Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens

(Stand 10.10.04)

Kapitel 3.3

Exkurs II über die Simultanpräsenz von Gedanken

Es gehört sicherlich zu den bedeutendsten Leistungen der Psychologen um Oswald Külpe, im großen Stil eine Überzeugung widerlegt zu haben, die, wie Karl Bühler sagt, fast wissenschaftlicher Allgemeinbesitz geworden war: den Glauben, bei der Tätigkeit des Denkens gäbe es nichts zu erleben. Wenn hinsichtlich des Denkens überhaupt ein Konsens existierte, dann bestand er nach Bühler in dieser Ansicht. Über die Natur des Denkens gingen die Lehrmeinungen weit auseinander. Fragte man aber, was dabei zu erleben sei, so herrschte weitgehende Einmütigkeit dahingehend, daß spezifische Denkerlebnisse nicht existierten. "Es gibt nur ganz wenige Forscher", sagt Karl Bühler 1907, "die diesen Satz nicht anerkennen würden." 58 Ein Credo wie das Hartmannsche »"Dass aber wirklich der eigentliche Process in jedem, auch dem kleinsten Schritte des Denkens intuitiv und unbewußt ist, darüber kann wohl ... kein Zweifel obwalten."« hatte sich Bühler mit seinen Untersuchungen zur Aufgabe gemacht zu bestreiten. Ich möchte mich hier nur auf einen Aspekt der vielschichtigen Bühlerschen Arbeit beschränken: auf das simultane Aktualisieren einer Vielzahl von begrifflichen Beziehungen, weil dieser Sachverhalt von Interesse für Steiners Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmann ist. Es gibt in Bühlers Untersuchung eine Reihe eindeutiger expliziter Hinweise darauf, daß man tatsächlich eine Vielzahl von begrifflichen Beziehungen gleichzeitig »sehen« kann. Danach existieren charakteristische Denksituationen, in denen man einen komplexen strukturellen Überblick hat, und die von Hartmann behauptete unbewußte Vor-Auswahl nicht stattfindet, sondern das Bewußtsein die Dinge tatsächlich "bei seinem eigenen Licht besehen und auswählen" kann.

"Zu den auffälligsten Denkerlebnissen", schreibt Karl Bühler, "gehören die Gedanken, die Husserl als rein signitive Akte bezeichnen würde. In ihnen tritt das Meinen selbst, nicht das was gemeint wird, in den Vordergrund; es ist so, als ob dieses Was selbstverständlich oder irgendwie schon festgesetzt wäre und der Gedanke nur darin bestände, daß er eine Beziehung auf dieses Gegebene enthielte." 59 Er fährt fort: "Zweierlei ist es, was an ihnen den Vp [Versuchspersonen] sofort in die Augen springt und ihre Verwunderung hervorruft: der außerordentliche Umfang, den in ihnen das Bewußtsein zu gewinnen scheint und die fast absolute Substratlosigkeit des in ihnen liegenden aktuellen Wissens." Der Ausdruck "Substratlos" bedeutet, daß der Gedanke wenig Anschauliches an sich hat, sondern fast zur Gänze in einem reinen Wissen um Zusammenhänge besteht. 60 Bühler erläutert (S. 349): " ... in unmittelbarem Wissen. Das Bewußtsein enthält eben fast nichts als eine Beziehung auf etwas sonstwie schon Bestimmtes." "außerordentlicher Umfang" des Wissens bedeutet: es ist enorm viel gleichzeitig im Bewußtsein vorhanden.

Bühler schreibt (S. 347) man könne solche Gedanken oder "Intentionen" leicht hervorrufen, "wenn man die Vp in eine Situation bringt, oder sie sich in eine Situation einfühlen läßt, in der sie einen schnellen Überblick über ein Wissensgebiet braucht." Das heißt, es geht hier um gedankliche Inhalte, die dem Denkenden nicht fremd, sondern vertraut sind. Für die Art dieser Gedanken bringt er ein Beispiel aus seinen Untersuchungsprotokollen. An Oswald Külpe wird die Frage gerichtet: "Können Sie sich vorstellen - ich meine denken - daß sie einmal in die Lage kämen, zu schreiben: »Daher wäre nichts falscher, als die Sophistik als den Höhepunkt der griechischen Philosophie zu bezeichnen?«" Nach sechs Sekunden beantwortet Külpe die Frage mit "Ja" und berichtet über seine Denk-Erlebnisse: "Die Spannung war sehr merklich, das Stocken der Stimme beim Vorlesen, das Abbrechen und Wiederansetzen steigerte die Erwartung, was kommen würde. Nach dem Anhören hatte ich blitzschnell einen Gedankengang, der rasch »ja« brachte. Der Gedanke ist schwer wiederzugeben: Die Schilderung der vorsokratischen Philosophie, ihr Verhältnis zu Sokrates, wie Plato gegen sie kämpfte, das alles schien darin mitgedacht zu sein. Jedenfalls war mir sehr viel präsent davon. Zur Formulierung kam der Gedanke nicht, ich habe ihn in der Tat bloß gedacht."

Andere Beispiele Bühlers habe ich bereits im letzten Jahrbuch erwähnt. Die Versuchsperson Külpe berichtet auf die Frage hin: was Ideale seien, sie habe einen "momentanen förmlichen Überblick über das Kantsche System gehabt", und ein anderer Teilnehmer fühlte sich an die Erlebnisbeschreibungen Ertrinkender erinnert, so viel war ihm gleichzeitig präsent.

