Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Lutz Baar, Michael Muschalle

Kritischer Briefwechsel zum Beobachten und Erleben des Denkens

Über diesen Briefwechsel (20.05.08)

Der vorliegende Briefwechsel fand statt im November/Dezember 2002. Auslöser war die von mir im Rahmen einer kritischen Besprechung Georg Kühlewinds getroffene Unterscheidung zwischen Beobachten und Erleben des Denkens. Siehe dazu den ersten Brief von Lutz Baar vom 13.11.02.

(Zu Kühlewind - in der Zwischenzeit geringfügig überarbeitet - siehe auf meiner Homepage:

12AporieKap6.4.html )

Mit dem freundlichen Einverständnis meines Briefpartners stelle ich ihn hier zur Verfügung weil ich glaube, daß die aufgeworfenen Fragen und Gesichtspunkte von allgemeinem Interesse sind. Und vielleicht auch symptomatisch für den Stand der Rezeption mehr als 100 Jahre nach Erscheinen der Philosophie der Freiheit.

Zum weiteren Kontext der Diskussion siehe auch folgende Internetadressen:

http://www.groups.yahoo.com/group/Kuehlewind-Steiner/messages/

http://www.antropos.org/forum/foru_fra.htm

Speziell den Teilnehmern aus der Yahoo Newsgroup Kühlewind-Steiner möchte ich noch folgendes zu meiner Kritik an Kühlewind sagen: Es wird in dieser Newsgroup in verschiedenen Beiträgen erwähnt, daß Kühlewind so gut wie gar keine Interpretationen Steiners geliefert habe, und er sich weitgehend unabhängig von Steiner äußere. Das mag in vielen Fällen so sein. Im Fall seiner Schrift "Bewußtseinsstufen" hat er allerdings explizit eine Interpretation vorgelegt. Und die ist eindeutig falsch und irreführend.

Was die Steiner-Unabhängigkeit in den Publikationen Kühlewinds betrifft, so ist, was von einigen Teilnehmern als eher wohltuend empfunden wurde: - das Nicht- oder Kaum-Erwähnen Steiners durch Kühlewind -, in Wirklichkeit ein eklatanter Mangel. Nämlich dann, wenn Kühlewind in seinen Schriften implizit auf Steiner aufbaut, aber über diese Beziehung keine Quellenangaben macht und keine öffentliche Rechenschaft ablegt. Denn wie auch immer er auf Steiner fußt - wenn er es überhaupt tut, dann liegen dieser Beziehung Interpretationen zugrunde, wenn auch nicht unbedingt publizierte. Im Denken und in den Publikationen des Autoren sind derartige (Fehl)Interpretationen unter Umständen aber höchst virulent, nur für seinen Leser nicht sichtbar. Wenn sie nun nicht explizit gemacht werden, dann hat der Rezipient kaum eine Chance das zu bemerken und sie eventuell zu überprüfen und zu kritisieren, es sei denn er wäre Experte im fraglichen Sachverhalt.

Ich erwähne das insbesondere im Hinblick auf einige Textbeispiele, die von Lutz Baar auf dieser Yahoo-Seite veröffentlicht wurden. So stellt er etwa am 16. 06. 2002 folgendes Textbeispiel von Kühlewind vor:

"3) Gedanken über das Denken

Dass es das Denken als Prozess gibt, ist eine Folgerung aus dem Umstand, dass das Gedachte zunimmt und wechselt. Das können wir einsehen, weil wir über die Fähigkeit des Reflektierens verfügen, nämlich unsere Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit des Denkens - des Bewusstseins überhaupt - lenken können. Diese Fähigkeit ist uns ohne persönliche Arbeit, eigenes Bestreben oder Lernen gegeben. Wir schauen auf das Vergangene, schon erstarrte Denken aus der Gegenwart. Sie selbst erleben wir gewöhnlich nie, obwohl wir aus ihr auf die Vergangenheit und die Zukunft schauen. Indem wir auf diese schauen, heben wir sie in die Gegenwart für einen homöopathisch kurzen Augenblick. Wir werden sie aber nur gewahr, wenn sie - auch die Bilder der Zukunft - wieder aus der Gegenwart, aus dem Denk - und Vorstellungsprozess ausgeschieden sind und als Gewordenes vor dem inneren Blick stehen, für eine Aufmerksamkeit, die aus der Gegenwart schaut.

Besinnung 3: Allein die Gegenwart ist Wirklichkeit.

