Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Thomas S. Kuhn und das Erzeugen der Wirklichkeit

(Stand 22.06.02)

Kapitel 1

Einleitung

Im Jahre 1918 nahm Rudolf Steiner Stellung zur Frage der Veröffentlichung des Geheimwissens, 1 welches doch in früheren Zeiten einem ausgewählten Kreis von Menschen vorbehalten war, die auf Grund ihrer Reife vor dem Mißbrauch dieses Wissens geschützt waren. Nach Steiners Ansicht verlangen die Zeitverhältnisse und der Entwicklungsstand der allgemeinen menschlichen Erkenntnis nach einer zunehmenden Veröffentlichung dieses Geheimwissens. So schreibt er: "Das Naturwissen hat eine Form angenommen, durch die es fortwährend zerstörend an seine eigenen Grenzen anschlägt. Der Mensch wird jetzt auf vielen Gebieten dieses Wissens durch die Art, wie er gewisse Naturtatsachen in Gesetzmäßigkeiten zu bringen genötigt ist, auf seine übersinnlichen Fähigkeiten hingewiesen. Diese drängen sich an das bewußte Seelenleben heran. Das war in früheren Zeiten bei dem der Allgemeinheit bekannten Naturwissen nicht der Fall. Durch die gegenwärtige Art des sich immer mehr ausbreitenden Naturwissens mußte die Menschheit in eine von zwei Verirrungen geworfen werden, wenn nicht eine Veröffentlichung übersinnlicher Erkenntnisse eintreten würde. Entweder, man würde die Möglichkeit einer übersinnlichen Weltanschauung in immer stärkerer Art ableugnen, was nach entsprechender Zeit zu einer künstlichen Zurückdrängung der herausgeforderten übersinnlichen Fähigkeiten führen würde. Eine solche Zurückdrängung aber würde dem Menschen unmöglich machen, sein eigenes Wesen im wahren Lichte zu schauen. Verödung, Verwirrung, Unbefriedigtheit des Seelenlebens, innere Haltlosigkeit, Willensverkehrtheit und in deren Folge auch physische Verkümmerung und Ungesundheit müßten dann eintreten. Oder die übersinnlichen Fähigkeiten, unbeherrscht durch besonnenes übersinnliches Wissen, müßten als unbewußte, unorienierte, stumpfe Erkenntniskräfte wild wuchern und das menschliche Erkennen in einem chaotischen Vorstellungsnebel verkommen lassen, was gleichbedeutend wäre mit dem Schaffen wissenschaftlicher Trugbilder, die sich als eine Decke für das menschliche Geistesauge vor die wahre übersinnliche Welt hinstellen. Beiden Verirrungen ist nur abzuhelfen durch eine richtige Veröffentlichung des übersinnlichen Wissens." 2

Damit aber dem Drange nach dem Mißbrauch des übersinnlichen Wissens begegnet werde, sei es nötig, dieses Wissen in Gedankenformen zu gießen, die der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart selbst entlehnt sei: "Dem Drange, dieses Wissen in der angedeuteten Art zu mißbrauchen, kann gegenwärtig dadurch entgegengearbeitet werden, daß man die durch das neuere Naturwissen erworbene Gedankenschulung für die Einkleidung der auf das Übersinnliche zielenden Wahrheiten fruchtbar macht. Dieses Naturwissen selbst kann nicht in die übersinnliche Welt eindringen; aber es verleiht der menschlichen Seele die Fähigkeit für Gedankenverbindungen, durch die sich übersinnliche Erkenntnisse so ausdrücken lassen, daß der charakterisierte unwiderstehliche Drang zum Mißbrauch dieses Wissens nicht auftreten muß. Die Gedankenverbindungen des Naturwissens früherer Zeitalter waren bildhafter, weniger nach dem Felde des reinen Denkens hin gelegen, und die Einkleidung der übersinnlichen Anschauungen in sie wirkte, ohne daß der Mensch sich dessen bewußt wurde, auf seine nach dem Mißbrauch drängenden Triebe. - Betont allerdings kann nicht stark genug werden, daß der Verbreiter des übersinnlichen Wissens in der Gegenwart seiner Verpflichtung gegenüber der Menschheit in um so besserer Art nachkommt, als er sich bemüht, dieses Wissen in die Gedankenformen zu prägen, welche dem wissenschaftlichen Naturerkennen nachgebildet sind. Dadurch wird der Empfänger der übersinnlichen Erkenntnis genötigt, auf die Überwindung gewisser Schwierigkeiten des Verständnisses solche Seelenfähigkeiten zu verwenden, die sonst unbetätigt blieben und zum Drange nach Mißbrauch führen würden. Alles von Übereifrigen oder Verirrten angestrebte Popularisieren des übersinnlichen Wissens sollte vermieden werden."3

