Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Begriff des Gegebenen bei Rudolf

(Stand 12.07.01)

Kapitel 1

Der Hiatus zwischen Anschauung und Denken.

In Kants "Kritik der reinen Vernunft" findet sich der Prototyp eines Gedankenganges von außerordentlicher philosophiegeschichtlicher Wirkung. Im Rahmen seiner Einleitung in die "Kritik der reinen Vernunft" spricht Kant davon, daß es "zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren erstere uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden." 1 Was für Kants Philosophie bedeutsam wurde, war nicht die Aufdeckung der vermutungsweise angedeuteten gemeinsamen Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand sondern ein erkenntnistheoretisches Konzept zweier Basisfunktionen des menschlichen Gemüts, die ebenso tragend wie unvereinbar nebeneinander zu stehen scheinen. In der "Transzendentalen Logik" führt Kant den obigen Gedanken weiter aus und kommt zu seiner klassisch gewordenen Aufzählung von Dualismen, die der nachfolgenden Philosophie manche Bauschmerzen bereiteten. Kant schreibt dort: "Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können." 2

Zwar deutet Kant oben an, daß die zwei grundlegenden Stämme unserer Erkenntnis möglicherweise eine gemeinsame Wurzel haben. Es spricht also nach seiner Auffassung nichts gegen den Gedanken, daß diese grundlegende Polarität des menschlichen Erkenntnisvermögens - wie auch immer - überwindbar sei, insofern Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität der Eindrücke und Spontaneität der Begriffe einen einheitlichen Quellpunkt haben könnten, vielleicht nur Spielarten oder Metamorphosen einer einzigen Grundfunktion sein könnten. Aber es bleibt bei dieser Vermutung und klassisch geworden ist die kompromißlose Gegenüberstellung der dualistischen Gegensatzpaare von Wahrnehmung und Denken, Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand usf. So schreibt Kant weiter: "Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen, so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand. Unsere Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d.i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden." 3

Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität, Anschauung und Begriff stehen unversöhnlich einander gegenüber. Zwischen dem Vermögen wahrzunehmen und dem Vermögen zu denken gibt es nichts Vermittelndes. Wahrnehmung und Denken, Anschauung und Begriff stehen isoliert einander gegenüber und sind gleichwohl hoffnungslos voneinander abhängig. Beide sind für sich und können doch ohne einander nichts sein, weil sie unabhängig vom jeweils anderen nichts zu leisten vermögen. "Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen." heißt es bei Kant. "Aber ist es wirklich so selbstverständlich, daß zwei seelische Funktionen in Wechselwirkung treten können, wenn sie angeblich so verschieden voneinander sind?" möchte man sich mit Rudolf Arnheim angesichts dieser Gegenüberstellung fragen. 4 Der Gedanke, in einer einheitlichen Seele gründeten zwei einander völlig fremde Funktionen, hat etwas Befremdliches. Könnte es nicht so sein, "daß die Erkenntnisfunktionen, die man das Denken nennt, nicht den Seelenprozessen über und außerhalb der Wahrnehmung vorbehalten, sondern wesentliche Bestandteile der Wahrnehmung selbst sind."5 Könnte es sein, daß sich die dualistische Trennung in Leistungen des Denkens und Leistungen der Wahrnehmung als eine höchst künstliche erweist? Diese Fragen werden nicht unmittelbar Thema der vorliegenden Arbeit sein, aber sie scheinen sich als Resultat aufzudrängen, wenn man dem erkenntnistheoretischen Begriff des "Gegebenen" nachgeht, weil die Beziehung von Wahrnehmung und Denken in hohem Maße davon abhängig ist, welche Stellung man zum "Gegebenen" einnimmt.

