Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


Ende   zurück   vorwärts    Inhalt     Anmerkung      Gesamtinhalt   Home

Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 11

Denk-Erfahrung und Theorie der Basissätze

Ein besonderes Charakteristikum der unmittelbaren Denk-Erfahrung gilt es jetzt festzuhalten, denn das ist für wissenschaftsphilosophische Fragestellungen außerordentlich bedeutsam: sie bewahrt ihre Eigenschaft als "begriffslose" Erfahrung auch dann, wenn wir längst über einen Begriff des Denkens verfügen. Sie ist also nicht nur begriffslos, solange wir nichts vom Denken wissen, sondern sie bleibt es auch dann, wenn wir sie gezielt auf der Grundlage einer Denktheorie aufsuchen. Dieser Sachverhalt ergibt sich direkt aus dem Faktum der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens, und zwar nicht nur als logische Schlußfolgerung daraus, sondern auch als Erfahrungstatsache. Warum das so ist soll jetzt näher erläutert werden.

Wenn die Wissenschaft des Denkens, wie Steiner sagt, in der Beschreibung des Denkens besteht und diese Beschreibung auf dem Wege der Beobachtung stattfindet, dann bilden wir auf dem Wege der Beobachtung unseren Begriff vom Denken und wenn wir das ausführlicher tun, dann können wir das Beobachtungsresultat auch eine Theorie des Denkens nennen. Weil die Beobachtung des Denkens nun sowohl der »empirischen Gegebenheitsbedingung der Beobachtung« wie der »Reflexionsbedingung der Denk-Beobachtung« unterliegt, ich also das im Denken Selbst-Gegebene erst beobachten kann, nachdem es gegeben ist, und ich darüber hinaus keine doppelte Denkrichtung einschlagen kann, deswegen ist die unmittelbare Denk-Erfahrung die einzige Erfahrung, die uns tatsächlich »theoriefrei« bzw. »begriffsfrei« gegeben werden kann und auch gegeben werden muß, weil wir, unmittelbar während wir sie haben, gar keine Theorie bzw. keinen Begriff darauf anwenden können und zwar aus prinzipiellen Gründen nicht.

Man kann sich das anhand der vorhin vorgeschlagenen beiden Selbstversuche leicht selbst demonstrieren. Wir könnten die unmittelbare Denk-Erfahrung nur dann theoretisch befrachten, wenn wir imstande wären, unser aktuelles Denken zu beobachten, das heißt, wenn wir während des Denkens über eben dieses Denken in einem dazu parallel verlaufenden Denkprozeß nachdenken könnten, und es infolgedessen schon während seiner Hervorbringung durch eine bestimmte theoretische Brille sehen beziehungsweise wahrnehmen könnten, so, wie man beispielsweise die Zeichen auf einer Buchseite sofort als Buchstaben schon wahrnimmt und sie durch den Begriff "Buchstabe" erfaßt, ohne lange darüber nachzudenken, ob der auch angemessen ist. Und eben das ist gegenüber der unmittelbaren Denk-Erfahrung ausgeschlossen, weil das Denken mit dem Schaffen seiner Inhalte und nicht mit einer Bestimmung des Wesens oder von Eigenarten dieses momentanen Prozesses befaßt ist. Die Bestimmung der Handlungsart kann immer erst im Nachhinein vollzogen werden, denn sie verlangt notwendig zwei Denkakte, egal welche Theorie des Denkens ich auch haben mag. Das Portal vor der aktuellen Beobachtung ist mit einem unzerstörbaren zweifachen Riegel versehen: ich kann erstens mein Denken nur beobachten, wenn es schon gegeben ist, und ich kann zweitens mein Denken nicht verdoppeln. Und daraus folgt: die unmittelbare Denk-Erfahrung ist gegenüber theoretischer Befrachtung und zwar auch gegenüber ihrer genetischen Variante resistent.

In "Wahrheit und Wissenschaft" schreibt Rudolf Steiner: "Die Grenze zwischen Gegebenem und Erkanntem wird überhaupt mit keinem Augenblicke der menschlichen Entwicklung zusammenfallen, sondern sie muß künstlich gezogen werden. Dies aber kann auf jeder Entwicklungsstufe geschehen, wenn wir nur den Schnitt zwischen dem, was ohne gedankliche Bestimmung vor dem Erkennen an uns herantritt, und dem, was durch letzteres erst daraus gemacht wird, richtig führen." 119 Gegenüber der unmittelbaren Denk-Erfahrung sind wir der Notwendigkeit einer künstlichen Grenzziehung mit all ihren epistemologischen Unwägbarkeiten enthoben, weil eine "natürliche" Barriere existiert, die nicht zu überwinden ist.

