Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 20.11.03)

Kapitel 6.4

Georg Kühlewind (Siehe hierzu auch KritbrKommentar.html )

Georg Kühlewinds Schrift "Bewußtseinsstufen" 59 ist im Laufe von zwanzig Jahren inzwischen in dritter Auflage erschienen. Ähnlich wie Peter Schneider und wie dieser im Gegensatz zu Witzenmann (siehe unten) anerkennt Kühlewind die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen dem Erleben des Denkens und seiner Beobachtung und weiß diese auch ansatzweise aus dem Text der "Philosophie der Freiheit" herauszuarbeiten. Erlebt wird nach Kühlewind das gegenwärtige Denken (S. 16), während die Beobachtung auf das vergangene gerichtet ist, und sich diesem gegenüberstellend zuwendet. Darin liegt ein positives Moment seiner Darstellung. Aber diese Unterscheidung wird bei Kühlewind nicht stringent durchgehalten, sondern letztlich das Erleben des Denkens als eine besondere Form seiner Beobachtung betrachtet. Und hinsichtlich der Beobachtung kommt er - abgesehen von der zutreffenden Einsicht in den differenten Charakter von Beobachtung und Erleben -, zu keinen befriedigenden Resultaten, die das nähere Was und Wie der Methode erhellen könnten. Zur Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens macht er keine näheren textimmanent-erläuternden Angaben. Der Umstand, daß er zu einer wenig plausiblen Interpretationsthese greift, um Steiners spätere Zusätze an das dritte Kapitel anzuschließen, legt nahe, daß ihm grundlegende Details der Beobachtungsmethode, sowie die Gründe für die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens nicht klar sind. Der Anlaß dazu scheint naheliegend: Auch Kühlewind unternimmt keinen ernsthaften Versuch, Steiners Begriff der "Denk-Beobachtung" anhand des dritten Kapitels der "Philosophie der Freiheit" immanent zu erschließen. So geht er weder der von Steiner behaupteten Wesensgleichheit von beobachtendem und beobachtetem Denken hinreichend nach, noch prüft er die von Steiner explizit angegebenen Gründe für die Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens. Weil er infolgedessen zu keinem deutlichen Begriff der Beobachtung des Denkens kommt, setzt er die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens aus dem dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit mit seiner Nichterfahrbarkeit gleich. Etwa im Kapitel Das Erleben des Denkens, S. 15, wenn er dort anläßlich der Besprechung von Steiners Zusätzen zum 8./9. Kapitel schreibt: "Es wird wieder die Schwierigkeit erwähnt, das gegenwärtige Denken zu erfahren; es wird aber nicht als unmöglich hingestellt wie im Zitat aus dem 3. Kapitel." - was Steiner allerdings dort gar nicht behauptet hat. Damit bleibt Kühlewind nur eine wenig stichhaltige Strategie des Brückenschlages zwischen dem dritten Kapitel und Steiners späteren Zusätzen zum 8./9. Kapitel der PdF, die insbesondere das "Erleben" des Denkens thematisieren. Und es bleibt ihm überdies nur der Ausweg, Steiner im dritten Kapitel implizit Inkonsequenz und Inkonsistenz des philosophischen Denkens zu unterstellen, indem er aus dem dort von Steiner in aller Entschiedenheit betonten und durch verschiedenste Beispiele illustrierten und zementierten Niemals der gegenwärtigen Beobachtung ein Vorläufig oder Zunächst macht. (Siehe das Kapitel Das Grunderlebnis des Geistes, S. 29f.) Zwischen einem Niemals und einem Zunächst indessen liegen - philosophisch gesehen - Welten. Anders gesagt: Wenn ich Steiners Aussagen aus dem dritten Kapitel ernst nehme, wonach die Beobachtung des gegenwärtigen Denkens niemals möglich ist, dann kann das Erleben des gegenwärtigen Denkens - an dessen Möglichkeit ich keinen Augenblick zweifle - nicht seine aktuelle Beobachtung sein.

