Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Begriff des Gegebenen bei Rudolf Steiner

(Stand 12.07.01)

Kapitel 3

Unmittelbare Selbstgewißheit und reine Erfahrung bei Johannes Volkelt.

Ich möchte mich in einem nächsten Schritt den Ansichten Johannes Volkelts zuwenden. Das scheint mir deswegen zweckmäßig, weil Volkelt in Teilen den erkenntnistheoretischen Gedanken Steiners so nahe stand, daß Steiner sich explizit auf dessen ausgezeichnete Vorarbeiten zum Begriff des "Gegebenen" stützte. Zahlreiche Gedankengänge zum Begriff des "Gegebenen", die Steiner in essayistischer Kürze darlegt, finden sich bei Volkelt außerordentlich elaboriert in detaillierter Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Fachdiskussion18, so daß man bei genauer Betrachtung gut und gern davon ausgehen kann, daß einige Kernstücke der Steinerschen Epistemologie erst dann wirklich deutlich und diskutabel werden, wenn man sich die einschlägigen Vorarbeiten Volkelts und dessen Auseinandersetzung mit der Fachwelt ansieht. Mir scheint dies vor allem für jenen etwas eigentümlichen Begriff der "reinen Erfahrung" zu gelten, den Steiner in den "Grundlinien..." in enger Anlehnung an Volkelt entwickelt und der so manches Stirnrunzeln hervorruft, weil man sich der Steinerschen Auffassung nicht leicht anschließen mag, 19 weil nicht nur die dort beschriebenen Erfahrungsinhalte selbst vielfach gedankengesättigt sind, sondern auch die Wahrnehmung dieser Bilder an die verschiedensten Formen des Denkens und Urteilens gebunden zu sein scheint. Vor allem letzteres lehnt Volkelt ab und entwickelt statt dessen das Konzept einer vorlogischen "unmittelbaren Selbstgewißheit", die unabhängig vom Denken bestehen soll.

Wenn Steiner sich auch den Grundüberzeugungen Volkelts nicht anschließen konnte, so war dessen Arbeit für ihn dennoch in mancher Hinsicht bahnbrechend. Exemplarisch kommt dies in den "Grundlinien..." in den Worten zum Ausdruck: "Wir mußten auf die Schrift von Volkelt besondere Rücksicht nehmen, weil sie die bedeutendste Leistung der Gegenwart auf diesem Gebiete ist, und auch deshalb, weil sie als Typus für alle erkenntnistheoretischen Bemühungen gelten kann, die der von uns auf Grundlage der Goetheschen Weltanschauung vertretenen Richtung prinzipiell gegenüberstehen" und in "Wahrheit und Wissenschaft" wird betont, "daß ohne die grundlegenden Vorarbeiten Volkelts mit ihren gründlichen Untersuchungen über den Erfahrungsbegriff die präzise Fassung des Begriffes des «Gegebenen» , wie wir sie versuchen, sehr erschwert worden wäre."20

