Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Thomas S. Kuhn und das Erzeugen der Wirklichkeit

(Stand 22.06.02)

Kapitel 4

Die Praxis der Wissenschaft und der notwendige Verlust ihrer Geschichte.

Nach diesem Ausflug in Erkenntnistheorie und Psychologie der Steinerzeit wollen wir uns wieder Thomas Kuhn zuwenden, aber das oben Festgestellte dabei im Auge behalten.

Das von ihm vorgefundene geschichtliche Bild der Wissenschaft habe mit ihrem tatsächlichen Werdegang zumeist wenig zu tun, schreibt Kuhn. Und es gibt innerhalb der Fachwissenschaften einige hochwirksame Mechanismen, die für eine Verschleierung ihrer historischen Genese sorgen oder diese ganz und gar unsichtbar machen. Der Prozeß dieses Unsichtbarmachens ist zum Teil sogar ein notwendiger Bestandteil normaler Forschung, wenn diese effizient arbeiten und fruchtbare Leistungen hervorbringen soll.

Ich hatte oben schon auf die Analogie zum gewöhnlichen Erkenntnisprozeß aufmerksam gemacht: Der Erkenntnisakt ist normalerweise auf die Gewinnung der Erkenntnis gerichtet und nicht auf die an seinem Zustandekommen beteiligten Prozesse. Steiner hebt einen ähnlichen Tatbestand in der "Philosophie der Freiheit" bei der Betrachtung des Denkens hervor: "Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, daß der Denkende das Denken vergißt, während er es ausübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet. ... Während ich über den Gegenstand nachdenke, bin ich mit diesem beschäftigt, mein Blick ist ihm zugewandt. Diese Beschäftigung ist eben die denkende Betrachtung. Nicht auf meine Tätigkeit, sondern auf das Objekt dieser Tätigkeit ist meine Aufmerksamkeit gerichtet. Mit anderen Worten: während ich denke, sehe ich nicht auf mein Denken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt des Denkens, das ich nicht hervorbringe."28

Der Fachwissenschaft geht es bei der Durchführung ihrer Forschung nicht viel anders wie dem von Steiner erwähnten Denker: ihr Interesse ist auf die Objekte ihrer Forschung gerichtet und nicht auf die daran beteiligten psychologischen oder wissenschaftsgeschichtlichen Prozesse. Sie muß - um im Bild Steiners zu bleiben - erst einen "Ausnahmezustand" eintreten lassen, um ihr aktuelles oder geschichtliches Werden beobachten zu können. Man könnte einwenden, diese Analogie sei trivial. Vielleicht ist sie das auch. Nicht trivial sind allerdings die Folgen dieses Eintreten-Lassens oder Nicht-Eintreten-Lassens, und zwar für das Verständnis des eigenen wissenschaftlichen Tuns ebenso wie für die Interpretation dessen, was man "Wirklichkeit" nennt, denn sowohl das wissenschaftliche Selbstverständnis als auch das Wirklichkeitsverständnis steht in enger Abhängigkeit von den Erfahrungen dieses "Ausnahmezustandes".

Wie Kuhn zeigt, ist das Bild der Wissenschaft von ihrem Tun und Werden weitgehend von einigen Tatsachen bestimmt, die zwangsläufig in die Irre führen: "Wissenschaftler und Laien", schreibt Kuhn, "beziehen einen großen Teil ihrer Vorstellungen von schöpferischer wissenschaftlicher Tätigkeit aus einer maßgeblichen Quelle, welche systematisch die Existenz und Bedeutung wissenschaftlicher Revolutionen verschleiert - zum Teil aus wichtigen sachlichen Gründen."29 Bei der genannten Quelle denkt Kuhn in erster Linie an wissenschaftliche Lehrbücher und die auf ihnen aufgebauten gemeinverständlichen Darstellungen und philosophischen Arbeiten. "Diesen drei Kategorien - bis vor kurzem gab es keine anderen bedeutenden Informationsquellen über die Wissenschaft, es sei denn eigene Forschungstätigkeit - ist eines gemeinsam. Sie stellen sich auf einen bereits ausgeprägten Bestand an Problemen, Daten und Theorien ein, sehr oft gerade auf die besonderen Paradigmata, denen sich die wissenschaftliche Gemeinschaft zum Zeitpunkt der Abfassung jener Schriften verbunden fühlt. Die Lehrbücher sind darauf ausgerichtet, das Vokabular und die Syntax einer aktuellen wissenschaftlichen Sprache zu vermitteln. Gemeinverständliche Darstellungen versuchen, die gleichen Anwendungen in einer alltäglichen Ausdrucksweise zu beschreiben. Und die Wissenschaftstheorie ... analysiert die logische Struktur desselben Bestandes an wissenschaftlicher Erkenntnis."30 Allen drei Darstellungsformen gemeinsam ist, daß sie nicht den Wandel wissenschaftlicher Erkenntnis thematisieren, sondern die dauerhaften Ergebnisse vergangener wissenschaftlicher Revolutionen und damit die Grundlage der jeweiligen normalwissenschaftlichen Forschung. "Zur Erfüllung ihrer Aufgabe brauchen sie keine authentische Information über die Art und Weise zu liefern, in der diese Grundlagen zuerst erkannt und dann von der Fachwissenschaft aufgenommen wurden."31