Kühlewinds Erklärungsansatz gründet in der nicht nachvollziehbaren Auffassung, Steiner habe im ersten Teil seiner Schrift mit "Denken" nur das "Gedachte" gemeint, also nicht den eigentlichen Prozeß oder die Aktivität des Denkens sondern lediglich seine Resultate. Im Kontrast dazu betone der zweite Teil der Schrift - namentlich die Zusätze von 1918 - den Prozeß oder das "lebendige" Denken. Kühlewind schreibt auf S.11: "Die erste Hälfte der »Philosophie der Freiheit« Rudolf Steiners bezieht sich auf eine Bewußtseinsstufe, die dadurch charakterisiert werden kann, daß auf ihr die Inhalte des Bewußtseins durch Beobachtung gegeben sind und insbesondere als ausgezeichnete Beobachtung auf diesem Bewußtseinsfelde die des Denkens, genauer ausgedrückt: des Gedachten, gemacht werden kann. In den ersten sieben Kapiteln des Werkes wird unter »Denken« nicht der Vorgang selber, sondern, wie im gewöhnlichen Sprachgebrauch, das in das Bewußtsein fallende Ergebnis dieses Vorganges verstanden." Dies werde besonders klar an der Stelle des dritten Kapitels, wo Steiner die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens hervorhebt.

Sollte Kühlewinds These zutreffend sein, dann hätte Steiner in den ersten sieben Kapiteln seiner Freiheitsphilosophie über einen grundlegenden Aspekt des freien Handelns, nämlich das Handeln im Denken, nichts oder kaum etwas gesagt. Und das Erleben oder unmittelbare Erfahren der Denkaktivität wäre dort thematisch noch ausgeklammert. Der Text der "Philosophie der Freiheit" spricht indessen eine  andere Sprache. Und nicht zuletzt Steiners spätere Zusätze selbst, wenn dort hervorgehoben wird, daß der erste Teil der Philosophie der Freiheit das intuitive Denken als "erlebte innere Geistbetätigung" hinstelle: "Aber der zweite Teil dieses Buches findet seine naturgemäße Stütze in dem ersten. Dieser stellt das intuitive Denken als erlebte innere Geistbetätigung des Menschen hin." (S. 254, Zusatz von 1918) Wohlgemerkt: der erste Teil der Schrift, und nicht nur die späteren Zusätze von 1918. Nach Steiners Auskunft ist also schon im ersten Teil vom erlebten intuitiven Denken die Rede - keinesfalls nur vom Gedachten.

Zunächst ist Kühlewind zuzustimmen, wenn er einen gewichtigen Unterschied zwischen dem "Beobachten" und dem "Erleben" des Denkens konstatiert. 60 Anzuerkennen ist auch, daß Steiner in den erwähnten Zusätzen in einer Eindringlichkeit auf das Erleben des Denkens hinweist, die sich im Sprachgestus und den angedeuteten Details deutlich von den Ausführungen des dritten Kapitels abheben. Aber ein gravierender Unterschied oder gar Gegensatz in der Sache läßt sich daraus nicht ableiten. Und für Kühlewinds Annahme, Steiner habe im ersten Teil der Schrift unter "Denken" nur das "Gedachte" verstanden, gibt es nicht den geringsten Hinweis.

Man wird sicher nicht erwarten können, daß Steiner im sehr fundamental gehaltenen dritten Kapitel bereits alles ausführt, was zu diesem Gegenstand zu sagen ist. 1918 hätte er bei einer Neuveranlagung sicherlich verschiedenes anders gesagt und anderes zusätzlich vortragen können. Doch von der logischen Struktur des Ganzen her gesehen sind dem dritten Kapitel sachliche Grenzen gesetzt, weil hier manches notwendigerweise auszuführen ist, was für den Fortgang des Projektes unerläßlich ist. Und das solchermaßen Auszuführende kann verständlicherweise nur allgemein gehalten sein. Hier geht es erst einmal um Dinge von elementarer Bedeutung, weitere Leitlinien, und Rahmenfestlegungen und so weiter.