Wer sich mit dem Basissatz-Problem in den empirischen Wissenschaften, etwa bei Carnap, Popper oder Kuhn auseinandergesetzt hat, der wird wahrscheinlich wissen, daß das zentrale Dilemma bei diesen Konzeptionen darin liegt, daß gegenüber herkömmlichen empirischen Beobachtungen keine wirklich theoriefreien Basissätze formulierbar sind. Der nähere Grund dafür liegt in der Antinomie einer theoriefreien Sprache. Der tiefere Anlaß aber liegt darin, daß die von Sprache bezeichneten Wahrnehmungsgegebenheiten immer schon vom Denken erfaßt sein müssen. Der Gegenstand ist als Wahrnehmungsgegenstand immer schon vom Denken vorstrukturiert, darin stimme ich Herbert Witzenmann vollkommen zu. Infolgedessen ist das, was die Sprache in den Basissätzen leistet, die symbolische Repräsentation von gedanklichen Vorleistungen. Die gedanklich unstrukturierte herkömmliche Sinnes-Wahrnehmung ist eine leere Wahrnehmung. Wenn wir also etwas als Gegenstand wahrnehmen, dann enthält die Wahrnehmung stets die genetische oder aktuelle strukturbildende Aufbauleistung des Denkens und das ist eine interpretative oder deutende Aufbauleistung. Das Wahrgenommene wird immer als etwas Bestimmtes wahrgenommen. Wenn wir dieses Wahrnehmungsurteil dann in Form eines Basissatzes formulieren, dann bezieht sich unser Basissatz nicht auf ein theoriefrei Gegebenes sondern auf ein theoriebeladenes Gegebenes. Die Ausgangserfahrung, auf die sich der Basissatz bezieht, ist keine "reine Erfahrung" im strengen Sinne mehr, sondern bereits mehr oder weniger begrifflich bestimmt und die impliziten Theorien dieser Erfahrung haben einen mehr oder weniger fragwürdigen Status. Das ist das Problem der Basissätze, das von Kuhn geradezu händeringend charakterisiert wird. 120

Eduard von Hartmann hat seinerzeit in ähnlicher Weise wie Rudolf Steiner auf den positivistischen Anspruch reagiert, bei der reinen Erfahrung stehen zu bleiben. Wenn wir das täten, so Hartmann, dann müßten wir überhaupt auf jede Erfahrung verzichten, denn die sogenannte "reine Erfahrung" ist eine Fiktion. Das was oft für eine gedankenfreie Erfahrung gehalten wird, ist nämlich in vielfältiger Weise von nicht (mehr) bewußten gedanklichen Zutaten durchsetzt, immer schon irgendwie begrifflich vorstrukturiert. So schreibt er: "Wir haben schon oben gesehen, dass alles, was man im gewöhnlichen Leben Erfahrung nennt, ein äusserst komplicirtes Gewebe von Empfindungen und intellektueller Verarbeitung der Empfindungen und ihrer Verarbeitungsergebnisse ist. Diese Intellektualfunktionen, welche aus den Empfindungen erst Anschauungen, Wahrnehmungsobjekte, Dinge und Welt aufbauen, vollziehen sich theils bewusst, theils unbewusst; die Grenze zwischen den bewussten und unbewussten Intellektualfunktionen ist aber flüssig und bis auf ein gewisses Maass durch die Aufmerksamkeit verschiebbar, kann also keinenfalls dazu gebraucht werden, um Erfahrung und Denken zu scheiden. Was in einer früheren Periode der phylgenetischen und ontogenetischen Entwickelung bewusste intellektuelle Verarbeitung der Empfindungen war, kann später unbewusste werden (z. B. in der Projektion der Anschauungen in die dritte Dimension). Die unbewußte Intellektualfunktion ist nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihrer Form verschieden von der bewussten; beide sind logische Beziehungen und Verknüpfungen des Erfahrungsmaterials.

