Studien zur Anthroposophie
Michael Muschalle
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Michael Muschalle
Rudolf Steiners Philosophie der
Freiheit.
Eine Einführung
(Stand 18.11.06)
Statt einer Vorbemerkung:
Rudolf Steiner über die Wahl des Mottos
seiner Philosophie der Freiheit in der Zweitausgabe von 1918:
"seelische Beobachtungsresultate nach
naturwissenschaftlicher Methode"
"Gestern erlaubte ich mir darauf hinzuweisen, wie ich dasjenige, was ich
in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegen die
agnostische Gesinnung zu formulieren versuchte, aus den Quellen
anthroposophischer Weltanschauung 1893 niedergelegt habe in meiner
«Philosophie der Freiheit». Diese «Philosophie der Freiheit»
trägt auf ihrem Titelblatt das Motto: «Seelische Beobachtungsresultate
nach naturwissenschaftlicher Methode.» Zunächst war dieses Motto
gerichtet gegen eine Weltanschauungsrichtung, die ich bis zu einem gewissen
Grade außerordentlich verehrte: gegen die Weltanschauungsrichtung Eduard
von Hartmanns, dessen «Philosophie des Unbewußten» das Motto
trug: «Spekulative Resultate nach induktiv-naturwissenschaftlicher
Methode.»
«Spekulative Resultate», das war etwas, was mir im Grunde zu
widerstreben schien dem eigentlichsten Sinn wirklicher Geistes- und
Menschenerkenntnis, denn unter spekulativen Resultaten, spekulativen Denkinhalten
kann man nur das verstehen, was sich dann ergibt, wenn man durch eine abstrakte
Logik aus dem, was man wahrnimmt, schließt auf irgend etwas nicht
Wahrnehmbares, wenn man also durch Schlußfolgerung gewissermaßen
rekurriert nach einem Unbekannten hin, das eben nur durch Denkfolgerungen,
nicht durch Wahrnehmung erreichbar sein soll.
Gegen diese ganze Denkweise mußte ich geltend machen, daß restlos
dasjenige, was für den Menschen Erkenntnis und Lebensinhalt in jeder
Richtung sein soll, in irgendeiner Weise unmittelbar in die Beobachtung,
in die Wahrnehmung auch eintreten müsse. Gerade so, wie
äußerliche naturwissenschaftliche Tatsachen sich vor das
Bewußtsein hinstellen und beobachtet werden können, so müssen
auch seelisch-geistige Inhalte vor das Bewußtsein hintreten und dadurch
der Beobachtung zugänglich sein. Denn könnte man nicht dahin gelangen,
alles dasjenige, was in irgendeiner Hinsicht den Menschen gerade in bezug
auf sein tiefstes Inneres angeht, auch in sein Bewußtsein hereinzubringen,
dann müßte man annehmen, der Mensch werde gelenkt und geleitet
an Fäden aus unbekannten Welten herein, aus Welten, die man höchstens
im abstrakten Denken erschließen, die man aber niemals erleben kann.
Wer aber das Phänomen der Freiheit, das Erlebnis der Freiheit im vollen
Sinne des Wortes unmittelbar in seinem Bewußtsein trägt, der kann
nicht anders, als metaphysische Resultate in dem Sinne, wie ich das angedeutet
habe, abweisen; er muß streben, als Beobachtungsresultate, als
möglichen gegenwärtigen Seeleninhalt dasjenige zu haben, was auf
ihn gerade in bezug auf sein intimstes Wesen Einfluß haben kann.
Freiheitsphilosophie erschien mir unzertrennlich von demjenigen, was
ausgesprochen werden kann in dem Satze: «Seelische Beobachtungs-Resultate
nach naturwissenschaftlicher Methode», das heißt, die
Beobachtungsmethode, auf die die Naturwissenschaft gelernt hatte zu halten,
müßte auch auf das ausgedehnt werden, was Inhalt des geistigen
Lebens für den Menschen werden soll."
Gesamtausgabe Bd 78, Dornach 1968, Vortrag vom 31. August 1921, S. 46 ff
(Bemerkung MM: In der Erstausgabe von 1894 lautete dieses Motto
"Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode")
Kapitel 1
Der Mensch ein biologischer
Automat?
In einem Interview mit dem Wissenschaftsmagazin
Spektrum der Wissenschaft (2/2001; S. 72 ff) skizziert der Neurobiologe Prof.