Was hier aus einem psychologischen Versuch vorgetragen wird, ist nichts Außergewöhnliches - vermutlich kennt es jedermann aus der alltäglichen Lebenspraxis, nur wird er sich zumeist nicht klar gemacht haben, was hier vorliegt. 61 Vor allem dort, wo er sich eine umfassende Erfahrung - etwa im Beruf - erworben hat, treten Denk-Erlebnisse dieser Art gehäuft auf. Ein persönliches Beispiel wie das folgende wird sich durch beliebige weitere ergänzen lassen: Eine Gruppe von behinderten Patienten sitzt mit einer Betreuerin über einer künstlerischen Arbeit, die sowohl die Betreuerin wie die Patienten zum allerersten Mal und gemeinsam machen, und die ganze Situation ist sensibel, fragil und bedeutungsvoll. Jetzt taucht am anderen Ende des Flures eine schwer verhaltensauffällige Mitpatientin auf und nähert sich der Arbeitsgruppe mit indifferenter Absicht. Man sieht diese Situation und aus der Fülle der Erfahrung weiß man augenblicklich, was jetzt gleich passieren wird und was zu unternehmen ist: Es wird zum Crash kommen und eine direkte Begegnung ist unter allen Umständen zu verhindern. Die fragile, störanfällige Gruppe auf der einen Seite, die beteiligten Charaktere, ihre Beziehungen untereinander und zur auftauchenden Bewohnerin, die Bedeutung des Gelingens der Arbeit für alle Beteiligten, die Schwierigkeit der Arbeit und die in der Vergangenheit erlebten Verhaltensauffälligkeiten der erscheinenden Patientin, die Art ihres Ganges, ihre Körperhaltung, ihr Blick, was sie mit sich führt: das alles verdichtet sich in einen komplexen simultanen Überblick, in dem außerordentlich viel gleichzeitig bewußt ist, ohne daß sich der Gedanke sprachlich oder sonstwie symbolhaft artikulieren würde - er ist "substratlos", wie Bühler sagt. Er besteht im wesentlichen aus einer Fülle tableauartig und unanschaulich erlebter, "reiner" Beziehungen. Ebenso gleichzeitig weiß man, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Man geht auf die Patientin zu, lenkt sie durch ein freundliches Gespräch ab und bringt ihre Aufmerksamkeit auf andere Bahnen. Die Arbeitsgruppe kann ungestört ihrer Beschäftigung nachgehen, die bei Nichteinschreiten mit großer Wahrscheinlichkeit zu Ende gewesen wäre oder einen sehr unerfreulichen Verlauf genommen hätte.

Das alles gelingt nur, wenn man die Details der Gesamtsituation ebenso überschaut wie die einzelnen Beteiligten in ihrem Persönlichkeitsbild, und entsprechend weiß, warum und wie zu handeln ist. Ein Fremder oder Unerfahrener wäre in dieser Lage weitgehend chancenlos. Was alles gedanklich gleichzeitig präsent ist, läßt sich in sämtlichen Aspekten nur schwer wiedergeben. Es ist kein reflexhafter Automatismus, der da abläuft, sondern in Sekundenbruchteilen hat man das gesamte Wer, Wie und Was, das Für und Wider und Wozu deutlich vor sich. Dieses gedankliche Geschehen würde, wollte man es nachträglich versprachlichen, vemutlich den Umfang von 30 oder 40 Schreibmaschinenseiten umfassen, wie Bühler denn auch (S. 348) berichtet, das simultane Überblickswissen seiner Versuchspersonen hätte den Umfang von ganzen Kapiteln.

Das Gemeinsame an den Beispielen ist, daß man etwas vor sich hat, was man auf grund der persönlichen Erfahrung bis in die feinen Einzelheiten überschaut. Bei Külpe war die Frage nach den Idealen oder der griechischen Philosophie Gegenstand einer langjährigen beruflichen Arbeit als Professor der Philosophie - analoges gilt für die situative Einschätzung im Fall der Patientengruppe, mit der man schon seit Jahren täglich zusammenarbeitet. Verschieden ist die Art der Fragestellung: Külpe wird eine explizite Frage durch den Versuchsleiter vorgelegt. In der praktischen Begebenheit erscheint die Frage situativ aus dem Kontext und lautet: "Was ist hier zu tun?" Wir haben sie uns selbst gestellt. Es geht in beiden Fällen grundsätzlich nicht um Neues oder Fremdes, sondern um Vertrautes. Ernst Cassirer schrieb oben, daß beim Setzen eines Bewußtseinsinhaltes immer ein Vielfältiges mitgesetzt wird. Ob es jedesmal das ganze Bewußtsein ist, das da mitgesetzt wird, läßt sich in der konkreten Situation schlecht beurteilen. Auf jeden Fall aber ist bewußt mitgesetzt, was in einem überschaubaren Zusammenhang mit dem Gesetzten steht - und das ist für das momentane gedankliche Erleben entscheidend. Mit der Bühlerschen Frage nach den Idealen oder der Sophistik war sowohl der Horizont, wie auch der Inhalt des zu Denkenden für Külpe skizziert. Gleiches gilt für die Episode im Behindertenbereich: Das zu Denkende ist durch die situative Gesamtkonstellation umrissen. Mit dem Auftauchen der verhaltensauffälligen Patientin taucht kein abstrakter Mensch an sich auf, sondern ein konkreter und gleichzeitig mit ihm der Teil seiner Biographie und Verhaltenseigentümlichkeiten, den wir persönlich in vielfältigen Begegnungen erlebt haben und ihn demgemäß überblicken. Dieser Teil ist es, der uns zu spezifischem Handeln veranlaßt. Genau so, wie der andere Teil der Situation uns zu gezieltem Handeln auffordert: Wir kennen die Beteiligten gut, die Art ihrer Beschäftigung, die wir selbst schon häufig ausgeführt haben, ihre Bedeutung und Schwierigkeitsgrad sowie Unzähliges mehr. All das ist gleichzeitig präsent - "gesetzt" wie Cassirer sagt. So seltsam es klingen mag: all diese Zusammenhänge sind simultan gegenwärtig. Das ist in dieser Dichtigkeit nicht immer der Fall, aber auch nicht so selten, daß man die Begebenheit als Ausnahme bezeichnen müßte.