Für die Frage nach dem Status des durch die Sinne "Gegebenen" ist die obige Kantsche Einteilung des Erkenntnisvermögens insofern von Bedeutung, weil sich aus ihr ein spezifisches Problem zu ergeben scheint, wenn wir Kants Auffassung rigide auslegen. Wenn, wie Kant sagt, Anschauungen ohne Begriffe blind sind, sieht man sich mit dem Gedanken konfrontiert, daß es demnach "begriffsfreie" Anschauungen gar nicht zu geben scheint, weil jedes Phänomen, und sei es noch so elementar, nur dann gegeben werden kann, wenn es zumindest eine ebenso elementare Begrifflichkeit dafür gibt. Es gibt unter diesen Umständen keinen Weg zur Anschauung als jenen über das Denken und die Rede von begriffsfreien Wahrnehmungen wird dann sehr problematisch. Aber umgekehrt kann der Verstand losgelöst von der Sinnlichkeit zu keinen Inhalten kommen, weil er nichts anzuschauen vermag. Wenn Gedanken ohne Inhalt leer sind, dieser Inhalt aber nur im Gewande des klassischen sinnlich Gegebenen daherkommen sollte, dann haben wir ein merkwürdiges Phänomen: Ein sinnlich "Gegebenes", das gar keines ist, weil über den Inhalt genau genommen erst das Denken zu befinden hat, und einen Denkinhalt, der keiner ist, weil über seinen Inhalt wiederum die sinnliche Herkunft entscheiden soll. Wenn wir mit Kant Anschauungen ohne Begriffe "blinde Anschauungen" nennen wollen und Gedanken ohne sinnlichen Inhalt "leere Gedanken", dann vereinigen sich blinde Anschauungen und leere Gedanken zu etwas, das wir als Gegenstand oder Tatsache bezeichnen. Wenn wir den Inhalt blinder Anschauungen als "Nichts" kennzeichnen und den Inhalt leerer Gedanken auch als "Nichts", dann entsteht als Synthese aus dem Nichts der Sinnlichkeit und dem Nichts des Verstandes das, was wir Wirklichkeit nennen. Ich möchte Kant an dieser Stelle kein Unrecht tun und offen lassen, ob diese rigide Auffassung tatsächlich die seinige ist - in der philosophischen Auseinandersetzung um die Natur des "Gegebenen" geht es indessen ganz wesentlich um diesen Punkt und die zu erwägenden Konsequenzen liegen in dieser Richtung. 6

Nach Johannes von Malottki lassen sich in der Frage des "Gegebenen" zwei gegensätzliche Grundpositionen unterscheiden. Der einen Position erscheint das "Gegebene" als ein Denk-Fremdes. Der Gegenstand als gegebener Gegenstand existiert als objektiv seiender als denkfremder, als vom Denken unabhängige Tatsache. Jede gedankliche Zutat zum "Gegebenen" bekommt dann den Anstrich einer subjektiven und im Prinzip unberechtigten oder zumindest überflüssigen Zutat zu einem objektiv Seienden. Für den Philosophen entsteht dann die Aufgabe, nachzuweisen, daß das "Gegebene" oder die Welt der Tatsachen tatsächlich gedankenfrei ist und wie er sich dorthin einen angemessenen Zutritt verschafft, ohne dieses "Gegebene" oder die Tatsachen durch subjektive, sprich gedankliche Zutaten zu verunreinigen.

Für die andere Seite hat das "Gegebene" als Denk-Fremdes keinen Eigenbestand. Es gibt keinen reinen, gegebenen Inhalt ohne begrifflich-gedankliche Form. Diese Form aber ist Ergebnis eines Urteils, d. h. eines Denkaktes. "Gegebenes" ohne Form ist ein logisch bedeutungsloses Chaos, etwas nicht Ausdrückbares oder Anzuerkennendes. Aus dieser Sicht gibt es keine Wirklichkeit, kein Seiendes, welchem die Form des Gedanklichen nicht zwangsläufig und notwendig aufgeprägt worden wäre. Wirklichkeit entsteht überhaupt erst auf dem Wege des Denkens. Die entscheidende weiterführende Fragestellung aus diesem Blickwinkel lautet dann: Was hat das für wahrnehmungstheoretische Konsequenzen? Welchen Wirklichkeitsstatus nimmt das Denken ein? Ist dieses lediglich eine subjektive Beigabe, so daß wir auf ewig gezwungen wären, uns mit Hilfe des Denkens eine subjektive Wirklichkeit zu konstruieren, da wir prinzipiell keiner anderen habhaft werden können?

Ende Kapitel 1           


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