Michael Muschalle
Ende zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home Michael Muschalle Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung (Stand 12.07.01) Kapitel 6.6 Herbert Witzenmann Werfen wir noch einmal einen Blick auf Herbert Witzenmanns Behandlung des Themas Denk-Beobachtung. Dasselbe Phänomen zeigt sich auch bei Witzenmann: Eine eingehende Analyse der problematischen Ausführungen im dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit" findet nicht statt. Die Steinerschen Argumente werden nicht einmal von ferne behandelt in einer Weise, die diesen Namen auch verdient. Schauen wir zunächst seinen Aufsatz "Intuition und Beobachtung" an. Dieser Aufsatz stammt aus dem Jahr 1948 und ist später erneut veröffentlicht worden. 66 Das "Beobachten" gehört erklärtermaßen zum Thema dieser Arbeit und wir sehen dort sehr viele und auch sehr anspruchsvolle Gedanken zu diesem Begriff. Aber wir finden weder spezielle Ausführungen zur Methode der Denk-Beobachtung an sich, noch eine eingehendere Bezugnahme auf das dritte Kapitel der "Philosophie der Freiheit" und seine einschlägigen Passagen. Insbesondere Steiners Ausführungen über die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens und die von ihm angeführten Gründe werden vollständig übergangen. Obwohl Herbert Witzenmann immer wieder auf die Denk-Beobachtung zu sprechen kommt - ja, sie faktisch ausübt und sich auf entsprechende Beobachtungen des Denkens beruft, treffen wir eine ausführliche Untersuchung dessen, was dieses Beobachten des Denkens für Steiner sein soll, dort nicht an. Man muß dabei bedenken: Witzenmann geht es in dieser Arbeit maßgeblich darum, einen Beobachtungsbegriff zu entwickeln und etwas über das Wesen dieser Beobachtung auszusagen und zwar in enger Anbindung an Steiners erkenntnistheoretische Schriften. Und so stoßen wir auf explizite Wendungen wie: "Beobachten wir, wie ein Begriff im Bewußtsein auftritt, so bemerken wir, daß er sich von zwei Seiten zeigt: einerseits als ein durch unsere (Denk-)Tätigkeit Hervorgebrachtes, als Vollzug, Akt, andererseits als Inhalt" (S. 77) Ferner: "Die Verschiedenheit von Denkakt und Denkinhalt wird genau durch die folgenden Beobachtungen erfaßt ..."(S. 77). Dann: "Man sieht auf Grund der angeführten Beobachtungen ein, daß sich das Ich im Denkakt ... selbst gedanklichen Inhalt gibt..." (S. 81). Hier wird also immer wieder das Denken "beobachtet", was er aber über das Wesen der Beobachtung ab S. 82 dann ausführt, hat mit der Denk-Beobachtung im engeren Sinne kaum etwas zu tun, sondern bezieht sich nahezu ausschließlich auf konventionelle Beobachtung. Das einzige, was speziell zur Beobachtung des Denkens gesagt wird, ist in zwei Sätzen in einer Anmerkung auf S. 83 untergebracht und lautet: "Das Denken kann nicht, wie es die materialistischen Denker anstreben, »durch einen bloßen Beobachtungsprozeß« in derselben Art wie die anderen Gegenstände des Weltinhaltes gefunden werden. Vielmehr entzieht es sich der »normalen Beobachtung« und ist nur einem »Ausnahmezustand« des Beobachtens, nämlich der Intuition zugänglich." - und das war`s im wesentlichen. Er bringt die Beobachtung des Denkens wohl ausdrücklich zur Anwendung, sagt aber faktisch kaum etwas über sie aus, sagt vor allem nichts aus über Steiners diesbezügliche Ansicht. Man kann also nicht davon sprechen, daß Witzenmann hier eine ernstzunehmende Interpretation des Steinerschen Verständnisses von Denk-Beobachtung vorgelegt habe. Man muß demnach erst einmal festhalten: genau genommen wird der Steinersche Begriff der "Denk-Beobachtung" von Witzenmann weder behandelt noch geklärt. Er klärt seine eigene, explizit ausgeübte Methode nicht; untersucht auch nicht Steiners Aussagen zu dieser Methode. Dieses Resultat gilt es besonders zu betonen angesichts der Tatsache, daß Witzenmanns Aufsatz durch einen Literaturverweis in seiner Schrift "Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens" (S. 40) im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen der "seelischen Beobachtung" ausdrücklich hervorgehoben wird. Alles, was wir dort über die Methode der "seelischen Beobachtung" des Denkens im engeren Sinne erfahren, beschränkt sich weitgehend auf zwei kaum aussagefähige Sätze in einer Anmerkung. In seiner Schrift "Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens" lesen wir auf S. 42 f. welcher bedeutende Stellenwert der seelischen