Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 6

Basalität, Eindeutigkeit und Plakativität der Steinerschen Argumente und das seltsame Phänomen ihrer Unsichtbarkeit

Wir erinnern uns an einige markante Sätze im dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit". Steiner kommt nicht nur einmal, sondern er kommt dreimal darauf zu sprechen, daß das Denken nur aus der Erinnerung zu beobachten sei und bemüht sogar das Alte Testament zur Illustration dieses Sachverhalts, so bedeutsam schien ihm diese Hervorhebung zu sein: "Ich bin sogar in demselben Fall, wenn ich den Ausnahmezustand eintreten lasse, und über mein Denken selbst nachdenke. Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. Ich müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen. Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes." 31 So lesen wir beim ersten mal. "Zwei getrennte Akte"sind notwendig zur Beobachtung des Denkens und die Ausschließlichkeit des zweifachen "Nie" im Sinne von »Niemals können wir unser gegenwärtiges Denken beobachten« ist wohl kaum noch einer Steigerung fähig. Gleich darauf heißt es: "Zwei Dinge vertragen sich nicht: tätiges Hervorbringen und beschauliches Gegenüberstellen. Das weiß schon das erste Buch Moses. An den ersten sechs Welttagen läßt es Gott die Welt hervorbringen, und erst als sie da ist, ist die Möglichkeit vorhanden, sie zu beschauen: «Und Gott sahe an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.» So ist es auch mit unserem Denken. Es muß erst da sein, wenn wir es beobachten wollen." 32 Schließlich lesen wir ein drittes mal einige Seiten weiter: "Was bei der Natur unmöglich ist: das Schaffen vor dem Erkennen; beim Denken vollbringen wir es. Wollten wir mit dem Denken warten, bis wir es erkannt haben, dann kämen wir nie dazu. Wir müssen resolut darauf losdenken, um hinterher mittels der Beobachtung des Selbstgetanen zu seiner Erkenntnis zu kommen." 33 Wohlgemerkt: "hinterher" wird das Denken beobachtet und erkannt und nicht etwa "während" des Denkens!

Wer seine Gedankengänge in ein und derselben Angelegenheit so oft unmißverständlich und eindringlich wiederholt, der hat seine Gründe dafür und ist von seiner Sache überzeugt - das heißt für ihn gilt apodiktisch und ein für allemal, daß das Denken nur aus der Erinnerung zu beobachten ist. Deutlicher kann man die Entschiedenheit seiner Auffassung gar nicht mehr zum Ausdruck bringen. Der Denkprozeß muß abgeschlossen sein, dann erst kann er beobachtet werden. An der archaischen Strenge des zweimaligen »Nie« und der unerbittlichen Kompromißlosigkeit eines dreimal wiederholten und gar noch - man möchte fast sagen: beschwörend - vom ersten Buch Moses flankierten »Danach« muß jeder Versuch einer theorieimmanenten Umgehung des Steinerschen Beobachtungsverdiktes zerschellen. An diesem »Hinterher« kann ein ernsthafter Zweifel gar nicht aufkommen - es kann keinesfalls wegerklärt oder durch einen theoretischen Kunstgriff überbrückt werden. Wir können also nicht die ebenso fraglos vorhandene unmittelbare Denk-Erfahrung bzw. das unmittelbare Denk-Erlebnis, von denen Steiner ja auch spricht, oder auch das "Selbstinnesein des Ich in der Denktätigkeit", wie von Lorenzo Ravagli vermutet, 34 zu einem »Denk-Beobachten« ummünzen und »Denk-Beobachtung« und »unmittelbare Denk-Erfahrung« gleichsetzen, wir müßten Steiner sonst das Wort im Munde umdrehen und ihm aus einem »X« ein »U« machen.

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