Für den von Hartmann behaupteten Erinnerungsprozeß gilt nun, daß letzterer in der vorliegenden Situation irrelevant ist. Das heißt: es wird jetzt nicht nach Erinnerungsvorstellungen gesucht, diese fallen uns nicht ein, wie Hartmann sagt, sondern unser Wissen um das aktuelle Geschehen enthält in sich alles gegenwärtig, was nach Hartmann in der Erinnerung verborgen sein könnte oder müßte. Bei Külpe wird vieles bewußt "mitgedacht", weil ein Gedanke vieles implizit enthält, was dem Denker bekannt ist. Mit dem Gedanken wird auch sein impliziter Inhalt aufgerufen bis in komplexe Einzelheiten hinein. So auch die verhaltenauffällige Patientin: Sie repräsentiert zugleich den für uns erreichbaren Teil ihrer Biographie; wenn sie erscheint, erscheint mit ihr für uns auch ihre Geschichte und ihr typisches Verhalten. Sie repräsentiert auch die Gründe und den Umfang an Möglichkeiten, die wir ihr gegenüber zum Handeln haben bis in die Details der Handlung selbst hinein, weil wir all das zu endlosen Malen erlebt haben. Diese Optionen fallen uns nicht erst ein, sondern sie sind mit der Person gegenwärtig, weil wir sie gut kennen - sie sind gleichsam Bestandteil dieser Person. Alles zusammen bildet, um mit Ernst Cassirer zu sprechen, einen bewußten "Sinnverband". 62 Oder in der Sprache Steiners: es gehört zum Begriff, den wir uns von dieser Person gemacht haben. Gleiches gilt für die anderen Teilnehmer und Prozesse der Gesamtkonstellation. Mit ihnen ist simultan ein vielfältiges Ganzes, Vergangenes und Momentanes in unserem Bewußtsein präsent und damit die Gründe, Mittel und Ziele unseres Handelns. Das macht den eigentümlichen Charakter dieser tableauartigen Bewußtseinslage aus. Es wird nicht instinktiv oder reflexartig reagiert, sondern gezielt aus der vollen Übersicht heraus ein Entschluß gefaßt und etwas getan. Auf der Grundlage dieser Präsenz erfassen wir augenblicklich die Verhältnisse und ergreifen die Initiative. Wenn wir wollten, dann könnten wir jederzeit aus diesem Tableau etwas herausgreifen und zum Gegenstand diskursiver Reflexion machen. Das wäre mühsam und langatmig, im Vergleich zu dem, was wir gedanklich verdichtet vor uns haben. Wegen dieser aktuellen Präsenz kann man auch nicht mit Hartmann sagen, daß uns die "passende Vorstellung zur rechten Zeit einfällt", denn bei wirklicher Übersicht, stellt sich diese Frage gar nicht mehr, weil wir alles unmittelbar überblicken. Hartmanns Auffassung ist zu pauschal und zu abstrakt, als daß sie das adäquat wiedergeben könnte, was im gegebenen Fall vorliegt.

Ein Beispiel, das sich ohne weiteres in unsere Fallsammlung einbeziehen läßt, bringt Steiner zu Beginn des 4. Kapitels der "Philosophie der Freiheit". Seine Analyse geht allerdings in der Diskussion Herbert Spencers nicht in unsere Richtung, weil er dort etwas anderes verdeutlichen will. Steiner knüpft (S. 58 f) an einen von Spencer vorgebrachten Musterfall an und zitiert ihn wie folgt: "«Wenn wir an einem Septembertag durch die Felder wandelnd, wenige Schritte vor uns ein Geräusch hören und an der Seite des Grabens, von dem es herzukommen schien, das Gras in Bewegung sehen, so werden wir wahrscheinlich auf die Stelle losgehen, um zu erfahren, was das Geräusch und die Bewegung hervorbrachte. Bei unserer Annäherung flattert ein Rebhuhn in den Graben, und damit ist unsere Neugierde befriedigt: wir haben, was wir eine Erklärung der Erscheinungen nennen. Diese Erklärung läuft, wohlgemerkt, auf folgendes hinaus: weil wir im Leben unendlich oft erfahren haben, daß eine Störung der ruhigen Lage kleiner Körper die Bewegung anderer zwischen ihnen befindlicher Körper begleitet, und weil wir deshalb die Beziehungen zwischen solchen Störungen und solchen Bewegungen verallgemeinert haben, so halten wir diese besondere Störung für erklärt, sobald wir finden, daß sie ein Beispiel eben dieser Beziehung darbietet.»" Steiner hält die Erklärung Spencers für das nachforschende Verhalten für unangemessen und korrigiert: "Genauer besehen stellt sich die Sache ganz anders dar, als sie hier beschrieben ist. Wenn ich ein Geräusch höre, so suche ich zunächst den Begriff für diese Beobachtung. Dieser Begriff erst weist mich über das Geräusch hinaus. Wer nicht weiter nachdenkt, der hört eben das Geräusch und gibt sich damit zufrieden. Durch mein Nachdenken aber ist mir klar, daß ich ein Geräusch als Wirkung aufzufassen habe. Also erst wenn ich den Begriff der Wirkung mit der Wahrnehmung des Geräusches verbinde, werde ich veranlaßt, über die Einzelbeobachtung hinauszugehen und nach der Ursache zu suchen. Der Begriff der Wirkung ruft den der Ursache hervor, und ich suche dann nach dem verursachenden Gegenstande, den ich in der Gestalt des Rebhuhns finde. Diese Begriffe, Ursache und Wirkung, kann ich aber niemals durch bloße Beobachtung, und erstrecke sie sich auf noch so viele Fälle, gewinnen. Die Beobachtung fordert das Denken heraus, und erst dieses ist es, das mir den Weg weist, das einzelne Erlebnis an ein anderes anzuschließen."

