Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Thomas S. Kuhn und das Erzeugen der Wirklichkeit

(Stand 22.06.02)

Kapitel 2

Wirklichkeitszugang als schöpferische Synthese

Wer sich eingehender mit den "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung"8 beschäftigt hat, der wird jene Stelle im Anmerkungsapparat kennen, die sich in bedenkenswerter Weise mit einer wissenschaftstheoretischen Konsequenz dieser Erkenntnistheorie befaßt. Steiner schreibt dort: "Was im Menschen ist, ist ideeller Schein; was in der wahrzunehmenden Welt ist, ist Sinnenschein; das erkennende Ineinanderarbeiten der beiden ist erst Wirklichkeit.

So angesehen wird Erkenntnistheorie ein Teil des Lebens. Und so muß sie angesehen werden, wenn sie an die Lebens-Weiten des Goetheschen Seelen-Erlebens angeschlossen wird. Aber an solche Lebens-Weiten knüpft auch Nietzsches Denken und Empfinden nicht an. Noch weniger dasjenige, was sonst als philosophisch gerichtete Welt- und Lebensanschauung seit der Niederschrift des in dieser Schrift als «Ausgangspunkt» bezeichneten entstanden ist. Alles dies setzt doch voraus, daß die Wirklichkeit irgendwo außer dem Erkennen vorhanden sei, und in dem Erkennen eine menschliche, abbildliche Darstellung dieser Wirklichkeit sich ergeben soll, oder auch, sich nicht ergeben kann. Daß diese Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird, das wird kaum irgendwo empfunden. "9

Es hat nach Steiners Überzeugung keinen Sinn, eine Wirklichkeit jenseits oder außerhalb des Erkennens zu suchen, weil Wirklichkeit prinzipiell nur diesseits des Erkennens liegen kann. Unabhängig vom Erkennen gibt es keinen Zugang zu einer vollständigen Wirklichkeit. Und diese zeigt sich in ihrer wahren Gestalt erst nach dem Erkenntnisakt im Verlauf einer Synthese von Wahrnehmlichem und Begrifflichem, von Sinnenschein und ideellem Schein. Zu einer vollständigen Wirklichkeit gelangt der Mensch erst auf dem Wege einer produktiven Synthese, zu der er selbstschöpferisch etwas beitragen muß. Vor dieser Zusammenfügung hat er es nur mit einer halben Wirklichkeit der Wahrnehmungswelt zu tun, wie Steiner in den Rätseln der Philosophie (GA-18, 1968, S. 602 ) ausführt: "Strebt man also danach, im Erkennen nur nachzubilden, was schon vor dem Erkennen beobachtet wird, so erlangt man kein wahres Erleben in der vollen, sondern ein Abbild der «halben Wirklichkeit»."

Die grundsätzliche Geltung dieses Gedankenganges - der Wirklichkeitszugriff des Menschen ist nur in einer selbstschöpferischen Synthese möglich - hat in neuerer Zeit kaum jemand klarer gesehen als Thomas S. Kuhn,10 dessen Analysen und historische Illustrationen für Wolfgang Stegmüller nicht nur "die bisher stärkste Herausforderung der heutigen Wissenschaftstheorie darstellen", sondern von denen Stegmüller glaubt, "daß Kuhn in den wesentlichen Punkten im Recht ist."11

Die Wirkung Kuhns innerhalb der wissenschaftlichen Welt war ungeheuer und ist es immer noch - man kann die Stegmüllerschen Worte gar nicht ernst genug nehmen. Die Wissenschaft hat sich seit Kuhn und angeregt durch diesen in einem bis dahin kaum gekannten Ausmaß damit befaßt, ihr eigenes Vorgehen kritisch zu hinterfragen. Wenn es in der Steinerschen Dissertation um eine "Verständigung des philosophischen Bewußtseins mit sich selbst" ging, 12 dann hat mit und seit Kuhn das wissenschaftliche Bewußtsein in großem Stil im Rahmen einer scientific community mit dieser Selbstverständigung ernst gemacht. Es ist vor allem diese außerordentliche Wirkung Kuhns innerhalb der wissenschaftlichen Welt, die eine Auseinandersetzung mit seinen Untersuchungen nahelegt. Es ist daher von großem Interesse zu zeigen, warum Kuhn zu Überlegungen kommt, die den Steinerschen in entscheidenden Punkten gleichen.