Soll diese logische Verarbeitung und Deutung des Erfahrungsmaterials auf den untersten Stufen statthaft sein und nicht aus dem Gebiete des Erkennens herausfallen, so ist nicht abzusehen, warum sie nicht auch auf den obersten Stufen statthaft sein soll, wo doch die Kontrole der Logicität der Verarbeitung so viel leichter ist. Soll aber das denkende Hinausgehen über das Gegebene durch seine sinngemässe Deutung und hypothetische Erklärung wissenschaftlich unstatthaft sein, so muss dasselbe Verfahren auch auf den untersten Stufen der Formirung von Anschauungen und Wahrnehmungen in noch weit höherem Grade unstatthaft sein, weil es sich hier sehr viel schwerer (und bei der Ausbreitung der Empfindungen in eine zweidimensionale räumliche Anordnung gar nicht mehr) kontroliren lässt. Im Bereiche des Gesichts- und Tastsinns ist das dem Bewusstsein unmittelbar Gegebene, d. h. das Letzte, wozu wir vordringen können, schon keine reine Erfahrung mehr, sondern unbewusst intellektuell verarbeitete Erfahrung; die reinen, denkfreien Elemente dieser unreinen Erfahrung, d. h. die mit Unrecht so genannten unbewussten Empfindungen, aus welchen die zweidimensionale Anschauung intellektuell aufgebaut wird, liegen bereits vor und jenseits aller Erfahrung, sind gar keine wirklichen Empfindungen mehr, sondern bloss noch hypothetische Elemente des unbewussten Seelenlebens, welche hätten zu Empfindungen werden können, wenn sie nicht gleich zu Anschauungen geworden wären. Hier giebt es also schlechterdings nur unreine Erfahrung." 121

Dieser Hartmannsche Gedankengang ist durchaus modern und keineswegs veraltet. Wir finden ihn in der Wissenschaftsphilosophie in einem zeitgemäßen Gewande wieder - etwa bei Kuhn - oder auch in Untersuchungen mehr wahrnehmungstheoretischer Natur. So bei dem mehrfach schon von mir in Arbeiten genannten Rudolf Arnheim. 122 Nach Hartmann, Arnheim oder Kuhn können wir gar nicht sagen, wo die theoretische oder gedankliche Befrachtung einsetzt und die reine Erfahrung endet und das gilt nun schon gegenüber der direktesten Form von Erfahrung, die sich noch ausschließlich der Sinneswahrnehmung bedient. Kaum weniger verwickelt ist das Verhältnis von Theorie und Erfahrung, wenn wir uns der instrumentellen Beobachtung bedienen. Allerdings lassen sich die in die Erfahrung involvierten expliziten Theorien da leichter isolieren und aus der Erfahrung wieder herauslösen - Kuhn und Feyerabend 123 haben das neben anderen sehr eindrucksvoll demonstriert und wir werden uns gleich noch ein Stegmüllersches Beispiel daraufhin ansehen.

Was mir an von Hartmanns Gedankengang vor allem festhaltenswert erscheint, ist sein Hinweis darauf, daß die Entkoppelung von reiner Erfahrung und gedanklichen Zutaten umso schwieriger ist, je ursprünglicher diese Erfahrungen in ontogenetischer Hinsicht sind. Und vice versa ist es entsprechend einfacher, Erfahrung und gedankliche Zutaten von einander zu trennen, je höher sie auf der onogenetischen Stufenleiter stehen. Letzteres läßt sich ohne weiters an wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen belegen. Der gedankliche Aufwand, gewisse Theorien aus wissenschaftlicher Erfahrung wieder herauszulösen und gegebenenfalls zu hinterfragen, ist für einen Fachmann wie etwa Kuhn, Stegmüller oder Feyerabend vergleichsweise gering. Am Endpunkt der ontogenetischen Entwicklung, so könnte man mit Steiner sagen, steht das Denken - "Dieses absolut Letzte, zu dem es die Weltentwickelung gebracht hat, ist aber das Denken." 124 Und beim Denken selbst, so ließe sich jetzt der Hartmannsche Gedanke sachlogisch verlängern, sind Theorie und Erfahrung am allerleichtesten voneinander zu scheiden, denn die Theorie über das Denken und die Erfahrung des Denkens sind durch eine klare zeitliche Zäsur von einander getrennt.

