Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Begriff des Gegebenen bei Rudolf Steiner

(Stand 12.07.01)

Kapitel 5

Volkelts vorlogische Bewußtseinsgegebenheiten.

Man kann darüber nachdenken, ob sich diese Sachlage anders darstellen würde, wenn Volkelts Prinzip der "reinen Erfahrung" nicht den von ihm angenommenen fundamentalen und logisch unauflösbaren Status hätte. Angenommen, das "Gegebene" der "reinen Erfahrung" sei nicht ein schlechthin vorlogisch "Gegebenes", ein Äquivalent zu den gedankenfreien "Tatsachen" des Positivismus, sondern ein bereits vom Denken Aufgebautes. Dieser Ansicht gibt von Malottki weiter oben Ausdruck. In diesem Fall bliebe nach Abzug aller genetisch in das "Gegebene" eingewobenen gedanklichen Leistungen ebenfalls kein denkunabhängiger Rest übrig.

In Volkelts Fundamentalprinzip der "reinen Erfahrung" läßt sich nun möglicherweise der Anlaß für eine schwer nachzuvollziehende Konklusion Steiners in den "Grundlinien ..." sehen. Wie gesagt besitzt die unmittelbare Gewißheit erlebter Vorstellungen nach Volkelt ihr eigenes, denkunabhängiges Erkenntnisprinzip. Die Gewißheit unmittelbar erlebter Vorstellungen läßt sich logisch nicht weiter auflösen, nicht etwa auf das Denken zurückführen. Das aufmerksame Haben von Vorstellungen ist ein für sich selbst bestehender, unanalysierbarer und denkunabhängiger erkenntnistheoretischer Sachverhalt. Die Gewißheit der "reinen Erfahrung" ist apriori nicht mehr hinterfragbar. Volkelt hat dies schon in den Schriften bis 1886 dargelegt, also in jenen Schriften, die Steiner explizit zur Konzeption seiner eigenen Erkenntnistheorie heranzog. Er hat ihn später ausführlicher expliziert unter dem Ausdruck der "vorlogischen Bewußtseinsgegebenheiten". Diese Eigentümlichkeit der Volkeltschen Erkenntnistheorie kann vielleicht einiges Licht werfen auf Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Erkenntnistheorie Rudolf Steiners stellen lassen. Die unterschiedliche Art wie Steiner die "reine Erfahrung" resp. das "unmittelbar Gegebene" behandelt, läßt die Vermutung aufkommen, daß er sich mit Volkelts Vorarbeiten zum "Gegebenen" in Gestalt des Prinzips der "reinen Erfahrung", ein "Trojanisches Pferd" eingehandelt hat, in welchem sich Volkelts Basisprinzip der Erkenntnistheorie, das Prinzip der "vorlogischen Bewußtseinsgegebenheiten" verbirgt. Dieses Prinzip durchzieht Volkelts erkenntnistheoretische Arbeiten, angefangen mit der von Steiner zitierten Kant-Schrift aus dem Jahre 1879 bis zum Jahre 1918. Und die von Steiner übernommenen Volkeltschen Beispiele fußen bei letzterem auf eben diesem Prinzip.

