Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens  

(Stand 12.07.01)

Kapitel 4    

Zum Problem der Interpretationsstrategie                                                                                     

Eingangs der Erörterung von Michael Kirn sprach ich davon, daß er in gewissem Sinn ein Opfer der von ihm gewählten heuristischen Strategie geworden ist. Sein Bemühen, sich auf der Grundlage eines allgemeinen Beobachtungsbegriffes dem Steinerschen Verständnis von "Denk-Beobachtung" zu nähern, hat ganz offensichtlich nicht zu dem gewünschten Resultat geführt, weil im Verfolg dieser Strategie eine Konfusion eingetreten ist. Als Folge davon traten Widersprüche und unhaltbaren Annahmen auf, und damit steht er offensichtlich nicht allein.

Kirns Suche nach einem allgemeinen Beobachtungsbegriff beginnt explizit auf S. 60 und sie mündet auf S. 61 f zunächst in eine sehr plastische Beschreibung des beobachtenden Verhaltens. Doch auf dem Wege dorthin hat er sich durch eine heuristische Vorentscheidung um eine wesentliche Verständnishilfe gebracht: Er kommt (S. 61) zu der Auffassung, daß Steiner seinen Leser über den von ihm verwendeten Beobachtungsbegriff einigermaßen im Unklaren läßt: "Offenbar kommt es Steiner auf einen mit dem Übergang von Kapitel III zu IV genau abgestimmten Begriffsgebrauch an, obwohl er nirgends sagt, was Beobachtung eigentlich ist. Er sagt nur: Ich verstehe unter «Beobachtung» den Vorgang, der zur Wahrnehmung der gegebenen Welt führt, unter «Wahrnehmung» dagegen das Objekt der Beobachtung (Kap. IV, <I4>, S. 3). " 82

Nun trifft Kirns Auffassung, daß Steiner "nirgends sagt, was Beobachtung eigentlich ist" in dieser Pauschalität nicht zu. Richtig ist, daß es offenkundige Handhabungsschwierigkeiten mit Steiners Beobachtungsbegriff gibt, wenn es uns darum zu tun ist, einen generellen Beobachtungsbegriff auf die spezielle Frage der Denk-Beobachtung zu übersetzen. Man kann sich also mit Recht fragen - und darin pflichte ich Kirn bei - ob sich aus Steiners expliziten Angaben eine Wesensbestimmung von «Beobachtung überhaupt» entnehmen lasse, die mühelos auf die Beobachtung des Denkens übertragbar ist. Ähnliches äußert auch Thomas Kracht: "Es werden Ausdrücke wie etwa «Beobachtung» verwendet, die schon in der Alltagssprache mehrdeutig sind und die in offenbar sehr freier Weise aus der philosophischen Sprache des 19. Jahrhunderts aufgegriffen werden. Sie können also nicht als Anhaltspunkte des Verstehens dienen. Ja, ihre Bedeutung scheint zu schwanken." 83 Jedenfalls ist der Versuch einer Übertragung eines generellen Steinerschen Beobachtungsbegriffes auf die Beobachtung des Denkens nicht ganz so harmlos wie es zunächst scheinen mag - Witzenmanns vielfältige Bemühungen in diese Richtung können dies belegen. Gerade Witzenmanns mißglückter Ansatz, das Problem der aktuellen Denkbeobachtung auf der Grundlage eines universellen Beobachtungsbegriffes zu lösen, zeigt jedenfalls, mit welchen Widrigkeiten bei diesem Verfahren zu rechnen ist. 84

Doch ebenso richtig ist, daß Steiner in dem für die Weltauffassung entscheidenden Aspekt der Beobachtung gar nicht mißzuverstehen ist, und hierin sind sich seine Interpreten, abgesehen von Michael Kirn, auch weitgehend einig. Die Wesensgleicheit von beobachtendem und beobachtetem Denken, auf die sich Steiners Ansicht vom Denken als Archimedischem Hebel der Weltauffassung stützt, ist unbestritten: "Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet. Und das ist wieder eine charakteristische Eigentümlichkeit des Denkens. Wenn wir es zum Betrachtungsobjekt machen, sehen wir uns nicht gezwungen, dies mit Hilfe eines Oualitativ-Verschiedenen zu tun, sondern wir können in demselben Element verbleiben."? 85 Weitgehende Unklarheit scheint allerdings hinsichtlich der methodisch-praktischen Folgen dieser Identität zu bestehen. Wenn ich mich so ausdrücken darf: Über ihre Operationalisierung herrscht Konfusion. Man kann sich erkennbar nicht vorstellen, was sie für das konkrete Verfahren der Denk-Beobachtung bedeutet und vor allem nicht, was sie besagt hinsichtlich der Frage einer Beobachtung des aktuellen Denkens. Das «Wie» der Steinerschen Denk-Beobachtung ist bei aller Einigkeit über die Wesensgleichheit ein offenes Problem.