Wenn die vorgefundenen Tatsachen vom Denken nicht zu trennen sind, dann besteht die reale Gefahr, in einen erkenntnistheoretischen Solipsismus abzugleiten, das heißt, die gesamte Wirklichkeit wird unter Umständen zu einem Produkt meines Denkens. Und wenn man diesem Denken dann eine ausschließlich subjektive Qualität beilegt, dann wird notwendigerweise diese Wirklichkeit zu einem höchst fragwürdigen subjektiven Konstrukt und bekommt allzuleicht einen illusionären Charakter.21 Die Stabilität und Glaubwürdigkeit der Wirklichkeit hängt offensichtlich an der Frage, ob irgend eine konstante, nicht-subjektive und nicht vom Subjekt abhängige Instanz besteht, die den Inhalt der Erfahrung in eindeutiger Weise (mit) bestimmt. Dem Positivisten war dies nach dem Grundsatz der Rezeptivität der Bereich der subjektunabhängigen "Tatsachen", die einfach wahrgenommen werden - ein Gedanke, der bei genauer Betrachtung aufgegeben werden mußte, weil sich die angenommene Denkfreiheit der Tatsachen nicht halten ließ. Das Motto der Verfechter der Denkabhängigkeit der Wahrnehmung lautet: keine Rezeption ohne gedankliche Produktion, keine Wahrnehmung ohne Begriff, keine Tatsache ohne Theorie. Johannes Volkelt versucht gewissermaßen durch Einschaltung einer erkenntnistheoretischen Zwischenstufe den Bereich des Denkens einzuschränken und die Auffassung des Positivismus von einer subjekt- und denkunabhängigen Instanz zu retten durch das Konzept einer vorlogischen Erkenntnisstufe, die er die "unmittelbare Selbstgewißheit des Bewußtseins" nennt. 22 "Unser Erkennen sei nämlich nicht nur denkendes Verknüpfen, sondern es gäbe daneben noch eine »durch sich selbst einleuchtende Gewißheit«, die von der Gewißheit des Denkens unterschieden werden könne. Es gibt nach Volkelt eine unmittelbare »Selbstgewißheit des Bewußtseins«, in der wir, unabhängig von allem Denken, ein Etwas einfach im Bewußtsein haben. Und dieses unmittelbare Bewußtsein sei dadurch ausgezeichnet und gekennzeichnet gegenüber dem urteilenden Denken, daß es dem Grundsatz der Rezeptivität entsprechen soll. So biete es die Gewähr, daß in ihm das Gegebene unverfälscht und noch nicht vom Denken und seinen Formen berührt aufgefaßt wird. In gewissem Sinne scheint also Volkelt noch einmal den Versuch ... zu wiederholen: nämlich den Gedanken der Tatsache mit dem Begriff der Denkfremdheit zu verbinden."23

Dieses Volkeltsche Konzept der "unmittelbaren Selbstgewißheit" scheint mir von besonderem Interesse zu sein für all jene, die sich mit der Steinerschen Erkenntnistheorie etwas schwer tun. Ich vermute, daß Volkelts Konzept verantwortlich ist für einige Unklarheiten der Steinerschen Epistemologie, die bis heute wenig behandelt wurden. Steiner hat explizit an Volkelts Vorarbeiten zum Begriff des "Gegebenen" angeknüpft und er hat, so nehme ich an, in einem gewissen Umfang dessen Konzept der "unmittelbaren Selbstgewißheit des Bewußtseins" übernommen. Davon wird weiter unten noch zu reden sein.

Den Gedanken der "unmittelbaren Selbstgewißheit" findet man bei Volkelt vom Jahre 1879 an bis zumindest 1918 ausgearbeitet.24 Volkelt beginnt seine Analyse der Kantschen Erkenntnistheorie im Jahre 1879 mit der Darlegung seines erkenntnistheoretischen Grundprinzips und schreibt: "Der erste Fundamentalsatz, den sich der Philosoph zu deutlichem Bewußtsein zu bringen hat, besteht in der Erkenntnis, daß unser Wissen sich zunächst auf nichts weiter als auf unsere Vorstellungen erstreckt. Unsere Vorstellungen sind das Einzige, was wir unmittelbar erfahren, deswegen vermag uns auch der radikalste Zweifel das Wissen von denselben nicht zu entreißen. Dagegen ist das Wissen, das über unser Vorstellen - ich nehme diesen Ausdruck hier überall im weitesten Sinne, so daß alles psychische Geschehen darunter fällt - hinausgeht, vor dem Zweifel nicht geschützt."25 Diese Feststellung ist dem Erkenntnistheoretiker das einzige Gewisse, das er hat, von wo aus er weiterschreiten kann und zwar deswegen, weil die Vorstellungen das einzige sind, dessen der Philosoph unmittelbar habhaft werden kann, oder wie Volkelt schreibt: "Unsere Vorstellungen sind uns darum absolut gewiß, weil wir sie unmittelbar erfahren, als unser Eigenes erleben. ... Wir bekommen nie die Dinge selbst in die Hand, kommen nie unmittelbar und ohne Scheidewand an sie selbst hinan, sondern leben und weben überall und immer nur in unseren Vorstellungen. Wir gehen ganz in unseren Vorstellungen auf, sind nur da, wo unsere Vorstellungen sind, und auf diese unmittelbare Gegenwart des Vorstellens gründet sich, zu Beginn des Philosophierens wenigstens, die einzige unbezweifelbare Gewißheit."26