Rudolf Steiner hat wie gesagt auf die Schwierigkeit der gedanklichen Vorausbestimmtheiten in "Wahrheit und Wissenschaft" mit dem Konzept der künstlichen Grenzziehung reagiert. Nun ist es so, daß die unmittelbare Denk-Erfahrung gegenüber allen übrigen eine Sonderstellung einnimmt. Während wir bei allen anderen Erfahrungen meistens nicht genau sagen können, wo die Erfahrung endet und die theoretische Befrachtung beginnt, weil Wahrnehmung und Begriff untrennbar miteinander verschmolzen sind, können wir beim Denken auf eine "natürliche" Grenze verweisen. Beim Denken ist die Beobachtung von der reinen Wahrnehmung deutlich getrennt, weil sie einen zweiten Denkakt verlangt, der klar zu unterscheiden ist vom beobachteten Denkakt. Es ist der Denkakt, mit dem ich über meine Denk-Erfahrung nachdenke. Und erst mit diesem Denkakt über das Denken bin ich in der Lage, die Erfahrung des Denkens theoretisch zu befrachten, oder gar fehlzudeuten - was in diesem Falle heißt: das Denken unzutreffend zu beschreiben oder es kausal durch anderes zu erklären. Gegenüber der reinen Denk-Erfahrung erweist sich unsere gedankliche Vorleistung als impotent, denn so lange wir nur bei der Erfahrung des Denkens verbleiben, haben wir darüber kein Urteil gefällt, was wir von anderen Erfahrungen nicht sicher sagen können, weil uns die unbewußten Urteile möglicherweise entgangen sind. Unsere Theorien des Denkens haben auf die Art und Weise, wie uns dagegen das Denken in der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist keinen Einfluß, da wir sie erst dann auf das Denken anwenden können, wenn es bereits vorliegt, also getätigt ist. Die Theorie ist nicht unmittelbar wahrnehmungswirksam. Der Denkprozeß als solcher bleibt von der Theorie ganz unberührt. Steiner betont diesen Sachverhalt mit den Worten: "Wenn man das vorbewußte Denken von dem nachher bewußten Denken unterscheidet, so sollte man doch nicht vergessen, daß diese Unterscheidung eine ganz äußerliche ist, die mit der Sache selbst gar nichts zu tun hat. Ich mache eine Sache dadurch überhaupt nicht zu einer andern, daß ich sie denkend betrachte." 125

Letzteres gilt nicht nur für das Denken sondern auch von jedem anderen Prozeß der Wirklichkeit. Welche Theorie wir von ihnen haben kann den physikalischen Vorgängen auf der Sonne selbst ziemlich gleichgültig sein, sie werden unabhängig von unserem richtigen oder falschen Wissen ihren Gesetzen folgen - und so ist es auch mit dem Denken. Gegenüber diesem anderen Wirklichkeitsgeschehen gilt aber auch, daß wir es niemals unabhängig von der Theorie oder gedanklicher Tätigkeit primär erfassen, sprich wahrnehmen, können, weil dieses primäre Erfassen nicht begriffslos sein kann. Dieser Sachverhalt ist ja immer wieder von Witzenmann eingehend untersucht, und nach meiner Auffassung angemessen beschrieben worden. Ohne Begriffe würden wir buchstäblich ins Leere blicken.

Wenn wir nun Begriffe über anderes Geschehen bilden, dann sind wir in einer von Grund auf anderen Lage als gegenüber dem Denken. Wir stehen nicht innerhalb sondern außerhalb dieses Geschehens und können es daher nur im Rückgriff auf sein Verhältnis zu anderen Geschehnissen beurteilen. Wir kennen die Riemen und Seile nicht gut genug, an denen das restliche Geschehen der Wirklichkeit hängt. Damit sind wir beim Erfassen einzelner Vorkommnisse ständig abhängig von irgend einer Art von Vorwissen über Vorkommnisse anderer Art, weil sich die empirischen Gegebenheiten wechselseitig aufeinander beziehen, sich erläutern und erklären müssen. Als vielleicht etwas exzentrisches, aber auch besonders plakatives Beispiel hierzu kann die von Wolfgang Stegmüller untersuchte Quasartheorie dienen, deren theoretische Implikationen infolge der Fortschritte dort vielleicht heute nicht mehr ganz aktuell sind. Aber zur Illustration ist es hervorragend geeignet, weil es etwas Charakteristisches der herkömmlichen wissenschaftlichen Erkenntnis zeigt und nicht nur dieser: das Wissen, das uns als Stütze beim Erfassen bestimmter Erscheinungen der Wirklichkeit dient, stammt oft aus ganz anderen Wissenssphären, die unmittelbar mit dem fraglichen Sachverhalt nichts zu tun haben.