Spencers Fallbeispiel ist nicht besonders gut geeignet, um das zu demonstrieren, was Steiner von dieser Sache denkt. Denn Spencer hat es natürlich gewählt, um seine Sicht der Dinge darzustellen. Ihm scheint es nämlich eher seine assoziationistische Theorie zu plausibilisieren, gerade weil man so gut daran zeigen kann, wie scheinbar reflexartig alles abläuft. Vom aktiven Gebrauch von Begriffen, wie es der Auffassung Steiners entspricht, wird man in der Regel nicht viel in einer Situationen wie dieser bemerken - es sei denn, hier wäre ein Elefant davongeflattert. Man muß schon ungewöhnlich aufmerksam sein, um der denkerischen Tätigkeit überhaupt habhaft zu werden, weil sie in der Regel in derartigen Standardsituationen des täglichen Lebens untergeht. 63 Erfahrungsgemäß wird man eher erleben, daß, sobald Geräusch und Bewegung uns bewußt geworden sind, wir umgehend nach ihrer Ursache Ausschau halten. Denn sobald wir die Begriffe von Geräusch und Bewegung gefaßt haben, werden sich die weiteren (Wirkung und Ursache) fast simultan dazu einstellen. Einen expliziten Begriff von Kausalbeziehungen werden wir hier also sicherlich nicht bilden, sondern wir »wissen« einfach, daß es sich so verhält. Das heißt: wir durchlaufen nicht eine zeitaufwendige Begriffsfolge (Geräusch) Bewegung-Wirkung-Ursache, sondern mit dem Begriff von Geräusch und Bewegung ist derjenige von Wirkung und Ursache nahezu zeitgleich mitgegeben, weil diese Beziehung uns absolut vertraut ist - sie stellt einen geläufigen "Sinnverband" dar. Die Frage, die wir aus dem situativen Kontext heraus stellen, und die erforderliche Begrifflichkeit sind so blitzartig und "substratlos" gegenwärtig, daß wir gar nicht darauf achten, daß sie überhaupt vorhanden sind und wir sie erst aktiviert haben. So daß wir dann scheinbar reflektorisch nachsehen, was vorgeht.

Ein Skeptiker könnte einwenden, ob man nicht in den beschriebenen Beispielen bloß assoziiert habe. Oder man halte die Ergebnisse einer Eingebung für verdichtetes Denken. Die Frage ist nicht ganz unberechtigt, zumal typische Indikatoren für bewußtes Denken wie Sprache oder sonstige Symbolismen weitgehend entfallen und man es überwiegend mit unanschaulichen Beziehungen oder reinem Wissen zu tun hat. Fallweise muß man sich durch verschärfte Aufmerksamkeit in dieser Richtung sicherlich erst eine Urteilsgrundlage verschaffen. Auf der anderen Seite kann man auch nicht sagen, daß man hier etwas bloß instiktiv erfühlt. Auch dieser Einwand wäre wegen der "Substratlosigkeit" des Prozesses, seines Mangels an charakteristischen symbolisierenden Denkhinweisen naheliegend. Aber dazu ist die Sache einfach zu klar, zu präzise und in sich sachhaltig gegliedert. Der entscheidende Hinweis aber liegt darin, daß man tatsächlich innerlich tätig ist und die Zusammenhänge klar überschaut und nicht nur dunkel ahnt. Es ist überhaupt die Frage, ob nicht in vielen Fällen eher ein verdichtetes Denken vorliegt, wenn der Betreffende davon spricht, daß er etwas deutlich "gespürt" oder "gefühlt" habe. Die Sprache ist da oft sehr unpräzise, und die Phänomene so wenig geläufig, daß er womöglich tatsächlich glaubt, er habe nur gefühlt, was er in Wirklichkeit in der besprochenen Art durchschaut hat. Es fehlen ihm nicht nur die sprachlichen Mittel, das adäquat auszudrücken, was in ihm vorgegangen ist, sondern ebenso die Mittel, der Sache nach das Denken von den anderen Seelentätigkeiten zu unterscheiden, weil er gar nicht weiß, wie sich das Denken äußern kann, denn das wird i. d. R. selten auf einer konkreten Ebene thematisiert.

