Studien zur Anthroposophie
Michael Muschalle
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Michael Muschalle
Rudolf Steiners Begriff der
Denk-Beobachtung
(Stand
12.07.01)
Kapitel 6.6.3
Witzenmann ersetzt Steiners Spaltungsargument durch
eine erinnerungstheoretische Erklärung und destruiert damit Steiners
Empirismus
Soviel zu diesem Kritikpunkt:
Witzenmanns Begriff der Beobachtung ist viel zu unausgereift und impliziert
nicht die fundamentale methodologische Unterscheidung zwischen "Erleben"
oder "Erfahren" eines Aktes und seiner "Beobachtung". Und auf der Grundlage
seines eigenen und viel zu undifferenzierten Beobachtungsbegriffes zieht
er außerordentlich weitreichende erkenntnistheoretische Folgerungen,
von denen die Steinersche Philosophie unmittelbar betroffen ist. Der andere
Punkt ist der, daß er sich mit Steiners Begriff der Denk-Beobachtung
auch nicht im Sinne einer Kongruenzprüfung beschäftigt. Er versucht
gar nicht erst auf der Grundlage einer philologischen Textanalyse herauszufinden,
was Steiner mit diesem Beobachten genauer meint und warum das Beobachten
des aktuellen Denkens für ihn nicht möglich ist, sondern will sofort
einen eigenen Beobachtungsbegriff entwickeln, in dem Glauben, das sei ausreichend
für dessen Anwendung auf Steiners Erkenntnistheorie. Infolgedessen entfernt
er auch Steiners fundamentales Spaltungsargument aus dem Zitat, weil er seinen
Sinn nicht nachvollziehen kann und ihm seine methodische Relevanz nicht greifbar
ist.
So kommentiert er (S. 346 f.) Steiners Aussage betreffend den Ausnahmezustand
und die Unmöglichkeit einer Beobachtung des aktuellen Denkens: "In diesen
Bemerkungen fällt der Begriff »Ausnahmezustand« auf, der hier
nur negativ als das Ungewohnte (gegenüber dem gewohnten Nichtbeobachteten)
charakterisiert zu sein scheint. Offenbar aber ist damit eine bestimmte in
einem Zeitintervall durchgeführte Betätigungsart gemeint. Der Blick
hierauf kann weiterführen. Denn es handelt sich dabei nicht um ein
unbefragtes und unbefragendes Betätigen, sondern um ein Beobachten,
welches diesem Betätigen als dem Befragten (in unserem Beispielfall
der Sprachhandlung und ihrem Inhalt) befragend zugewandt ist. Dies scheine
ich mir bereits verdeutlicht zu haben, sowie auch, daß, ebenso wie
beim Inhalt der Betätigung, auch von ihrem Akt keine Beobachtung ihres
gegenwärtigen Geschehens möglich sei, also kein unmittelbares und
originales, sondern nur ein mittelbares erinnernd repräsentierendes
Bewußtsein, - wobei sich bei diesem das Problem, wenn ich seiner
beobachtend inne werden will, von neuem zu stellen scheint. Durch den Hinweis
auf einen möglichen Ausnahmezustand erhält aber das Problem der
Beobachtung von Vollzügen (Akten) sowie deren Inhalten, die Frage nach
ihrer Vergewisserung ein spezifisches Interesse."
Hier ist von einer "Betätigungsart" im Ausnahmezustand die Rede. Und
was diese "Betätigungsart" sein soll, ist für Witzenmann
augenfällig ein Rätsel. Für Steiner war das ersichtlich kein
Problem, denn er sagt (GA-4, S. 43) klar und deutlich, um welche
"Betätigungsart" es sich hierbei handelt: um ein Nachdenken über
die Erfahrungen des Denkens. "Ich bin sogar in demselben Fall, wenn ich den
Ausnahmezustand eintreten lasse, und über mein Denken selbst nachdenke.
Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die
Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann
ich nachher zum Objekt des Denkens machen." Daß es sich bei diesem
Beobachten um ein Denken über Denk-Erfahrungen handelt, wie Steiners
Ausführungen im Zitat und nachfolgend dazu im dritten Kapitel klar zeigen
(z. B. "Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die
Tätigkeit, die sich auf ihn richtet."), fällt Witzenmann ersichtlich
nicht auf. Stattdessen sucht er etwas Fremdartiges und Hintergründiges,
was der Text nicht hergibt und was zu suchen auch gar nicht nötig gewesen
wäre, wenn er diesen Text nur ernst genommen hätte und dem
Spaltungsargument nachgegangen wäre, anstatt es hinauszuwerfen. Dann
hätte ihm vielleicht aufgehen können, daß zwar bei der
"Beobachtung" des Aktes nur ein "mittelbares erinnernd repräsentierendes
Bewußtsein" vom Geschehen vorliegt, nicht aber bei seiner unmittelbaren
"Erfahrung" .