Das aufmerksame, unmittelbare und absolut gewisse Haben von Bewußtseinsinhalten, sprich Vorstellungen, ist das, was Volkelt das "positivistische Erkenntnisprinzip"27 nennt, das Prinzip der "reinen Erfahrung"28, einer Erfahrung unter völligem Ausschluß des Denkens. Volkelts Fundamentalprinzip der "unmittelbaren Selbstgewißheit", das "positivistische Prinzip" und das Prinzip der "reinen Erfahrung" sind ein und dieselbe Sache: "die Erfahrung als Erkenntnisprinzip fällt völlig zusammen mit dem positivistischen Erkenntnisprinzipe. Die Gewißheit des unmittelbar Erfahrenen ist gänzlich identisch mit der Gewißheit meiner jedesmaligen bewußten Vorstellungen."29 Dieses erste Prinzip der Erkenntnistheorie steht nach Volkelt am Beginn der Philosophie, weil sich die unmittelbare Gewißheit, mit der wir unserer Vorstellungen, unserer bewußten Erlebnisse inne sind, durch nichts zu überbieten ist. Dieses Prinzip besagt nach Volkelt, "daß uns die Vorstellungen, die wir unmittelbar erfahren, absolut gewiß sind. Wer zu philosophieren anfängt, muß sich klar machen, daß es beim Eintritte in die Philosophie kein anderes Erkenntnisprinzip gibt, daß außer der absoluten Unbezweifelbarkeit der unmittelbar erlebten Vorstellungen nur bodenlose Ungewißheit vorhanden ist. Er muß sich ferner klar machen, daß es unmöglich ist, je über unser Vorstellen direkt und im eigentlichen Sinne hinauszugehen, daß sonach das transsubjektive Gebiet nie auf Grundlage des positivistischen Erkenntnisprinzips erkannt werden kann."30

Das Prinzip der "reinen Erfahrung" ist, wie wir sehen, für Volkelt absolut fundamental. Es ist nicht weiter ableitbar, logisch nicht auflösbar, nicht abhängig von anderen Erkenntnisprinzipien, sondern ein völlig eigenständiges, und denkunabhängiges Erkenntnisprinzip. 1886 lesen wir in seiner Schrift "Erfahrung und Denken": "ich besitze ein absolut selbstverständliches Wissen von meinen eigenen Bewußtseinszuständen"31 "Die absolute Selbstverständlichkeit besagt", so schreibt er weiter, "daß die Unbezweifelbarkeit [dieses Wissens] nicht etwa erst infolge irgendwelcher Begründungen, Beweise oder sonstiger Operationen, sondern ohne weiteres und von vornherein stattfindet."32 Dieses Wissen von den eigenen Bewußtseinszuständen besitzt sein eigenes, denkunabhängiges und vorlogisches Erkenntnisprinzip. "Von einer noch einfacheren, tieferen Grundlage des absolut selbstverständlichen Wissens von meinen Bewußtseinsvorgängen kann keine Rede sein" schreibt Volkelt und weiter: "Ich bin also hiermit auf die nicht weiter ableitbare Quelle des subjektiven und absolut selbstverständlichen Wissens gestoßen ... Ich kann dies auch so ausdrücken, daß das Wissen von meinen eigenen Bewußtseinsvorgängen, so oft es sich vollzieht, in seiner Tatsächlichkeit sein eigenes Erkenntnisprinzip besitzt."33 Für die Volkeltsche Philosophie heißt dies: es gibt zwei Erkenntnisprinzipien, das denkunabhängige Prinzip der "reinen Erfahrung", das seine eigenen Gewißheiten vermittelt und ein weiteres, das auf der Tätigkeit des Denkens basiert.

