Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Begriff des Gegebenen bei Rudolf Steiner

(Stand 12.07.01)

Kapitel 7d

Genetische Fragen der begriffslosen Erfahrung

Kehren wir noch einmal zur weiter oben skizzierten Synthesisproblematik zurück und betrachten diese jetzt aus einem etwas anderen Gesichtswinkel. Ob ich das "Gegebene" als ein absolut denkfreies oder als ein relativ denkfreies ansehe, muß in letzter Konsequenz durchaus zu denselben Resultaten führen. Ob Steiner sich mehr an die erstere Form oder mehr an die zweite hält, läßt sich aus seiner Erkenntnistheorie nicht zweifelsfrei ermitteln, aber es ist für diese letzte Konsequenz auch nicht besonders wesentlich. Auch wenn Volkelt mit seiner Auffassung recht behalten sollte, daß so etwas wie vorlogische Gegebenheiten existiert, stellt sich notwendig die Frage nach ihrer Genese dann, wenn wir in diesen vorlogischen Gegebenheiten die Resultate ursprünglicher Denkakte sehen und keine Relikte denkfreier positivistischer "Tatsachen". Und aus der Sicht Steiners müssen sie so angesehen werden, auch wenn das in seiner eigenen Darstellung nicht immer so ganz deutlich wird.

Wenn alle Wahrnehmung sich letztendlich in Begriffe auflösen läßt, dann wäre zu erwarten daß ein erkenntnistheoretisches Konzept wie das Steinersche dem Denken, auf jeder Entwicklungsstufe den entscheidenden Anteil bei der Konstitution der Wirklichkeit einräumt und es in eine viel größere Nähe zur Wahrnehmung selber bringt und zwar sowohl auf der Objektseite wie auf der funktionalen. Das Wahrnehmungsobjekt ist in der Tat für Steiner eine besondere Variante des Begriffs: "Die Überzeugung sollte alle Wissenschaften durchdringen, daß ihr Inhalt lediglich Gedankeninhalt ist und daß sie mit der Wahrnehmung in keiner anderen Verbindung stehen, als daß sie im Wahrnehmungsobjekte eine besondere Form des Begriffes sehen."94 lesen wir in den "Grundlinien ...". Das Wahrnehmungsobjekt ist, so betrachtet, ein erstarrtes Begriffliches - wir könnten etwas bildhafter sagen: eingefrorener Geist.

Nun ist es nicht unbedingt die Aufgabe einer Erkenntnistheorie, den Prozeß des Einfrierens von Geist zu beschreiben, sie kann lediglich das Grundsätzliche klären und nicht die Details. Aber eine derartige Aufgabenstellung folgt aus dieser Erkenntnistheorie und wäre von einer entsprechenden Wissenschaft der Erkenntnisgenese zu verfolgen. In dieser Richtung finden sich manche interessanten Gedankengänge in der "Strukturphänomenologie" Herbert Witzenmanns. Mit Witzenmann läßt sich mit guten Gründen die Ansicht vertreten, daß das einmal erkannte und vom Denken konstituierte Wahrnehmungsobjekt als individualisierter Begriff erinnerungsförmig wird und diese Art von Erinnerung wäre in etwa mit dem vergleichbar, was Volkelt die "vorlogischen Bewußtseinsschichten" nennt, wohlgemerkt, immer mit der Einschränkung versehen, wir halten diese Erinnerungen nicht für denkfreie positivistische Tatsachen oder glauben mit Volkelt an ein zweites, denkunabhängiges Erkenntnisprinzip. Auch diese vorlogischen Schichten sind ursprünglich vom Denken aufgebaut aber sie werden danach gleichsam abgelagert wie Sedimente, so daß wir ihren eigentlichen Ursprung und den Vorgang ihrer Erzeugung nicht mehr kennen - er verliert sich im Dunkel der Ontogenese und muß wie der geologische Sedimentierungsvorgang rekonstruiert werden. Die Erkenntnistheorie löst künstlich die einzelnen Sedimente aus ihrer Umgebung heraus und zeigt lediglich prinzipiell, wie der Vorgang der Sedimentierung abgelaufen sein muß, wenn man das Ganze verstehen will.