Bezüglich des Denkens geht es hier auch und vor allem um das "Kennenlernen" des Denkens. " ... auch das Denken müssen wir erst durch Beobachtung kennenlernen." heißt es entsprechend auf S. 39. Wenn von der Funktion des Denkens "im Dienste der Weltauffassung" die Rede ist, dann muß dieses selbst in basalen charakteristischen Details skizziert werden, denn auch das Denken ist Teil der Welt und zur Welterkenntnis zählt entsprechend die Erkenntnis des Denkens dazu. Für die Welterkenntnis insgesamt ist die Erkenntnis des Denkens in Steiners Augen sogar die bedeutsamste, die man nur machen kann, weil durch sie erst aller übrigen Erkenntnis ein glaubwürdiges Fundament gegeben wird. Das relevanteste Detail überhaupt in diesem dritten Kapitel ist deswegen die Kennzeichnung der Methode, wie man das Denken erkennt, weil von dieser Methode alles weitere abhängig ist - die Welterkenntnis nicht weniger wie die Frage der Freiheit. (Siehe hierzu Steiners Vorrede von 1918 zu Beginn der Schrift.) Eine andere dieser sehr basalen Erkenntnisse liegt unter anderem in der Bekräftigung der - keineswegs trivialen - Tatsache, daß es sich beim Denken um eine individuelle Tätigkeit handelt. Und so läßt Steiner vom Beginn des Kapitels an in einer Reihe von Schritten und auf einer sehr fundamentalen Ebene das Denken zunehmend klarere Konturen gewinnen, bis über den zentralen Passus hinaus, der es als "wichtigste Beobachtung" qualifiziert, "die man überhaupt machen kann". "Denn er [der Beobachter des eigenen Denkens, MM] beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. " (S. 46)

Bereits auf dieser Ebene des "Kennenlernens" in den wesentlichen Details läßt Steiner kein Bedenken darüber aufkommen, daß es ihm um den Prozeß oder die Tätigkeit des Denkens nicht weniger geht als um seine gewordenen Inhalte. Das liegt auch ganz in der Programmatik der Schrift. Vergessen wir nicht, daß es sich um eine Freiheitsphilosophie handelt, in deren Fokus erklärtermaßen das Tun des Menschen steht. Und eine essentieller Gesichtspunkt des Handelns ist das Tun im Denken.

Tatsächlich ist das dritte Kapitel voll von dezidierten Ausführungen über und Verweisen auf die Aktivität des Denkens. Man kann sogar behaupten: schon im dritten Kapitel hat der Prozeß des Denkens für Steiner fast mehr Gewicht als sein Resultat. Insofern nämlich als dort eine Beobachtung am Prozeß des Denkens die wesentliche Grundlage legt zum spätereren Freiheitsverständnis. Es ist dies Steiners Befund, daß wir uns beim Denken nicht nach den Bedingungen der Hirnphysiologie richten, sondern nach den Inhalten der Gedanken. So trivial diese Bemerkung auch scheinen mag, so folgenschwer ist sie doch für das Urteil in der Frage: Freiheit oder Notwendigkeit? Steiner schreibt S. 44 f der PdF: "Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denkprozeß ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis der physiologischen Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier von dem Denken, insoferne es sich aus der Beobachtung unserer geistigen Tätigkeit ergibt. Wie ein materieller Vorgang meines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt, während ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht. Was ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang in meinem Gehirne den Begriff des Blitz es mit dem des Donners verbindet, sondern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen. Meine Beobachtung ergibt, daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach den materiellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich mich."

Thematisiert ist in diesem Zitat ausdrücklich der Prozeß des Denkens und nicht etwa nur das Gedachte. Steiner spricht wörtlich vom "Denkprozeß" bzw von seiner "durchsichtigen Klarheit". Fundamental ist die angeführte Beobachtung, weil sie nicht nur allen vergangenen und gegenwärtigen Paradigmata vom "denkenden Gehirn" bzw dem hirnphysiologischen Determinismus entgegensteht, sondern auch weil wirkliche Freiheit dann und nur dann möglich ist, wenn es sich so verhält wie von Steiner beschrieben. Das heißt, wenn nicht die Hirnchemie ausbrütet was und wie gedacht wird, sondern wir selbst tätig sind, indem wir uns nach gedanklichen Inhalten richten - das ist nach begrifflich-logischen Entitäten. Wenn nicht aufzuweisen ist, daß unser Denken sich am einsichtigen begrifflichem Gehalt ausrichtet, dann wird der Denkvorgang zum hirnphysiologischen Schattenspiel und das übrige Handeln ein Ausfluß materieller hirnorganischer Gegebenheiten. Das heißt: Wenn das Gehirn denkt, dann ist der Prozeß notwendigerweise deterministisch, durch den jeweiligen materiellen Hirnzustand vorgegeben - wenn auch nicht unbedingt berechenbar.61 Das Handeln im Denken bzw die Denk-Tätigkeit nimmt demnach - als Spezialfall von Handeln oder Willensäußerung überhaupt - eine Schlüsselstellung ein in bezug auf die Entfaltung der Freiheitsfrage.