Ich meine nun, daß Kirn durch seine erkenntnisleitende Entscheidung, vom Allgemeinen zum Speziellen zu gehen, also zuvörderst einen «generellen» Beobachtungsbegriff zu entwickeln, zum Gefangenen seiner Strategie geworden ist. Sein Interpretationsinteresse ist so restlos von einem universellen Beobachtungsbegriff absorbiert, daß Steiners Angaben zur Bestimmung eines «speziellen» Beobachtungsbegriffs - nämlich der Beobachtung des Denkens - auf den Gang seiner Interpretation keinen gebührenden Einfluß mehr nehmen können. Weil Kirn bei seiner Rekonstruktion des universellen Beobachtungsbegriffes von der Prämisse ausgeht, Steiners Aussagen dazu seien ziemlich nebulös oder unvollständig, was im Hinblick auf die Frage, was «Beobachtung an sich» sei, nicht ganz unberechtigt ist, übersieht er, daß Steiners spezielle Aussagen zur Beobachtung des Denkens absolut nicht vage, sondern hinreichend genau und logisch konsistent sind, und daher eine Antwort auf die Frage, was Beobachtung des Denkens sei, ganz gut zulassen. Wie der spezielle und der allgemeinere Beobachtungsbegriff dann zusammenzuführen sind, das wäre erst ein zweiter Schritt.

Die rein pragmatische Folgerung, die ich aus diesem Umstand ziehen möchte, lautet: Bevor wir uns auf Gedeih und Verderb an das umfassendere Vorhaben eines allgemeinen Steinerschen Beobachtungsbegriffes wagen, um auf dieser Basis die Beobachtung des Denkens zu verstehen, und damit möglicherweise aus Gründen der Steinerschen Textgestaltung scheitern, sollten wir uns zunächst an die weniger heikle Klärung des Steinerschen Denkbeobachtungsbegriffes begeben, denn der ist logisch und philologisch zugänglicher.

Die meisten anthroposophischen Bearbeiter stoßen bis zu den konkreten Verfahrensfragen der Denk-Beobachtung erst gar nicht erkennbar vor, so wenig wie sie bis zum Verständnis des Steinerschen Spaltungsargumentes oder seines Beobachtungsverdiktes vorstoßen, weil sie sich schon vorher im Gestrüpp eines übergreifenden Beobachtungsbegriffes verfangen haben. Hier liegt offenbar ein echtes Dilemma der Steinerschen Textgestaltung vor - soviel zeigt mir jedenfalls meine inzwischen weiter ausgedehnte Literaturrecherche, die weitgehend immer dasselbe Bild zu Tage fördert: Es ist Steiner offenbar nicht gelungen, seine Gedanken in einer Form literarisch darzulegen, so daß sein Anliegen dem Leser - nicht einmal dem sachkundigen - in eindeutiger Weise erkennbar und nachvollziehbar ist, wenn er dem regulären Gang des expliziten Gedankenaufbaus folgt.

Zwei paradigmatische Fälle: Die Arbeiten von Rudy Vandercruysse und Frank Teichmann. Ihre Arbeiten scheinen mir erwähnenswert und aufschlußreich, weil sie in Sammelbänden publiziert sind, die ein anthroposophisches Forschungsinstitut herausgegeben hat. Man darf damit unterstellen, daß die Thematik ausreichend beleuchtet und sicherlich im kollegialen Umfeld erörtert worden ist.