Das denkfreie positivistische Erkenntnisprinzip Volkelts ist jedoch für sich genommen wenig leistungsfähig. Es vermittelt zwar eine absolute Gewißheit des Vorstellungsbesitzes aber im Hinblick auf Kontinuität und kausale Zusammenhänge dieses Besitzes ist es ganz wirkungslos. Und ebensowenig ist von ihm aus ein Zugang zu einem Vorstellungstranszendenten, zu einer subjektunabhängigen Wirklichkeit möglich. Es bleibt beschränkt auf das unmittelbare Erleben von Vorstellungen. Wenn wir dieses Prinzip streng anwenden, sagt Volkelt, und uns nur an das halten, was wir unmittelbar erleben, dann werden wir niemals zur Anerkenntnis einer vorstellungstranszendenten Wirklichkeit kommen und auch niemals zu Regelmäßigkeiten und Gesetzen, denn das Erleben selbst entbehrt jeglicher Regelmäßigkeit und Ordnung - es ist ein chaotisches Aggregat von Vorkommnissen des Bewußtseins: "Wenn wir uns das Ganze unserer bewußten Vorstellungen, ihr Aufeinanderfolgen und Nebeneinanderbestehen, genau vergegenwärtigen," schreibt er, "so werden wir zu der unwiderleglichen Wahrnehmung geführt, daß unsere bewußten Vorstellungen, in strenger Isolierung für sich betrachtet, ein absolut gesetzloses, unzusammenhängendes Aggregat bilden."34 "Die Selbstwahrnehmung lehrt uns unwidersprechlich, daß jeden Augenblick Vorstellungen aus unserem Bewußtsein absolut verschwinden und neue, unmittelbar vorher schlechterdings nicht dagewesene in dasselbe eintreten. Die Bedingungen dieses absoluten Anfangens und absoluten Aufhörens sind sehr mannichfaltig: es kann ebensowohl durch streng logisches Nachdenken erfolgen, als durch das unwillkürliche Träumen der Phantasie oder durch das Umwenden des Kopfes, das Hin- und Hergehenlassen der Augen, ein zufälliges Anstreifen mit der Hand und dgl. Doch diese Veranlassungen interessieren uns hier nicht. Für uns ist allein dies wichtig, daß unseren bewußten Vorstellungen, sobald wir das Bewußtsein in strenger Isolierung betrachten, die Continuität des Geschehens absolut mangelt. So kann denn natürlich innerhalb des Bewußtseins auch von Gesetz, Ordnung, ja selbst von Regel nicht im Mindesten die Rede sein. Gesetzmäßigkeit und Zusammenhang kommt nur dadurch in meine bewußten Vorstellungen, daß ich sie in eine transsubjektive gesetzmäßige Wirklichkeit einordne. Nur dadurch werden mir meine Vorstellungen zu einem gesetzmäßig verknüpften Ganzen, daß ich voraussetze: jede eben bewußt gewordene Vorstellung sei nicht etwa in Wirklichkeit aus dem Nichts entsprungen, sondern entweder schon als unbewußte Vorstellung in mir vorhanden gewesen und nur durch irgendeine Veranlassung in mein Bewußtsein emporgetaucht, oder sie sei durch ein außerhalb meines bewußten und unbewußten Vorstellungskreises vorhandenes wirkliches Ding, indem dieses mein Bewußtsein irgendwie affizierte, in demselben erweckt worden ... Diese Voraussetzung erst ist es, was meine bewußten Vorstellungen in gesetzmäßiger Verknüpfung erscheinen läßt. Nur wenn ihr Bewußtwerden in kausaler Verbindung steht mit einem schon für sich geordneten Ganzen von Dingen an sich und außerdem speziell mit dem gleichfalls schon für sich geordneten Ganzen meiner unbewußten Vorstellungen, und wenn ferner trotz ihres Schwindens aus meinem Bewußtsein die entsprechenden Dinge und unbewußten Vorstellungen gesetzmäßig weiter bestehen, kurz also nur dann, wenn meine bewußten Vorstellungen in eine geordnete Welt von Dingen an sich und in einen gleichfalls in sich zusammenhängenden Kreis zu mir gehörender unbewußter Vorstellungen eingefügt sind, kommt in meine bewußten Vorstellungen Ordnung und Zusammenhang."35