Immer wieder ist es die "Tätigkeit" oder der "Prozeß", auf die Steiner im dritten Kapitel im Zusammenhang mit dem Denken zu sprechen kommt. Schon in den einleitenden Abschnitten wird beispielhaft die Frage aufgeworfen, ob es sich bei dieser (Denk)-Tätigkeit um eine eherne Notwendigkeit handelt oder um ein selbstbestimmtes Vollbringen. Hören wir Steiner in den ersten beiden Absätzen des dritten Kapitels im Zusammenhang mit dem Billardbeispiel: "Wenn ich beobachte, wie eine Billardkugel, die gestoßen wird, ihre Bewegung auf eine andere überträgt, so bleibe ich auf den Verlauf dieses beobachteten Vorganges ganz ohne Einfluß. Die Bewegungsrichtung und Schnelligkeit der zweiten Kugel ist durch die Richtung und Schnelligkeit der ersten bestimmt. Solange ich mich bloß als Beobachter verhalte, weiß ich über die Bewegung der zweiten Kugel erst dann etwas zu sagen, wenn dieselbe eingetreten ist. Anders ist die Sache, wenn ich über den Inhalt meiner Beobachtung nachzudenken beginne. Mein Nachdenken hat den Zweck, von dem Vorgange Begriffe zu bilden. Ich bringe den Begriff einer elastischen Kugel in Verbindung mit gewissen anderen Begriffen der Mechanik und ziehe die besonderen Umstände in Erwägung, die in dem vorkommenden Falle obwalten. Ich suche also zu dem Vorgange, der sich ohne mein Zutun abspielt, einen zweiten hinzuzufügen, der sich in der begrifflichen Sphäre vollzieht. Der letztere ist von mir abhängig. Das zeigt sich dadurch, daß ich mich mit der Beobachtung begnügen und auf alles Begriffesuchen verzichten kann, wenn ich kein Bedürfnis danach habe. Wenn dieses Bedürfnis aber vorhanden ist, dann beruhige ich mich erst, wenn ich die Begriffe: Kugel, Elastizität, Bewegung, Stoß, Geschwindigkeit usw. in eine gewisse Verbindung gebracht habe, zu welcher der beobachtete Vorgang in einem bestimmten Verhältnisse steht. So gewiß es nun ist, daß sich der Vorgang unabhängig von mir vollzieht, so gewiß ist es, daß sich der begriffliche Prozeß ohne mein Zutun nicht abspielen kann.

Ob diese meine Tätigkeit wirklich der Ausfluß meines selbständigen Wesens ist, oder ob die modernen Physiologen recht haben, welche sagen, daß wir nicht denken können, wie wir wollen, sondern denken müssen, wie es die gerade in unserem Bewußtsein vorhandenen Gedanken und Gedankenverbindungen bestimmen (vergleiche Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie, Jena 1893, 5. 171), wird Gegenstand einer späteren Auseinandersetzung sein. Vorläufig wollen wir bloß die Tatsache feststellen, daß wir uns fortwährend gezwungen fühlen, zu den ohne unser Zutun uns gegebenen Gegenständen und Vorgängen Begriffe und Begriffsverbindungen zu suchen, die zu jenen in einer gewissen Beziehung stehen. Ob dies Tun in Wahrheit unser Tun ist, oder ob wir es einer unabänderlichen Notwendigkeit gemäß vollziehen, lassen wir vorläufig dahingestellt. Daß es uns zunächst als das unsrige erscheint, ist ohne Frage. Wir wissen ganz genau, daß uns mit den Gegenständen nicht zugleich deren Begriffe mitgegeben werden. Daß ich selbst der Tätige bin, mag auf einem Schein beruhen; der unmittelbaren Beobachtung stellt sich die Sache jedenfalls so dar. Die Frage ist nun: was gewinnen wir dadurch, daß wir zu einem Vorgange ein begriffliches Gegenstück hinzufinden?"