Vandercruysse 86 folgt bei seiner Interpretation des dritten Kapitels der PdF zunächst dem literarischen Lauf des Steinerschen Gedankenganges und bemüht sich in diesem Zusammenhang darum, die Begriffe "Beobachtung" und "Denken" in ihrem Wechselverhältnis durchsichtig zu machen, um auf dieser Basis zum Verständnis der Beobachtung des Denkens zu gelangen. Das heißt, er eruiert zunächst einen übergeordneten Beobachtungsbegriff, der sich dann bei der Beobachtung des Denkens in gewisser Weise spezialisiert. Dieses Vorgehen von Vandercruysse ist philologisch kaum anzufechten. Aber es führt dazu, daß sich der Autor an entscheidender Stelle hoffnungslos in diesem allgemeinen Beobachtungsbegriff verstrickt und zur Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens keine plausiblen Verständnisvorschläge mehr unterbreiten kann, weil ihm die spezielle Methode der Denk-Beobachtung gar nicht klar geworden ist. Und so kommt er bei Behandlung der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens auf S. 206 zu der Bilanz, Steiner habe mit dieser Unbeobachtbarkeit eine "gegenständliche" Beobachtung gemeint, und fragt im selben Atemzug weiter, ob denn wohl eine "nichtgegenständliche" Beobachtung (des aktuellen Denkens) möglich sei. Für seine These, eine "nicht-gegenständliche" Beobachtung des aktuellen Denkens sei möglicherweise denkbar, bringt Vandercruysse indessen keinen einzigen Beleg bei, und das nicht ohne Grund: sie ist angesichts der mehrfachen und eindeutigen Steinerschen Aussagen dazu textimmanent auch nicht sinnvoll belegbar. "Beobachten" läßt sich im Sinne Steiners das Denken nur in gegenständlicher, d. h. gegenüberstellender Weise. Ich nehme an, daß Vandercruysse hier aus wohlberechtigtem, aber nicht explizit ausgesprochenem Grund auf etwas anderes abzielt, nämlich auf einen primären empirischen Zugang zum Denken. Ein solcher muß natürlich für Steiner vorhanden sein. Nur läßt sich darauf nicht der Begriff der "Beobachtung" anwenden, sondern der Begriff der "Erfahrung".

Auch Steiners Spaltungsargument für die Unbeobachtbarkeit wird von Vandercruysse nicht grundlos übergangen, weil es nämlich nur dann zu verstehen und zu bewerten ist, wenn man Steiners Begriff der "Denk-Beobachtung" hinlänglich gefaßt hat. Das heißt: Wenn man die Wesensgleichheit von beobachtendem und beobachtetem Denken angemessen in die methodische Praxis übertragen hat. Dann erst wird erkennbar, warum diese Beobachtung nicht möglich ist, und warum es dabei notwendig zur Persönlichkeitsspaltung kommen muß. Diese Übertragung aber wird offenbar verhindert, wenn man sich zunächst von der Frage leiten läßt, was Steiner mit Beobachtung im allgemeinen meint. Beim Übergang vom allgemeinen Beobachtungsbegriff auf die Beobachtung des Denkens entsteht Verständnischaos.

Analoges hinsichtlich der Interpretationsmethode und und ihrem unannehmbaren Resultat gilt auch für die Arbeit von Frank Teichmann in einem von Karl-Martin Dietz herausgegebenen Sammelband. 87 Teichmann unterbreitet dem Leser ab S. 204 zunächst eine Art hermeneutischer Strategie, wie man sich erfolgreich dem Verständnis des Steinerschen Textes nähern kann und führt das Ganze dann ab S. 209 am Beispiel des dritten Kapitels exemplarisch durch. So erläutert er in einer ersten Zusammenfassung zunächst die Begriffspaare "Beobachtung" und "Denken" und kommt auf diesem Wege auf die Eigentümlichkeiten einer Beobachtung des Denkens zu sprechen. Auch er folgt im Prinzip dem expliziten Lauf der Steinerschen Gedanken - nimmt die Route von einem allgemeinen Beobachtungsbegriff zum speziellen Begriff der Denk-Beobachtung - und endet auf diese Weise im selben Desaster wie Vandercruysse: Auf dem Wege von der Beobachtung zur Denk-Beobachtung ist Konfusion eingetreten.

So schreibt Teichmann auf S. 211: "Ohne Beobachtung und ohne Denken, das den Zusammenhang herstellt, entsteht kein Wissen. Zunächst ist es so, daß das Beobachten und das Denken getrennt auftreten; wenn ich aber das Denken beobachten will - und das muß ich tun, wenn ich das Denken im Dienste der Weltauffassung verstehen will -, dann kann ich nicht, wie im Normalfall, schauen, was sich dem Beobachten zeigt, sondern dann muß ich denken, damit ich nachher, durch eine Art «Ausnahmezustand», auch den Vorgang des Denkens mitzuerfassen lerne. Es gehört eben zu der eigentümlichen Natur des Denkens, «daß es eine Tätigkeit ist, die bloß auf den beobachteten Gegenstand gelenkt ist und nicht auf die denkende Persönlichkeit» ... Erst durch den Ausnahmezustand kann das normalerweise unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens auch ins Bewußtsein gehoben werden." Die Beobachtung des Denkens kann nicht auf herkömmlich-gegenständliche Weise erfolgen, sondern erfordert einen Ausnahmezustand, soweit ist Teichmann zuzustimmen. Und immerhin ist er nicht wie Michael Kirn der Ansicht, das aktuelle Denken könne generell nicht "ins Bewußtsein gehoben" werden, sondern im "Ausnahmezustand" ist dies laut Teichmann möglich.

