Nun hält sich Christoph Lindenberg mit logischen oder philologischen Feinanalysen nicht weiter auf, sondern hat sich ein machtvolleres Instru­ment bereitgelegt um Witzenmann zu falsifizieren: Die von Witzenmann gewählte Strategie ist ein philosophisches Hirngespinst, so läßt er den Leser wissen, "weil die gemachte Trennung von Denkakt und Denkinhalt in Wirklichkeit nicht existiert". - Es gibt gar keine Denkakte, die von Denkinhalten zu unterscheiden wären. Deswegen ist jeder Versuch mü­ßig, sie zu erkennen. Mehr noch: "Man möchte fast behaupten: Wer das Denken zertrennt in Denkakt und Denkinhalt hat das Denken eben nie beobachtet."

Damit nun allerdings rüttelt Christoph Lindenberg heftig an den Grund­festen der Anthroposophie, weil die Unterscheidung zwischen individuel­ler Denktätigkeit und subjektunabhängigem Gedankeninhalt überhaupt eine der tragenden Säulen ist, auf der das ganze anthroposophische Welt­anschauungsgebäude aufbaut. Ohne diese Differenzierung würde es schwerlich Bestand haben. (Siehe zu diesem Thema die ungewöhnlich gründliche Studie von Malte Diekmann und Johann Michael Ginther, Die Erkenntnis-Auffassung bei Rudolf Steiner und Christoph Lindenberg. Ein kritischer Vergleich. Sammatz 2008) In dieser Frage, die Witzen­mann durch verschiedene Beispiele nachvollziehbar belegt, muß man Witzenmann nun wirklich beipflichten.

Nach Steiner nimmt das Denken Begriffe und Ideen bloß wahr und pro­duziert sie nicht. "Der Ideengehalt der Welt ist auf sich selbst gebaut, in sich vollkommen. Wir erzeugen ihn nicht, wir suchen ihn nur zu erfas­sen. Das Denken erzeugt ihn nicht, sondern nimmt ihn wahr. Es ist nicht Produzent, sondern Organ der Auffassung." (GA-1, 1973, S. 164) Folg­lich muß man zwischen der Tätigkeit der ideellen Wahrnehmung und den wahrgenommenen ideellen Gegenständen unterscheiden. Es gibt nur ei­nen einzigen Begriff des Kreises aber Millionen Denkakte, vermittels de­rer er erfaßt oder erkannt wird. Der rein begriffliche Inhalt Dreieck ist von unserer subjektiven Tätigkeit des Denkens so unabhängig wie der gesehene Baum von unseren individuellen Akten des Sehens. Der reine Begriff Dreieck existiert auch wenn niemand ihn denkt. So sicher wie der Baum auch dann grünt, wenn keiner zu ihm hinschaut. Den Satz des Py­thagoras gab es dem Inhalte nach schon bevor Pythagoras ihn dachte. Dieser hat ihn nicht erfunden sondern entdeckt. Individuelle Denkprozes­se dagegen existieren nur, wenn jemand sie vollzieht. Sie sind existentiell davon abhängig, ob einzelne menschliche Subjekte den Entschluß gefaßt haben sie auch auszuführen. Sollten wir also darauf verzichten einen Un­terschied zwischen vollziehender Tätigkeit und ihrem Inhalt zu ma­chen, dann wird das Gedachte konsequenterweise existentiell abhängig von meinem persönlichen Entschluß.

Drei kurze Ausschnitte aus Steiners Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA-02, 1979). Auf S. 48 bemerkt Steiner, daß der Gedankengehalt der Welt zwei Seiten habe, wenn er in unserem Bewußtsein in Erscheinung tritt: "Das eine Mal erscheint er als Tätigkeit unseres Bewußtseins, das andere Mal als unmittelbare Erschei­nung einer in sich vollendeten Gesetzmäßigkeit, ein in sich bestimmter ideeller Inhalt." Da haben wir zunächst schon einmal die Unterscheidung "Tätigkeit des Bewußtseins" und "in sich bestimmter ideeller Inhalt". Diese zwei Seiten, die beide durch Erfahrung gegeben sind, werden nun nicht bloß irgendwie formal getrennt, sondern auch hinsichtlich ihrer Wertigkeit, insofern Steiner einer Seite, nämlich der inhaltlichen, die größere Bedeutung beilegt. Und dann (S. 49) den Gedankengang weiter­führt: "Wir produzieren einen Gedankeninhalt durchaus nicht so, daß wir in dieser Produktion bestimmten, welche Verbindungen unsere Gedanken einzugehen haben. Wir geben nur die Gelegenheitsursache her, daß sich der Gedankeninhalt seiner eigenen Natur gemäß entfalten kann. Wir fas­sen den Gedanken a und den Gedanken b und geben denselben Gelegen­heit, in eine gesetzmäßige Verbindung einzugehen, indem wir sie mitein­ander in Wechselwirkung bringen. Nicht unsere subjektive Organisation ist es, die diesen Zusammenhang von a und b in einer gewissen Weise bestimmt, sondern der Inhalt von a und b selbst ist das allein Bestimmen­de. Daß sich a zu b gerade in einer bestimmten Weise verhält und nicht anders, darauf haben wir nicht den mindesten Einfluß. Unser Geist voll­zieht die Zusammensetzung der Gedankenmassen nur nach Maßgabe ihres Inhaltes." Unser Geist vollzieht hier etwas, worauf er inhaltlich kei­nen Einfluß hat, sondern der Inhalt ist ihm von anderer Seite gegeben. Er gibt nur Gelegenheitsursache her, damit sich der Gedankeninhalt seiner eigenen Natur gemäß, - und nicht unserer Willkür folgend - , entfalten kann. Man sieht, daß das Motiv der Zurückdrängung der leiblich-seeli­schen Organisation auch hier im Vordergrund steht. Während es in der vorbereitenden Phase des Denkens darum geht, diese Organsisation über­haupt erst einmal in ihrer Eigendynamik zum Schweigen zu bringen, währen noch keine Inhalte gedacht werden, ist diese Eigendynamik wäh­rend der begrifflich-inhaltlichen Denkphase selbst vollends unterbunden und ausschließlich der Inhalt kommt zu Wort.

