Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


Ende zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home

Michael Muschalle

Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit. Eine Einführung

(Stand 22.11.03)

Kapitel 2

Die Vorrede von 1918

Die oben von Wolf Singer exemplarisch vorgestellte Doktrin ist im Grundsatz noch dieselbe, die Rudolf Steiner 1894 vorfand, als er seine Philosophie der Freiheit 1 erstmals herausgab. Ein Studium dieser Schrift zeigt, daß sich eine Entscheidung über die mögliche Freiheit unseres Handelns so ad hoc und generell nicht fällen läßt. Es wird dem Leser keine schnelle oder einfache entweder-oder-Lösung angeboten, sondern das Problem ist verwickelter. Es sind zunächst eine Reihe von Vorfragen zu klären, die einerseits den Freiheitsbegriff selbst betreffen, zum anderen die Bedingungen, unter denen eine Handlung zustande kommt.

Alles in allem ist der Rahmen der Philosophie der Freiheit außerordentlich weit gesteckt, und zwar aus einer sachlichen Notwendigkeit heraus. Rudolf Steiner erwähnt auf S. 9, daß er in diesem Buche keine speziellen geisteswissenschaftlichen (anthroposophischen) Forschungsergebnisse verwendet habe, ebensowenig wie spezielle naturwissenschaftliche Ergebnisse. Er habe vielmehr erst die Grundlage errichten wollen, auf der solche Ergebnisse ruhen können (womit sowohl die anthroposophisch-geisteswissenschaftlichen als auch die naturwissenschaftlichen gemeint sind). Das Freiheitsproblem steht also für ihn in unmittelbarem Zusammenhang mit Fragen der Grundlegung von Wissenschaft schlechthin.

In der Vorrede zur Ausgabe von 1918 deutet er auf diesen Zusammenhang und zugleich auf die Generallinie seines Vorgehens, indem er den Blick auf "zwei Wurzelfragen" des menschlichen Seelenlebens richtet, die in seiner Schrift behandelt werden sollen: "Die eine ist, ob es eine Möglichkeit gibt, die menschliche Wesenheit so anzuschauen, daß diese Anschauung sich als Stütze erweist für alles andere, was durch Erleben oder Wissenschaft an den Menschen herankommt, wovon er aber die Empfindung hat, es könne sich nicht selber stützen. Es könne von Zweifel und kritischem Urteil in den Bereich des Ungewissen getrieben werden. Die andere Frage ist die: Darf sich der Mensch als wollendes Wesen die Freiheit zuschreiben, oder ist diese Freiheit eine bloße Illusion, die in ihm entsteht, weil er die Fäden der Notwendigkeit nicht durchschaut, an denen sein Wollen ebenso hängt wie ein Naturgeschehen? Nicht ein künstliches Gedankengespinst ruft diese Frage hervor. Sie tritt ganz naturgemäß in einer bestimmten Verfassung der Seele vor diese hin. Und man kann fühlen, es ginge der Seele etwas ab von dem, was sie sein soll, wenn sie nicht vor die zwei Möglichkeiten: Freiheit oder Notwendigkeit des Wollens, einmal mit einem möglichst großen Frageernst sich gestellt sähe. In dieser Schrift soll gezeigt werden, daß die Seelenerlebnisse, welche der Mensch durch die zweite Frage erfahren muß, davon abhängen, welchen Gesichtspunkt er gegenüber der ersten einzunehmen vermag."