Man schaue sich nun aber an, was er zum Verfahren dieser Denk-Beobachtung weiter äußert. Er fährt fort: "Wie kann das Denken nun beobachtet werden? Normalerweise ist meine Aufmerksamkeit auf das Objekt, welches bedacht wird, gerichtet, nicht aber auf die denkende Tätigkeit selbst. Um diese in das Bewußtsein zu heben, muß ich den Ausnahmezustand herbeiführen, das heißt, mich mir selber gegenüberstellen und beobachten, was mir bisher verborgen blieb. Das kann ich ungeübt nur nacheinander vollziehen: ..." Man beachte die letzten, für uns entscheidenden Sätze dieses Zitats: "Um diese in das Bewußtsein zu heben, muß ich den Ausnahmezustand herbeiführen, das heißt, mich mir selber gegenüberstellen und beobachten, was mir bisher verborgen blieb. Das kann ich ungeübt nur nacheinander vollziehen." Der Akzent liegt auf der Wendung: "ungeübt nur nacheinander". Wer das dritte Kapitel kennt, müßte jetzt eigentlich staunen, denn bei Frank Teichmann ist erreichbar, was laut Steinerschen Textaussagen vollkommen ausgeschlossen ist: die Beobachtung des aktuellen Denkens. Teichmann läßt den Leser wissen, daß er nur entsprechend "üben" muß, um das Denken nicht mehr nur nacheinander, sondern gleichzeitig beobachten zu können. Bei hinlänglichem Training ist es möglich zu denken und sich simultan diesem Denken gegenüberzustellen! Und dies sei Steiners Auffassung im dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit".

Man könnte diesen Vorgang, weil es sich vielleicht um ein randständiges Detail in Teichmanns Arbeit handelt, auf sich beruhen lassen. Doch ganz so nebensächlich wie es zunächst scheint ist diese Episode nicht. Denn man beachte: Teichmanns Arbeit erscheint unter der Herausgeberschaft eines namhaften anthroposophischen Forschungsinstituts. Das sollte eigentlich für Maßstäbe deutlich oberhalb des Durchschnittlichen stehen. Ferner handelt es sich hier um die Zusammenfassung des Textes des dritten Kapitels, die sachlich eigentlich nichts anderes enthalten dürfte, als dort auch zu lesen ist. Wie Teichmann indessen auf sein "ungeübt nur nacheinander" kommt und in welcher Weise sich diese Sicht aus Steiners Text entnehmen läßt, erklärt er dem Leser nicht. Und ein diesbezüglicher affirmativer Hinweis findet sich bei Steiner auch nicht, sondern das gerade Gegenteil. Also muß man sagen: Teichmann hat infolge seiner Konfusion die Sache selbst in den Text hineingedacht und zwar allen unübersehbaren, entgegenstehenden Erklärungen Steiners zuwider. Steiners mehrfache Wiederholungen des Beobachtungsverdiktes scheinen schlechthin nicht zu existieren. Der ausdrückliche, sogar von Moses flankierte Befund, daß das Denken nur nachträglich beobachtet werden kann - er ist nicht vorhanden. Eine explizite Steinersche Begründung der Unbeobachtbarkeit in Form des Spaltungsargumentes - sie wird ausgeblendet. Teichmann ist hier also mit Steiners Text - milde ausgedrückt - recht freizügig verfahren. Schärfer formuliert: Steiners Denk-Beobachtungsbegriff ist vom Interpreten nicht verstanden worden und an seiner statt wird dem Rezipienten ein Teichmannscher vorgelegt.

Bei Rudy Vandercruysse finden wir in derselben Angelegenheit wenigstens eine Frageform [ob nichtgegenständliche Beobachtung des aktuellen Denkens möglich sei, MM], welche deutlich macht, daß er hier vorsichtig-abwägend auf eine Verständnisschwierigkeit reagiert. Teichmann ist von derart vorsichtiger Zurückhaltung völlig frei, erhebt in den Status einer praktikablen Tatsache, was laut Steiner bei noch so viel Übung gänzlich ausgeschlossen ist, deklariert das alles auch noch als Steiners Ansicht und setzt seine Leser auf die falsche Spur. Für Ravaglis Forderung nach Interpretationsstandards aus dem letzten Jahrbuch könnte es kaum einen besseren Beleg geben. 87a

