Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


Ende zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home

Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 29.11.03)

Kapitel 1

Philosophische Konsequenzen einer Gleichsetzung von Denk-Beobachtung und Denk-Erfahrung.

Es ist im Zusammenhang mit der "Philosophie der Freiheit" allerlei über die Frage gesagt und geschrieben worden, ob wir imstande seien, unser aktuelles Denken zu beobachten oder auch nicht. Rudolf Steiner hat im dritten Kapitel dieser Schrift die in mancher Hinsicht rätselhafte Bemerkung gemacht, das aktuelle Denken sei niemals direkt während des Prozesses sondern nur aus der Retrospektive beobachtbar: "Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. Ich müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen. Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes." sagt er dort.1 Zur Begründung seiner Aussage bringt Rudolf Steiner zwei Argumente vor, die ich im Laufe dieser Arbeit unter dem Titel "Gegebenheitsbedingung der Beobachtung" und "Reflexionsbedingung der Denk-Beobachtung" untersuchen werde und ein wesentliches Ziel dieses Aufsatzes wird darin bestehen, die nähere Natur dieser zwei Bedingungen freizulegen, sowie ihre Folgen für unser Verständnis von Steiners Begriff der Denk-Beobachtung im speziellen und für einige wissenschaftsphilosophische Fragestellungen im allgemeinen zu beleuchten. Bevor ich aber darauf zu sprechen komme, möchte ich kurz darlegen, wieso man angesichts des dritten Kapitels der "Philosophie der Freiheit" von einer "Beobachtungsaporie" 2 sprechen kann und warum es mir nötig scheint sie aufzulösen.

Von einer "Beobachtungsaporie" im dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit" kann man sprechen, weil sich aus Steiners Darstellung der Eindruck ergeben kann, das Denken sei einerseits beobachtbar und andererseits wiederum nicht. Wie wir wissen, ist für Steiner die Beobachtung des Denkens das gewichtigste erkenntnistheoretische Faktum überhaupt. Auf S. 46 der "Philosophie der Freiheit" wird mit großem Nachdruck die Bedeutung dieser Beobachtungsmöglichkeit ausgesprochen, an deren rein praktischer Realisierbarkeit Steiner keinen Anlaß zum Zweifel läßt. Sie ist, obgleich bedeutend - aus der lapidaren Kürze der Steinerschen Wortwahl zu schließen - doch an sich nichts Außergewöhnliches, nicht etwa eine hochtrainierte Hellseherfähigkeit, sondern für jedermann bei einigermaßen gutem Willen zu haben: "Für jeden aber, der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten - und bei gutem Willen hat sie jeder normal organisierte Mensch -, ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann." Mit der Beobachtung des Denkens verfügen wir gleichsam über den Archimedischen Hebel der Weltbetrachtung, wie Steiner uns auf S. 51 wissen läßt: "Als Archimedes den Hebel erfunden hatte, da glaubte er mit seiner Hilfe den ganzen Kosmos aus den Angeln heben zu können, wenn er nur einen Punkt fände, wo er sein Instrument aufstützen könnte. Er brauchte etwas, was durch sich selbst, nicht durch anderes getragen wird. Im Denken haben wir ein Prinzip, das durch sich selbst besteht. Von hier aus sei es versucht, die Welt zu begreifen. Das Denken können wir durch es selbst erfassen."

Diesen Erklärungen hinsichtlich der Möglichkeit und der philosophischen Tragweite der Denk-Beobachtung scheint das eingangs erwähnte Zitat nicht ganz zu entsprechen, wenn Steiner dort unter Hinweis auf die Persönlichkeitsspaltung die Beobachtung des aktuellen Denkens kategorisch ausschließt. Auf der einen Seite soll die Beobachtung des Denkens die wichtigste sein, die wir überhaupt machen können und auf der anderen Seite scheint sie ausgeschlossen zu sein. Diese eigenartig kontrastierenden Aussagen Steiners innerhalb nur weniger Seiten desselben Kapitels der "Philosophie der Freiheit" kann man als "Beobachtungs-Aporie" bezeichnen.