Kuhns bahnbrechende Untersuchungen begannen als er, ein Kandidat der theoretischen Physik und kurz vor dem Abschluß seiner Dissertation stehend, eher zufällig auf die Geschichte der Wissenschaft stieß. Die Begegnung mit veralteter Wissenschaft unterminierte zu seiner eigenen Überraschung radikal einige seiner grundlegenden Auffassungen vom Wesen der Wissenschaft und ihrem Fortschritt.13 Diese bislang bestehenden Auffassungen hatte er sich noch unmittelbar vorher im Rahmen seiner akademischen Ausbildung in den Naturwissenschaften und Wissenschaftstheorie angeeignet, und mußte nun erkennen, daß sie mit den geschichtlichen Tatbeständen nicht recht zusammenpassen wollten. Die Folge war, wie er es beschreibt, "ein drastischer Wechsel in meinen Berufsplänen, ein Wechsel von der Physik zur Geschichte der Wissenschaft und dann ... zurück zu den mehr philosophischen Fragen, die mich anfangs zur Geschichte geführt hatten."14

Was hat Kuhn auf diesem Weg von der Naturwissenschaft und Wissenschaftsphilosophie zur Geschichte und wieder zurück zur Wissenschaftsphilosophie entdeckt, und was ist daran so spektakulär, daß es über Jahrzehnte hinweg die Wissenschaftstheorie in Atem hält? - Man könnte sagen: Kuhn beobachtete dasjenige, was in einer Fachwissenschaft zwar immer mitwirkt, aber das eigentlich unbeobachtete Element dieser Wissenschaft ist. Die Wissenschaft ist auf die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis gerichtet, ihr Interesse gilt den Gegenständen der Erkenntnis und nicht dem Prozeß der Erkenntnisproduktion selbst. Was Kuhn ins Auge faßte, war eben dieser Vorgang der Erkenntnisproduktion und zwar auf einer kollektiven Ebene, indem er sich der Frage widmete, wie wissenschaftliche Gemeinschaften zu Erkenntnissen gelangen, welchen Regeln sie dabei folgen, wie sich allgemein anerkannte Erkenntnisse verändern können und welche erkenntnistheoretischen Folgerungen daraus für das Wirklichkeitsverständnis zu ziehen sind.

Nun hat es Wissenschaftsgeschichte natürlich schon vor Kuhn gegeben, ebenso wie es Erkenntnistheorien vor und nach Steiner gegeben hat, dies allein kann also nicht besonders aufregend sein. Mir scheint eines an Kuhn und Steiner bedeutsam und einer genaueren Untersuchung wert und ich möchte dies vorab thesenartig formulieren: Die Konvergenz von Kuhn und Steiner ist in einem nicht zufälligen Gebrauch bestimmter begrifflicher Kategorien und heuristischer Prinzipien begründet, die sowohl der Psychologie wie der Erkenntnistheorie angehören. Diese Kategorien und Prinzipien sind sicher bei beiden nicht völlig identisch, weisen aber eine beträchtliche Verwandtschaft auf. Gemeinsam ist beiden die Annahme, daß Erkenntnis nicht in einer abbildlichen Wiederholung der Wahrnehmungswirklichkeit im erkennenden Bewußtsein besteht, sondern daß Wirklichkeitserkenntnis eine Syntheseleistung des menschlichen Bewußtseins ist: Zur Wahrnehmungswirklichkeit bringt der Mensch im Erkennen die begriffliche Struktur selbstschöpferisch hinzu.

Zu diesem Fazit kommen beide gleichermaßen sowohl auf dem Wege erkenntnistheoretischer als auch psychologischer Betrachtungen. Während Steiner zu seinen Resultaten zunächst auf dem Wege individueller seelischer Beobachtung gelangt und die einschlägige philosophische Fachliteratur seiner Zeit zu Rate zieht, untersucht Kuhn als Historiker wissenschaftliche Kollektive und deren Erkenntnisproduktion. Das so gewonnene Material unterzieht er einer erkenntnistheoretischen und psychologischen Analyse, und stützt sich bei seinen psychologischen Konklusionen auf die Befunde einer Fachpsychologie, die es nach Art und Umfang zu Steiners Zeit noch gar nicht gab; insbesondere spielten dabei eine Rolle die erkenntnisgenetischen Arbeiten Jean Piagets und wahrnehmungspsychologische Untersuchungen der Gestaltpsychologie.15

Wie immer man eine solche Spezialwissenschaft bezeichnen mag: es scheint so, als ob Erkenntnistheorie und Psychologie sich aus sachlichen Gründen an jenem Orte notwendig treffen, der nach Steiners Auffassung eine besonders fruchtbare Verständigung zwischen Anthropologie und Anthroposophie erlaubt.

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