Mit dem Audruck "Wurzelfragen des menschlichen Seelenlebens" macht der Autor darauf aufmerksam, daß es sich hierbei um etwas handelt, das mit den tiefsten Gründen von menschlicher Existenz und Selbstverständnis zusammenhängt. Der Mensch kann sein Dasein gewissermaßen erst dann in ein rechtes Licht rücken, wenn er sich diesen beiden Fragen einmal ernsthaft gegenübergestellt hat. Ferner weist er darauf hin, daß die zwei genannten Wurzelfragen in einer spezifischen Beziehung zueinander stehen: Man kann die zweite nicht vor der ersten klären. Steiner knüpft die Lösung der Freiheitsfrage an eine Bedingung, die lautet: Die Antwort auf die Frage nach der Freiheit hängt davon ab, ob Du irgend etwas findest, was Dir und all Deinen Erkenntnissen und erlebnismäßigen Zugängen zur Welt Halt und Stütze sein kann. Wörtlich: " ... ob es eine Möglichkeit gibt, die menschliche Wesenheit so anzuschauen, daß diese Anschauung sich als Stütze erweist für alles andere, was durch Erleben oder Wissenschaft an den Menschen herankommt, wovon er aber die Empfindung hat, es könne sich nicht selber stützen." Die zweite Wurzelfrage spitzt sich damit zu auf das Problem, ob es irgend etwas im menschlichen Erleben und Erkennen gibt, das nicht notwendigerweise von anderem getragen wird, sondern sich selbst zu tragen vermag und somit auch alles andere. Steiner weist bereits an diesem Ort auf die Schlüsselstellung des späteren dritten Kapitels der Philosophie der Freiheit voraus, indem er in der Einleitung indirekt, ohne es hier namentlich zu nennen, das Motiv vom Archimedischen Hebel der Erkenntnis anklingen läßt.

Während die Freiheitsfrage dem modernen Zeitgenossen zumindest in ihrer sehr vereinfachten Form, der politischen Freiheit, auf Schritt und Tritt begegnet, ist die zweite nicht ganz so geläufig. Bei ihr geht es um Gewißheit, Zweifel, Tragfähigkeit des Wissens und Erlebens auf einer sehr grundlegenden Ebene, die in der Philosophie im Bereich der Erkenntnislehre behandelt wird. Daß es sich hierbei nicht nur um eine theoretisch abgehobene Spielerei von Philosophen handelt, kann sich der Leser leicht an einem simplen Beispiel verdeutlichen, indem er einmal überlegt, woher er eigentlich das genaue Datum seiner Geburt kennt. Er wird sehr schnell feststellen, daß seine persönliche Gewißheit im Hinblick darauf nur eine mittelbare ist - vermittelt in der Regel über seine Eltern sowie andere Gewährsleute und Zeugen, die er zum größten Teil nicht einmal kennt. Sollte es ihm ernstlich in den Sinn kommen, sich bezüglich dieses Datums eine letztendliche und unumstößliche Gewißheit zu verschaffen, er würde über kurz oder lang vor beträchtlichen, bei genauer Betrachtung auch nicht zu überwindenden Schwierigkeiten stehen, sofern er nur gründlich und gewissenhaft genug vorgeht. Und von einer sehr verwandten Qualität sind die weitaus meisten seiner persönlichen Überzeugungen, seien sie religiös-weltanschaulicher, politischer, naturwissenschaftlicher Art, oder auch nur auf das alltägliche Leben bezogen. Sie gelten unter der Voraussetzung, daß vieles andere auch gilt, das er nie geprüft hat und praktisch auch niemals im strengen Sinne wird prüfen können. Der Fall, daß wir beim Zustandekommen unserer persönlichen Ansicht ausschließlich und direkt beteiligt sind, und zu diesem Zeitpunkt sämtliche dafür relevanten Gründe bis in ihre letzten Verästelungen überblicken, er tritt nicht eben oft ein und die Suche nach ihm hat zahllose Philosophen bis in die Gegenwart hinein beschäftigt.