(Auch als Meditationsthema geeignet.)

GK"

Was Kühlewind hier sagt ist wohl kompatibel zu der von mir kritisierten Steinerinterpretation Kühlewinds - aber es ist vollkommen unverträglich mit Steiners eigener Auffassung aus dem dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit. Denn das Gewahrwerden der eigenen Aktivität - für Kühlewind überwiegend eine Folgerung aus dem Umstand, dass das Gedachte zunimmt und wechselt - tritt bei Steiner schon gleich zu Beginn und im weiteren Verlauf des dritten Kapitels der Philosophie der Freiheit auf, und ist auf gar keinen Fall ein Resultat von Schlußfolgerungen. Und das aus gutem Grund: Weil nur so vernünftigerweise von Denkvorgängen gesprochen werden kann. Die Aktivität gehört von Anfang an zu den essentiellen Eigenschaften, die das Denken charakterisieren, und die auch erlebt wird, sobald sich die bewußte Aufmerksamkeit überhaupt darauf richtet. Das gipfelt im Zusatz von 1918 zu Kapitel III in der Aussage: "Mag es das Wesen des Denkens immerhin notwendig machen, daß dieses gewollt wird: es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem «Ich» nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint." Beziehungsweise ebendort (S. 54) in dem markanten Satz: " ... daß nur in der Betätigung des Denkens das «Ich» bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß." Was nur über Folgerungen zugänglich ist, weil irgend etwas "zunimmt und wechselt" wäre für Steiner überhaupt kein Denken, sondern irgend ein Bewußtseinsphänomen "traumhaft, wie vage Eingebungen" (S. 55), von dem man nicht weiß, wo und wie es herkommt. Von "überschaubarer Tätigkeit" kann da absolut keine Rede mehr sein.

Kühlewinds Verfahren auf eigene Tätigkeit zurückzuschließen, ist mindestens ebenso abenteuerlich wie seine Steinerinterpretation in der Schrift "Bewußtseinsstufen". Denn entweder war ich bei meinem Denken mit dem Bewußtsein dabei, - dann brauche ich nicht auf eigene Aktivität zurückzuschließen, denn ich habe sie erlebt. War ich aber nicht mit dem Bewußtsein dabei und habe sie nicht erlebt, dann nützen mir alle Schlußfolgerungen nichts, weil die Frage bezüglich eigener Aktivität gar nicht mehr entscheidbar ist. Das sogenannte Gedachte kann dann weiß Gott wie auf meine Bewußtseinsbühne gelangt sein - ob assoziativ, per Eingebung, via vergessener Eigenaktivität, unbemerkter Hypnose, Telepathie oder hirnorganischer Erregung und was es sonst noch geben mag: Ich weiß es nicht und kann es auch nicht mehr wissen. Die Sache ist vorbei und kommt nicht wieder. Und da ich kein Zeuge war und es außer mir keinen möglichen zweiten gibt, ist es aussichtslos schlußfolgernd darüber zu spekulieren. Die Aktivität wird dann nur noch nachträglich ohne jegliche Urteilsgrundlage theoretisch hinzu konstruiert oder postuliert, ist aber eine reine, haltlose Fiktion. Die bloße Zunahme und der Wechsel von Gedachtem ist also alles andere als ein sicheres Indiz für vom Ich getätigte Denkvorgänge. Sie ist lediglich ein sicheres Anzeichen dafür, daß in meinem Bewußtsein überhaupt irgend etwas passiert ist. Für die Bewertung des Denkens kommt es in Steiners Augen aber nicht nur darauf an zu wissen daß etwas passiert ist, sondern ganz und gar darauf, was passiert ist.

Hier ist schon die Frage angebracht, wieweit Kühlewind in den von Lutz Baar veröffentlichten Textbeispielen von seiner eigenen Fehlinterpretation geleitet wird, denn diese legt speziell eine solche Auffassung sehr nahe. (Für Witzenmann gilt nebenbei gesagt ganz Analoges, dem Kühlewinds Ansatz in dieser Frage auffallend gleicht.) Es könnte durchaus sein, daß Kühlewind heute noch in dem Irrglauben ist, seine Meinung sei mit derjenigen Steiners so gut wie identisch, und seine Leser glauben das womöglich auch, weil sie es nicht prüfen können. (Das kann man ihn ja einmal bei seminaristischen Zusammenkünften fragen.) Soweit ich das jedenfalls aus Lutz Baars Textbeispielen und aus dem Buch "Bewußtseinsstufen" entnehmen kann, ist sein Verhältnis zu Steiners Auffassung überaus problematisch und im höchsten Maße klärungsbedürftig. Wenn Kühlewind also der Ansicht ist, daß er im Einklang mit der Philosophie der Freiheit steht, dann wird es allerhöchste Zeit, daß er dieses Verhältnis öffentlich klärt und weitere prüfbare Interpretationen vorlegt, damit seine Leser wissen woran sie sind.