Schaut man sich die Volkeltschen Beispiele für den Typus der "reinen Erfahrung" an und entsprechend die Steinerschen Beispiele in den "Grundlinien ...", 50 so wird man sich fragen, wo denn die Struktur der einzelnen Erfahrungsinhalte herkommt, ob am Zustandekommen dieser Struktur und vielleicht gar schon beim unmittelbaren Erleben der Bewußtseinstatsachen selbst in irgend einer Form das Denken beteiligt ist, sei es genetisch oder aktuell. Für Volkelt gibt es aus Gründen, die im Fundamentalprinzip seiner Erkenntnistheorie liegen, nur eine Antwort: diese Erfahrungstatsachen sind unabhängig vom Denken, an ihnen hat das Denken keinen Anteil. Daß man hier im Prinzip auch einen anderen Standpunkt einnehmen kann, zeigt das nachfolgende Zitat Herbert Witzenmanns. In seiner "Strukturphänomenologie" beschreibt Witzenmann exemplarisch die Leistung des Denkens bei der Erfassung der Gestalt einer Linde: "Alles, was an dieser Gestalt Zusammenhang ist", sagt Witzenmann, "ist gedacht, ist Begriff, also von dem Denkenden hervorgebracht. Alles, was nicht Begriff ist, also erst durch Begriffe in Zusammenhänge gebracht wird, tritt vor dem Beobachter als ein von ihm nicht Hervorgebrachtes, ohne sein Zutun Vorhandenes auf, das von ihm aufgenommen wird. An dem Innewerden der Baumgestalt sind also Produktivität und Rezeptivität des Erfassenden in verschiedener Weise beteiligt. ... Bei genauerer Betrachtung bemerkt man, daß es nicht nur die räumlichen Verhältnisse der Baumgestalt (oben, unten, rechts, links, vorne, hinten) sind, welche die (ihrerseits wiederum begrifflich bestimmten) Teile und Teilganzheiten des Baumes in begriffliche Zusammenhänge bringen. Vielmehr gilt das gleiche auch für die qualitativen oder modalen Bestimmungen. Das Grün, das wir den Blättern zuschreiben, ist ein Begriff von gleichartiger Begrifflichkeit wie Baum, Ast oder oben. Allen diesen Begriffen ist die Allgemeinheit gemeinsam, ebenso im Verhältnis zu den Objekten wie zu den menschlichen Denkaktivitäten, von denen sie erfaßt werden."51

Was an dieser Baumgestalt, so fragen wir uns, ist nicht Begriff? Was an dieser Baumgestalt ist nicht vom Denkenden hervorgebracht? Wenn wir die genetische Perspektive ausblenden, dann haben wir es mit Wahrnehmungen zu tun, die aktuell vom Denken unabhängig "gegeben" sind und die wir mit Begriffen durchsetzen. Dann tritt uns in der Wahrnehmung etwas entgegen, das wir nicht hervorbringen, sondern dem wir lediglich etwas Begriffliches hinzufügen, das wir durch ein Gedankliches ergänzen. Dieser Vorgang ist die von Steiner beschriebene Synthese von Wahrnehmung und Begriff. Wenn wir in diesen Vorgang die erkenntnisgenetische Perspektive einbeziehen, dann tritt uns in der Wahrnehmung - pars pro toto - ein Begriff entgegen, den wir im Verlauf unserer individuellen Entwicklung gebildet haben. Im ersten Fall hat die Wahrnehmung den Charakter eines "vorlogisch Gegebenen", im zweiten Fall hat sie streng genommen den Charakter einer Erinnerung an frühere Denkleistungen. Aus dieser Sicht gesehen ist die Synthese von Wahrnehmung und Begriff ein Wiedererkennen eines einstmals gebildeten Begriffes, der uns in Form einer Wahrnehmung entgegentritt. In der Wahrnehmung tritt uns ein Geistiges entgegen, das eine individuelle Form angenommen, ein Allgemeines, das sich zu einem Besonderen spezifiziert hat. Witzenmanns Überlegungen auf die Beispiele der "Grundlinien ..."52 angewendet ließen sicherlich nicht uneingeschränkt ein Fazit wie das Steinersche zu und ohne Frage ist Witzenmann auch anderer Auffassung als Johannes Volkelt.

Es handelt sich nach Volkelt beim "Gegebenen" der "reinen Erfahrung" um "denkfreie" Gegebenheiten - das Denken hat an diesen Bewußtseinsgegebenheiten keinen Anteil. Ich habe von diesen Gegebenheiten, sagt Volkelt 1886, ein absolut selbstverständliches Wissen, das weder irgendwelche Beweise oder sonstige Denkoperationen voraussetzt. Dieses Wissen hat, wie wir oben sahen, ein eigenes, denkunabhängiges und vorlogisches Erkenntnisprinzip. "Von einer noch einfacheren, tieferen Grundlage des absolut selbstverständlichen Wissens von meinen Bewußtseinsvorgängen kann keine Rede sein" schreibt Volkelt. Also kein Denken oder Begründen, sondern ein eigenes Erkenntnisprinzip. Mit anderen Worten: für Volkelt gilt per definitionem, daß an dem Wissen um die eigenen Bewußtseinsvorkommnisse das Denken nicht beteiligt ist. Für ihn liegt aus diesem Grunde in der "reinen Erfahrung" "diejenige Form der Wirklichkeit" vor, "an der das Denken gar keinen Anteil hat", um es mit Steiners Worten wiederzugeben.