Zu mehr als der Hälfte ist in dieser Passage von der Tätigkeit, vom Denkprozeß, die Rede und zwar in unmittelbarer Koppelung mit der Freiheitsfrage. Einige weitere Beispiele aus dem dritten Kapitel ohne Vollständigkeit zu beanspruchen:

  • S. 40 "Den Tisch beobachte ich, das Denken über den Tisch führe ich aus, aber ich beobachte es nicht in demselben Augenblicke. Ich muß mich erst auf einen Standpunkt außerhalb meiner eigenen Tätigkeit versetzen, wenn ich neben dem Tische auch mein Denken über den Tisch beobachten will."

  • S. 41 "Ich bin mir auf das bestimmteste bewußt, daß der Begriff einer Sache durch meine Tätigkeit gebildet wird, ...".

  • S. 41 f. "Es gehört eben zu der eigentümlichen Natur des Denkens, daß es eine Tätigkeit ist, die bloß auf den beobachteten Gegenstand gelenkt ist und nicht auf die denkende Persönlichkeit."

  • S. 42 "Der Grund, warum wir das Denken im alltäglichen Geistesleben nicht beobachten, ist kein anderer als der, daß es auf unserer eigenen Tätigkeit beruht. Was ich nicht selbst hervorbringe, tritt als ein Gegenständliches in mein Beobachtungsfeld ein."

  • S. 43 " ... während ich denke, sehe ich nicht auf mein Denken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt des Denkens, das ich nicht hervorbringe."

  • S. 43 ". Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes."

  • S. 44 "Eben weil wir es selbst hervorbringen, kennen wir das Charakteristische seines Verlaufs, die Art, wie sich das dabei in Betracht kommende Geschehen vollzieht."

  • S. 46 "Für jeden aber, der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten - und bei gutem Willen hat sie jeder normal organisierte Mensch -, ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beobachtet."

  • Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auf Steiners späteren Zusatz von 1918 zum dritten Kapitel auf S. 55 hinzuweisen auf : "Mag es das Wesen des Denkens immerhin notwendig machen, daß dieses gewollt wird: es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem «Ich» nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint. Man muß sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit des Denkens erscheint dieses dem Beobachter als durch und durch gewollt."

  • Um diese Reihe von Beispielen für erlebte Aktivität des Denkens abzuschließen noch ein letzter Hinweis darauf, den Steiner in einem Vortrag vom 30. August 1921 gibt. Er erläutert dort (GA-78, 1968, S. 38 ff) rückblickend die wesentlichen Gedankengänge seiner frühen philosophischen Schriften, sein damaliges Verhältnis zu anderen Denkern und die Motive seiner philosophischen Ausarbeitungen. Unter anderem führt er dort (S. 41 f) aus, wie schwierig es sei, philosophisch zur Erfassung der Aktivität des Denkens zu kommen. So hätten zwar Denker wie Richard Wahle und Johannes Volkelt klar gesehen, daß die Wahrnehmung ohne das Denken nur chaotische, zusammenhanglose Fetzen vor die Seele setzt, die erst vom Denken geordnet werden müssen. Gleichwohl aber seien diese beiden nicht dazu gekommen, sich philosophisch aufzuschwingen zur erlebten Aktivität des Denkens. Steiner (S. 42) wörtlich: " ... ich kann es verstehen, wie solche Denker dann, weil sie sich ganz einleben in das Wahrnehmen, nicht dazu kommen, sich auch einleben zu können in die aktive Wesenheit des Denkens, sich nicht aufschwingen können dazu, anzuerkennen, daß wir, indem wir die Aktivität des Denkens erleben, in einer Tätigkeit ganz drinnenstehen, und weil wir ganz drinnenstehen, sie mit unserem Bewußtsein völlig verbinden können. Ich kann mir gut vorstellen, wie unbegreiflich es solchen Denkern ist, wenn man ihnen aus dem vollen Erleben dieser Aktivität des Denkens die Worte entgegnet: Im Denken haben wir das Weltgeschehen selber an einem Zipfel erfaßt! -, wie ich es in meiner «Philosophie der Freiheit» [GA-04, 1978; Kap. III, S. 49, MM] ausgesprochen habe. 