Schließlich dann auf S. 52: "Wir müssen uns zweierlei vorstellen: einmal, daß wir die ideelle Welt tätig zur Erscheinung bringen, und zugleich, daß das, was wir tätig ins Dasein rufen, auf seinen eigenen Gesetzen beruht. Wir sind nun freilich gewohnt, uns eine Erscheinung so vorzustellen, daß wir ihr nur passiv, beobachtend gegenüberzutreten brauchten. Allein das ist kein unbedingtes Erfordernis. So ungewohnt uns die Vorstellung sein mag, daß wir selbst ein Objektives tätig zur Erscheinung bringen, daß wir mit anderen Worten eine Erscheinung nicht bloß wahrnehmen, sondern zugleich produzieren: sie ist keine unstatthafte.

Man braucht einfach die gewöhnliche Meinung aufzugeben, daß es so viele Gedankenwelten gibt als menschliche Individuen. Diese Meinung ist ohnehin nichts weiter als ein althergebrachtes Vorurteil. Sie wird überall stillschweigend vorausgesetzt, ohne Bewußtsein, daß eine andere zum mindesten ebensogut möglich ist, und daß die Gründe der Gültigkeit der einen oder der andern denn doch erst erwogen werden müssen. Man denke sich an Stelle dieser Meinung einmal die folgende gesetzt: Es gibt überhaupt nur einen einzigen Gedankeninhalt, und unser individuelles Denken sei weiter nichts als ein Hineinarbeiten unseres Selbstes, unserer individuellen Persönlichkeit in das Gedankenzentrum der Welt."

Man kann hier mindestens schon nach vier (sicherlich nicht vollständi­gen) Unterscheidungsdimensionen zwischen der Denktätigkeit und dem Inhalt differenzieren. Etwa nach Aktivität, Einfluß, Gegebenheit und Wertigkeit. Die Aktivität geht zwar vom denkenden Subjekt aus, aber dieses formt nicht den Inhalt, da dieser von einer anderen Seite her gege­ben ist und selbst auf die Tätigkeit bestimmend wirkt. Begriffe lassen sich nicht beliebig denken und widersetzen sich dem Versuch ihren In­halt zu manipulieren. Ein Dreieck mit vier Ecken ist bei aller Anstren­gung nicht denkbar. Die Aktivität des Denkers wird, obwohl vom den­kenden Subjekt ausgehend, doch vom Inhalt in ihrer Richtung oder ihrem Ablauf regiert. Ihr wird durch den Begriff oder den "sachlich-entspre­chenden Zusammenhang", wie es Steiner auf S. 44 der Philosophie der Freiheit ausdrückt, eine spezifische Aktivitätsstruktur oder ein Verlauf­gesetz aufgeprägt. Und diese inhaltliche Regie ist das Entscheidende bei dem ganzen Vorgang.

Während nach Steiner unzweideutig zwischen der Aktivität des Denkers und dem eigenständigen begrifflichen Inhalt zu unterscheiden ist, möchte uns Christoph Lindenberg davon überzeugen, daß der Begriff dasselbe ist wie die denkende Tätigkeit oder die Aktivität, die ich in ihn investiert habe. Etwa wenn er (S. 89) schreibt: "Im Begriff schaue ich meine den­kende Tätigkeit an. Der Denkvorgang ist nicht verschwunden, vielmehr zeigt sich der gebildete Begriff in seiner Substanz als Denktätigkeit. Ein Gleiches kann man an dem Begriff der Parallelen bemerken oder an dem des Dreiecks: Jeder Begriff ist mit seinem Bildungsvorgang identisch und es ist auch nicht mehr in ihm drin als das, was ich denke."  6 Und auf S. 90 noch einmal : Ein Begriff ist "seiner Substanz nach nichts anderes ... als das in ihn investierte Denken". In welches Dilemma man damit gerät habe ich eben etwas zu verdeutlichen versucht: Der Begriff gerät in die Abhängigkeit vom denkenden Subjekt. Er wird nicht mehr wahrgenom­men sondern produziert. Die subjektive Aktivität geht vollständig im In­halt auf und der letztere ist nichts anderes als eine Erscheinungsweise oder Metamorphose dieser Aktivität.

Während Witzenmann Steiners Auffassung folgend zwar die Unterschei­dung Akt-Inhalt vornimmt, aber dem Denkakt keine echte Erfahrungsdi­mension zuweisen kann und und ihn infolgedessen zu einem rein abstrak­ten, nahezu inhaltsleeren Rumpfbegriff zusammenschrumpfen läßt, hebt Lindenberg diese Unterscheidung vollends auf und läßt den subjektunab­hängigen begrifflichen Inhalt zu einer bloß subjektiven Größe werden. Der Anlaß dazu ist bei beiden ein sehr ähnlicher: Ein Mißverstehen des­sen, was Steiner Beobachtung des Denkens nennt. Während Witzenmann glaubt, der Denkakt sei kein Bewußtseinsinhalt und deshalb müsse man ihn erst denken, um ihn zu einem solchen werden zu lassen, scheint Lin­denberg der Überzeugung zu sein, die Beobachtung des Denkens habe mit einem Denken über das Denken wenig zu tun und deshalb sei in den Bereich philosophischer Trugbilder zu verweisen, was sich auf diesem Wege bezüglich Akt und Inhalt ergeben kann.