Ich möchte hier durch diese beiden Beispiele, die sich reichlich vermehren lassen, darauf hinweisen, daß es für den Interpreten nicht unbedingt aussichtsreich ist, streng dem literarisch dargelegten Steinerschen Gedankenverlauf vom allgemeinen zum speziellen Beobachtungsbegriff zu folgen, wenn er dem Begriff der Denk-Beobachtung nachgehen will, obwohl dieses Verfahren an sich natürlich einwandfrei ist. Es ist philologisch korrekt aber für den Interpreten erwiesenermaßen nicht hilfreich, weil er sich dann logischerweise zunächst Klarheit über einen generellen Steinerschen Beobachtungsbegriff verschaffen muß, von dem ja nicht apriori bekannt ist, ob er von Steiner überhaupt adäquat literarisch entfaltet werden konnte, bzw. ob er sich auf die Beobachtung des Denkens angemessen anwenden lasse. Und beim Transfer dieses generellen Beobachtungsbegriffes auf die Methode der Denk-Beobachtung erleidet der Interpret dann einen Schiffbruch, den er vielleicht gar nicht einmal selbst zu verantworten hat, sondern womöglich der Autor des Textes infolge insuffizienter Darstellung.

Es scheint mir daher aussichtsreicher, das Ganze von Steiners zentralem erkenntnistheoretischem Gesichtpunkt der Weltauffassung her aufzurollen. Dieser zentrale Aspekt des dritten Kapitels ist das, was Steiner den Archimedischen Hebel der Weltauffassung nennt. Dessen methodenrelevanter Kern wiederum besteht in der Wesensgleichheit von beobachtetem und beobachtendem Denken: "Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet. Und das ist wieder eine charakteristische Eigentümlichkeit des Denkens. Wenn wir es zum Betrachtungsobjekt machen, sehen wir uns nicht gezwungen, dies mit Hilfe eines Oualitativ-Verschiedenen zu tun, sondern wir können in demselben Element verbleiben."88 Von diesem Blickwinkel aus scheint es mir weitaus weniger risikoreich zu sein, den Steinerschen Begriff der Denk-Beobachtung zu explizieren, als von einem generellen Beobachtungsbegriff, der in Richtung auf die Denk-Beobachtung überhaupt erst zuzurichten wäre.

Als Philologen oder Interpreten haben wir es nicht mit einer Schöpfung der Steinerschen Philosophie zu tun, sondern mit ihrem Verstehen. Das legitimiert in meinen Augen eine Heuristik des Zugangs vom Zentrum des Gedankens her und nicht von den expliziten peripheren Ausgangspunkten, die durch seine literarisch-handwerkliche Form bedingt sind. Deswegen sollten wir uns in diesem schwierigen Fall weniger von der äußeren Form seiner Darstellung leiten lassen, sondern von der inneren Logik ihres philosophischen Brennpunktes. Also sollten wir uns nicht zufördert fragen, was Beobachtung für Steiner im allgemeinen bedeutet, sondern was wir davon zuerst und zunächst auf der Grundlage seiner Darstellungen und im Hinblick auf ihren gedanklichen Mittelpunkt am besten begreifen können, was sich daran - bezogen auf diesen Mittelpunkt - textimmanent mühelos rekonstruieren läßt, weil es von Steiner klar und eindeutig formuliert wurde.

Vor allem auf eines habe ich im letzten Jahrbuch schon hingewiesen: auf den häufig im dritten Kapitel anzutreffenden synonymen Gebrauch der Ausdrücke: Beobachtung des Denkens, Betrachtung des Denkens und Nachdenken über das Denken. Diese Synonymität deckt sich sachlich vollständig mit der von Steiner betonten qualitativen Gleichheit von Beobachtungsgegenstand und Beobachtungstätigkeit bei der Beobachtung des Denkens. Im Zusammenhang mit der qualitativen Gleichwertigkeit, sowie relativ unabhängig davon gibt es demnach genügend präzise explizite und implizite Hinweise im dritten Kapitel der PdF, wie die Beobachtung des Denkens konkret vorzustellen ist, nämlich in einem Denken über die Erfahrungen des Denkens bzw einer gegenüberstellenden Betrachtung des Denkens. Mit diesem Verständnis von "Denk-Beobachtung" lassen sich nicht nur die gravierendsten Antinomien beiseiteräumen. Der Begriff ist in der eigenen Beobachtungspraxis auch anwendbar und außerdem kompatibel mit dem Beobachtungsbegriff der zeitgenösischen Denkpsychologie.

Ende Kapitel 4              


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