Es gibt nach Volkelt nur ein positivistisches Erkenntnisprinzip der "reinen Erfahrung" neben einem rationalistischen der "Denknotwendigkeit", und das "unmittelbare Wissen von den eigenen Bewußtseinszuständen", das Wissen der "reinen Erfahrung", ist jenes Wissen, auf welches das rationalistische Prinzip der Denknotwendigkeit noch keine Anwendung gefunden hat und im begründenden Sinne auch gar nicht finden kann, da es ja seinerseits, wie oben gezeigt, von der Gewißheit der vorlogischen Erfahrung abhängig ist - das Wissen der "reinen Erfahrung" ist vorlogischer Natur, es ist absolut unabhängig von jeglicher Denkleistung, läßt sich auf keinerlei Denkakte zurückführen. Im Jahre 1918 wird Volkelt besonders deutlich. Im Kapitel "Der vorlogische Charakter der Selbstgewißheit des Bewußtseins" schreibt er 1918: "Ein besonders schweres Mißverständnis wäre es, wenn man behaupten wollte, daß an der Selbstgewißheit des Bewußtseins bereits die Arbeit des Denkens beteiligt sei, und daß daher diese Selbstgewißheit kein eigentümlicher Gewißheitstyp im Unterschiede vom denkenden Erkennen sei."53 Jeglicher Bewußtseinsinhalt wird zum Gegenstand "vorlogischer Gewißheit", stellt das "Gegebene" dar, oder wie es Johannes Volkelt formuliert: "Das Erkennen hat nicht etwa nur an dem Empfindungsstoff ein unmittelbar Gegebenes, sondern alle durch Selbstgewißheit des Bewußtseins festgelegten Regelmäßigkeiten bilden für die Arbeit des Denkens eine vorlogisch vorhandene Schicht."54 "Hier gehört also jedweder Inhalt, mag er Empfindung, Erinnerung, Phantasiegestalt, Gedanke, Gefühl, Begehren, Wollen sein, zum Gegebenen, wofern er mir durch die Selbstgewißheit des Bewußtseins verbürgt wird."55

Volkelts Konzeption der "reinen Erfahrung" enthält nicht nur gute Argumente gegen den einseitigen Positivismus, sondern sie stellt auch in ihren frühen Formen eine mögliche Ausgangsbasis dar, um zu einem Programm der Erkenntnistheorie zu kommen, in der das Denken selbst zu einem Teil der "reinen Erfahrung" oder des "Gegebenen" wird. Was sie nicht enthält und auch nicht enthalten kann ist eine Theorie der Erkenntnisgenese, die die vorlogischen Schichten des Bewußtseins als genetische Erzeugnisse des Denkens identifiziert, weil sie dann ihr Prinzip der "reinen Erfahrung" aufgeben oder zumindest wesentlich modifizieren müßte. Denn ein im strengen Sinne denkunabhängiges Prinzip der "reinen Erfahrung" läßt sich nicht durchhalten wenn dieses Prinzip aus genetischer Sicht logisch auflösbar und auf Denkakte rückführbar geworden ist. In diesem Fall kann das Denken der "reinen Erfahrung" gegenüber nicht mehr nachrangig behandelt werden sondern bekommt einen vorrangigen Status.