Wenn Lindenberg schreibt, ein Begriff sei "seiner Substanz nach nichts anderes ... als das in ihn investierte Denken", so vernachlässigt er hier den Umstand, daß Begriffe, soweit von uns erarbeitet oder zugänglich gemacht, in diesem Stadium des Erarbeitet-Seins gewöhnlich noch höchst unvollständig sind und potentiell ihrem eigentlichen Inhalte nach wesentlich mehr enthalten als uns davon momentan faßbar ist. Man stelle sich nur einmal vor was jeder so ad hoc über den Freiheitsbegriff zu sa­gen weiß, und was sich ergeben kann, wenn er systematisch ein Buch wie die Philosophie der Freiheit durcharbeitet. Oder was ein dreizehnjähriger Schüler über den Begriff des Dreiecks zu denken vermag, und was ein Fachlehrer im mathematischen Leistungskurs der Oberstufe bei der Ein­führung in die analytische Geometrie. Begriffe enthalten weit mehr als ich jeweils dabei denke. Es ist eben auch ein Charakteristikum ihres Ei­genseins, daß ihr inhaltlicher Reichtum in vielen Fällen - etwa in Mathe­matik oder Philosophie - erst noch entdeckt sein will. Sie sind also schon da bevor ich sie denke und damit zu meinem Bewußtseinsinhalt mache.

Vielleicht mag Lindenberg hier auch einer Verkennung erlegen sein wenn er sagt, es sei im Begriff "nicht mehr drin als das, was ich denke." Und zwar verwechselt er allem Anschein nach - obwohl er sich nicht aus­drücklich darauf bezieht - die von Steiner im dritten Kapitel der Philoso­phie der Freiheit (S. 44) betonte Bekanntheit der Gedankenwege, die ich beim Durchdenken eines Begriffes durchlaufe, mit der Bekanntheit des objektiven Begriffes bw. der ideellen Wirklichkeit und wirft dadurch zwei Aspekte der Begriffswelt zusammen, die getrennt werden müssen: die objektive ihres wirklichen Inhaltes und das, was im denkenden Sub­jekt davon erscheint - den erworbenen Begriff mit seiner geistigen Ur­form. Den vorläufigen Ertrag des Strebens nach Wahrheit und Erkenntnis mit der ideellen Wirklichkeit selbst, der dieses Streben gilt. Steiner selbst geht es in der entsprechenden Passage lediglich darum aufzuzeigen, daß wir von Begriffen, die wir uns zu eigen gemacht haben, die sachlichen Beziehungen und Verhältnisse kennen, in denen sie zu einander stehen, und daher auch wissen was wir zu tun haben wenn wir diese Begriffe denken. Es geht dort lediglich um Transparenz und Bestimmungsgründe meines (mentalen) Handelns und nicht um Gültigkeit oder Wahrheit. (Siehe Steiners Beispiel von Blitz und Donner: "Es kommt natürlich gar nicht darauf an, ob ich die richtigen Begriffe von Blitz und Donner habe. Der Zusammenhang derer, die ich habe, ist mir klar, und zwar durch sie selbst.") Die Begriffe selbst mögen dabei so falsch sein wie sie wollen - darauf kommt es im Kontext der erwähnten Passage nicht an, sondern le­diglich darauf, daß diejenigen, die wir haben,  für uns durchsichtig sind und wir uns beim Denken nach ihrem Inhalt richten. Nur in diesem Fall könnte gelten was Lindenberg vom Begriff sagt, daß "nicht mehr in ihm drin [ist] als das, was ich denke."

Aber selbst wenn wir von diesem Inhalt probeweise mit Lindenberg sa­gen wollten er sei mit seinem Bildungsvorgang identisch, so bleibt doch immer noch ein Inhalt auf den das nicht zutreffen kann, weil er laut Stei­ner schon existiert, obwohl der subjektive Bildungsvorgang noch gar nicht stattgefunden hat. Das ist jener Inhalt, der in meinem Begriff oder meiner individuellen Begriffswelt noch nicht enthalten sein kann, weil mein Denken zu ihm noch nicht durchgedrungen ist. Dieser kann also nicht mit seinem Bildungsvorgang identisch sein sondern muß sich in ei­nem ganz wesentlichen Aspekt von ihm unterscheiden. Und erkenntnis­genetisch gilt das von allen Begriffen, die ursprünglich nur für sich und noch nicht für das denkende Individuum vorhanden sind, weil der Be­griffserweb doch allmählich im Laufe der Zeit verläuft. (Es sei hier ne­benbei auf die von Steiner und Witzenmann aufgegriffene Universalien­lehre hingewiesen.)

Es steht außer Frage, daß Steiner in seinen späteren rein anthroposophi­schen Darstellungen dieser vollziehenden Tätigkeit, bzw. diesem Herge­ben einer Gelegenheitsursache noch eine tiefere und vielschichtigere er­kenntnisanthropologische Form gegeben hat. Aber das steht im Rahmen dieser Ausführung noch nicht zur Debatte. Hier gilt es erst einmal festzu­halten, daß gemäß Steiner eine Unterscheidung zu treffen ist zwischen der vollziehenden Tätigkeit, die als Tätigkeit meine persönliche Angele­genheit ist, und dem für sich bestehenden Inhalt, den ich im Zuge dieser Tätigkeit erst zu meiner Angelegenheit machen muß. Die Aktivität des Denkens muß von mir gewollt werden. Sie beruht auf meiner freien Ent­scheidung. Ich kann diese mentale Handlungsart ausführen, aber auch un­terlassen oder unterbrechen - ganz willkürlich. Auf den für sich bestehen­den Inhalt des Begriffes Dreieck bleibt dies ohne Einfluß. Er wird kein anderer dadurch, daß in mir Denkentschlüsse entstehen und dahinschwin­den. Ich kann einen Gedanken wohl unter jedem beliebigen Aspekt be­trachten und mir fortwährend andersartige Zugänge zu ihm verschaffen, aber der ursprüngliche Inhalt an und für sich ist nicht wandelbar. Den selbsteigenen begrifflichen Inhalt - etwa der Freiheitsidee - kann ich in seiner Existenz nicht wollen, sondern lediglich versuchen ihn mir zu ei­gen zu machen und damit mein Ich zu erweitern und zu bereichern. Lin­denbergs Überzeugung führt demgegenüber in den Konflikt, die Tatsache mit Steiners Philosophie in Einklang zu bringen, daß eine geistig-ideelle Welt kommt und geht, entsteht und sich verflüchtigt, je nachdem, ob wir sie denken oder nicht.