Vor allem multidimensionale Handlungen, also solche mit verschiedenen Sinnebenen, scheinen dieses Phänomen einer tableauartigen Übersicht zu begünstigen bzw. häufig zur Voraussetzung zu haben. Denn man muß bei der Handlung oft die verschiedenen Sinnebenen vor sich haben, um sie überhaupt ausführen zu können. Um ein Beispiel zu bringen, das die Leser aus ihrer tätglichen Erfahrung vielfach ergänzen könnten: Eine Pflegerin in einem Altenheim macht bei einer Bewohnerin ein warmes Fußbad, weil die Dame schlecht durchblutete und kalte Füße hat. Der rein zweckrationale Charakter dieser Handlung ist ein medizinischer: die lokale Durchblutung soll verbessert werden. Häufig wird die Handlung auch ausschließlich unter diesem zweckrationalen Gesichtspunkt durchgeführt, routiniert und zügig. Eine motivierte und menschenkundlich interessierte Mitarbeiterin wird mit dieser Handlung sehr vieles gleichzeitig verbinden. Den zweckrationalen Hintergrund, weil die Füße tatsächlich behandlungsbedürftig sind. Daneben bietet sich ihr die Gelegenheit der alten Dame Zuwendung zu geben, weil die Bewohnerin vielleicht etwas vereinsamt ist. Es geht jetzt nicht mehr nur um Körper-, sondern auch um Seelenpflege. Drittens läßt sich bei dieser Gelegenheit sehr vieles über sie erfahren, indem man die medizinische Handlung für ein Gespräch nutzt, vielleicht mit der Bewohnerin ein Problem löst oder eine Frage klärt. Viertens besteht unter Umständen die Gelegenheit, die etwas inaktiv gewordene Dame mental und körperlich zu mobilisieren. Weitere Sinnebenen der Handlung sind ohne weiteres denkbar und ihre Realisierung ist im wesentlichen eine Frage des Wissens der Handelnden und ihrer menschenkundlichen Phantasie. Der rein zweckrationale Charakter der ursprünglich intendierten Heilmaßnahme tritt dabei immer mehr in den Hintergrund gegenüber den anderen Sinnebenen, die mit dieser Tätigkeit verbunden werden - er wird nicht überflüssig, aber in gewisser Weise auch Mittel zum Zweck, nämlich anderes zu tun. Solche multidimensionalen Handlungen sind in pflegerischen oder erzieherischen Berufen (ein Bereich, den ich persönlich gut kenne) außerordentlich häufig - um nicht zu sagen die Regel -, natürlich auch im ganz alltäglichen "Hausfrauendasein" oder auf anderen Feldern der Betätigung. Die verschiedenen Sinnebenen des Handelns können, sofern man sehr wach ist, ebenfalls gleichzeitig bewußt sein, und sie müssen es in einem Mindestumfang auch sein, um auftretende pädagogisch-menschenkundliche Chancen einer alltäglichen Standardsituation überhaupt zu sehen. Ohne Erfahrung, Interesse bzw. innere Verbundenheit mit dem Ganzen und dieses Sehvermögen wäre man in solchen Lagen buchstäblich blind.

Wieviel wir in diesem Sinne gleichzeitig gedanklich überblicken können, scheint an Inhalt und Umfang kaum eingrenzbar. Karl Bühler schreibt dazu (S. 348): "Es ist nicht so, daß der Erlebende etwa nur einen Bruchteil wirklich denkt und das übrige in ihm nur bereitliegt, daß ihm die leere Möglichkeit bewußt ist, er könne das ausdenken. Gewiß wird man bei der rückschauenden Betrachtung häufig nicht sagen können, ob dies oder jenes auch explicite im Bewußtsein oder nur implicite im Gedanken enthalten war. Aber man würde den Tatsachen durchaus nicht gerecht, wenn man das auf das Ganze erweitern wollte. Es ist doch ein großer Unterschied in den Erlebnissen, wenn mir das eine Mal bewußt wird, ich könnte mir die Kantschen Gedanken vergegenwärtigen, wenn ich wollte, und ich das zweite Mal gewiß bin, ich habe sie jetzt im Augenblick inne, ich überschaue sie. Das zweite ist ein Erlebnis, dem gegenüber die sogenannten Bestimmungen des Bewußtseinsumfanges einfach versagen; denn der Lazarussche Begriff der Verdichtung, den wir in anderer Wendung (als Vorstellungsverdichtung) ablehnen mußten, der aber hier einen ganz guten Sinn gewinnt, besagt doch klar und deutlich, daß, was in einer Erlebniseinheit bewußt sein kann, sich gar nicht einschränken läßt auf irgend eine Anzahl von Inhalten. Es ist vorderhand wenigstens gar nicht abzusehen, wo die Grenze dieser Verdichtung liegt." 64

Ich fragte oben: Gewiß müssen wir einen Gedanken oft erst aus dem Gedächtnis hervorholen - aber was ist, wenn er dann da ist? Und wieviel Details enthält ein Gedanke überhaupt? Müssen die alle für sich einzeln und der Reihe nach erinnert werden? Man müßte im Hinblick auf Bühlers Untersuchung hinzufügen: Welche Rolle spielt eigentlich die Zeit bei der Repräsentanz eines Gedankens? Hat die Zeitlosigkeit der ideellen Entität »Begriff« auch ein faktisches Pendant in unserem konkreten Denken?

Sieht man sich Steiners Charakterisierung der Gedankenwelt und Cassirers Äußerungen zur Einheit des Bewußtseins an, dann scheint die Frage nach den eingrenzbaren Details von Gedanken fast unsinnig, denn ein Gedanke läßt sich nicht begrenzbar quantifizieren, weil er immer eine systemische Totalität repräsentiert - eine Unendlichkeit, zumindest der allgemeinen Struktur und Form nach, wie Cassirer sagt. Nach Cassirer wird man daher im einzelnen Gedanken immer die Totalität des Bewußtseins wiederfinden. Zunächst, so könnte man meinen, ist das eine theoretische Annahme - eine rein abstrakte Beschreibung der Struktur des Gewordenen. Aber wie sieht es in der Bewußtseinspraxis aus? Welche Struktur offenbart sich im tätigen und erlebten Denken? Die Praxis sieht nach Bühler so aus, daß beim Denken in der Tat keine isolierten Details, sondern mehr oder weniger umfassende Ganzheiten bzw. komplexe Zusammenhänge gleichzeitig präsent sind. Oft ungeheuer komplexe Zusammenhänge. Und zwar auf einer überwiegend unanschaulichen, "substratlosen" Ebene. Das heißt, bevor wir diese bewußten Zusammenhänge auf eine sprachliche oder sonstwie symbolische Form bringen, ist uns der Inhalt bereits gegenwärtig. 65 Es ist nicht der gesamte potentiell mögliche Bewußtseinsinhalt präsent, sondern jeweils ein Ausschnitt daraus. Aber es spricht für Bühler grundsätzlich nichts dagegen, das gegenwärtige Bewußtsein in Richtung auf Totalität als offen zu bezeichnen. Eben dieser Gesichtspunkt wird durch seine empirische Untersuchung gefordert. "Es ist vorderhand wenigstens gar nicht abzusehen, wo die Grenze dieser Verdichtung liegt." bemerkt Bühler. Man kann gar nicht sagen, wieviel an Inhalt und Umfang im Bewußtsein gleichzeitig präsent sein kann, weil jede Begrenzung willkürlich wäre.