Beobachtung des Denkens zukommt. Auch hier finden wir wieder keine explizite und prüffähige Anbindung an Steiners Text. Die Art und Weise, wie Witzenmann sich zur Beobachtung des Denkens äußert, ist eher verwirrend als erhellend. Es wird nicht einmal deutlich, ob in seinen zentralen methodenbezogenen Sachaussagen überhaupt von Denk-Beobachtung die Rede ist, oder von anderer Beobachtung. Witzenmann schreibt dort: "Diese Ausführungen wollten zeigen, welch einzigartige Bedeutung der seelischen Beobachtung zukommt. Ist es ihr doch beschieden, durch das Öffnen des Blicks für die Wirklichkeit und Menschlichkeit die Antwort auf die Grundfrage unserer Zeit zu vermitteln, auf die Frage nach dem Sinn unseres Daseins." Und er fährt (S. 43) fort: "...In der Beobachtung des Denkens wird der Mensch seiner Fähigkeit bewußt, ein auf seinen eigenen Gesetzen Beruhendes (nämlich die Denkinhalte) hervorzubringen. Diese Hervorbringung ist zugleich Erblicken, denn es ist Wesenstausch, ist Sich-selbst-Wissen in dem Gewußten. Das Gewußte (der Denkinhalt) ist aber zugleich auch die Verbindung mit allen Welterscheinungen. Wird die Denkaktivität zwar angespannt, aber nur um sich in sich selbst zurückzuhalten, also sich den Übergang in die Denkinhalte und damit die durch diese durchdringbare Wahrnehmungswelt vorzuenthalten, dann entsteht, was man Denkblick, Beobachtung oder Aufmerksamkeit nennt, also ein in sich reflektiertes Bewußtsein. Die seelische Beobachtung ist blickendes, nicht kommunizierendes Denken. Da sie selbst den Spalt zwischen sich und ihren Gegenständlichkeiten offen hält, indem sie die Kräfte, welche berufen sind, die Kluft zu überbrücken, in sich zurückstaut, ist sie die Fähigkeit, des Unverbundenen, doch sich in seiner Rätselnatur Ankündigenden inne zu werden, also des Rein-Wahrnehmlichen." 67 Hier wird zwar einiges geäußert über das »Resultat« der Denk-Beobachtung, aber darüber, worin diese Denk-Beobachtung selbst besteht, erfahren wir wieder nichts. Wir erfahren auch nichts über Steiners diesbezügliche Auffassung. Wir hören lediglich, daß der Mensch in der Beobachtung des Denkens einer "Fähigkeit" bewußt werde, nämlich der Fähigkeit, ein auf seinen eigenen Gesetzen Beruhendes hevorzubringen. Aber damit wissen wir noch nichts über das methodische Verfahren, mit dem diese Fähigkeit ermittelt wird. Wie wird sich der Mensch dieser Fähigkeit bewußt? Doch nur, indem er über seine Erfahrungen des Denkens nachdenkt! Witzenmann sagt zwar, daß das Hervorbringen der Gedankeninhalte ein "Erblicken" bzw. ein "Wesenstausch" sei, aber damit ist nichts über die Methode der Beobachtung des Denkens selbst gesagt, um die es hier eigentlich geht. Sollte Herbert Witzenmann in dem "Hervorbringen" und dem damit verbundenen "Erblicken" der Denkinhalte das Wesen der "seelischen Beobachtung" des Denkens verstehen? Dann läge hier eine grundlegende und fatale Verwechslung vor zwischen "unmittelbarer Erfahrung" des Denkens, die ja in Steiners Augen auch ein Wahrnehmen der gedanklichen Inhalte ist, und "Beobachtung" des Denkens, die demgegenüber eine »denkende Betrachtung« des Denkens ist. Man kann sicherlich das "Erblicken" von Denkinhalten als eine Form der Beobachtung bezeichnen. Steiners Auffassung vom Denken als Wahrnehmungsorgan für Begriffe und Ideen scheint dies auch nahezulegen. Nur handelt es sich dabei eben um eine Beobachtung von Begriffen und Ideen und nicht um eine Beobachtung des Denkens. Man kommt dann wohl zu einer Anschauung der Gedankenwelt, aber nicht zu einem Begriff des Denkens. Zu einer Anschauung der Gedankenwelt kann jeder gelangen, der energisch und umfassend genug über Begriffe und Ideen nachdenkt, auch dann, wenn er wie Goethe niemals über das Denken gedacht hat. Zu einem Begriff des Denkens kommt nur, wer sich auch über die Erfahrungen seines Denkens Gedanken macht. In der Beobachtung wird "die Denkaktivität zwar angespannt, aber nur um sich in sich selbst zurückzuhalten, also sich den Übergang in die Denkinhalte und damit die durch diese durchdringbare Wahrnehmungswelt vorzuenthalten" und es entsteht dann das, was Witzenmann "Denkblick, Beobachtung oder Aufmerksamkeit" nennt, "also ein in sich reflektiertes Bewußtsein." Die solchermaßen gekennzeichnete Beobachtung ist auf "Rein Wahrnehmliches" gerichtet, und wenn wir diesen Begriff der "Beobachtung" auf das Denken anwenden, dann müßte auch das Denken diesen Charakter