Ich hatte oben auf Steiners Bemerkungen in der Philosophie der Freiheit hingewiesen, wonach er die Denkaktivität in zwei Phasen oder Tätig­keitsdimensionen gliedert und sie bereits wirksam sieht, wenn noch kein Inhalt gedacht und lediglich das Erscheinen des Denkens vorbereitet wird. Diese zwei Phasen lassen sich ohne größere Anstrengung in jedem gezielt herbeigeführten Denkvorgang erkennen, da sie zunächst zeitlich versetzt auftreten. Der einfachste Weg die Aktivität vom Inhalt gesondert zu betrachten besteht folglich darin, die Aufmerksamkeit auf dieses vor­bereitende Stadium des Denkens zu richten, wenn das inhaltliche Denken noch nicht stattfindet. Etwas komplizierter wird es, wenn sie während des inhaltlichen Denkens ins Auge gefaßt werden soll. Machen wir bei dieser Gelegenheit einmal einen kurzen Abstecher zum anthroposophischen Schulungsweg. Auch dort wird ausdrücklich gefordert die bloße Tätigkeit des Denkens unabhängig vom gedanklichen Inhalt in den Fokus der Auf­merksamkeit zu bekommen. Es wird also nicht nur in theoretisch-episte­mologischen Zusammenhängen von Steiner die Unterscheidung Akt-In­halt gtroffen, sondern auch der Übende gezielt angeleitet das Erleben der rei­nen Aktivität mehr und mehr zu steigern. Nachfolgend drei kurze Bei­spiele, die das zeigen können. Während Steiner im ersten Beispiel vom Denken im allgemeinen spricht, fungieren bei den beiden anderen sinn­bildliche Gedanken als Denkobjekte. Diese haben nicht nur eine begriff­liche, sondern auch eine anschauliche Komponente, die durch den Auf­bau des Symbols zu seinem begrifflichen Gehalt in einer gesetzmäßigen Beziehung steht. Aber das Prozedere ist in allen drei Fällen dasselbe: Im­mer geht es darum die reine Aktivität zu erleben, die einen spezifischen Inhalt hervorbringt - in einer Art realer Abstraktion vom Inhalt abzuse­hen und sich nur auf die Tätigkeit zu konzentrieren.

So in GA-35, 1984, S. 276: "Eine Art dieser Seelenverrichtungen besteht in einer kraftvollen Hingabe an den Vorgang des Denkens. Man treibt diese Hingabe an die Denkvorgänge so weit, daß man die Fähigkeit er­langt, die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die im Denken vorhandenen Gedanken zu lenken, sondern allein auf die Tätigkeit des Denkens. Für das Bewußtsein verschwindet dann jeglicher Gedankeninhalt, und die Seele erlebt sich wissend in der Verrichtung des Denkens. Das Denken verwandelt sich so in eine feine innerliche Willenshandlung, die ganz vom Bewußtsein durchleuchtet ist. Im gewöhnlichen Denken leben Ge­danken; die gekennzeichnete Verrichtung tilgt den Gedanken aus dem Denken aus. Das herbeigeführte Erlebnis ist ein Weben in einer inneren Willenstätigkeit, die ihre Wirklichkeit in sich selbst trägt." 7

Ein anderes Beispiel gibt Steiner im Kapitel Skizzenhaft dargestellter Ausblick auf eine Anthroposophie am Ende der Schrift Die Rätsel der Philosophie (GA-18, 1968, S. 604). Dort schreibt er: "Mittel, tiefer in die Seele einzudringen, bieten sich dar, wenn man den Blick auf dasjenige richtet, was im gewöhnlichen Bewußtsein zwar mitarbeitet, aber in seiner Arbeit gar nicht in dieses Bewußtsein eintritt. Wenn der Mensch denkt, so ist sein Bewußtsein auf die Gedanken gerichtet. Er will durch die Ge­danken etwas vorstellen; er will im gewöhnlichen Sinne richtig denken. Man kann aber auch auf anderes seine Aufmerksamkeit richten. Man kann die Tätigkeit des Denkens als solche in das Geistesauge fassen. Man kann zum Beispiel einen Gedanken in den Mittelpunkt des Bewußt­seins rücken, der sich auf nichts Äußeres bezieht, der wie ein Sinnbild gedacht ist, bei dem man ganz unberücksichtigt läßt, daß er etwas Äuße­res abbildet. Man kann nun in dem Festhalten eines solchen Gedankens verharren. Man kann sich ganz einleben nur in das innere Tun der Seele, während man so verharrt. Es kommt hierbei nicht darauf an, in Gedanken zu leben, sondern darauf, die Denktätigkeit zu erleben."

Ein analoges Beispiel aus der "Geheimwissenschaft im Umriß" (GA-13, Dornach 1977, S. 360): "Man frage sich in seiner Seele etwa in folgender Art: Was habe ich innerlich getan, um Kreuz und Rose zu dem Sinnbild zusammenzufügen? Was ich getan habe (meinen eigenen Seelenvorgang) will ich festhalten; das Bild selber aber aus dem Bewußtsein verschwin­den lassen. Dann will ich alles in mir fühlen, was meine Seele getan hat, um das Bild zustande zu bringen, das Bild selbst aber will ich mir nicht vorstellen. Ich will nunmehr ganz innerlich leben in meiner eigenen Tä­tigkeit, welche das Bild geschaffen hat. Ich will mich also in kein Bild, sondern in meine eigene bilderzeugende Seelentätigkeit versenken."