Im Falle von Lehrbüchern, schreibt Kuhn, gibt es sogar gute Gründe, warum sie in diesen Dingen oft in die Irre führen: "Der Zweck solcher Bücher ist ... der, zu überzeugen und pädagogisch zu wirken; eine aus ihnen gewonnene Konzeption der Wissenschaft paßt genauso wenig auf ihre wirkliche Entstehung, wie es das Bild einer nationalen Kultur tun würde, das man aus einem Touristenführer oder einer Sprachlehre gewinnt."32 Das Lehrbuch einer Wissenschaft, das ja in erster Linie unter didaktischen Gesichtspunkten konzipiert wird - es soll den Studierenden schnell und effizient mit den aktuellen Tatbeständen seiner Wissenschaft vertraut machen - verfolgt keine historischen Interessen sondern entwirft eine Schablone der Wissenschaft. Dieses Bild verführt zu der Annahme, "als sei der Inhalt der Wissenschaft ausschließlich durch die auf ihren Seiten beschriebenen Beobachtungen, Gesetze und Theorien dargestellt."33 Wissenschaftliche Methoden sind dann, soweit sie aus diesen Büchern hervorgehen, jene, "die durch die Manipulationen bei der Gewinnung der Lehrbuchdaten und durch die logischen Operationen, mit denen man jene Daten auf die theoretische Verallgemeinerung des Lehrbuchs bezieht, veranschaulicht würden."34

Ein solches, an Lehrbuchdarstellungen orientiertes Bild der Wissenschaft hat natürlich tiefgreifende Folgen hinsichtlich des Verständnisses der Natur der Wissenschaft und ihrer Entwicklung. "Wenn Wissenschaft die Zusammenstellung von Fakten, Theorien und Methoden in Lehrbüchern ist, " schreibt Kuhn, "dann sind Wissenschaftler die Männer, die sich mit oder ohne Erfolg bemüht haben, den einen oder anderen Faktor dieser besonderen Zusammenstellung beizutragen. Wissenschaftliche Entwicklung ist demnach der schrittweise sich vollziehende Prozeß, durch den solche Einzelheiten ... zu einem immerwährend wachsenden Bestand zusammengefügt worden sind, der die wissenschaftliche Methode und Erkenntnis bildet. Und die Geschichte der Wissenschaft wird zu der Disziplin, die sowohl diesen allmählichen Zuwachs wie auch die Hindernisse, die sich der Ansammlung entgegenstellen, chronologisch aufzeichnet."35 Ein solches Bild der Wissensakkumulation fordert den Historiker vor allem zu zwei Fragestellungen heraus: "Auf der einen Seite muß er feststellen, wer zu welchem Zeitpunkt jeweils ein wissenschaftliches Faktum, Gesetz oder Theorie entdeckt oder gefunden hat. Auf der anderen Seite muß er das Gemisch von Irrtum, Mythos und Aberglauben beschreiben und erklären, das ein schnelleres Anwachsen der Beiträge zu den modernen wissenschaftlichen Lehrbüchern behindert hat."36

Bei genaueren historischen Untersuchungen, so Kuhn, sei es aber zunehmend schwieriger geworden, Fragen zu beantworten wie: Wann wurde der Sauerstoff entdeckt? Nicht weniger schwierig wurde es, zwischen wirklicher Wissenschaft der Vergangenheit zu unterscheiden und dem, was in dieser Vergangenheit als Irrtum und wissenschaftlicher Aberglauben galt. Diese veralteten Anschauungen sind offenbar nicht weniger wissenschaftlich, als die heute gültigen Ansichten. "Wenn man diese veralteten Anschauungen Mythen nennen will", so Kuhn, "dann können Mythen durch Methoden derselben Art erzeugt und aus Gründen derselben Art geglaubt werden, wie sie heute zu wissenschaftlicher Erkenntnis führen. Wenn man sie hingegen Wissenschaft nennen will, dann hat die Wissenschaft Glaubenselemente eingeschlossen, die mit den heute vertretenen völlig unvereinbar sind."37

Geht man daran, diesen offenkundigen Widerspruch aufzulösen, so wird man mit Kuhn darauf geführt, daß die bisherigen Fragen der Wissenschaftsgeschichte offenbar falsch gestellt waren. Wissenschaftliche Entwicklung ist kein Vorgang kumulativen Wachstums und veraltete wissenschaftliche Ansichten sind alles andere als unwissenschaftlich, sie haben vielmehr mit einer besonderen Art des Sehens zu tun, die unmittelbar auf jene Gedankengänge zurückführt, die weiter oben erläutert wurden. Die wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung führt Kuhn in ihrer Konsequenz auf jene wahrnehmungspsychologischen und erkenntnistheoretischen Schlüsse, die in das Fazit münden, das Steiner gezogen hat: Erkannte Wirklichkeit ist immer eine Synthese aus wahrnehmlichen und begrifflichen Bestandteilen - gewissermaßen die Vereinigung zweier Halb-Wirklichkeiten. Auch hier haben wir dieselbe Parallele wie oben: Was Steiner und die Psychologie individualpsychologisch feststellen, das konstatiert Kuhn für ein wissenschaftliches Kollektiv.

Ende Kapitel 4             


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