Der Steinersche Hinweis auf die Persönlichkeitsspaltung ist eingebunden in eine Beobachtungsbeschränkung: wie wir dem Zitat entnehmen können engt Rudolf Steiner die Möglichkeit einer Beobachtung des Denkens auf vergangene Denkaktionen ein, und diese Restriktion kann die Frage evozieren, auf welchem Wege wir uns denn an ein Unbeobachtbares erinnern können sollten, wie sie Herbert Witzenmann im Anschluß an das eben erwähnte Steinerzitat und im Zusammenhang mit der Erinnerungsproblematik gestellt hat. 3

Karl Martin Dietz hat auf die Vermutung hingewiesen, daß der Steinersche Beobachtungsbegriff sich im Laufe des dritten Kapitels der »Philosophie der Freiheit« auf eine nicht widersprüchliche Weise verändere, führt das aber dort nicht näher aus 4 und Peter Schneider begegnet der Beobachtungsfrage zunächst durch eine Unterscheidung zwischen dem »Erleben« des Denkens und seiner »Beobachtung«: "Daß wir das Denken nicht wie einen Gegenstand beobachten können, solange es im Aktualzustand ist, kann nicht bestritten werden." schreibt Schneider. "Daß es aber deshalb in keiner Weise in seinem Aktualzustand erlebbar sei, kann daraus nicht geschlossen werden, denn dieses Erleben hat jeder, der sich seiner Denktätigkeit, wenn auch noch so undifferenziert, bewußt ist. Gerade deshalb, weil wir beide Erlebnisformen kennen, die der Aktualität und die der bloßen Faktizität in bezug auf die Denktätigkeit, erfahren wir eine Grenze." 5

Dieser nach meiner Auffassung zunächst plausible, weil in der Erfahrung nachvollziehbare Befund führt darauf, daß eine begriffliche Differenzierung vorzunehmen ist zwischen dem "unmittelbaren Erfahren" oder "Erleben" und dem "Beobachten" des Denkens. Für dieses Vorgehen spricht nicht nur die persönliche Erfahrung mit dem eigenen Denkprozeß sondern auch der Umstand, daß man mit Steiners Philosophie unversehens in unauflösbaren und buchstäblich vernichtenden Widersprüchen endet, wenn man eine solche Unterscheidung dort nicht trifft.

Diese zeigen sich, wenn wir uns einmal probeweise auf die Position stellen, die Beobachtung und die unmittelbare Erfahrung des aktuellen Denkens seien weitgehend dasselbe. Gesetzt also diesen Fall, der von Steiner verwendete Beobachtungsbegriff wäre dem Begriff der "unmittelbaren Erfahrung" insoweit entsprechend, daß Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens gleichbedeutend wäre mit seiner aktuellen Nichterfahrbarkeit, so stünden wir vor einem schwerwiegenden Dilemma: es müßte dann die Grundlegung der Steinerschen Philosophie auf einem Faktum aufbauen, das wir in seiner Bewußtseinsunmittelbarkeit nicht erfahren und zeitlich nicht erreichen könnten. Das Denken wäre uns dann lediglich in Form von Fußspuren zugänglich, die - man weiß nicht wie - sich in unsere Erinnerung eingegraben haben sollten, wobei dem Vorgang der Erinnerungsbildung keinerlei Wahrnehmung entspräche. Wir würden folglich etwas erinnern, das wir gar nicht wahrgenommen hätten und das auch prinzipiell unserer direkten Wahrnehmung - zumindest im Rahmen unserer erkenntnistheoretischen Bemühungen - verschlossen bliebe und und somit in dieser Hinsicht so etwas wie ein Steinersches Analogon zu Kants unzugänglichem Ding an sich wäre - ein hypothetischer und unerfahrbarer Erklärungsgrund unseres Weltzuganges. Es bliebe uns dann wohl kaum etwas anderes zu tun, als Eduard von Hartmann beizupflichten, wenn er Steiner vorhält, man beobachte nur die Ergebnisse einer nicht bewußten Tätigkeit, die dem Denken zugrunde liegt, was doch von Steiner ganz entschieden zurückgewiesen wird. 6

Auf eine solche unbewußte und unwahrnehmbare Tätigkeit könnten wir bestenfalls auf dem Wege von Folgerungen zurückschließen und sie höchstens mit dem Status eines nicht erfahrbaren, aber logisch sinnvollen und vielleicht auch denknotwendigen, quasi metaphysischen Konstrukts ausstatten. Es wäre indessen kaum vorzustellen wie man im Steinerschen Sinne auf einem metaphysischen Konstrukt eine ganze Weltanschauung sollte gründen können, wo er doch mit unermüdlicher Ausdauer darauf hinweist, daß ein grundlegendes Erklärungsprinzip der Wirklichkeit nicht anders als auf dem Wege der Erfahrung gewonnen werden dürfe.