In allen drei Beispielen zielt Steiner darauf ab, die reine hervorbringende Aktivität des Denkens zum alleinigen Erlebnisinhalt zu machen. Das wäre nicht möglich, wenn zwischen Aktivität und Inhalt nicht ein fakti­scher Unterschied bestünde, der eine getrennte Fokussierung auch er­laubt. Sollten nämlich beide dasselbe sein, so ließe sich eine solche Übung nicht durchführen und mit der Aktivität wäre immer zugleich der Inhalt gegeben. Man kann nach Steiner also ganz konkret und pragma­tisch das Denken in zwei unterschiedliche Richtungen hin untersuchen - einmal in Richtung seiner Inhalte und einmal in Richtung jener Aktiviät, die diese Inhalte erst zur Erscheinung bringt, beziehungsweise dieses Er­scheinen erst vorbereitet.

Es ist eben nicht zutreffend wenn Lindenberg (S. 90) behauptet: "Gäbe es einen wirklichen Unterschied zwischen Denkinhalt und Denkakt, so wie sich das Tischlern vom erzeugten Tisch unterscheidet, so könnte man das Denken nicht beobachten." Tatsache ist vielmehr, daß Lindenberg sich nicht wirklich ernsthaft darüber orientiert hat, was dieses Beobachten des Denkens in Steiners Augen eigentlich ist und hier statt dessen mit einem ungeklärten Begriff von Denk-Beobachtung hantiert, der in hohem Maße seiner bloß persönlichen Überzeugung entstammt.

VI.

"Das wirkliche Denken (nicht allerdings die seelischen Anstrengungen um zum Denken zu kommen)", schreibt Lindenberg (S. 88) "ist nämlich deshalb das «unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geistesle­bens», weil es ganz im Gegenstande aufgeht." Das mag so sein. Nur hilft uns das an dieser Stelle nicht weiter, weil es voraussetzt was doch erst noch zu klären ist, nämlich den von Steiner zugrunde gelegten Beobach­tungsbegriff. Erst wenn dieser verdeutlicht ist, - ohne die Einbeziehung von Steiners Schlüsselpassagen ein wenig aussichtsreiches Unterfangen -, läßt er sich argumentativ gegen Witzenmann verwenden. Weil Linden­berg diese Klärungsarbeit aber unterläßt, hält er die Unterscheidung zwi­schen Akt und Inhalt für etwas Ausgedachtes, für ein irreales Phantasie­gebilde und nicht für etwas, das sich einer wirklich ernsthaften Beobach­tung des Denkens zeigt.

Im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit hätte er sich darüber un­terrichten können, daß Steiner zur Beobachtung des eigenen, tätigen Den­kens auf jeden Fall einen zweiten Denkschritt verlangt. Mit dem ersten erlebnismäßigen Dasein ist das Denken als Faktum nur erst da, aber eben noch nicht beobachtet oder angeschaut. Mit dem zweiten Denkschritt wird das Ausgangserlebnis des Denkens gegenübergestellt und denkend betrachtet. Und erst damit sind wir in der Lage, das Denken zu erkennen. Ich mache mich mit dem Denken durchaus noch nicht bekannt, wenn ich es nur erlebe und lediglich bei seiner anfänglichen Erscheinungsform ste­hen bleibe, sondern muß mich dazu auf jeden Fall auf diesen zweiten Denkschritt einlassen und über die ursprüngliche Erfahrung des Denkens weiter nachdenken: der zweite, getrennte Akt, den Steiner im dritten Ka­pitel in diesem Zusammenhang anführt. Erst dieser nachfolgende Denk­schritt klärt mich über Eigenschaften und Eigenarten des bloß daseienden Denkens weiter auf. Was uns Lindenberg übrigens hier selbst auch in concreto vorführt. Denn seine Bemerkung, das Denken trete ursprünglich nicht getrennt in Akt und Inhalt auf, wäre ohne diesen zweiten, beobach­tenden Denkschritt niemals möglich gewesen. Er hat ihn nur übersehen, weil er dieser Tatsache des zweiten, beobachtenden Denkschrittes keine gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hat. Weder in der Philosophie der Freiheit noch bei sich selbst. Ohne ihn aber hätte er vom Sachverhalt der Einheitlichkeit nichts gewußt, obwohl der in seinem erlebten Denken lokalisierbar ist. Sein Wissen darum ist folglich nichts anderes als das Fa­zit eines Nachdenkens über Erfahrungen, die er mit seinem Denken ge­macht hat - sprich: einer Beobachtung des Denkens.

Gewiß geht das wirkliche Denken ganz im Gegenstande auf und er­scheint dem ungeschulten Bewußtsein zunächst nicht getrennt in Akt und Inhalt, sondern in einer Erlebniseinheit, die beide umfaßt. Aber daß uns dieses Denkerlebnis ursprünglich einheitlich erscheint, liegt nicht etwa daran, daß es keine Denkakte gibt, die von Inhalten zu unterscheiden wä­ren, sondern weil es uns schwer fällt während des Denkens auf unsere ei­gene Aktivität zu achten. Dies umso mehr, weil wir außerstande sind am sich vollziehenden Denken gleichzeitig begriffliche Unterscheidungen zu treffen, die ja nur denkend getroffen werden können.

Und so wie die Tatsache der einheitlichen Erscheinungsform des Den­kens nur in einem getrennten Denkakt im Rahmen einer gegenüberstel­lenden Betrachtung konstatiert werden kann, so ist auch die beschreiben­de Gliederung Denkakt - Denkinhalt Resultat eines Denkens, das sich im Nachhinein auf die Erfahrungen des Denkens richtet und spezifische Mo­mente, Eigenschaften oder Aspekte innerhalb dieser Einheit konstatiert, die sich vernünftigerweise voneinander abheben lassen und auch speziel­len Tatsachen entsprechen.