Wenn man Witzenmanns erläuternde Worte zu Steiners Kennzeichnung des
Ausnahmezustandes liest, dann fragt man sich ernsthaft, was an den Steinerschen
Ausführungen eigentlich so schwierig ist, um sie in einer so
überspannten, um verborgenen Hintersinn sich bemühenden Art zu
kommentieren. Was hat ihn eigentlich daran gehindert, diese Gedanken erst
einmal textkritisch und handwerklich solide zu analysieren, anstatt ihnen
sogleich einen eigenen Beobachtungsbegriff entgegenzustellen, schon im voraus
Abgründiges darin zu suchen, und zuguterletzt auch noch Steiners wichtigstes
Argument zu entsorgen? Steiners Aussage hat weder von ihrer grammatikalischen
Struktur, noch von ihrem semantischen Gehalt her irgend etwas an sich, was
sie schwer zugänglich macht. Es gibt keinen Mangel an Eindeutigkeit.
Rein sprachlich ist sie geradezu simpel. Man braucht sie eigentlich nur
wörtlich zu nehmen. Wo also liegt der Grund dafür, daß Witzenmann
sich mit diesem Text so schwer tut und das Beste daran auch noch vorher
heraustrennen muß? Ich meine, es gibt dafür einen Grund: Witzenmann
hat sich schon einen Begriff von Denk-Beobachtung zurechtgelegt und der scheint
mit Steiners wörtlichen Ausführungen nicht kompatibel. Also schraubt
er so lange an Steiners Gedanken herum, bis sie zu den eigenen passen - zum
Beispiel durch Demontage von basalen Sinnträgern - anstatt die eigenen
so zu justieren, bis sie zu den Steinerschen passen. Es ist dasselbe
Verfahrensschema, das wir in dieser Arbeit schon bei anderen Autoren
kennengelernt haben.
Wie weit Witzenmann mit seinem Vorverständnis von Steiners Auffassung
entfernt ist, läßt sich daran ermessen, daß er Steiners
zentrales Spaltungsargument gar für irrelevant hält und es unbesehen
aus dem Gedankenzusammenhang streicht. So führt er den Leser (S. 346)
an den von Steiner so genannten "Ausnahmezustand" mit den Worten: "Kehren
wir dorthin zurück, daß wir den unmittelbar auftretenden Erfolg
oder Inhalt eines Vollziehens ... nicht beobachten können und daß
das gleiche notwendig auch für den ihm zugeordneten hervorbringenden
Akt gilt. Entsprechendes lesen wir in Rudolf Steiners »Philosophie der
Freiheit« in deren drittem Kapitel »Das Denken im Dienste der
Weltauffassung«." Witzenmann beruft sich hier auf Steiners explizites
Zeugnis, betreffend die Unbeobachtbarkeit von aktuellen Denkakten, um den
philosophischen Gehalt seiner eigenen Ansicht und ihre Übereinstimmung
mit der Steinerschen zu unterstreichen. Nun wäre es ja für den
Leser außerordentlich wichtig, etwas über den Kern dieses Steinerschen
Zeugnisses zu erfahren, um sich ein Urteil über die Berechtigung von
Witzenmanns Ansicht und ihre Kongruenz mit der Steinerschen zu bilden. Und
dazu müßte er etwas erfahren über die Begründung, die
Steiner für diesen Sachverhalt der Unbeobachtbarkeit anführt, denn
Steiners Zeugnis lebt inhaltlich von dessen Argumentation. Die These von
der Unbeobachtbarkeit allein mit dem entsprechenden Zusatz, das beobachtete
Denken sei stets ein vergangenes, ist allein ja kaum aussagefähig, sondern
verlangt eine sachliche Begründung warum das so ist, die von Steiner
auch an dieser Stelle in Form des Spaltungsargumentes gegeben wird. Aber
dieser begründende Kardinalpunkt der Steinerschen Aussage wird von
Witzenmann unter Verschluß gehalten - er überläßt dem
Leser nur eine unbegründete und damit ambivalente Hälfte des
Zeugnisses. Steiners argumentativ erläuternden Hinweis "Ich
müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die
denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn
ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht.
Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen."(GA-4, S.43) nimmt
Witzenmann dagegen aus dem Textverband heraus, und läßt lediglich
eine von diesem Zeitpunkt an mehrdeutige Rumpfaussage, die Unbeobachtbarkeit
des aktuellen Denkens betreffend, stehen, die jetzt, dehnbar wie sie damit
ist, auch in sein eigenes Interpretationsschema paßt.