Die Gleichsetzung von »Beobachtung des Denkens« mit »Erfahrung des Denkens« oder »Erleben des Denkens« zieht also einen diametralen Gegensatz nach sich zwischen Steiners empiristischer Grundforderung nach einem Erfahrungsprinzip des Erkennens und ihrer faktischen Einlösung. Mit anderen Worten: wenn wir Steiners Begriff von »Beobachten« und »Erfahren« hinsichtlich des aktuellen Denkens auf eine Stufe stellen, dann münden wir notwendig in die Frage ein, wie aus Unbeobachtbarem Erinnerungen werden können, mit verheerenden Konsequenzen für den empiristischen Kerngedanken der Steinerschen Philosophie.

Nun ist eine Infragestellung des empiristischen Kernes einer Philosophie an sich nichts Illegitimes. Auch Steiners Philosophie muß sich eine kritische Überprüfung gefallen lassen, und wenn sich bei näherem Hinsehen herausstellen sollte, daß es um die Empirie nicht ganz so bestellt ist wie ihr Begründer meinte, weil er vielleicht Wichtiges übersehen hat, dann gibt es keinen vernüftigen Grund, warum man das nicht akzeptieren sollte. Nun hängt aber im vorliegenden Fall unser Überprüfungsversuch vom Verständnis des Steinerschen Begriffes von "Denk-Beobachtung" ab, und da dieser sich durch eine gewisse Dunkelheit auszeichnet, wäre es sicherlich angemessen, sich zunächst um die Aufhellung dieser Dunkelheit zu bemühen, bevor man die radikalsten Kosequenzen zieht. Auch das ist legitim und in jeder Hinsicht als das logisch und pragmatisch Primäre anzusehen. Bevor wir also Steiners Philosophie um einen womöglich mißverstandenen Beobachtungsbegriff rotieren lassen, wäre zuvor nachzusehen, ob sich dieser Beobachtungsbegriff nicht theorieimmanent klären und dem Rest der Philosophie stringent einfügen läßt.

Ehe wir uns also mit dem Rätsel plagen, auf welch geheimnisvollen Wegen uns ein Unwahrnehmbares zur Erinnerung werden könnte, scheint es mir angebracht, zu überlegen, ob nicht Steiner den Begriff der "Denk-Beobachtung" an der fraglichen Stelle der "Philosophie der Freiheit" in einem sehr spezifischen Sinne verwendet, der eine vorangehende Wahrnehmung des Denkens nicht ausschließt. Anders gesagt: das aktuelle Denken wäre dann zwar nicht beobachtbar in einem engeren methodologischen Sinn, wohl aber wahrnehmbar oder erlebbar, wie Peter Schneider meint. Entsprechend heißt es hierzu auch bei Rudolf Steiner, daß wir unsere Erfahrungen, die wir über unseren Denkprozeß gemacht haben, hinterher zum Objekt des Denkens machen. 7 Und wenn Steiner vortragsweise 1921 (GA-78, 1968, S. 42) erklärt, ein Fazit wie jenes aus dem dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit: "Es ist also zweifellos: in dem Denken halten wir das Weltgeschehen an einem Zipfel, wo wir dabei sein müssen, wenn etwas zustandekommen soll" sei aus dem "vollen Erleben dieser Aktivität des Denkens" heraus entstanden, dann kann das Erleben des gegenwärtigen Denkens nicht dasselbe sein wie seine Beobachtung. Denn das Erleben der eigenen denkerischen Aktivität kann unmöglich aus der Vergangenheit heraus stattfinden. Von dort her läßt sich nur mittelbar auf sie schließen. Erlebt werden kann sie  dagegen nur, indem sie sich vollzieht - d. h. in der Gegenwart. Es müssen demnach Erfahrungen oder Erlebnisse im Zusammenhang mit dem aktuellen Denkprozeß vorliegen und erst anhand dieser können dann die eigentlichen Beobachtungen angestellt werden.

Ende Kapitel 1


Top zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home