"Ein Denkakt an und für sich erscheint nicht." sagt Lindenberg (S. 90). Daß dies nicht zutreffend ist, haben wir weiter oben schon erläutert. Denn die zurückdrängende Komponente der Denkaktivität kann sehr wohl "an und für sich" erscheinen – das heißt: unabhängig von gedachten Inhalten. Und wenn wir Steiners methodischen Angaben zum Schulungs­weg folgen, kann die Aktivität auch bei simultanem Auftreten mit Inhal­ten von diesen faktisch getrennt und fokussiert werden. Gewiß, als Kom­ponente einer ideellen Wahrnehmung erscheint der Denkakt immer in Verbindung mit einem ideellen Inhalt. Deswegen ist er aber nicht dassel­be wie der Inhalt.

Die Verständnisschwierigkeit, die hier bei Lindenberg offen zu tage tritt, ist ganz analog jener, die Rudolf Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln (GA-21, 1976, S. 16 ff) anläßlich der Kritik Franz Brentanos an dem Psy­chologen William James referiert: Meine Aktivität des Denkens tritt si­multan mit einem gedachten Inhalt auf. Und weil dies so ist, glaubt der Beobachter, ein Unterscheiden zwischen Akt und Inhalt sei unzulässig. Aber so, wie laut Brentano >>zwischen der empfindenden Tätigkeit und dem, worauf sie gerichtet ist, also zwischen Empfinden und Empfunde­nem, zu unterscheiden ist<<, so ist auch zu unterscheiden zwischen den­kender Tätigkeit und Gedachtem, weil es gute Gründe dafür gibt. (Mehr am Rande sei hier erwähnt, daß Franz Brentano für diesen Sachverhalt der Unterschiedenheit in der Einheit der seelischen Erfahrung den psy­chologischen Begriff der Intentionalität geprägt hat.) Die von Witzen­mann vertretene Akt-Inhalt-Unterscheidung ist kein verstiegenes philoso­phisches Hirngespinst, sondern plausibles Resultat eines Denkens, das sich konsequent auf die Erfahrungen des Denkens richtet, um das Denken zu erkennen. Anders gesagt: Sie ist Ergebnis einer Beobachtung des Den­kens, wie sie von Steiner explizit im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit gekennzeichnet wird. Allerdings zeigt sich dieses Resultat auch nur dann wenn man bereit ist, über die Erfahrungen des Denkens nachzu­denken. Unterläßt man dies, so muß man letztendlich jeglichen Anspruch auf Erkenntnis des Denkens fahren lassen. Und daß es sich bei diesem Denken über Erfahrungen des Denkens im Steinerschen Sinne um ein Beobachten des Denkens handelt, zeigt sich auch nur dann, wenn man bereit ist, sich mit den entsprechenden Passagen der Philosophie der Freiheit auseinanderzusetzen. Lindenberg hätte dies deutlich werden können, wenn er nur den von Steiner betonten Aspekt der qualitativen Gleichheit von Beobachtungsgegenstand und -methode in seine Frage­stellung einbezogen hätte. Sein Urteil hinsichtlich Witzenmanns Beob­achtungstätigkeit wäre dann sicherlich etwas konzilianter ausgefallen.

Und schließlich wird eine weitere Schwierigkeit bei ihm offensichtlich: Nämlich die von Steiner betonte Tatsache, daß bei der Beobachtung des Denkens Beobachtungstätigkeit und das Objekt dieser Tätigkeit qualitativ gleichwertig sind, in die methodische Praxis zu überführen. Diese Gleichwertigkeit scheint dem normalen Menschenverstand eine so fremdartige und unnahbare Angelegenheit zu sein, daß selbst Kenner des Steinerschen Werkes wie Lindenberg gar nicht erst den Versuch unter­nehmen dahinterzukommen, was Steiner damit genau meint und was dies im Rahmen der konkreten Beobachtungspraxis bedeuten könnte. So macht Lindenberg zwar die Methode der Beobachtung des Denkens aus­drücklich zum Thema seines Aufsatzes, spricht permanent vom Beob­achten bzw vom Beobachten des Denkens, richtet aber keinen einzigen erhellenden Gedanken auf diesen fundamentalen methodischen Aspekt. Kann demnach auch gar nicht wissen, was nach Steiner das Beobachten des Denkens eigentlich ist. Denn dazu hätte er sich näher mit der Tatsa­che befassen müssen, daß das Denken vom Denken beobachtet und er­kannt wird. Gleichwohl hindert ihn nichts daran, Witzenmann, der dieser Sache zumindest in erkennbar ernsthafter Klärungsabsicht nachgeht, zu unterstellen, der habe vermutlich das Denken nie beobachtet. Das ent­behrt in all seiner Aussichtslosigkeit und Irrealität nicht einer gewissen Komik.

VII.

Trotz ihrer Differenzen hinsichtlich Methode und Resultat: Im Steiner­schen Sinne beobachten nebenbei gesagt beide Autoren das Denken, so­weit sie nämlich über eigenes, fremdes oder fingiertes Denken nachden­ken und versuchen es zu erkennen. Nicht nur Witzenmann, auch Linden­berg denkt zwecks seiner Erkenntnis fortwährend über Erfahrungen des Denkens nach, beobachtet es folglich und bringt auch eine Reihe interes­santer Beobachtungen vor. Das soll bei aller Kritik nicht übergangen werden. Beide beobachten das Denken übrigens auch dann wenn man sich ihren Resultaten nicht anschließen kann. Aus der Tatsache der beob­achtenden Erkenntnisanstrengung folgt nämlich nicht zwangsläufig, daß ihr Ertrag jeweils akzeptabel sein muß. So wenig wie aus meinen Er­kenntnisbemühungen im allgemeinen folgt, daß sie im Einzelfall stets zu­treffen. Und schließlich folgt aus der Tatsache eines faktischen Beobach­tens des Denkens auch nicht, daß der Beobachter jeweils einen klaren Begriff von dem hat, was er da tut. Das scheint zunächst überraschend, ist es aber in Wirklichkeit nicht sondern eine der geläufigsten Gegeben­heiten. So geläufig wie der Umstand, daß sich die Menschheit seit Jahr­tausenden erkennend betätigt hat ohne bis heute in nennenswertem Um­fang genauer zu wissen, was sie dabei eigentlich treibt. Wäre dies anders, so könnte man mit Forschungsarbeiten zu diesen Themen nicht ganze Bi­bliotheken füllen. Und auch Witzenmann hätte sich nicht fast ein Leben lang immer wieder neu mit dem Beobachtungsbegriff auseinandersetzen müssen.

