Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Der Verfall der introspektiven Psychologie und das Methodenproblem der Anthroposophie

(Stand 12.07.01)

Kapitel 1

Der Exodus der introspektiven Psychologie

Die moderne, empirische Psychologie ist noch sehr jung. Trotz oder infolge ihrer Jugend hat sie eine Entwicklung genommen, die wir von Seiten der Anthroposophie mit Aufmerksamkeit bedenken sollten. Ich meine damit insbesondere die Tatsache, daß wesentliche Teilbereiche dieser Seelenwissenschaft, die in der ersten Phase ihrer Verbreitung noch zu den bestimmenden gehörten, inzwischen fast gänzlich von der akademischen Bildfläche verschwunden sind oder allenfalls noch ein Nischendasein führen, das weit entfernt ist von jener Bedeutung, die ihnen um die Jahrhundertwende beigemessen wurde. Der weitgehende Exodus jener Sparte der Psychologie, die man die Psychologie der Selbstbeobachtung, der inneren Beobachtung, oder, um einen Terminus technicus zu verwenden introspektive Psychologie nennen kann, ist ein Lehrstück dafür, wie eine wissenschaftliche Disziplin nach hoffnungsvollem Beginn an ihren methodischen Problemen weitgehend zugrunde gehen kann.

Gemessen an der Höhe der Erwartungen ist die Ernüchterung bei kaum einer wissenschaftlichen Disziplin bislang so gründlich gewesen wie im Falle der neuzeitlichen Psychologie. Franz Brentano nennt sie 1874 eine Wissenschaft, "der vor allen anderen theoretischen Wissenschaften die Zukunft gehört, die mehr als alle die Zukunft gestalten, und der alle in ihrer praktischen Verwendung sich in Zukunft unterordnen und dienen werden."1 Brentano knüpft diesen Anspruch auch und vor allem an das "besondere und unvergleichliche Interesse, welches ihr eigen ist, insofern sie uns über unsere Unsterblichkeit belehrt..." Der Psychologie fällt nach seiner Auffassung "die Frage über die Hoffnung auf ein Jenseits und auf die Teilnahme an einem vollendeten Weltzustande zu." 2

Brentanos Erwartungen haben sich bis jetzt nicht erfüllt, im Gegenteil: den Begriff der Seele läßt die heutige Psychologie entweder von Historikern verwalten oder sie hat ihn an Theologie und Metaphysik zurückgereicht mit dem Vermerk, sie treibe nur seriöse Forschung und Spekulation sei ihre Sache nicht. Für Fragen des Bewußtseins fühlen sich heute eher Computerwissenschaft, K-I-Forschung und Neurobiologie - mitunter gar die Quantenphysik - zuständig, die Psychologie eher nicht.3 Die von Brentano favorisierte Psychologie der "inneren Erfahrung" ist seit den 30er Jahren zunehmend und heute fast vollständig von der akademischen Bildfläche verschwunden. Dort, wo sich Spielarten einer solchen Psychologie im außerakademischen Rahmen erhalten haben wie in der Freudschen Psychoanalyse, wird deren Wertschätzung von namhaften Wissenschaftsphilosophen jener der Astrologie gleichgesetzt. 4

Veranschlagen wir das Lebensalter der modernen empirischen Psychologie auf ein reichliches Jahrhundert, dann hat die introspektive Psychologie nicht einmal die Hälfte dieser Zeit überlebt, jedenfalls ist es seit mehr als 50 Jahren still geworden um sie, obwohl sie in der früheren Phase dieser hundertjährigen Ära zunächst federführend war.5 Zwar wird seit den 80er Jahren zunehmend der Ruf nach einer Wiederbelebung der Introspektion laut, 6 insgesamt aber kann man sie vorerst als erledigt bezeichnen und was gegenwärtig unter dem Stichwort "Selbstbeobachtung" in der Psychologie erscheint, "deckt sich kaum noch mit der systematischen Selbstbeobachtung in der Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts." 7 Dort, wo weiterhin auf introspektive Befunde zurückgegriffen wird, wie in der kognitiven Psychologie, geschieht dies nicht ohne eingehende Rechtfertigungen und zusätzliche Absicherung durch "öffentliche Daten" - man könnte das Mißtrauen gegenüber dieser Forschungsrichtung kaum besser dokumentieren. 8

Ende Kapitel 1            


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