Das scheint darauf hinzudeuten, als ob das Denken etwas in sich enthielte, das es in die Lage versetzt, sich von den Bedingungen der Zeitlichkeit in gewisser Weise abzukoppeln. Denn für die Mannigfaltigkeit einer simultanen Bewußtseinspräsenz gibt es offenbar keine prinzipielle Grenze. Etwas anders gewendet: Der Inhalt unserer Gedanken, die wir oft entwickeln, indem wir sie allmählich in der Zeit entfalten, ist in seiner Repräsentanz nicht notwendig an diese gedehnte Zeitform gebunden. Er kann zumindest außerordentlich kompakt zusammengedrängt, verdichtet sein, wie etwa bei Külpe, der mit einem Blick Kants System überschaut, ohne daß dabei wesentliches verlorenginge. Auf der anderen Seite entbindet uns diese Verdichtung von der Notwendigkeit des weiteren Erinnern bzw. des von Hartmann konstatierten unbewußten Suchens, denn was uns aktuell präsent ist, das überschauen wir und brauchen es demgemäß nicht mehr zu erinnern und zu suchen. Das Bewußtsein kann dann die Dinge tatsächlich "bei seinem eigenen Lichte besehen", um an Hartmann anzuknüpfen. Eine weiterführende Frage wäre die, von welchen Parametern Umfang und Inhalt des gegenwärtigen Bewußtseins abhängen und wie sich dies gezielt ausdehnen läßt. Bühler hat sie nicht ausführlicher explizit behandelt, aber sie ergibt sich mit logischer Konsequenz aus seinen psychologischen Erhebungen. 66 Deren Bedeutung liegt zum großen Teil darin, daß hier im Prinzip gezeigt wurde, daß die systemische Struktur der Gedankenwelt keine nur abstrakt beschreibende Annahme der Begriffstheorie ist, sondern eine bewußtseins-faktische, die sich an der Realität des denkenden Bewußseins belegen läßt.

Abgesehen davon, daß Vorkommnisse der oben besprochenen Art relativ häufig sind, weisen die refferierten Beispiele noch auf etwas Prinzipielles hin: Das Phänomen des simultanen Überblicks scheint mehr oder weniger typisch für alle regulären Denksituationen zu sein, nur bemerkt man es dort wegen seiner Subtilität meist nicht, solange man diesen Sachverhalt noch nicht für sich geklärt hat, d.h. kein Bewußtsein dafür entwickelt hat. Der Grundmodus des Denkens scheint nach Bühler eher der der amodalen (anschauungslosen) strukturellen Synopse zu sein und nicht der linearen Repräsentation von Einzelheiten. Ernst Cassirer hat es weiter oben schon angedeutet, daß mit dem Setzen eines Bewußtseinsinhaltes immer ein Vielfältiges gleichzeitig mitgesetzt ist. Diese Vielfalt ist in gewissem Grade offensichtlich beim Denken immer im Bewußtsein vorhanden, bevor sich der Gedanke sprachlich oder sonstwie symbolhaft artikuliert. 67  

Insbesondere anthroposophische Leser dürfte es interessieren, daß mit Massimo Scaligero ein anthroposophischer Autor auf dasselbe Phänomen des anschauungslosen Denkens hinweist wie Karl Bühler, ohne diesen allerdings zu erwähnen. Am Ende seines Buches Die Logik als Widersacher des Menschen (Stuttgart 1991, Urachhausverlag) deutet Scaligero im methodischen Teil (S. 305) auf die oben von Bühler erwähnte anschauungslose Simultanpräsenz der Gedanken hin und schreibt dazu: "Wenn man die Idee des Dreiecks hervorruft, wird sie für einen Augenblick wie etwas Unfaßliches geschöpft, das keinerlei Figuration braucht, um das zu sein, was es ist. Dieser Augenblick entgeht dem gewöhnlichen Bewußtsein, ... ihm entgeht der Moment der Nichtbestimmtheit, der schöpferische Informalität ist". Scaligero spricht hier von einem Augenblick, in dem ein Gedanke geschöpft wird und noch anschauungslos, noch nicht an irgend eine Form gebundenen ist. Dieser Werdeprozeß des Gedankens ist in jedem bewußten Denken erfahrbar. In diese Richtung deutete auch schon Bühler. Scaligero schreibt dazu weiter: "Ähnlich ist es, wenn man einen Gedankenablauf, ein Ereignis, einen Text erinnert, der dem Verstand vertraut ist. Auch hier gibt es einen Augenblick, in dem er vollständig anwesend ist, ohne irgend eine Form, im Akt des erinnernden Ideierens: ein zeitloser Moment, mehr als informal, in dem der Gedankenablauf, das Ereignis, der Text in seiner Totalität entspringt: um auszudrücken, was er so hervorruft, muß man sich dieses Momentes berauben und ihn in Vorstellungsreihen oder Begriffsfolgen verwandeln: wodurch er in der Zeit entfaltet wird. Der zeitlose, der informelle Augenblick der Idee, der dem Bewußtsein, das nur am formgebundenen Denkakt erwacht, normalerweise entgeht, kann bewußte Erfahrung werden. Dies ist der Anfang der Möglichkeit lebendigen Denkens, das der gegenwärtigen Kultur bis jetzt fehlt."