Dr. Wolf Singer, Direktor am Max Planck Institut für Hinforschung, ein
seltsam ambivalentes Bild des menschlichen Handelns. Aus der Sicht seiner
persönlichen inneren Erfahrung empfindet der Mensch viele seiner Handlungen
als frei, während ihm die Naturwissenschaft erklären muß,
dass aus ihrer Sicht gesehen sein Handeln vollständig durch die materiellen
Vorgänge seines Gehirnes festgelegt ist. Auf die Frage, wie real die
vom Menschen erlebte Freiheit denn sei, antwortet Singer auf S. 75: "Sie
ist als Erfahrung real. Ich habe beispielsweise jetzt das Gefühl, dass
ich auch aufstehen könnte. Ich tue es aber aus bestimmten Gründen
nicht. Beim freien Willen ist es doch so, dass wohl fast alle Menschen unseres
Kulturkreises die Erfahrung teilen, wir hätten ihn. Solcher Konsens
gilt im allgemeinen als hinreichend, einen Sachverhalt als zutreffend zu
beurteilen. Genauso zutreffend ist aber die konsensfähige Feststellung
der Neurobiologen, dass alle Prozesse im Gehirn deterministisch sind und
Ursache für eine jegliche Handlung der unmittelbar vorangehende
Gesamtzustand des Gehirns ist. Falls es darüber hinaus noch Einflüsse
des Zufalls gibt, etwa durch thermisches Rauschen, dann wird die folgende
Handlung etwas unbestimmter, aber dadurch noch nicht dem »freien
Willen« unterworfen."
Singer zeichnet damit ein echtes Dilemma des modernen Menschen: Glaubt er
den Aussagen der Naturwissenschaften, dann sind seine sämtlichen Handlungen
dem Naturgesetz der Kausalität unterworfen. Was er auch unternimmt,
ob er sein weinendes Kind tröstet, oder es prügelt, ob er seiner
Frau Blumen schenkt, oder sie betrügt, ob er seinen Nachbarn im Streit
beleidigt oder für ihn den Schnee räumt, ob er hundert Mark für
eine gute Sache spendet oder hundert Mark stiehlt, ein Musikstück
komponiert, diffizilen mathematischen Problemen nachgeht oder sich betrunken
in sein Auto setzt: er tut es nicht, weil er es tun will, sondern weil er
es tun muß. Für alles was sich ereignet gibt es lückenlose
Kette ursächlicher Gründe, die eine Geschehensfolge, auch die von
Handlungen, vollständig bis in die Details festlegen. Der Inhalt der
einzelnen Handlung und die jeweilige Motivationslage ist im Prinzip für
den kausalen Standpunkt irrelevant. Wer also meint, er sei frei, dann deswegen,
weil er die subtilen Zusammenhänge der hirnphysiologischen Verursachung
nicht durchschaut.
Der Mensch wäre demnach ein raffinierter biologischer Automat, der in
sich die Gaukelei eines freien Handelns generiert. Irgendwann erfand die
Evolution das Schattentheater des freien Willens, und zwar so erfolgreich,
daß die Menschen noch heute daran glauben. Das vermeintlich freie Wollen
ist jedoch in Wirklichkeit ein Müssen, weil es die somatischen Bedingungen
des Gehirns so bestimmen.
Diese Sicht der modernen Hirnforschung ist weder neu noch originell. Als
Paradigma beherrscht sie mit immer denselben Argumenten seit mindestens
einhundertfünfzig Jahren - als philosophische Denkfigur allerdings
wesentlich länger - die Vorstellungswelt naturwissenschaftlich
geprägter Denker. Ausgereifter ist allenfalls die methodische Verfeinerung,
mit der heutzutage Hirnphysiologie und Neurobiologie operieren. Das von Singer
formulierte Freiheitsproblem ist von seiner gedanklichen Struktur her schon
lange geläufig und - vorausgesetzt die Naturwissenschaft befinde sich
im Recht - in seiner Konsequenz unausweichlich: Materielle Vorgänge,
und mögen sie noch so subtil und komplex sein, verlaufen deterministisch,
wenngleich nicht immer berechenbar. In einer deterministischen Welt ist das
Gesamtgeschehen notwendig festgelegt. Auch der mancherorts beschworene Zufall
oder das "thermische Rauschen" erlauben von dieser Regel keine Ausnahme.
Auch sie selbst und die von ihnen angestoßenen Vorgänge verlaufen
streng nach Kausalität. Unerwartete oder wirkungsarme
Einflußgrößen machen einen Prozeß nur unbestimmter
und für den Beobachter weniger vorhersagbar, eröffnen aber der
Freiheit des Handelns keine Spielräume. Ist also das Gehirn der Erzeuger
und Unterhalter all unseres Tuns, dann ist freies Handeln eine freundliche
Illusion.
Eines allerdings gibt der Hirnforscher auf S. 72 zu bedenken: Seine Disziplin
leidet an einem Problem der Unvereinbarkeit von Beschreibungsebenen: In seinem
Objekt, dem Gehirn, findet er weder sinnhafte Zuschreibungen noch Wertesysteme
oder erlebte kulturelle und soziale Realitäten. Diese existieren aber
ohne Zweifel, wie Singer bestätigt, nicht nur in ihm selbst sondern
auch in allen anderen menschlichen Subjekten. Zwischen der Erlebensebene
des einzelnen Individuums und der Beschreibungsebene der Hirnphysiologie
scheint es, abgesehen von Hypothesen und Vermutungen, nichts Vermittelndes
zu geben.
Ende Kapitel
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