Unter diesem Gesichtswinkel wird jeder Akt der Wahrnehmung zur Selbstwahrnehmung, insofern uns im Wahrnehmungsobjekt unsere erinnerten Begriffe entgegentreten. Alles was uns an diesem Wahrnehmungsobjekt als bekannt und vertraut entgegentritt, sind unsere eigenen Erinnerungen - aus den Gegenständen der Wahrnehmung schauen uns unsere Vor-Urteile an. "Ich erkenne in dem Sinnesobjekt den Gedanken, den ich aus meinem Inneren herausgeholt, nur wieder.", sagt Rudolf Steiner in den "Grundlinien ..." "Dieses Objekt veranlaßt mich zwar, in einem bestimmten Augenblicke gerade diesen Gedankeninhalt aus der Einheit aller möglichen Gedanken herauszutreiben, aber es liefert mir keineswegs die Bausteine zu denselben. Die muß ich aus mir selbst herausholen."95 Es spielt dabei keine Rolle, wann und wo ich den entsprechenden Gedanken gebildet habe: "Es ist für mich nur die Fähigkeit erforderlich, einen bestimmten Begriff aus dem Fonds der Gedankenwelt hervorgehen zu lassen. Nicht darum handelt es sich, daß mir ein bestimmter Gedanke im Laufe meines Lebens schon bewußt war, sondern darum, daß er sich aus der Welt der mir erreichbaren Gedanken ableiten läßt. Das ist ja für seinen Inhalt unwesentlich, wo und wann ich ihn erfasse."96 Im Falle einer neuen und noch weitgehend fremden Wahrnehmungsgegebenheit muß ich solche Gedankenformen finden, die zum Rest meiner Erinnerungen, zu meinen Vor-Urteilen widerspruchsfrei passen. Manchmal gelingt das nicht ohne weiteres und wir müssen nicht nur neue Gedankenformen finden, sondern auch die alten, erinnerungsförmig gewordenen ganz grundlegend verändern - in diesem Fall stehen wir mit Kuhn gesprochen vor einem Paradigmenwechsel.

In jede Art von Wahrnehmung ist das Denken involviert. Das Wahrnehmungsobjekt finden wir nie unabhängig vom Denken, aber das Denken selbst finden wir, indem wir es durch das Denken wahrnehmen. Man könnte etwas radikaler formulieren: Wenn sich jeder Gegenstand der Wahrnehmung in Begriffe auflösen läßt und es uns in letzter Instanz nie gelingt ein Wahrnehmungsobjekt ohne Begriffe zu finden, wir also nie einen Wahrnehmungsrest unabhängig vom Denken finden, sondern im Wahrnehmungsobjekt selbst nur eine besondere Form des Begriffs zu sehen haben, dann laufen wir der absolut begriffsfreien Wahrnehmung wie einem Phantom hinterher, das immer just in dem Augenblick entschwindet, wenn wir es greifen wollen. Angesichts dieser Sachlage könnten wir den Prozeß von Wahrnehmung und Denken in gewisser Weise auch umkehren und ebensogut sagen, nicht die Welt kommt durch unsere Sinnesorgane herein, sondern unser Denken geht durch die Sinnesorgane nach draußen. Nicht die Außenwelt wird durch unsere Sinnesorgane abgebildet, sondern wir bilden durch die Sinnesorgane den Inhalt unseres Geistes in dem ab, was wir Außenwelt nennen. "Wenn der eine, der ein reiches Seelenleben hat, tausend Dinge sieht, die für den geistig Armen eine Null sind, so beweist das sonnenklar, daß der Inhalt der Wirklichkeit nur das Spiegelbild des Inhaltes unseres Geistes ist und daß wir von außen nur die leere Form empfangen. Freilich müssen wir die Kraft in uns haben, uns als die Erzeuger dieses Inhaltes zu erkennen, sonst sehen wir ewig nur das Spiegelbild, nie unseren Geist, der sich spiegelt. Auch der sich in einem faktischen Spiegel sieht, muß sich ja selbst als Persönlichkeit erkennen, um sich im Bilde wieder zu erkennen." 97 Wenn wir es genetisch betrachten - möchte man Steiner hier kommentieren - dann scheint die von außen empfangene "leere Form" doch auch von uns zu stammen.