Man könnte ja meinen, daß eine solche astro-physikalische Theorie eher etwas mit instrumenteller Himmelsbeobachtung zu tun hat, und wenn schon Theorien vorausgesetzt werden, dann solche der Kosmologie, der Optik oder der Elektrodynamik, weil elektronische Beobachtungsgeräte verwendet werden, oder solche aus anderen Zweigen der Physik. Daß diese Quasartheorie auch aufgehängt ist (oder war) an einem bestimmten Verständnis des historischen Geschehens, an einer Theorie der chinesischen Geschichte, darauf würden wohl die allerwenigsten verfallen. Wie Stegmüller zeigt, gründet sie gleichwohl auch in einer Geschichtstheorie, weil chinesische Astronomen im Jahre 1054 eine Supernova recht genau beobachtet und beschrieben hatten, so daß man anhand ihrer Ortsangaben die Überreste der kosmischen Explosion gegenwärtig noch als sogenannten Krebsnebel beobachten kann. Und diese Überreste wiederum dienten den heutigen Astronomen mittelbar als Basis der kosmologischen Entfernungsbestimmung für Quasare, worauf sich abermals Annahmen über Art und energetische Dimensionen der physikalischen Prozesse bei diesen Phänomenen stützten. Wenn die vorausgesetzte Chronologie und die festgehaltenen Ereignisse der chinesischen Geschichte sich als schwerwiegend ungenau oder falsch erwiesen hätte, dann wäre damit zwangsläufig auch ein wesentlicher Baustein des Quasarverständnisses weggebrochen. 126

Wir können bei der Betrachtung anderer Wirklichkeitsprozesse also nie völlig sicher sein, ob wir nicht irgend einen verborgenen aber verständnisrelevanten Zusammenhang übersehen haben oder ob in unserem notwendigerweise vorausgesetzten Vorwissen nicht ein prekärer aber noch unbekannter Fehler steckt, der sich jetzt zwangsweise und ohne daß wir es aktuell direkt überprüfen könnten auswirkt, weil er unseren Erkenntnisblick in eine falsche Richtung lenkt. Wenn wir also unsere Theorien an einem Gegenstand überprüfen, dann prüfen wir genau genommen unsere Theorie an einem immer schon theoretisch befrachteten Gegenstand und das gibt unserem Bemühen den fatalen Beigeschmack der Zirkularität oder der Fallibilität, denn wir holen unter Umständen aus dem Gegenstand die Theorie nur wieder heraus, die wir irgendwann einmal vorher mittelbar in ihn hineingelegt haben oder wir stoßen die implizite Theorie vielleicht irgendwann einmal um. Wolfgang Stegmüller hat in diesem Zusammenhang - in meinen Augen völlig berechtigt - den Ausdruck von der "Vorurteilsstruktur des menschlichen Verstehens" gebraucht. 127 Damit sind keine Vorurteile im landläufigen Sinne gemeint sondern allein die Tatsache, daß unser Zugriff auf jeglichen Typ von Erfahrung stets auf eine fallible oder zirkularitätsverdächtige Weise theoriebelastet ist, weil es anders gar nicht möglich ist, empirische Erfahrungen zu machen. Das wird ja auch von Herbert Witzenmann zugestanden, wenn er sagt: "Daß unsere heutigen Ausgangspunkte immer schon »Erkenntnisse« und daher von Voraussetzungen und Vorurteilen belastet sind, wurde von einigen neueren Philosophen zutreffend erkannt. Daß aber bereits das naiverweise als gegenständliche Gegenwart Betrachtete das Ergebnis eines vorausgehenden Vereinigens von Wahrnehmungen und Begriffen ... ist, wird gewöhnlich nicht beachtet." 128

Was gegenüber allen anderen Erfahrungen gelten mag, beim Denken ist das grundsätzlich anders. Gegenüber dem Denken ist ein "vorurteilsfreier" und damit ein voraussetzungsloser Zugang möglich, denn das theoretische Vorurteil ist gegenüber der reinen Erfahrung des Denkens wirkungslos. Wir stehen mitten im Prozeß und müssen ihn erst vollenden, damit er theoretisch überhaupt greifbar wird. In der reinen Denk-Erfahrung haben wir - wenn wir so wollen - ein Stück originärer und unverfälschter Natur vor uns. Der eigentliche Prozeß ist uns immer im theoretisch unbelasteten Originalzustand - und zwar als Erfahrung - gegeben, was man von keiner anderen Erfahrung sicher sagen kann, so daß wir prinzipiell in der Lage sind, unsere Theorie vom Denken mit dem theoriefreien Original zu vergleichen, sie entsprechend zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren und zwar ohne die Gefahr dem Zirkularitätsproblem notwendig anheimzufallen und uns ständig im Kreise zu drehen.