Scaligero und Bühler deuten gemeinsam auf dasjenige hin, was Steiner in der Philosophie der Freiheit (S. 95) als Intuition bezeichnet. Die Übereinstimmung in ihren Beobachtungen besteht nicht zufällig, was kaum überrascht, wenn man sich klar macht, daß in den Untersuchungen Bühlers genau genommen Intuitionsforschung betrieben wurde. Er befaßte sich nämlich exakt mit jenem Moment, in dem ein Gedankeninhalt im Bewußtsein erscheint. Steiner kennzeichnet in der Philosophie der Freiheit (S. 95) die Form, in der ein Gedankeninhalt zunächst auftritt als Intuition. Bühlers Untersuchung ging explizit auf eine Phänomenologie dieser Form des Auftretens. 67a

Wenn wir unterstellen können, daß wir beim Denken nicht mit isolierten Details sondern mit ideellen Ganzheiten umgehen, dann wird die von Hartmann hervorgehobene Bedeutung der Erinnerungstätigkeit für Denkprozesse zwar nicht hinfällig, aber doch erheblich relativiert. Sie wird deswegen nicht hinfällig, weil es sich bei dem Bewußtseinsinhalt, der uns simultan gegenwärtig ist, nach Bühler überwiegend um komplexe Erinnerungen handelt. 68 Die Betonung ist dabei auf "komplex" zu legen. Sobald ein Gedanke präsent ist, haben wir es mit einer Vielheit zu tun, und für deren Inhalte sind wir der Erinnerung oder unbewußter Suchtätigkeit weitgehend enthoben. Die Frage bleibt dann freilich noch, wie wir von hier aus zu anderen nicht aktuell bewußten Inhalten gelangen. Wie stellen wir es eigentlich an, einen früheren Gedanken aufzurufen, etwa wenn uns eine äußere Situation, eine Frage oder ein Gedanke dazu veranlaßt? Offensichtlich existiert irgend etwas, das die Verbindung herstellt zum Schatz unserer nicht bewußten Erinnerungen. Nach Bühler spielt das Unbewußte auch dabei kaum eine nennenswerte Rolle. "Man mache sich nur einmal klar", schreibt Bühler, "wie oft wir beim Anhören einer Rede oder beim Lesen eines Buches auf Vorhergehendes zurückschauen, vielleicht einzelnes sogar zurückrufen müssen, um den Zusammenhang zu verstehen. Wie fangen wir das eigentlich an? Laufen wir etwa die Zeitreihe zurück bis wir es finden (etwa nur im Unbewußten)? Das wäre höchst kompliziert, man denke nur an die Unsumme von Gliedern, die wir durcheilen müßten, wenn der Redner nach einer Stunde auf einen Gedanken am Anfang der Rede zurückweist und wir den reproduzieren sollen." 69

Nach Bühler ist das Entscheidende eines solchen Aufrufens stets der begrifflich-logische Zusammenhang zwischen dem aktuell Bewußten und dem Gesuchten: Es gibt immer spezifische Ausgangsglieder für Erinnerungen, sozusagen Erinnerungsmöglichkeiten, und man weiß zumeist mehr oder weniger bestimmt, was man zu erinnern hat. Was fehlt ist die Klarheit und Prägnanz eines ausformulierten Gedankens. Es taucht also durchaus keine Vorstellung überraschend aus dem Dunkel des Unbewußten auf und es existiert auch nicht das von Hartmann angenommene hilflose Ausgeliefertsein an das Unbewußte. Das kann zwar vorkommen, doch die Regel sieht bei aktiven Denkprozessen anders aus. Dort ist auch die Erinnerungstätigkeit überwiegend ein aktives, zielbewußtes Geschehen, das jeweils an Bekanntes und im Prinzip Überschaubares anschließt. Das Bewußtsein greift bei der Suche und Ausformulierung von Erinnerungen zumeist sehr zielstrebig auf vorhandenes Wissen um Zusammenhänge zurück, die oft lückenhaft sind, aber eindeutige Hinweise auf das zu Erinnernde enthalten. Diese Hinweise können nicht nur Gedanken und Vorstellungen sein, sondern auch Gedankenteile, Gefühle und bestimmte Färbungen oder Momente von Gedanken, etwa Kontraste und Ähnlichkeiten, Einschränkungserlebnisse und Pointen, das begriffliche Milieu eines Gedankens, seine Atmosphäre, dynamische Aspekte, sprachliche Besonderheiten und so fort. 70 Wobei das Entscheidende dieser Hinweise darin liegt, daß sie fast immer auf eine logische Beziehung zwischen einem Vorhandenen und einem Gesuchten verweisen. Man könnte in der Sprache Steiners dazu sagen: Die Hinweisgeber auf das zu Erinnernde sind interne Wahrnehmungen, deren begrifflicher Gehalt direkt auf den begrifflichen Gehalt des Gesuchten hindeutet. Das heißt, es wird auch hier immer an etwas Bewußtes angeknüpft und von da ausgehend komplexere Zusammenhänge ans Licht gebracht, wobei als Leitlinie die begrifflich-logische Beziehung zwischen Gedanken fungiert. Man arbeitet sich gleichsam von einem bekannten Ausgangsglied her zunehmend und aktiv in die Erinnerungen hinein. Das alles hier in Einzelheiten auszuführen würde die vorliegende Arbeit überfrachten. Der Leser sei vorerst auf die entsprechenden Darlegungen Bühlers verwiesen. 71

Erinnerungstätigkeit ist für das Denken oft notwendig, aber nicht im eigentlichen Sinne essentiell. Sie zeugt auch nicht von einer grundlegenden Abhängigkeit des Bewußtseins von unbewußten Tätigkeiten im Sinne Hartmanns. Man muß gleichwohl in der Praxis oft mit ihr rechnen, und es gibt einige Indizien, wann mit ihr mehr oder weniger zu rechnen ist. Bühler wies oben darauf hin, daß das simultane gedankliche Überblickserlebnisse leicht zu evozieren sind, wenn man sich eine schnelle Übersicht über ein Wissensgebiet verschaffen muß. Je deutlicher uns das jeweilige Wissensgebiet ist, das heißt: je größer unsere Erfahrung darauf und unser Interesse daran, umso mehr ist davon auch im Augenblick präsent, das heißt umso weniger sind wir abhängig von Erinnerungstätigkeit. Entsprechend entgegengesetzt wirkt sich der Mangel an Erfahrung oder Interesse aus, was kaum überraschen dürfte. Dann sehen wir den Zusammenhang nicht mehr simultan sondern erst allmählich und zeitlich gedehnt, nachdem uns die entsprechende Begrifflichkeit bewußt geworden ist.