Die eben angesprochene Verwandtschaft zwischen Kühlewind und Witzenmann besteht möglicherweise nicht ganz zufällig. Ich erinnere mich noch gut an die 1980er Jahre, als ich in engerer Verbindung stand zu Peter Schneider in Paderborn. Damals besuchte ich gemeinsam mit einem Mitarbeiter Schneiders eine Vortrags- und Seminarveranstaltung Kühlewinds - ich glaube es war in Dortmund oder Umgebung. Wir sprachen nach der Veranstaltung auch über Kühlewinds Schriften. Und der Mitarbeiter Schneiders, der selbst in naher Verbindung zum Novalis Hochschulverein stand, berichtete, daß man von dieser Seite auch mit Kühlewind zusammenarbeite und auf den Inhalt seiner Schriften Einfluß nehme. Nun war dieser Novalis Hochschulverein dem Gedankengut Herbert Witzenmanns sehr verbunden. Und es wundert daher nicht, wenn sich in Kühlewinds literarischem Werk Gedankengänge Witzenmanns möglicherweise wiederfinden. Die oben zitierte Internetpassage Kühlewinds: "Dass es das Denken als Prozess gibt, ist eine Folgerung aus dem Umstand, dass das Gedachte zunimmt und wechselt. Das können wir einsehen, weil wir über die Fähigkeit des Reflektierens verfügen, nämlich unsere Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit des Denkens - des Bewusstseins überhaupt - lenken können. Diese Fähigkeit ist uns ohne persönliche Arbeit, eigenes Bestreben oder Lernen gegeben. Wir schauen auf das Vergangene, schon erstarrte Denken aus der Gegenwart. Sie selbst erleben wir gewöhnlich nie, ..." deckt sich weitgehend mit den Gedankengängen Marcelo da Veiga Greuels in dessen Dissertation, die hier besprochen ist. Für Da Veiga Greuel wird dort das Problem der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens ganz explizit zum Problem der empirischen Grundlegung von Wissenschaft überhaupt, weil die Unbeobachtbarkeit mit Nichterfahrbarkeit gleichgesetzt wird. Und das wiederum entspricht Witzenmanns berüchtigtem Erzeugungsproblem. (Witzenmann spricht in diesem Zusammenhang nicht nur explizit von einem Erzeugungsproblem, sondern mehrfach auch von einer Paradoxie der Selbstgebung, bzw. davon, daß der Denkakt erst dann Bewußtseinsinhalt sei, wenn ich ihn in einem zweiten Denkakt denke. Und macht schließlich die Frage "Wie aus Unbeobachtbarem Erinnerungen werden können" zur erkenntniswissenschaftlichen Grundfrage schlechthin. Offensichtlich ist bislang nur wenigen Anhängern Witzenmanns aufgefallen, daß er damit Steiners Erkenntniswissenschaft buchstäblich auf den Kopf stellt und um ihre empirische Basis bringt. Da Veiga Greuel ist einer der ganz wenigen Anhänger Witzenmanns, die diese Konsequenz zumindest gesehen haben. Freilich dann keine Antwort darauf gibt, sondern lediglich andeutungsweise referriert, wie Witzenmann auf dieses empirische Grundlagenproblem - das in Wirklichkeit gar keines ist, sondern nur ein Mißverständnis in der Interpretation der Philosophie der Freiheit - reagiert.) Sein Schüler spricht in seiner Dissertation folglich nur offen aus was Witzenmann in dieser Angelegenheit denkt. Kein Wunder also, wenn sich ähnliche Gedankengänge dann unter Umständen auch bei Kühlewind wiederfinden. Rezeptionsgeschichtlich wäre das durchaus nachvollziehbar.

Die Tatsache, daß anthroposophische Autoren keine Quellenangaben machen oder wenig explizite Interpretationen liefern, ist eben nicht immer nur wohltuend, sondern oft gar sehr beunruhigend.


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