1918 findet sich bei Volkelt der Gedankengang der "vorlogischen Gewißheit" noch einmal besonders gründlich expliziert im Zusammenhang mit Wahrnehmungsvorgängen. Volkelt schreibt: "Ebensowenig ist die Selbstgewißheit des Bewußtseins so zu verstehen, als ob in dem Gewißsein von einem Bewußtseinsinhalt immer ein Existentialurteil enthalten wäre. ... Ich sehe hierin eine Logisierung der Wahrnehmung. Ohne Zweifel ist das Wahrnehmen häufig zugleich implizite als ein Existentialurteil gemeint. Aber das Wahrnehmen ist und bleibt Wahrnehmen auch abgesehen von allem Existentialurteil. Wenn ich gedankenlos und träumend ins Grün hinausschaue, so ist Wahrnehmung ohne Existentialurteil vorhanden. ... Freilich bin ich in dieser Gewißheit jedesmal irgend eines Vorhandenen, Bestehenden, Seienden, oder wie man sagen will, gewiß. Allein diese Gewißheit ist weit entfernt davon, immer eine Urteilsgewißheit sein zu müssen."56

Das Phänomen des "denkfreien Erlebens" findet sich nach Volkelt bei jeglicher Form der Wahrnehmung, auch der bewußtseinsklarsten und Inhalt dieser "vorlogischen Gewißheit" kann so gut wie alles sein, also auch Beziehungen, deren Aufdeckung in der Regel dem Denken zugeschrieben werden. Die Beziehungen der Verschiedenheit, des Größer oder Kleiner, des Stärker oder Schwächer können ebenso Gegenstand dieser "vorlogischen Gewißheit" sein wie Beziehungen des Raumes oder der Zeit. "Ich bin des Schwarz-, ich bin des Weiß-Gegebenseins unmittelbar und unbezweifelbar gewiß", schreibt Volkelt. "Mit genau der gleichen Unmittelbarkeit und Unbezweifelbarkeit bin ich aber auch des Verschiedenseins dieser beiden Gegebenheiten gewiß. So gewiß mir Schwarz und Weiß gegeben sind, so gewiß ist mir auch das Anderssein der beiden Inhalte gegeben."57 Es gibt, sagt er, eine unmittelbare Beziehungsbewußtheit, in die keinerlei Denken einfließt. "Das Beschreiben nach Gleichheit, Ähnlichkeit, Gegensatz ist .. rein auf Grund der Selbstgewißheit möglich."58 "Die hier vertretene Ansicht", so Volkelt, "steht in bewußtem Gegensatz zu der modernen Transzendentalphilosophie, wonach es widersinnig sein soll, ein Denkfremdes, ein Vorlogisches, ein Reich der Gegebenheiten anzunehmen. Die Selbstgewißheit des Bewußtseins ist das schlechtweg Vorlogische, das erkenntnistheoretisch rein Gegebene. ... Der Inhalt freilich, den die Selbstgewißheit des Bewußtseins erfaßt, zeigt alle nur möglichen Grade von Verwickeltheit; häufig ist er ein Ergebnis mühevoller Erarbeitung. ... Mag noch so viel Arbeit in den Bewußtseinsgebilden stecken, und mag diese Arbeit noch so sehr logischer Art sein: dies ist völlig gleichgültig, wenn es sich darum handelt, daß mir die Bewußtseinsgebilde in der Weise unmittelbaren Erlebens, in reinem Selbstinnesein gewiß werden. Sie werden damit eben zum Inhalt einer vorlogischen Gewißheit und bieten sich dem denkenden Erkennen, falls es sich auf sie richten will, als Material, als »Gegebenes« an."59

Vor dem Hintergrund des Volkeltschen Basisprinzips wird verständlich, warum Volkelt gegenüber dem "Gegebenen" der "reinen Erfahrung" zu der Auffassung kommen kann, dieses "Gegebene" sei denkfrei gegeben. Und vor diesem Hintergrund könnte auch verständlich werden, warum sich Steiner in den "Grundlinien ..." in eben demselben Sinne äußert. Wenn Steiner in den "Grundlinien ..." am Ende des langen Volkeltschen Zitats sagt, mit dessen Charakterisierung der "reinen Erfahrung" sei diejenige Form der Wirklichkeit geschildert, "an der das Denken gar keinen Anteil hat"60, dann entspricht diese Beurteilung exakt der Volkeltschen. Steiner schließt sich hier offensichtlich der Volkeltschen Auffassung an, es könne etwas im Bewußtsein als bewußte Vorstellung gegeben sein, ohne daß das Denken in Form von Existentialurteilen bzw. durch den Rekurs auf Begriffe daran beteiligt wäre.

Ende Kapitel 5      

    


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