In all diesen Beispielen ist die "Tätigkeit" des Denkens angesprochen und nicht nur das Ergebnis dieser Aktivität. Mich versetzt es in Erstaunen, wie Kühlewind das alles übersehen konnte. Angemessen ist Kühlewinds Ansatz, zwischen dem Erleben und dem Beobachten des Denkens zu unterscheiden. Doch seine Annahme vom ausschließlichen Gebrauch des Ausdrucks "Denken" im Sinne von "Gedachtem" in der ersten Hälfte der PdF läßt sich anhand des Textes nicht bestätigen. Auch nicht anhand der von ihm beispielhaft auf S. 11 angeführten Schlüsselpassage, welche die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens thematisiert.

Man kann es nicht anders sagen: Kühlewinds Interpretationsansatz mutet angesichts des erdrückend eindeutigen Textmaterials und angesichts Steiners eigener Aussagen so abenteuerlich an, daß man sich nur noch darüber wundert, wie seine Schrift drei Auflagen innerhalb von zwanzig Jahren in dieser Frage unverändert hat überstehen können. Und es ist ganz offensichtlich: Seine Sichtweise ist unmittelbare Folge eines mangelnden Bemühens, den Argumenten für die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens entschlossen nachzugehen, und sich damit Klarheit zu verschaffen über den methodischen Unterschied zwischen Beobachten des Denkens und seinem Erleben respektive Erfahren.

" ... auch das Denken müssen wir erst durch Beobachtung kennenlernen." schreibt Steiner auf S. 39 der Philosophie der Freiheit. Daran ließe sich die Frage anschließen: Wie macht man das eigentlich, das Denken kennenlernen? Wie komme ich beispielsweise darauf, daß ich mich beim Denken nach den Inhalten von Begriffen richte und nicht nach der Hirnphysiologie? Oder wie komme ich darauf, daß ich mein gegenwärtiges Denken nicht beobachten kann? - Die Frage läßt sich im Anschluß an das dritte Kapitel auf einer prinzipiellen Ebene relativ leicht beantworten: Indem ich über Erfahrungen meines Denkens nachdenke. Genau das führt uns Steiner im dritten Kapitel (und nicht nur dort) an zahlreichen Fällen exemplarisch vor. Und genau das tun alle Philosophen oder kognitiven Psychologen, die sich in phänomenologischer Weise der Erkenntnis des eigenen Denkens widmen.

Bei der Beobachtung des Denkens sind Beobachtungstätigkeit und -gegenstand qualitativ gleichwertig, heißt es auf S. 48 der Philosophie der Freiheit. Das bedeutet, wenn ich über das Denken Aufschluß erlangen will, dann muß ich über entsprechende Erfahrungen des Denkens nachdenken. Tue ich das nicht, das heißt, denke ich nicht systematisch über diese Erfahrungen nach, dann lerne ich das Denken auch nicht kennen. Dann habe ich eben nur Erfahrungen des Denkens, aber keine diesbezüglichen Erkenntnisse, weil die Erfahrungen in keine begriffliche Ordnung gebracht sind. Von den Gebilden des Denkens, seinen Eigentümlichkeiten und Wesensmerkmalen weiß ich dann nichts, obwohl sie in der Erfahrung des Denkens stets vorliegen. Dann weiß ich nichts von "Denkakten" oder "Denkinhalten", weiß nichts von "Begriffen", "Vorstellungen", "Intuitionen", "logischen Beziehungen", "Evidenzen" und so weiter. Diese Gebilde bleiben mir dann unbewußt. Gegenüber dem Denken befinde ich mich dann - um das ganze ins Bild zu bringen - in einem paradiesischen Zustand der Naivität und Unwissenheit. Ich handhabe es als eine elementare Kraft und Wesenheit, ohne über seine Eigenheiten selbst irgend etwas zu wissen. Erst wenn ich in einem Akt reflexiver Rückwendung auf das Denken begonnen habe ihm und seinen Gebilden Namen zu geben und sie zu beschreiben, kommt es zu einer Erkenntnis des Denkens, die man auch als eine Form des Aufwachens ihm gegenüber bezeichnen könnte.