Wenn jetzt eingewendet wird, die Beobachtung des Denkens sei doch auch theoriebeladen, denn wenn wir keinen vorausgesetzten Begriff des Denkens hätten, dann wüßten wir ja gar nicht, was wir beobachten sollten, dann besteht dieser Einwand völlig zu Recht. Die »Beobachtung« des Denkens ist theoriebeladen, aber seine »Erfahrung« ist es nicht. Auch die »Beobachtung« des Denkens ist theoriebeladen - das kann gar nicht anders sein. Sie muß es sein, denn hätten wir keinen Begriff vom Denken, dann wüßten wir in der Tat nicht, was wir beobachten sollten. Einen Begriff vom Denken benötigen wir also für unsere Beobachtung schon, aber (einzig) in diesem Falle gilt, daß dieser Begriff lediglich und ausschließlich eine blicklenkende Funktion hat, indem er uns an die Erfahrung des Denkens heranführt. Für die unmittelbare Erfahrung (nicht für die anschließende Beschreibung) dieses Denkens selbst bleibt der Begriff aber folgenlos, was bei anderen Erfahrungen als der des Denkens nicht der Fall ist, denn da ist die Erfahrung auch abhängig von den bewußten oder unbewußten theoretischen Vorgaben, mit denen wir sie machen, weswegen man hier nur unter großem Vorbehalt von einer "nur" blicklenkenden Funktion des Begriffes sprechen kann. Bei anderen Erfahrungen als der Denk-Erfahrung fließt das theoretische Vorurteil oder die - vielleicht unbewußte - gedankliche Vorleistung unmittelbar in die Erfahrungsform ein und ist mit ihr zu einer Einheit verschmolzen. 129 Thomas Kuhn spricht deswegen davon, daß bei einer wissenschaftlichen Entdeckung eine klare Abgrenzung zwischen Theorie und Erfahrung gar nicht mehr zu treffen sei.130

Man kann dieses Verhältnis zwischen Theorie und Erfahrung etwa mit den Worten kennzeichnen: »Theoriebeladen ist die bewußte oder unbewußte Anwendung von Theorien oder Begriffen - die unmittelbare Erfahrung ihrer Erzeugung ist theoriefrei.« Mit anderen Worten: die unmittelbare Denk-Erfahrung erlaubt demnach genau das, was man mit der Konzeption der Basissätze eigentlich immer angestrebt hat, aber auf dem bislang eingeschlagenen Wege nie wird erreichen können - den Rekurs auf eine theoretisch unbelastete empirische Erfahrung. Wenn das Erkennen des Denkens in seiner Beschreibung besteht, und man den deskriptiven Rekurs auf eine theoriefreie Erfahrung ein voraussetzungsloses Erkennen nennen will, dann kann man das Erkennen des Denkens - mit aller gebotenen Zurückhaltung, weil wir uns mit dem Begriff der Voraussetzungslosigkeit hier nicht näher befaßt haben - ein voraussetzungsloses nennen. Die reine Erfahrung des Denkens ist die eigentliche Basiserfahrung eines empirischen Weltzuganges, da nur sie es gestattet, unseren Begriff oder unser Wissen von einer Sache mit dem "begriffsfreien" Original selbst zu vergleichen. Ein solcher Vergleich wird übrigens dann theoretisch ausgeschlossen, wenn man dem Denken den Status des Unerfahrbaren beilegt, indem man "Beobachtung" und "Erfahrung" des Denkens in eins setzt und stattdessen sein Heil in der Erinnerungstheorie sucht. In diesem Fall versperrt man sich theoretisch den Weg zu einer tragfähigen Erfahrungsbasis des Erkennens, denn diese Basis löst sich dann buchstäblich in Luft auf.