Wenn ich Ordnung und Zusammenhang in meinen Bewußtseinsvorkommnissen haben will, dann kann ich das nach Volkelt nur auf mittelbare Weise erreichen, indem ich gewisse Voraussetzungen mache, indem ich etwas unterstelle, was selbst nicht unmittelbares Bewußtseinsfaktum ist, was nicht in absoluter Gewißheit unmittelbar erlebt werden kann. Ich muß voraussetzen, daß meine Vorstellungen im Zusammenhang stehen mit einer bestehenden und geordneten Welt von Dingen an sich und ich muß voraussetzen daß meine Vorstellungen in der Zeit ihrer Abwesenheit in irgend einer Form weiterbestehen, so daß nicht jeder neue Bewußtseinsinhalt ein absolut neuer und aus dem Nichts entsprungener sein muß. Meine Vorstellungen müssen mit etwas im Zusammenhang stehen, was selbst nicht unmittelbar Vorstellung ist. Sie müssen einer mir unsichtbaren und auf dieser Stufe nicht erfahrbaren Ordnung folgen. Anders gewendet: Die Gesamtcharakteristik des Stromes der Vorstellungen ist ungeeignet, als Erkenntnisprinzip zu gelten oder aus ihm eines abzuleiten, wenn man das positivistische Prinzip radikalisiert und bei der Erfahrung stehen bleibt, denn man muß dann die Bewußtseinsvorkommnisse so belassen wie sie sind; man darf sie weder umgruppieren noch in einen begrifflichen Zusammenhang bringen oder sonst irgendwie bearbeiten. Es gibt dann kein Verfahren mehr, um die zeitlichen oder kausalen Lücken der Ereignisabfolge zu schließen. Ich kann dann auf den Ablauf meiner Erlebnisse hinstarren, aber mehr kann ich nicht tun. Und eben dies wäre die Konsequenz jenes Standpunktes, der das Prinzip der "reinen Erfahrung" über das gesamte Erkenntnisgebiet ausdehnen will.

Am zusammenhanglosen und diskontinuierlichen Charakter der "reinen Erfahrung" ändert sich für Volkelt auch dann nichts, wenn innerhalb dieser Erfahrung punktuell etwas auftaucht, was für sich wohl einen Zusammenhang bildet wie Gedanken, visuelle Wahrnehmungen oder sonstige strukturierte Inhalte. Und an dieser Stelle bringt er zur Illustration von Diskontinuität und Regellosigkeit des gesamten Vorstellungsverlaufes das bekannte Beispiel, welches von Steiner in den "Grundlinien..." wörtlich zitiert wird als eine Charakterisierung jenes Wirklichkeitsbildes, an dem das Denken "gar keinen Anteil hat" 36 und das manchem Leser dieser Schrift so viel Kopfschmerzen bereitet. Volkelt schreibt: "Jetzt hat zum Beispiel mein Bewußtsein die Vorstellung, heute fleißig gearbeitet zu haben, zum Inhalte; unmittelbar daran knüpft sich der Vorstellungsinhalt, mit gutem Gewissen spazieren gehen zu können; doch plötzlich tritt das Wahrnehmungsbild der sich öffnenden Tür und des hereintretenden Briefträgers ein; das Briefträgerbild erscheint bald handausstreckend, bald mundöffnend, bald das Gegenteil tuend; zugleich verbinden sich mit dem Wahrnehmungsinhalte des Mundöffnens allerhand Gehörseindrücke, unter anderen auch einer mit dem Inhalte, daß es draußen zu regnen anfange. Das Briefträgerbild verschwindet aus meinem Bewußtsein, und die Vorstellungen, die nun eintreten, haben der Reihe nach zu ihrem Inhalte: Ergreifen der Schere, Öffnen des Briefes, Vorwurf unleserlichen Schreibens, Gesichtsbilder mannichfachster Schriftzeichen, mannichfache sich daran knüpfende Phantasiebilder und Gedanken; kaum ist diese Reihe vollendet, als wiederum die Vorstellung, fleißig gearbeitet zu haben, und die mit Mißmut begleitete Wahrnehmung des fortfahrenden Regens eintreten; doch beide verschwinden aus meinem Bewußtsein, und es taucht eine Vorstellung auf mit dem Inhalte, daß eine während des heutigen Arbeitens gelöst geglaubte Schwierigkeit nicht gelöst sei; damit zugleich sind die Vorstellungen: Willensfreiheit, empirische Notwendigkeit, Verantwortlichkeit, Wert der Tugend, absoluter Zufall, Unbegreiflichkeit usw. eingetreten und verbinden sich miteinander in der verschiedenartigsten, kompliziertesten Weise; und ähnlich geht es weiter" 37