Was ist also zu tun, um herauszufinden, wonach man sich beim Denken richtet? Zunächst benötigt man eine Erfahrungsgrundlage - man muß also sein Denken in Bewegung setzen, etwa indem man über etwas nachdenkt. Denken wir einmal konzentriert über einen Bleistift oder einen anderen simplen Gegenstand nach. Solange wir mit dem Denken nur auf diesen Gegenständen verweilen wissen nichts über das Denken, sondern letztlich nur etwas über die Gegenstände des Denkens. Wollen wir auch etwas über das Denken wissen, dann werden wir in jedem Fall in einem zweiten Schritt über die Erfahrungen oder Erlebnisse des ersten Denkprozesses separat nachzudenken haben. Wir müssen also die Erfahrungen des Denkens, die wir während des Nachdenkens - meinetwegen über den Bleistift - haben, selbst zum Thema des Denkens machen. Und das geht nur in einem gesonderten zweiten Denkschritt, der niemals gleichzeitig mit dem ersten erfolgen kann. Steiner nennt dieses Thematisieren von Denk-Erfahrungen "Beobachtung" des Denkens. Damit ist auch ersichtlich, warum das gegenwärtige Denken sich nicht selbst thematisieren kann: Erstens, weil die Erfahrung des Denkens erst zu machen ist. Und zweitens, weil sich nicht gleichzeitig verschiedene Dinge denkend thematisieren lassen.

Es mag sein, daß mancher Leser Steiners Fazit, daß wir uns beim Denken nach den begrifflichen Inhalten richten, damit allein noch nicht hinreichend prüfen kann, weil er möglicherweise Verständnisprobleme bezüglich des Ausdrucks "Begriff" hat. Aber eines wird er ganz sicher für sich positiv klären können: die Auffassung von der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens. Daß er nämlich über einen beliebigen gegenwärtigen Denkakt nicht gleichzeitig nachdenken kann.

In bezug auf Kühlewind ist anzumerken, daß er es versäumt, das dritte Kapitel der PdF auf die relevanten Verständnishinweise hin zu sichten und infolgedessen auf eine wenig plausible Interpretationshypothese ausweicht. Das heißt, er legt sich nicht die Frage vor, was es heißen könnte, wenn Beobachtungstätigkeit und -gegenstand bei der Denk-Beobachtung qualitativ gleichwertig sind. Und er legt sich auch nicht die Frage vor, warum sich das »Ich« bei der Beobachtung des gegenwärtigen Denkens spalten müßte. Tatsächlich gibt es bei Steiner, abgesehen von sprachlicher Pointierung und einigen detaillierteren Hinweisen auf das Erleben des Denk-Prozesses in den späteren Neuzusätzen, keine unterschiedliche Bewertung in Bezug auf das Beobachten des Denkens. "Erlebnisse" des Denkens, von denen dort die Rede ist, sind auch "Erfahrungen" des Denkens. Der Ausdruck des "Erlebens" ist allerdings gesättigter und nachdrücklicher als der allgemeiner gehaltene Begriff des "Erfahrens". Auf der anderen Seite hat Steiner im dritten Kapitel auch nicht behauptet, daß das gegenwärtige Denken nicht zu erfahren sei. Und an der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens ändert sich auch durch die späteren Zusätze nichts. Diese Unbeobachtbarkeit gilt immer - daran hat Steiner nichts revidiert. Zum Erkennen des Denkens ist allerdings ein vertieftes Erleben allein ebensowenig ausreichend wie sein bloß anfängliches Erfahren. Zum Erkennen des Denkens gehört, daß es unter Begriffe gebracht werde. Und das geht einzig auf dem Wege einer denkenden Betrachtung von Denk-Erfahrungen - das ist: Beobachtung des Denkens.

Ende Kapitel 6.4


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