Man kann, soweit dies hier möglich ist, noch etwas näher auf die Beziehung zwischen Denk-Erfahrung und Basissatz-Theorie eingehen und sich fragen: Wenn die sogenannten Basissätze (möglichst) unumstößliche Aussagen mit empirischem Gehalt sein sollen, wo wäre dann das entsprechende Pendant in der Erfahrung des Denkens zu suchen und wie sähe dieses dann aus? Ich meine, daß wir entsprechende Basissätze auch bei Steiner finden können. Es sind empirisch fundierte Sätze über das Denken, deskriptive Aussagen über empirische und theoriefreie Denk-Erfahrungen, und da sie ja Basissätze sein sollen, müssen wir sie in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen suchen. Eine solche basale Beobachtungsaussage ist etwa die fundamentale Erklärung, daß das Denken "unmittelbar" nur vom Denken selbst beobachtet werden könne, die wir ab S. 43 ff der "Philosophie der Freiheit" breit erläutert finden. Als zentralen Teil dieser ausführlicheren Darlegungen können wir eine Beobachtungsaussage Steiners nehmen, die sich auf S. 45 der "Philosophie der Freiheit" findet und ihn als prägnanten Basissatz verstehen: "Meine Beobachtung ergibt, daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach den materiellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich mich." Ein anderer Basissatz ist der Steinersche Kerngedanke über die Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens: "Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. Ich müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen. Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes." 131 Ein weiterer Basissatz wäre jener aus den "Grundlinien..." (GA-2, S. 49), der die Subjektunabhängigkeit der Gedankeninhalte betrifft: "Wir geben nur die Gelegenheitsursache her, daß sich der Gedankeninhalt seiner eigenen Natur gemäß entfalten kann. Wir fassen den Gedanken a und den Gedanken b und geben denselben Gelegenheit, in eine gesetzmäßige Verbindung einzugehen, indem wir sie miteinander in Wechselwirkung bringen. Nicht unsere subjektive Organisation ist es, die diesen Zusammenhang von a und b in einer gewissen Weise bestimmt, sondern der Inhalt von a und b selbst ist das allein Bestimmende. Daß sich a zu b gerade in einer bestimmten Weise verhält und nicht anders, darauf haben wir nicht den mindesten Einfluß. Unser Geist vollzieht die Zusammensetzung der Gedankenmassen nur nach Maßgabe ihres Inhaltes."

Diese wenigen Sätze, die ich jetzt nur pars pro toto genannt habe, sind deskriptive empirische Basissätze, denn es sind beschreibende Aussagen über die theoriefreien basalen Erfahrungen einer empirischen Wissenschaft, an denen sich die Wissenschaft im allgemeinen und die Wissenschaft des Denkens im besonderen in ihrem weiteren Vorgehen orientieren kann und können muß. Und wenn man sich diesen Basischarakter solcher Sätze deutlich macht, dann kann daran sicherlich auch augenfällig werden, welch außerordentlich hoher Stellenwert dem richtigen Verständnis von Ausdrücken wie "Beobachtung des Denkens" oder "Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens" zukommt. Gerade weil das aktuelle Denken nicht beobachtbar ist; weil ich während des gegenwärtigen Denkens keine Begriffe auf dasselbe anwenden kann, deswegen kann und muß es uns theoriefrei gegeben werden. Um dies zu verstehen muß man aber wissen, was mit dieser Beobachtung gemeint ist. Der gesamte weitere wissenschaftliche Fortgang nicht nur der Anthroposophie hängt am Verständnis solcher Begriffe insofern als alle einzelwissenschaftlichen Aussagen notwendig eine systematische Beziehung zur Basis der Erkenntnis haben müssen und diese Systematik wird schon im Ansatz durcheinandergebracht, wenn wir diese Ausdrücke mißverstehen.