Wenn das Objekt der Wahrnehmung gedankenhaft ist, warum sollte es dann die Tätigkeit der Wahrnehmung nicht sein? Anders gewendet: aus der erkenntnistheoretischen Sicht Steiners ergibt sich eine andere als die klassische Wahrnehmungstheorie, nach der uns die Sinne Bilder oder Eindrücke von was auch immer liefern, die wir passiv aufnehmen und dann begrifflich weiter zu ordnen haben. Schon die einfachste visuelle Anschauung ist im höchsten Maße gedankenhaft und vom Denken durchsetzt, so daß es ganz abwegig ist, von einer Passivität der Wahrnehmung zu sprechen, oder Sinneswahrnehmung und Denken als grundsätzlich polare Funktionen einander gegenüber zu stellen. Sie sind nicht voneinander zu trennen. 98 In einer Wahrnehmungstheorie, die sich an Steiners erkenntnistheoretischen Positionen orientiert, sollten Wahrnehmungs- und Denktätigkeit nicht in einem unüberbrückbaren Gegensatz zueinander stehen müssen. Bei Steiner, so wissen wir, hat das Denken nicht nur eine spontane sondern auch eine rezeptive Funktion, das heißt der althergebrachte funktionale Gegensatz von passiver Wahrnehmung und aktivem Denken wird hier schon mehr und mehr aufgelöst. In der Steinerschen Erkenntnistheorie sehen wir eine Reihe von Schritten in diese Richtung z.B. in Form einer Erweiterung des Sinnesbegriffes. So lesen wir in den "Grundlinien ...": "Wenn wir nun für die erste Form, in der wir die Wirklichkeit beobachten, einen Namen haben wollten, so glauben wir wohl den der Sache am angemessensten in dem Ausdrucke: Erscheinung für die Sinne zu finden. Wir verstehen da unter Sinn nicht bloß die äußeren Sinne, die Vermittler der Außenwelt, sondern überhaupt alle leiblichen und geistigen Organe, die der Wahrnehmung der unmittelbaren Tatsachen dienen. Es ist ja eine in der Psychologie ganz gebräuchliche Benennung: innerer Sinn für das Wahrnehmungsvermögen der inneren Erlebnisse."99 Bereits in dieser Formulierung bahnt sich die Aufhebung des klassischen Dualismus von Wahrnehmung und Denken an und auf diesem Schritt baut die epistemologische Konzeption Steiners vom Denken als einem Wahrnehmungsorgan für Begriffe und Ideen ganz grundlegend auf, wie sie in den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften zum Ausdruck kommt: "Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. ... Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung."100 Natürlich sind die Objekte des Denkens nicht ausschließlich die dort gemeinten Ideen, sondern es ist auch Auffassungsorgan für jene Begriffe, die es in der übrigen Wahrnehmungswirklichkeit "nur wiederkennt", wie es in den "Grundlinien ..." (S. 66) heißt.

