Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Thomas S. Kuhn und das Erzeugen der Wirklichkeit

(Stand 22.06.02)

Kapitel 5

Das Problem der Unterscheidung zwischen Theorie und Faktum, die Frage der Entdeckung und das Phänomen des Sehens.

Ein streng dem Empirismus verpflichteter Wissenschaftler wird mit einigem Recht fordern, daß die Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchung in der Erfahrung gegeben sein müssen. Aber was ist ein Gegenstand der Erfahrung? Ist Sauerstoff ein Gegenstand der Erfahrung? Sind Atome Gegenstände der Erfahrung? Ist ein schwingendes Pendel ein Gegenstand der Erfahrung? Ist das "Gegebene" ein Gegenstand der Erfahrung bzw. ist die "reine Erfahrung" eine tatsächliche Erfahrung?

Wissenschaftsphilosophen haben immer wieder versucht, reine Beobachtungssprachen zu entwickeln, die das wahrnehmliche Rohmaterial so beschreiben, wie es ist, um eine stabile Ausgangsbasis für die Forschung zu bekommen.38 Das mit dieser Sprache Beschriebene wäre sozusagen die Basiserfahrung, an der jede wissenschaftliche Untersuchung sich auszurichten hätte. Die Entwicklung einer solchen Sprache war bisher wenig erfolgreich und sie muß es eigentlich auch sein wenn man bedenkt, daß die Sprache ja nur ein Medium des Denkens ist, wie es kognitive Psychologen heute nennen würden. Sprache im eigentlichen Sinne dieses Wortes transportiert immer schon Gedankliches, ist lediglich ein Mittel Gedanken zu veranschaulichen, sichtbar, hörbar oder kommunizierbar zu machen. Wenn man aber dieses sogenannte "Gegebene" dadurch charakterisieren will, daß es sich um das von jeder gedanklichen Bestimmung entkleidete sinnliche Rohmaterial der Wahrnehmung handelt, dann fällt Sprache als Mittel zu seiner Beschreibung offenkundig aus - vor diesem "Gegebenen" verfallen wir buchstäblich in Sprachlosigkeit. Das "Gegebene" stellt damit für die gedankliche Bestimmung oder die sprachliche Beschreibung offenkundig ein ähnliches Problem dar, wie die gleichzeitige Bestimmung von Ort und Impuls eines Teilchens in der Elementarteilchenphysik. Bestimmt man das "Gegebene", dann kann man einigermaßen sicher sein, es schon theoretisch zu befrachten, d.h., es ist nicht mehr das, was es seiner Natur nach sein müßte. Bestimmt man es nicht, dann schwindet auf ewig die Aussicht, eine tatsächliche rein sinnliche Basis für die Erfahrung zu erhalten, wie es die Wissenschaftsphilosophen erhoffen. Dieser Sachverhalt wird im Grundsatz schon von Kant betont, wenn dieser schreibt, Anschauungen ohne Begriffe seien blind.39

Vor diesem Hintergrund wirkt die Forderung unseres Erfahrungswissenschaftlers, empirische Wissenschaft dürfe sich nur mit den Gegenständen der Erfahrung befassen, erkenntnistheoretisch betrachtet ein wenig hilflos. Steiner hat diesen Gedanken in den "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" bis zu einer gewissen Grenze durchgespielt. 40 Bei genauer Betrachtung käme eine solche Erfahrungswissenschaft wohl noch nicht einmal zur Beschreibung ihrer Gegenstände, wie Steiner dort noch meint.

Wenn wir indessen nicht streng am rein sinnlich "Gegebenen" festhalten wollen, müssen wir erwarten und wohl auch befürchten, daß die so erhaltene Wirklichkeitsstruktur vom Denken selbst im hohen Maße geprägt ist, das heißt wir finden unter Umständen dann mehr Gedachtes im Wahrnehmlichen, als dort vielleicht hingehört und wir haben ein anderes Problem, das ebensowenig mit leichter Hand zu beheben ist, wie die Bestimmung des "Gegebenen": die Unterscheidung zwischen berechtigten und unberechtigten gedanklichen Zutaten zum "Gegebenen" fällt nämlich keineswegs leicht. Es gibt bekanntlich Gegenstände, die zunächst nur theoretisch postuliert, später aber tatsächlich aufgefunden werden, wie etwa die fehlenden Elemente des chemischen Periodensystems. Welchen Status hat nun ein solcher Gegenstand, der zwar theoretisch postuliert, aber noch nicht zu einer wie immer gearteten Wahrnehmungsgegebenheit geworden ist? Ist seine Annahme berechtigt? Ist die Wissenschaft, die solche Gegenstände postuliert allenfalls Metaphysik?