Werner Firgau hat in seiner Replik auf meine Kuhn-Arbeit im Jahrbuch 1997 auf S. 187 ein Problem aufgezeigt, das keineswegs leicht zu nehmen ist. Er schreibt dort: "In »Wahrheit und Wissenschaft« kommt Steiner dann zu der bemerkenswerten Feststellung: »Nur wenn man sagt: ich sondere alle gedanklichen, durch Erkennen erlangten Bestimmungen aus meinem Weltbilde aus und halte nur dasjenige fest, was ohne mein Zutun in den Horizont meiner Beobachtung tritt, dann ist aller Irrtum ausgeschlossen.« Aber ist er das wirklich? Das Aussondern geschieht doch durch erkennendes Denken, dessen Eignung hierzu erst noch zu prüfen wäre! Ein circulus vitiosus. Steiner steht damit - ähnlich wie Muschalle, aber vielleicht ohne es zu bemerken - gleichfalls vor einer »kopernikanischen Wende«. Das stellt mich vor die Frage, wie praktikabel ist dann noch jener Fundamentalsatz zu Beginn des 7. Kapitels der Grundlinien..., der da heißt: »Ja, wir bestimmen die Erfahrung ... geradezu als dasjenige, an dem unser Denken gar keinen Anteil hat:«?"

Ich habe eben versucht zu zeigen, daß der von Firgau erwähnte "Fundamentalsatz" tatsächlich ernsthaft und stringent praktikabel ist, aber in dieser äußersten Stringenz nur im Fall der Denk-Erfahrung. Das Aussondern aller gedanklichen Bestimmungen - also unseres gesamten Wissens - aus einer gegebenen Erfahrung führt am Ende, da wir auch die genetisch eingeflochten Bestimmungen aussondern müßten, zu einer Art Null-Wahrnehmung. Wenn wir also einem Baum gegenüberstehen und von unserem gesamten unmittelbaren und mittelbaren Wissen über diesen Baum absehen, dann wird er wohl für unsere Wahrnehmung verschwunden sein. Gegenüber der unmittelbaren Denk-Erfahrung ist ein solches Aussondern nicht nötig, denn sie kann in der ersten Form ihres Auftretens gar kein interpretatives Vorwissen von sich enthalten - es ist apriori eliminiert. Das ist eine Folge der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens. Unser Wissen über das Denken spielt für die erste Form seines Auftretens keine Rolle. Wohl kommt das Denken nicht ohne unsere aktive Arbeit zur Erscheinung, aber wir können, unmittelbar während es zur Erscheinung kommt, ihm nicht unsere richtigen oder fehlerhaften Theorien über das Denken aufprägen, auch nicht unbewußterweise. Das können wir erst, wenn wir es beobachtend beschreiben und in dieser beobachtenden Beschreibung können wir dann auch fehlgehen. Damit ist es auf jeden Fall aber grundsätzlich möglich, unser Wissen vom Denken an dieser unmittelbaren Erfahrung zu prüfen, und somit auch eine Eignungsprüfung des denkenden Erkennens vorzunehmen, ohne in einen circulus vitiosus zu verfallen. Eine solche Prüfung kann in einer paradigmatischen Form darin bestehen, das Denken hinsichtlich seiner Selbsterkenntnisfähigkeit zu befragen. Und das heißt zunächst: es daraufhin befragen, ob es in der Lage ist, sich selbst angemessen zu beschreiben.

Was den Irrtum gegenüber dem Denken anbelangt, so bin ich folgender Auffassung: Solange wir es in seiner ursprünglichen Erfahrungsform belassen, ist auch kein Irrtum möglich, denn wir haben es ja gedanklich noch gar nicht angetastet. Anschließend hängt die Qualität unseres Wissens davon ab, wie genau wir das Denken beobachten und ob wir in der Lage sind, gegenüber der Denk-Erfahrung die richtigen deskriptiven Intuitionen zu haben. Das heißt die Irrtumsfrage bei der Denk-Beobachtung wird zunehmend zu einem methodischen Problem. Sie hängt erheblich davon ab, wie gründlich und tief unsere Denk-Erfahrung ist und wie wir gedanklich dann damit umgehen, sie kann also letztlich auf die bestimmenden Parameter unserer seelisch-geistigen Konstitution, unserer Persönlichkeitsverfassung wie Sachlichkeit, Ausgeglichenheit, Vorurteilsfreiheit, Willensstärke, Hingabefähigkeit, Begriffsvermögen usw. zurückgeführt werden. Es darf in diesem Zusammenhang an den anthroposophischen Schulungsweg erinnert werden. Einen logischen Automatismus der Irrtumsfreiheit wie bei formalisierbaren Denkoperationen kann es nach meiner Auffassung indessen auch gegenüber der Erfahrung des Denkens nicht geben.

Ende Kapitel 11              


Top   zurück   vorwärts     Inhalt     Anmerkung      Gesamtinhalt   Home