Gedanken können auf mancherlei Weise an uns herangetragen werden. Ein möglicher Weg ist, daß wir unsere Erinnerung bemühen. Ein anderers Mal wird eine explizite Frage an uns gerichtet und diese leistet, was zuvor unsere Erinnerung tat. Dasselbe kann eine spezifische Lebenssituation tun, die unser Denken in eine bestimmte Richtung lenkt. Erinnerung, Frage oder äußere Umstände können einen Gedanken initialisieren, doch für den weiteren Hergang muß der Erinnerungsprozeß selbst nicht immer von Bedeutung sein, sondern das für diesen Fortgang Wesentliche liegt dann im Gedanken selbst. Der Inhalt des Gedankens ist, wenn er nicht neu, sondern vielfältig durchdrungen und durchlebt ist, präsent und muß dann nicht in allen Einzelheiten und nacheinander erinnert werden. Man sieht die Zusammenhänge wirklich simultan. Den Anstoß zu dieser Präsenz können Erinnerungen oder explizite Fragen geben, aber auch implizite, die aus einer situativen Konstellation an uns ergehen. Bei letzterem ist es unser Interesse an der Situation, das uns selbst auf die Frage nach dem geeigneten Handeln bringt. Frage und Antwort ergeben sich dann unmittelbar aus dem "Sinnverband" des aktuellen Kontextes. Dieser "Sinnverband" enthält nichts, was erinnert werden müßte, und zwar umso weniger, je wacher, interessierter und erfahrener wir in der Situation stehen. Auch das ist nicht überraschend. Der Ausdruck der "Geistesgegenwart" hat hier seinen angemessenen Platz. Das Charakteristische dieser "Geistesgegenwart" ist, daß wir sehr vieles gleichzeitig deutlich sehen, was uns sonst vielleicht nur dunkel oder gar nicht bewußt ist. Wir sind dann nicht nur reaktionsschnell, reagieren nicht reflexartig-schematisch, sondern indem wir aus einer Vielzahl von Optionen begründet wählen können.

Erfahrungen lassen sich natürlich auf vielen Feldern erwerben, auch auf reinen Gedankenfeldern. Deswegen muß der routinierte Mathematiker auch nicht ständig in seinem Gedächtnis graben, wenn er ein vertrautes Problem löst. Er hat die ganze Sache vor sich, indem er das Problem vor sich hat. So, wie wir wissen was wir zu tun haben, wenn wir mit unserem Auto vorwärts oder rückwärts fahren müssen. Seine Denkfolge ergibt sich aus dem präsenten Inhalt - dem "Sinnverband" - dessen, was er bearbeitet. Dieser Inhalt und was damit zusammenhängt ist ihm so gegenwärtig, wie uns oben die Zusammenhänge in der praktischen Arbeit gegenwärtig waren. Für diesen Fall gilt, daß wir uns beim Denken im Prinzip in jedem Schritt nach den Inhalten der Begriffe richten können und nach sonst nichts, weil wir die Inhalte nicht erst suchen müssen. Und es gilt, daß wir all diese Schritte - also die Herkunft des folgenden Gedankens aus dem Inhalt des vorangehenden - im Prinzip zu überschauen vermögen, weil da kein Unbewußtes tätig ist, sondern wir selbst. Nur dann hat der Denker den "ganzen Prozeß restlos in seinem Innern gegenwärtig" 72 und nicht nur Inhalte, von denen er nicht weiß, wie er zu ihnen gekommen ist. Hier gilt dann, was Steiner im späteren Zusatz von 1918 der "Philosophie der Freiheit" (S. 55) sagt: "... es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem «Ich» nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint." Übrigens exakt die Kennzeichnung wie er sie im April 1918 (GA-67, Dornach 1962, Vortr. v. 18.04.1918) an anderer Stelle auf den meditativen Prozeß anwendet, wenn er (S. 299) vom meditativen Vorstellen sagt respektive fordert: "Jedes Stück dieser Vorstellung ist aus dem unmittelbaren Willen hervorgegangen, den man in diesem Augenblick entfaltet hat." Man beachte in beiden Fällen: Die »Tätigkeit« oder der »willentliche Prozeß« ist überschaubar, nicht nur die Inhalte. In dieser von Steiner gekennzeichneten strengen und definitorischen Form wird uns das wahrscheinlich eher selten gelingen. Aber es ist auch nicht unerreichbar, was er da mit dem Denken verbindet. Letztlich ist es auch eine Wesenskennzeichnung der Gedankenmeditation, die hier gegeben wird, und jeder, der hinreichende Erfahrung damit hat, wird bestätigen können, daß die Bedingung erfüllbar ist. Wenn wir wollen - und das ist im Rahmen dieses Aufsatzes von besonderer Bedeutung - können wir uns also eine unmittelbare Erfahrung von dieser überschaubaren Tätigkeit verschaffen und und unsere Auffassung an den Tatsachen direkt belegen.

Ende Kapitel 3.3


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