Allerdings muß man sagen, daß Witzenmann in bezug auf Steiners Ver­ständnis der Beobachtung des Denkens deutlich klarer sieht als Linden­berg. Was ersichtlich an der Konsequenz liegt, mit der er die entschei­denden Gedankengänge der Philosophie der Freiheit aufgreift, während sie Lindenberg nur mit spitzen Fingern bzw gar nicht anfaßt. Witzen­manns Heuristik ist an der fraglichen Stelle ganz darauf abge­stimmt, daß das Denken vom Denken gesehen oder erkannt wird, wäh­rend dieser Umstand faktisch nicht in den Untersuchungshorizont von Lindenberg gerät. Wenn es bei Witzenmann ein Problem gibt, dann ist es darin be­gründet, daß das gegenwärtige Denken - und hierzu gehört per definitio­nem der Denkakt - nicht beobachtbar ist. Wie aber soll man et­was beob­achten, was man definitiv nicht beobachten kann? - Diese scheinbare Pa­radoxie war nicht nur Witzenmanns Problem bis an sein Lebensende, sondern auch das vieler Fachleute der Denkpsychologie oder Philoso­phie. Nun ist dieses Dilemma kein empirisches sondern - zu­mindest bei Steiner - lediglich eins der Interpretation. Der Gedanken­gang, den Wit­zenmann leider nicht mehr vollzieht ist der, daß man Denkakte respektive das gegenwärtige Denken zwar bewußt erfahren oder erleben kann, ohne sie jedoch zugleich beobachten, sprich: an­schauen, sprich: erkennen zu können. Deswegen kommt er auf den irri­gen Weg eines nur formalen Denkakt-Denkens. Er glaubt, man müsse den Denkakt mit einem zweiten Denkakt denken, um ihn zum Bewußt­seinsinhalt zu machen, anstatt über Erfahrungen der Denkaktivität nach­zudenken, die bereits auf der reinen Erfahrungsebene erlebter Bewußt­seinsinhalt sind, bevor sich das Denken ihnen in einem zweiten, erken­nenden Denkschritt zuwendet, um sie zu benennen, zu ordnen, zu beur­teilen und in umfassendere Zusammenhän­ge hineinzustellen. - Damit aus einem nur erlebten Bewußtseinsinhalt ein erkannter Bewußtseinsinhalt werde. Diese Schwierigkeit, die sehr viel mit Steiners erkenntnistheoreti­schem Begriff der "reinen Erfahrung" zu tun hat, zieht sich durch fast alle Publikationen Witzenmanns, soweit sie sich mit dieser speziellen Thema­tik befassen, und gipfelt gegen Ende sei­nes Lebens in der fast tragisch anmutenden "erkenntnistheoretischen Grundfrage", "Wie Unbeobachtba­res zur Erinnerung werden kann?" (Sie­he Herbert Witzenmann, Methodi­sche Konsequenzen der Goetheschen Metamorphosenidee, in: Ders., Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, S. 397, S. 386. Sie­he dort auch S. 344; S. 345; S. 356; S. 363; S. 368; S. 374; .)

Da sich Christoph Lindenberg überwiegend auf einer polemischen und kaum auf einer sachbezogenen Ebene mit Witzenmanns Gedankengang befaßt, versäumt er die Gelegenheit sein Augenmerk auf das wichtigste Detail in Witzenmanns Überlegung zu richten: Lindenberg erwähnt selbst, daß der Anlaß für Witzenmanns Denken des Denkaktes sich un­mittelbar aus dem dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit ergibt, ohne näher auf diesen einzugehen, seinen methodischen Gehalt freizule­gen und sich damit ein wirklich wirksames Instrument der Kritik zu ver­schaffen. Er ahnt wohl mehr als er es konkret benennen könnte, daß an Witzenmanns Reflexionen irgend etwas nicht stimmt. Und weil er es nur ahnt aber nicht näher hinsieht, glaubt er sich gewappnet Witzenmanns theoretische Bastion mit einem zweifelhaften Vortragszitat ins Wanken zu bringen, um ihr dann mit einer noch zweifelhafteren These den Rest zu geben. Und setzt so mit der Kritik an der Akt-Inhalt-Unterscheidung an, anstatt sein Augenmerk auf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung zu richten und nachzufassen welchen Wandlungen dieser Begriff in Wit­zenmanns Überlegungen unterliegt. Lindenberg hat durchaus recht wenn er sein Unbehagen äußert in Anbetracht der eigentümlich realitätsfernen Gedankenfigur, die Witzenman vorlegt. Und er hat auch recht wenn er darauf hinweist, daß man den Denkakt im strengen Sinne nicht denken kann. Nur läßt er sich durch irgend etwas daran hindern, den tatsächli­chen Anlaß für das Unbefriedigende in Witzenmanns Überlegung heraus zu präparieren - möglicherweise gar durch Steiners Vortragstext.