Volkelt will an dieser Stelle illustrieren, daß die Bewußtseinsfragmente keinerlei Gesamtzusammenhang erkennen lassen, wenn man sie nicht denkend und schlußfolgernd in einen größeren Kontext stellt. "Man mache nun den ... Versuch" schreibt er, "diesen Bewußtseinsinhalt von allem außerhalb seines Umfanges Befindlichem, also von allen zum eigenen Ich gehörenden unbewußten Vorstellungen ... und von sämtlichen wirklichen Dingen, die das Bewußtsein affizieren, völlig loszulösen und allein für sich zu betrachten. Hierdurch wird jener Bewußtseinsinhalt jedweder Kontinuität und dadurch jedweden Zusammenhanges und jedweder Regelmäßigkeit beraubt und zu einem an jedem Punkte sozusagen durchlöcherten, beim Austreten jeder Vorstellung absolut abreißenden, und beim Eintreten einer jeden absolut neu anfangenden Aggregate, zu einer völlig verrückten Zusammenhäufung des Allerheterogensten degradiert."38 Es gibt im Strom der Vorstellungen nur ein absolutes Anfangen und Aufhören, wenn auch die Bedingungen für Beginn und Ende der einzelnen Bewußtseinsfragmente sehr verschieden sein können. Der Verlauf der Vorstellungen insgesamt ist chaotisch, zerfetzt, löcherig, und von Bewußtlosigkeit unterbrochen, und lediglich durch das Einschalten hypothetischer Zwischenglieder auf dem Wege des Denkens kann der Eindruck eines geordneten Gesamtzusammenhanges entstehen. "Es ergibt sich also mit vollkommener Evidenz", sagt Volkelt, "daß ich meinem Bewußtseinsinhalte, für sich betrachtet, die Prädikate der Kontinuität, Ordnung, gesetzmäßigen Verknüpfung usw. nicht beilegen darf. Selbst von einer regelmäßigen Vorstellungsaufeinanderfolge kann innerhalb des Bewußtseins als solchen nicht die Rede sein. Mag z.B. auch oft in meinem Bewußtsein der Wahrnehmung des erwärmten Steines die Empfindung der Sonnenhitze unmittelbar vorangehen, so findet doch sicherlich ebenso oft jede der beiden Wahrnehmungen ohne die andere statt; oder es können beide Wahrnehmungen durch allerhand andere dazwischentretende Bewußtseinsvorgänge getrennt sein; ja es kann mir zuweilen erst nach der Wahrnehmung des erwärmten Steines die Sonnenwärme ins Bewußtsein treten. Gründe ich nun mein Wissen lediglich auf das unmittelbare Erfahren, so ist es mir natürlich nicht gestattet, aus meinen bewußten Vorstellungen durch Ausmerzen gegebener und Einschalten nicht gegebener Vorstellungen, durch Aneinanderrücken, Trennen, Umstellen gewisse regelmäßige Folgen herauszupräparieren. Das positivistische Prinzip hat die bewußten Vorstellungen einfach in ihrer gegebenen Aufeinanderfolge aufzunehmen; diese gegebene Aufeinanderfolge aber zeigt jede etwa aufzutauchen scheinende Regel sehr bald gestört, durchbrochen, verkehrt."39

Ende Kapitel 3           


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