Bei der von Steiner verlangten Tragfähigkeit - soviel sei an dieser Stelle dazu gesagt - kommt allerdings zusätzlich eine Qualität ins Spiel, die über die Eigenschaft der bloßen Gewißheit hinausreicht. Sie schließt Gewißheit ein, ist aber mehr als nur das. Tragfähigkeit wird im allgemeinen von Fundamenten erwartet, und tatsächlich geht es Steiner auch um die Errichtung eines Fundamentes. Oder wenn wir exakt sein wollen: Es geht ihm nicht um die Errichtung, sondern um das Finden einer solchen Basis. Diese wird nicht etwa konstruiert oder durch irgend ein raffiniertes philosophisches Denkverfahren ausgeklügelt, sondern sie ist tatsächlich schon vorhanden und muß nur erst noch entdeckt werden. Die Philosophie der Freiheit ist im eigentlichen Sinne ein Entdeckungsbericht. Dabei wird von dieser Basis erwartet, daß sie nicht nur alles andere trägt, sondern auch und vor allem sich selbst - und das ist in der Tat etwas ganz Ungewöhnliches und Besonderes. Wer ein wenig mit naturwissenschaftlichen Fakten vertraut ist, der möge sich vielleicht einmal darauf besinnen, ob im Bereich der Naturtatsachen irgend etwas mit vergleichbaren Eigenschaften existiert - irgend etwas das nicht nur alles übrige, somdern sich wirklich auch selbst zu tragen vermag.

In Bezug auf Gewißheit gilt gewöhnlich die mathematische Erkenntnis als eine Art Ideal. Indessen wird man ihr die Eigenschaft, alles andere und auch sich selbst zu tragen, schwerlich beilegen können. Mathematische Einsichten entstehen nicht von selbst, sondern erst dann, wenn sich ein denkendes und erkennendes Bewußtsein auf mathematische Gegenstände richtet. Sie sind entspechend von etwas abhängig beziehungsweise durch etwas vermittelt, das außerhalb der Mathematik steht. Wir werden uns später näher mit dieser Tragfähigkeit auseinandersetzen. Diese zweifache Eigenschaft - Gewißheit und Tragfähigkeit - muß sich aufweisen lassen, wenn es im Sinne Steiners eine plausible und positive Antwort auf das Freiheitsproblem geben soll. Der Suche nach ihr ist daher ein ansehnlicher Teil der ersten Hälfte der Philosophie der Freiheit gewidmet.

Eine Bemerkung von ausgesprochenem Aufforderungscharakter in dieser Vorrede gilt es weiter zu beachten. Steiner hält es für unfruchtbar bezüglich der genannten Wurzelfragen eine lediglich theoretische, abgeschlossene Antwort zu geben, die nur noch als erinnerbare Überzeugung aufbewahrt wird. Dies wäre in seinem Sinne eine Scheinantwort. Auch darin unterscheidet sich die Philosophie der Freiheit von anderen fundierenden Forschungs-Arbeiten.

Das heißt nicht, daß bezüglich dieser Fragen nichts Gültiges gesagt werden könne, - in diesem Falle wäre dieses Buch wohl ein müßiges Unternehmen gewesen -, sondern es heißt vorrangig, daß das konkrete Leben viel zu reich und vielschichtig ist, als daß man einmal als gültig Erkanntes wie einen mechanischen Beweisformalismus, vergleichbar der mathematischen Logik, darauf anwenden könne. Der Mensch ist im Sinne Steiners nicht im absoluten Sinne frei oder unfrei, sondern ein zur Freiheit Berufener, der sich der Freiheit als einem Ideal graduell annähern kann. Die individuelle Beantwortung der Freiheitsfrage lebt im künftigen konkreten Fall davon, daß die Problematik insgesamt und der Umgang mit ihr Teil des Seelenlebens und zum Lebensthema werden.

Ins Pragmatische gewendet: Es existiert durchaus ein allgemeines Kriterium der Freiheit, das auch in der Philosophie der Freiheit in einer idealisierten und relativ abstrakten Form beschrieben wird. Aber die Kunst für den Einzelnen liegt darin, im eigenen Handeln dieses Kriterium zu verwirklichen beziehungsweise es dort aufzusuchen und sicher nachzuweisen. Wie weit er dazu in der Lage ist hängt überwiegend von seinen persönlichen Voraussetzungen auf der Willens- und Erkenntnisebene ab, und im engeren Sinne von seinem Vermögen zur Selbsteinschätzung und Selbstbeurteilung.

