Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 15.05.03)

Kapitel 2

Die heuristische Relevanz des Spaltungsargumentes und seine Behandlung in der Steinerrezeption

Vor diesem Hintergrund ist es von Interesse, daß sich Rudolf Steiner mit seiner methodischen Auffassung von der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens und erinnerungsabhängiger Denk-Beobachtung weitgehend im Einklang mit seinen psychologischen Zeitgenossen befindet. Dieses Einvernehmen ist offenbar sachlich begründet, wenn es nicht nur in der allgemeinen Anerkenntnis der Tatsache der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens besteht, sondern wenn zur Erklärung dieses Sachverhalts auch noch dasselbe Argument vorgebracht wird - übrigens in der Reihenfolge das erste von zweien, die Steiner in diesem Zusammenhang überhaupt anführt - nämlich die dann notwendige Spaltung der Persönlichkeit: "Ich müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen." heißt es bei Steiner. 8 Dieses Argument wird uns - etwa vierzehn Jahre nach Steiners Version in der Philosophie der Freiheit - explizit bei Wilhelm Wundt und Karl Bühler begegnen. 9

Steiner selbst bezieht sich hinsichtlich der Unbeobachtbarkeit zwar nicht ausdrücklich im Rahmen der Philosophie der Freiheit auf den psychologisch-wissenschaftlichen Kontext seiner Zeit. Rekurriert aber 1910 in dem Fragment Anthroposophie (GA-45, 1980, Anhang 5, S. 150 f) explizit auf eine diesbezügliche Unterscheidung Franz Brentanos und schreibt dort: "Der Seelenforscher findet sich ja genötigt, einen Unterschied zu machen zwischen den Erlebnissen, welche gegenüber der Außenwelt gemacht werden und denjenigen, welche auf der Wahrnehmung des eigenen Seelenlebens beruhen. Steht man einem äußeren Dinge oder einer äußeren Tatsache gegenüber, so kann man diese mit denselben Erkenntniswerkzeugen weiter beobachten, durch welche sie zuerst wahrgenommen worden ist. Eine seelische Tatsache ist aber vorüber, wenn sich die beobachtende Erkenntnis darauf richten will. Der hier in Betracht kommende Sachverhalt ist gut von Franz Brentano (in dessen Psychologie S. 35) dargestellt worden. Es wird da scharf betont, daß die innere Wahrnehmung der Seelenvorgänge nie innere Beobachtung werden könne." Diese psychologische Einschätzung der Sachlage, das darf man hier unterstellen, war ihm gewiß auch zur Zeit der Abfassung der Philosophie der Freiheit nicht fremd. Vor allem nicht angesichts der Wertzschätzung, die er Franz Brentanos Forschung gegenüber hegte, die, wie er in der Schrift Von Seelenrätseln (GA-21, 1976, S. 80) 1917 anmerkt, "für mich zu den anziehendsten Leistungen der Seelenforschung in der Gegenwart gehört. Ich konnte zwar nur wenige der Wiener Vorlesungen Brentanos vor etwa sechsunddreißig Jahren hören; aber von diesem Zeitraum an habe ich seine schriftstellerische Tätigkeit mit wärmstem Anteile verfolgt."

Auch wenn wir selbst im vorliegenden Aufsatz das wissenschaftliche Umfeld nur sehr punktuell am Beispiel der Diskussion zwischen Bühler und Wundt behandeln werden, zeigt doch Steiners Hinweis auf Brentano, daß man den fraglichen Passus aus der Philosophie der Freiheit nicht losgelöst vom zeitgenössischen psychologischen Kontext behandeln kann, und zu Interpretationsfragen zumindest hilfsweise auf diesen Kontext zurückgreifen sollte.

Im Hinblick auf die Steinerrezeption ist zu bemerken, daß Steiners Spaltungsargument ein seltsam apartes Schattendasein führt und sich, soweit ich sehen kann, bisher noch kaum jemand ernsthaft damit auseinandergesetzt hat, selbst dort nicht, wo die Beobachtung des Denkens ausdrücklich Gegenstand von Untersuchungen der Interpreten ist. Es wird durchgängig ignoriert. Bemerkenswert ist dieser Umstand, weil es das erste Argument von nur zweien ist, die von Steiner als Begründung für die Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens überhaupt vorgebracht werden. Und das kann ja nur heißen, daß dieses Argument mindestens etwa die Hälfte der gesamten Erklärungskraft für den entsprechenden Gedankengang enthält. Daraus folgt logischerweise für unsere Heuristik, daß - welchen Gedankenweg wir auch sonst noch zum Verständnis des fraglichen Beobachtungsbegriffes beschreiten mögen - wir uns zwangsläufig mit dieser Steinerschen Begründung auseinandersetzen müssen, denn wie auch immer unsere Lösung des Beobachtungsproblems und unser Verständnis von "Denk-Beobachtung" aussehen wird: sie müssen auf jeden Fall zu diesem Spaltungsargument Stellung beziehen und mit ihm verträglich sein.

Die Gegenüberstellung eines jeglichen Klärungsansatzes mit diesem Spaltungsargument ist also notwendig und so etwas wie ein experimentum crucis. Dazu müssen wir aber den argumentativen Gehalt dieser Steinerschen Begründung überhaupt erst einmal verstehen, andernfalls ist eine solche Bezugnahme gar nicht zu leisten. Ohne Einbezug dieses Spaltungsargumentes wären wir indessen mit jedem anderen Resultat bestenfalls im Besitz einer halben Wahrheit und das reicht als Lösung von philosophischen Fragen bekanntlich nicht aus.

Auf der anderen Seite muß mit allem Ernst hinzugefügt werden: solange wir dieses Spaltungsargument nicht verstehen und damit den Begriff der "Denk-Beobachtung", solange haben wir auch kein wirkliches Verständnis von dem, was Steiner "Erfassen der Wesenheit des Geistigen" nennt. Wenn es sich nämlich so verhält, wie Steiner im IX. Kapitel der "Philosophie der Freiheit" sagt: "Wer das Denken beobachtet, lebt während der Beobachtung unmittelbar in einem geistigen, sich selbst tragenden Wesensweben darinnen. Ja, man kann sagen, wer die Wesenheit des Geistigen in der Gestalt, in der sie sich dem Menschen zunächst darbietet, erfassen will, kann dies in dem auf sich selbst beruhenden Denken."10 dann besteht über diese beobachtende Erfassung der "Wesenheit des Geistigen" methodisch solange keine Klarheit, wie wir den Steinerschen Beobachtungsbegriff nicht begriffen haben. Das heißt unser methodisches Verständnis von dieser Erfassung ist von der Auflösung der Aporie im dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit" und damit unmittelbar vom Verständnis des Steinerschen Spaltungsargumentes abhängig.

Um es auf den Punkt zu bringen: solange das Spaltungsargument nicht verstanden und diese Aporie nicht aufgelöst ist, laufen wir Gefahr mit philosophisch-systematisch ausgerichteten Aussagen zum Wesen der übersinnlichen Beobachtung leeres Stroh zu dreschen oder schlimmer noch, gedanklichen Nonsens zu verbreiten - ich nehme mich selbst von dieser Gefahr nicht aus.

Ende Kapitel 2                  


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