des "rein Wahrnehmlichen" teilen. Aber davon spricht Witzenmann nicht. Er wendet seinen Beobachtungsbegriff zwar auf das "Rein Wahrnehmliche" an, aber das ist hier das Nicht-Gedankliche, und ob er das Denken dem Rein Wahrnehmlichen zurechnet, darüber schweigt er sich aus, und so selbstverständlich ist das nebenbei gesagt ja nicht, obwohl es in mancher Hinsicht naheliegen könnte. Naheliegend könnte es in gewisser Weise sein, weil Steiner selbst von einer "reinen Erfahrung" des Denkens spricht, und wenn wir annehmen, das Denken sei selbst ein Gegenstand des Denkens. Dann sollte man doch prinzipiell etwas über die "Entstehung" dieses Gegenstandes als Denkgegenstand im Rahmen einer Gegenstandstheorie oder Erkenntnistheorie aussagen können. Das heißt, wir sollten prinzipiell auch klären können, wie wir überhaupt zu einem Begriff des Denkens kommen. Dann müßten wir, vorausgesetzt wir stehen auf dem Boden der Steinerschen Erkenntniswissenschaft, diesen Begriff des Denkens anhand konkreter Erfahrungen des Denkens gewinnen. Wie machen wir das? In welchem Verhältnis steht unser Denk-Begriff zur Erfahrung des Denkens? Bei Herbert Witzenmann fehlt - nicht nur hier, wie wir noch sehen werden - indessen der Hinweis, daß das Denken den Charakter des "Rein Wahrnehmlichen" überhaupt haben kann, obwohl dies in Steiners "Grundlinien..." ausdrücklich so gesehen wird. Wir werden darauf noch zurückkommen. Wie dem auch sei: es läßt sich über all das anhand des Witzenmannschen Textes keine Klarheit gewinnen. Eine solche Klärung findet sich auch nicht in seiner Schrift "Die Voraussetzungslosigkeit der Anthroposophie", 68 die sich ja in ganz besonderer Weise den erkenntnistheoretischen Grundfragen zuwendet. Wir stoßen dort erneut auf dieselbe schon benannte und bekannte Sachlage. Wenn wir uns insbesondere auf S. 43 ff Witzenmanns Aussagen über die "Blickfähigkeit" des Denkens ansehen, finden wir nur philologisch ungesicherte Gedankengänge - von einer prüfbaren Bezugnahme auf Steinersche Textstellen keine Spur, und von einer Behandlung der Steinerschen Begründungen hinsichtlich der Unbeobachtbarkeit ist nichts zu sehen - auch nicht an anderen Stellen dieser Schrift. Und dieselbe Situation treffen wir an, wenn wir Witzenmanns spätere Schriften und Aufsätze zur Hand nehmen. In seinen späten Arbeiten wird Witzenmann in einem Punkte deutlich: jetzt ist immerhin das »aktuelle« Denken, wie von Steiner behauptet, nicht mehr beobachtbar, und darin unterscheidet er sich von anderen hier behandelten Autoren. Aber eines ist geblieben: eine explizite und eingehende Untersuchung der Steinerschen Begrifflichkeit und Argumentation gibt es nach wie vor nicht, so daß wir immer noch nicht wissen, was mit diesem Beobachten respektive der Unbeobachtbarkeit eigentlich bei Steiner gemeint ist und ob überhaupt eine Kongruenz besteht zwischen der von Witzenmann angenommenen Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens und der Steinerschen. Wir stehen somit vor der Frage: gründet die von Witzenmann angenommene Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens überhaupt in demselben Beobachtungsbegriff wie bei Steiner, oder meint er etwas anderes? Wir könnten das leicht herausfinden, wenn uns eine philologisch fundierte und detaillierte Textanalyse der Steinerschen Gedankengänge durch Witzenmann vorläge, aber eine solche Analyse gibt es nicht. Und so stößt man auf das oben schon geschilderte rätselhafte Vorgehen: in einer Untersuchung über das Beobachten des Denkens 69; an einer Stelle, die Steiners "Ausnahmezustand" ausdrücklich thematisiert; in einem Kapitel mit der Überschrift: "Die Rätselhaftigkeit der Aktion. Der Ausnahmezustand", wird Steiner mit seiner denkwürdigen Formulierung wörtlich zitiert - und dort wird ein zentrales Steinersches Argument bezüglich der Unbeobachtbarkeit, das erste von nur zwei überhaupt existierenden - das Spaltungsargument - wie ein überflüssiger Ballast aus dem Steinerschen Gedankengang buchstäblich hinausgeworfen. 70 Witzenmann sagt in der ganzen langen Arbeit nichts darüber, was Steiner "Beobachtung des Denkens" nennt und warum er der Ansicht ist, das gegenwärtige Denken sei nicht zu beobachten, sondern verrennt sich stattdessen in die - aus meiner Sicht absurde - "erkenntnistheoretische Grundfrage", "Wie aus Unbeobachtbarem Erinnerungen werden können?".
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