Das Erkennen der sittlichen Begriffe und Ideen, die dem eigenen Handeln als Motive zugrunde liegen, ist ein spezieller Fall von Erkenntnis überhaupt. Und : "Die Gesetze seines Handelns erkennen heißt, sich seiner Freiheit bewußt sein." So Steiner schon im Schlußteil von Wahrheit und Wissenschaft (GA-03, Dornach 1980, S. 92), dem "Vorspiel" zu seiner Philosophie der Freiheit. Aber in vielen Fällen besitzen wir die Gesetze unseres Handelns nicht als Wissen, wie es ebendort heißt. Wir haben keine oder nicht hinreichende Kenntnis von dem was uns treibt und umtreibt. Die Motive müssen erst noch aufgedeckt und entschlüsselt werden. Und das ist weniger harmlos als es auf den ersten Blick scheint.

Nur als Beispiel zum besseren Verständnis: In aller Regel liegt den meisten unserer Handlungen, und seien sie scheinbar noch so edel, nie ein einziges isoliertes Motiv zugrunde, sondern wir haben es eher mit einer gleichzeitigen Überlagerung unterschiedlichster Motivstränge zu tun, die uns jeweils nur eingeschränkt durchsichtig sind. Die sich partiell in den Untergründen unseres Seelenlebens verlieren. Zum teil sind sie uns noch nie bewußt geworden und mitunter würden wir gar im Falle ihrer Bewußtwerdung einiges darum geben, wenn sie es nie geworden wären. Etwa: Jemand ist ein guter Arzt, ein hervorragender Wissenschaftler oder ein engagierter Rechtsanwalt. Vordergründig geht es ihm in seinem Schaffen darum, anderen das Leben erträglicher zu machen oder um Wahrheitsfindung. Doch im Hintergrund rumoren womöglich (noch) ganz andere Motive: Eitelkeit, Ehrgeiz, Streben nach Sozialprestige, die Abneigung gegenüber einfachen und wenig anerkannten Tätigkeiten, der Wunsch Macht über andere auszuüben und sie zu manipulieren neben vielen anderen. Welches Motiv ist jetzt von all diesen das treibende und vorrangige bei seiner Tätigkeit? Und wie will er das herausfinden um den Freiheitsgrad seines jeweiligen Handelns zu ermitteln?

Das heißt: Wirkliche Klarheit über die tatsächlichen Antriebe des eigenen aktuellen Handelns zu gewinnen ist angesichts der im Detail oft schwer durchschaubaren weil im Dickicht des Seelenlebens sich verlierenden Motivationsströme ein weit schwierigeres Kapitel als man gemeinhin annimmt. Schwieriger oft als das Lesen und Verstehen der Philosophie der Freiheit selbst. Aber es ist kein unmöglicher Weg. Erfolgversprechend ist er selbstverständlich nur, wenn der individuelle Mensch willens ist, sich mit sich selbst und seinen Handlungen sowie deren jeweiligen Bedingungen kritisch und rückhaltlos auseinanderzusetzen. Die Beantwortung der Freiheitsfrage auf der persönlichen Ebene setzt folglich die energische Bereitschaft zur Selbsterkenntnis voraus und schließt somit alles dasjenige ein, was zum Erreichen eines solchen Zieles erforderlich ist. Die Suche nach Freiheit im individuellen Handeln wird konsequenterweise zum Weg der inneren Entwicklung und Selbstaufklärung.

Wer also die Philosophie der Freiheit nur aufnimmt wie man eben eine Theorie der Freiheit studiert, vielleicht sogar ihre Gedankengänge beherrscht, aber nicht gleichzeit den Weg der Selbsterkenntnis und Selbstentwicklung beschreitet, der vermag zwar einiges über Freiheit im allgemeinen zu sagen, er wird aber - von einigen Ausnahmen abgesehen - kaum in der Lage sein, sie bei sich selbst festzustellen.

Ende Kapitel 2


Top zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home