In der "Philosophie der Freiheit" lesen wir entsprechend in einem Zusatz von 1918: "Bedacht sollte auch werden, daß die Idee von der Wahrnehmung, wie sie in dieser Schrift entwickelt wird, nicht verwechselt werden darf mit derjenigen von äußerer Sinneswahrnehmung, die nur ein Spezialfall von ihr ist. Man wird aus dem schon Vorangehenden, aber noch mehr aus dem später Ausgeführten ersehen, daß hier alles sinnlich und geistig an den Menschen Herantretende als Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten Begriff erfaßt ist."101

Steiner erweitert in der Epistemologie zunächst den Wahrnehmungsbegriff nach oben hin zum Denken - dem Denken wird eine rezeptive Dimension oder Funktion beigelegt, die man üblicherweise nur der klassischen Sinneswahrnehmung zugestand. Was mir noch zu fehlen scheint, ist eine vergleichbare Erweiterung des Wahrnehmungsbegriffes nach unten hin um eine spontane Dimension, denn die Tätigkeit des Denkens erschöpft sich ja nicht im reinen Denken. Dieses stellt eine besonders hochentwickelte Form des Denkens dar, aber es ist nicht die einzig mögliche, sondern die erkenntnisgenetisch vorangehenden Erscheinungsweisen des Denkens wären doch ebenso zu berücksichtigen. Im Rahmen einer solchen Erweiterung müßte aufgezeigt werden, wie das erkenntnisgenetisch vorangehende Denken - vielleicht als vorbewußtes Denken - unsere alltägliche Wahrnehmungswirklichkeit konstituiert. Wenn die Tatsachen des objektiven Idealismus Gedanken sind, dann muß eine entsprechende Wahrnehmungs- oder Sinneslehre den Aufbau der sinnlichen Welt metaphorisch gesprochen als eine Art Erstarrungsprozeß begreifen. Die Wahrnehmungswirklichkeit besteht danach aus "verfestigten" Gedanken oder Begriffen. Aus den ursprünglich beweglichen und flüssigen begrifflichen Inhalten des Denkens werden vergleichsweise starre und unbewegliche Gegenstände oder Strukturen, die in dieser Form als klassische Sinnesobjekte wahrgenommen werden und ihren eigentlichen Ursprung so nachhaltig verbergen, daß wir naiverweise meinen, unsere Sinnesorgane bildeten lediglich etwas ab, an dem wir keinen Anteil haben. Der Prozeß dieser Verfestigung müßte in einer entsprechenden Theorie bewußtseinsphänomenologisch zu beschreiben sein, wie es etwa Witzenmanns "Strukturphänomenologie" versucht.

Die Einführung eines spontanen Bestandteils in die Wahrnehmung kann wie gesagt etwa bedeuten, daß aus dem angenommenen passiven Charakter der klassischen Wahrnehmung ein aktiver wird, sie kann aber auch bedeuten, daß auf der anderen Seite der rigide Bruch zwischen Anschauung und Begriff aufgelöst wird. Die Wahrnehmung oder Anschauung bekommt damit eine gedankliche Dimension und umgekehrt wird das Denken anschaulicher, bekommt eine anschauliche Dimension; gleichzeitig müßten sich alle möglichen Übergangsformen zwischen klassischer Anschauung und sinnlichkeitsfreiem Begriff aufzeigen lassen. 102

Ich erwähnte eingangs, daß Immanuel Kant seiner Vermutung Ausdruck gab, die beiden Stämme des menschlichen Erkenntnisvermögens, Wahrnehmung und Denken, gründeten letztendlich in einer gemeinsamen Wurzel. Für einen monistischen Idealismus müßte dies eine selbstverständliche Erwartung sein. Am ehesten sollte dieses gemeinsame Wurzel dort nachweisbar sein, wo sich Sinneswahrnehmung und Denken noch nicht so weit voneinander entfernt haben wie beim normalen Erwachsenen und die Strukturen der Wahrnehmungswirklichkeit noch nicht in die späteren starren Formen geronnen sind, das heißt im (früh)kindlichen Bewußtsein. Dort sollten wir tatsächlich Wahrnehmung und Denken in einer nahezu ungeteilten Einheit vorfinden.

Ende Kapitel 7d             


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