Das um die Schlüsselsätze geminderte Steinerzitat hört sich
dann bei Witzenmann wie folgt an: "»Während ich denke, sehe ich
nicht auf mein Denken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt
(das durch die Wahrnehmung der Sinne vermittelte Gegenständnliche) des
Denkens, das ich nicht hervorbringe. Ich bin sogar in demselben Fall, wenn
ich den Ausnahmezustand eintreten lasse, und über mein Denken selbst
nachdenke. Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern
nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe,
kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. ... Das Denken, das beobachtet
werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein
anderes.«" (S. 346) Er kommentiert nachfolgend die fundamentalen
Steinerschen Sätze, aber erst, nachdem er zuvor ihren Begründungs-
und Erklärungsanteil exstirpiert, also eine elementar bedeutungstragende
Komponente beseitigt, und sie so um ihre wissenschaftlich-argumentative
Eindeutigkeit und Existenzfähigkeit gebracht hat. Das ist doch, wenn
man sich die Basalität und Entschiedenheit von Steiners Aussage vor
Augen hält, und angesichts der Tatsache, daß er seinen Gedankengang
hier auf dieses einzige Argument stützt, ein kolossaler Eingriff in
einen minuziös zusammengefügten Begründungs- und
Verständniszusammenhang. Mit welchem Recht und aus welchem Anlaß
erlaubt sich Witzenmann einen derart zerstörerischen Umgang mit einer
grundlegenden, sensiblen und fragilen Sinn-Einheit, deren Teilaussagen in
einer so engen wechselseitigen Abhängigkeitsbeziehung stehen? Was hier
stattfindet ist philosophisch etwas zutiefst Beunruhigendes und Folgenschweres:
Herbert Witzenmann ersetzt Steiners Argument nachfolgend durch eine eigene,
erinnerungstheoretische Erklärung, die mit Steiners Philosophie absolut
inkompatibel ist, und der von Steiner behaupteten Unbeobachtbarkeit des aktuellen
Denkens einen gänzlich anders gearteten Sinn gibt, als ihn Steiner damit
verbindet. Der Anlaß für dieses Witzenmannsche Vorgehen liegt
für mich darin, daß Steiners Spaltungsargument in seinem eigenen
Vorverständnis nicht vorgesehen ist, und nach seiner Auffassung auch
keine verständnisrelevante Funktion erfüllt.
Auch Herbert Witzenmann ist, ähnlich wie Wilfried Gabriel, einer
Lösung der Beobachtungsfrage sehr nahe, aber er sieht sie nicht, weil
sein eigenes Vorverständnis und die Vernachlässigung der Steinerschen
Überlegungen ihn daran hindert. Wenn er etwa über dieses Beobachten
schreibt: "... es handelt sich dabei nicht um ein unbefragtes und unbefragendes
Betätigen, sondern um ein Beobachten, welches diesem Betätigen
als dem Befragten (in unserem Beispielfall der Sprachhandlung und ihrem Inhalt)
befragend zugewandt ist" so müßte ihm eigentlich aufgehen, daß
das von ihm genannte "Befragen" des Aktes ein Denken ist, denn Fragen
können nur denkend gestellt werden. Und daraus ergibt sich zwingend,
daß ein solches Befragen des Aktes während des Aktes nicht
möglich ist, weil sich das Denken dann zweiteilen müßte -
das wäre eine Erklärung für das Spaltungsargument Steiners.
Aber Witzenmann hat sich durch sein Vorverständnis so sehr den Blick
für Steiners Sachaussagen verstellt, daß er sich weit jenseits
einer Einsicht dafür befindet, was Steiner meint, obwohl er die Lösung
schon in den Händen hält. Denn im Grunde genommen trifft sein Begriff
des "Befragens" ziemlich genau den Kern der Angelegenheit; es ist eine denkende
Tätigkeit, die sich auf das Denken richtet. Bei Steiner heißt
es: "Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit,
die sich auf ihn richtet. Und das ist wieder eine charakteristische
Eigentümlichkeit des Denkens. Wenn wir es zum Betrachtungsobjekt machen,
sehen wir uns nicht gezwungen, dies mit Hilfe eines Oualitativ-Verschiedenen
zu tun, sondern wir können in demselben Element verbleiben." (GA-4,
S. 48) Und daraus folgt ohne Wenn und Aber, daß die Beobachtung des
aktuellen Denkens eine Verdoppelung des Denkens mit sich bringen
müßte, was auch heißt: eine Persönlichkeitsspaltung.
Weil Witzenmann überdies die Unterscheidung zwischen »unmittelbarer
Erfahrung« des Denkens und »Beobachtung des Denkens« bei seinem
zugrundegelegten Beobachtungsbegriff nicht trifft, erkennt er auch die Folgen
nicht - notwendige Verdoppelung des Denkens und Spaltung der Persönlichkeit
bei Beobachtung des aktuellen Denkens - die seine eigene Charakterisierung
der Beobachtung als "Befragung" eigentlich haben müßte.
So führt die mangelhafte Auseinandersetzung mit Steinerschen Gedanken
und Argumenten bei Witzenmann zu einem entgegengesetzten Resultat wie etwa
bei Wilfried Gabriel und Peter Schneider. Während Schneider und Gabriel
infolge dieser Vernachlässigung versuchen, in Opposition zu Steiners
Auffassung den Nachweis einer Beobachtbarkeit des aktuellen Denkens zu erbringen,
führt dieselbe Vernachlässigung bei Herbert Witzenmann ebenfalls
auf einen Antagonismus zu Steiners Ansicht. Sie führt de facto zur
Behauptung seiner aktuellen Nichterfahrbarkeit und zur Entwurzelung der gesamten
Steinerschen Erkenntnistheorie.
Ende Kapitel
6.6.3
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