Es ist nicht der Umstand, daß Denkakte sich von Denkinhalten nicht un­terscheiden lassen, der Witzenmann zu einer so eigentümlichen Gedan­kenkonstruktion greifen läßt, sondern eine theoretische Barriere zwingt ihm das auf. Sie besteht in der fehlenden Unterscheidung zwischen Er­fahren und Beobachten des gegenwärtigen Denkens. Darin ist er Linden­berg in gewisser Weise sogar verwandt; - insofern er Steiners methodi­schen Hinweis betreffend die qualitative Gleichwertigkeit von Beobach­tungstätigkeit und -gegenstand bei der Beobachtung des Denkens eben­falls nicht folgerichtig zu Ende denkt und dann mit der Unbeobachtbar­keit des gegenwärtigen Denkens nicht mehr zurechtkommt. Weil Witzen­mann infolge einer mißverstandenen Unbeobachtbarkeit dem Denkakt keine wirkliche Erfahrungsdimension zuweisen kann und letztlich nicht weiß, was er da konkret denken soll, zieht er sich hier auf eine bloß for­male Ebene des Denkakt-Denkens zurück, die bei Lindenberg sogar den Eindruck logischer Stimmigkeit erweckt, im Kern aber inhaltsleer und methodisch ohne Sinn bleibt. Und letzteres ist es, was Lindenberg wohl hauptsächlich zu schaffen macht wenn er sagt: "Wer allerdings abstrakt «das Denken» beobachten will und sich nicht auf konkrete, wirkliche Denkvorgänge einlassen will, jagt einer Chimäre nach. «Das Denken», das er beobachten will, gibt es nicht." - Das ganze wirkt vollkommen aus­gedacht und konstruiert.

Ende Teil III

Anmerkungen Teil III

6 Zu einem scheinbar ähnlichen Resultat gelangt Herbert Witzenmann im Zuge seiner Überlegungen, etwa wenn er (S. 80) schreibt: "Das Ich ist im denktätigen Hervorbringen eines Aktes als eines Denkinhaltes selbst Denken [...] Damit aber erlange ich die Einsicht in die Gleichartigkeit von Denkinhalt und Denkakt, - also in eine Gleichartigkeit, die aber nicht fertig gegeben ist, sondern ständig entstehen, hervorgebracht, aktualisiert werden muß." Unklar bleibt bei Witzenmann auf was für einen Typ von Gleichartigkeit er sich hier bezieht. Sollte Witzenmann im Text Identität meinen, - was ich allerdings nicht erkennen kann -, dann hätten wir das­selbe oben besprochene Problem, wie es sich aus Lindenbergs Überle­gungen ergibt.

Eine andere Form von Gleichartigkeit zeigt sich, wenn man unter dem Beobachten des Denkaktes seine Beschreibung oder Veranschaulichung versteht. Die Gleichartigkeit besteht dann darin, daß der Denkakt eben auch Denkinhalt ist oder es werden kann. In diesem Fall ist der beschrie­bene Denkakt allerdings nur in einer repräsentativen Form Inhalt meines Denkens - eben verbildlicht oder veranschaulicht. Diese repräsentative Form kann mit dem ursprünglichen Denkakt selbst nicht identisch sein, weil sie wegen der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens nur im Nachhinein geschaffen werden kann, also von ihm zeitverschieden ist. Zum anderen wird zu dieser Beschreibung wiederum ein Denkakt benö­tigt. Man muß hier also zwischen der Objektebene und der Beschrei­bungsebene unterscheiden.

Eine dritte Form von Gleichartigkeit besteht darin, daß sowohl Denkakt als auch Denkinhalt in der höheren Einheit der Idee oder des All-Einen aufgehoben sind. In diesem Fall ist nicht nur der Denkinhalt ideeller Na­tur sondern auch der Denkakt selbst seinem Wesen nach. Trotzdem sind sie nicht dasselbe, sondern Verschiedenheiten in der Einheit, beziehungs­weise unterschiedliche Aspekte der Idee. Diese letzte Form von Gleichar­tigkeit ergibt sich notwendigerweise aus Steiners erkenntnistheoretischen Positionen, wonach das gesamte Dasein letztlich eine Erscheinungsform der Idee ist, oder wie er es in den "Grundlinien ..." ausdrückt: "Die Über­zeugung sollte alle Wissenschaften durchdringen, daß ihr Inhalt lediglich Gedankeninhalt ist und daß sie mit der Wahrnehmung in keiner anderen Verbindung stehen, als daß sie im Wahrnehmungsobjekte eine besondere Form des Begriffes sehen." (GA-2, 1979, S. 68) Oder (GA-1, 1973, S. 162 im Kapitel IX. Goethes Erkenntnistheorie): "Wenn wir von dem We­sen eines Dinges oder der Welt überhaupt sprechen, so können wir also gar nichts anderes meinen, als das Begreifen der Wirklichkeit als Gedan­ke, als Idee. In der Idee erkennen wir dasjenige, woraus wir alles andere herleiten müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophen das Abso­lute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee. Alles, was in der Welt nicht unmittelbar als Idee erscheint, wird zuletzt doch als aus ihr hervorgehend erkannt."

Danach ist die menschliche Seele selbst und überhaupt alles Existierende nach Steiner in einem gewissen Sinne gleichartig, insofern es sich dabei um Erscheinungsweisen der Idee handelt. Das Viele ist ein Eines. Dem Wesen nach sind sie allesamt der Idee angehörig und trotzdem nicht identisch. In diesem Sinne sind auch Denkakt und Denkinhalt zwar ver­schieden und dennoch notwendig gleichartig, weil meine Aktivität nicht minder ein Aspekt der Idee ist wie der Inhalt, den ich dabei zur Erschei­nung bringe. Die Erkenntnis des Denkaktes führt letzten Endes auch zu einer Begrifflichkeit, etwas rein Ideellem.

7 Im Aufsatz, Die Erkenntnis vom Zustand zwischen dem Tode und einer neuen Geburt (1916), S. 269 ff.

Ende Anmerkungen Teil III


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