Man könnte sich zunächst fragen, ob Steiner auf ganz konkrete Erscheinungen der naturwissenschaftlichen Entwicklung hinzielt, die den Menschen zunehmend auf seine übersinnlichen Fähigkeiten hinweisen. In dieser Richtung ließe sich heutzutage ja vieles finden, was sich den genannten Fähigkeiten nähert. Man könnte an Fragestellungen der Parapsychologie denken, die sich mit außergewöhnlichen Phänomenen aus den Grenzbezirken von Naturwissenschaft, Psychologie und Esoterik befaßt. Aus der Parapsychologie herkommend, hat sich inzwischen ein Zweig der Psychologie unter dem Etikett der Transpersonalen Psychologie etabliert.4

In der klinischen Psychologie gibt es derzeit eine regelrechte "Meditationsforschung", die sich vor allem in den Vereinigten Staaten zunehmenden Interesses erfreut. Diese Forschung wendet sich mit Elan überwiegend den meditativen Erfahrungen der östlichen Kultur zu. Sie versucht, den Methodenapparat westlicher Humanwissenschaften wie Psychologie, Physiologie und Medizin anwendend, einen Zugang zu diesen Meditationsphänomenen zu finden und ihre Erfahrungen beispielsweise für psychologisch-therapeutische Konzeptionen fruchtbar zu machen. Die Forschungsliteratur zu diesem Thema ist inzwischen kaum noch übersehbar.5

Die Schriften von Moody, Kübler-Ross und Castaneda, um nur einige zu nennen, haben dazu beigetragen, das Interesse an esoterischen Gegenständen in großem Stil zu popularisieren, so daß sowohl auf der wissenschaftlichen wie auf der nichtwissenschaftlichen Seite eine immense Aufgeschlossenheit gegenüber dem Bereich der Esoterik zu konstatieren ist. All diese Entwicklungen verdienen es, genauer beobachtet zu werden. Dies soll hier jedoch nicht das Thema sein, sondern ich will mich einem subtileren Gegenstand zuwenden, der mir nicht weniger bedeutend zu sein scheint.

Für den Beobachter des wissenschaftlichen und sozio-kulturellen Lebens lassen sich aus den Worten Steiners zwei Forschungsaufgaben ableiten. Eine dieser Forschungsaufgaben wäre, Entwicklungen in diesem Naturerkennen aufzuzeigen, welche in der von ihm gekennzeichneten Art auf die übersinnlichen Fähigkeiten des Menschen hinweisen. Die zweite wäre, nach solchen Gedankenformen zu suchen, in welche übersinnliches Wissen zu gießen ist, um dem angedeuteten Mißbrauch dieses Wissens zu begegnen.

Ich möchte mich in der vorliegenden Arbeit überwiegend der ersten dieser Aufgaben zuwenden und an einigen Beispielen aus Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und Psychologie aufzeigen, wie die Entwicklung dieser Disziplinen zunehmend Auffassungen hervorbringt, die in zentralen Punkten auf eine Konvergenz mit Steiners erkenntnistheoretischen Ansichten hinauslaufen. Damit soll einerseits gesagt sein, daß diese Steinerschen Ansichten von ihrer Aktualität nicht nur nichts eingebüßt haben, sondern heute aktueller sind denn je. Die Zeitlage scheint damit für eine Begegnung auf der wissenschaftlichen Ebene weitaus günstiger zu sein als noch zur Jahrhundertwende. Zum anderen bedeutet diese Konvergenz in fundamentalen Einsichten, daß sich die Wissenschaft erkenntnismäßig zunehmend jenem "Vorfeld" des Geistigen nähert, von dem die Frühschriften Steiners handeln.

In der Schrift "Von Seelenrätseln" weist Rudolf Steiner auf zwei Gebiete hin, auf denen sich konventionelle Wissenschaft - von ihm zusammenfassend als "Anthropologie" bezeichnet - und Anthroposophie treffen müssen bzw. können und auf denen eine "wirklich fruchtbare Verständigung" erfolgen kann. Es sind dies die Gebiete der Logik und der Psychologie.6 Wenn wir den Bereich der Logik nicht zu sehr einengen, sondern daran denken, daß sich die Erkenntnistheorie einerseits geschichtlich aus der Logik herausentwickelte 7 und andererseits dieser Disziplin wiederum eine große sachliche Nähe zur Psychologie eigentümlich ist, dann ist es schon bemerkenswert, daß sich die erwähnte Annäherung maßgeblich auf den Feldern der Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie und Psychologie vollzieht. Man könnte daraus den Schluß ziehen, die von Steiner gemeinte Verständigung sei auf eben diesen sich abzeichnenden Feldern größter Annäherung möglich und die dort vorhandenen Tatsachen müßten eigentlich nur aufgegriffen werden. Der Wissenschaftshistoriker und -philosoph Thomas S. Kuhn hat durch seine Arbeiten in außerordentlichem Maße zu dieser Entwicklung beigetragen. Einige Aspekte dieses Beitrages sollen hier beleuchtet werden.

Ende Kapitel 1            


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