Im Bereich wissenschaftlicher Forschung, so Kuhn, scheinen sich die Grenzen zwischen Theorie und Erfahrung zu verwischen. Es gibt offenbar keine strenge Trennung mehr von theoretischen und Erfahrungsgegenständen. Weil dies so ist, wird es schwierig, genau zu sagen, wann ein bestimmtes Faktum entdeckt worden ist. Oder in Kuhns Worten, die Unterscheidung zwischen Faktum und Theorie ist eine höchst künstliche.41 Tatsache und Theorie sind bei einer wissenschaftlichen Entdeckung eng ineinander verschlungen. Bei der Entdeckung des Sauerstoffs beispielsweise haben mindestens drei verschiedene Leute einen berechtigten Anspruch auf die Entdeckung, und einige andere müssen etwa zur gleichen Zeit Luft in einem Laborgefäß mit Sauerstoff angereichert haben, ohne es zu wissen.42

Eine erste relativ reine Probe des Gases stellte der Schwede C. W. Scheele her, er veröffentlichte seine Arbeit allerdings erst, nachdem die Entdeckung des Sauerstoffs von anderer Seite wiederholt angekündigt worden war. Der Zweite war der Brite Joseph Priestley, der das bei der Erwärmung von rotem Quecksilberoxyd erhaltene Gas 1774 als Stickoxydul und 1775 nach weiteren Tests als gewöhnliche Luft mit weniger als der sonst üblichen Menge an Phlogiston [dem sog. Wärmestoff in der Begrifflichkeit jener Zeit] bezeichnete. Lavoisier begann seine Untersuchungen 1774 nach Priestleys Experimenten und offenbar nach Hinweis von diesem. Anfang 1775 hatte Lavoisier durch Erwärmen von rotem Quecksilberoxyd ein Gas erhalten, das er als völlig unveränderte Luft bezeichnete, allerdings reiner als diese und besser atembar. 1777 kam Lavoisier offenbar auf Grund eines zweiten Hinweises von Priestley zu dem Schluß, daß das Gas eine selbständige Substanz sei, einer der zwei Hauptbestandteile der Atmosphäre. Diese Überzeugung konnte Priestley niemals teilen.

"War es Priestley oder Lavoisier, falls überhaupt einer von den beiden, der zuerst den Sauerstoff entdeckt hat?" fragt Kuhn.43 "Priestleys Anspruch auf die Entdeckung des Sauerstoffs basiert auf seiner Priorität bei der Isolierung eines Gases, das später als selbständige Substanzart anerkannt wurde. Priestleys Probe war aber nicht rein, und wenn das «In-der-Hand-halten» unreinen Sauerstoffs seine Entdeckung bedeutet, dann hat sie jeder gemacht, der einmal atmosphärische Luft in eine Flasche gefüllt hat."44 Wann auch hätte Priestley die Entdeckung gemacht haben sollen? 1774 war er der Auffassung, Stickoxydul gewonnen zu haben, einen Stoff, den er kannte. 1775 vermeinte er "entphlogistizierte" Luft gewonnen zu haben, was ja immer noch kein Sauerstoff ist. Lavoisiers Ansprüche sind nicht weniger problematisch. 1775 nahm er an, völlig unveränderte Luft vor sich zu haben. In seinen späteren Einsichten glaubte er bis an sein Lebensende, daß Sauerstoff ein atomares «Säureprinzip» sei, und daß sich Sauerstoffgas nur bilde, wenn dieses «Prinzip» sich mit «Wärmestoff» vereine. Das «Säureprinzip» wurde 1810 in der Chemie aufgegeben und der «Wärmestoff» erst nach 1860. Schon vorher aber war der Sauerstoff zu einer chemischen Standardsubstanz geworden.

Die Entdeckung eines neuen Phänomens, so Kuhn, ist notwendigerweise ein komplexes Ereignis, zu dem sowohl die Erkenntnis gehört, daß etwas ist, als auch was es ist. "Wenn aber Beobachtung und Begriffsbildung, Tatsache und Theorie bei der Entdeckung untrennbar verbunden sind, dann ist die Entdeckung ein Prozeß und muß Zeit beanspruchen."45 Die Frage, wer wann was entdeckt habe, läßt sich nach Kuhn gar nicht sinnvoll stellen, da Entdeckungen kein punktuelles Ereignis sind. Es erscheint nur vordergründig punktuell oder wird durch eine gewisse Art der Geschichtsschreibung dazu gemacht.

Wenn wir in der Begrifflichkeit Steiners sagen, Erkenntnis bestehe in der Synthese von Wahrnehmung und Begriff und hinzufügen: korrekte Erkenntnis in einer ebenso korrekten Synthese, dann haben genau genommen weder Priestley noch Lavoisier den Sauerstoff "entdeckt", denn beide hatten keinen "wirklichkeitsgemäßen" Begriff vom Sauerstoff, ihr Begriff des Sauerstoffs oder dessen, was zu ihm wurde, war vielmehr ein Konglomerat aus solchen theoretischen Gegenständen, für die es ein tatsächliches Wahrnehmungskorrelat gab und solchen, für die es ein solches Korrelat nicht gab, wie sich später herausstellte. Der sogenannte Wärmestoff, das Phlogiston, der lange Zeit ein leitender Grundbegriff der Chemie war, entpuppte sich ebenso wie das von Lavoisier angenommene Säureprinzip als theoretisches Konstrukt, das sich verflüchtigte, sobald die tatsächlichen Zusammenhänge klar waren. Und dennoch, irgend jemand muß jene Synthese von Wahrnehmung und Begriff vollzogen haben, die dann allgemeine Anerkennung gefunden hat. Wenn man Kuhn folgt, hat dieser Jemand nur den Königsstein in einen weitgehend fertiggestellten wissenschaftlichen Entwurf eingesetzt. Er hat im wahrsten Sinne des Wortes "gesehen", wo und wie dieser Königsstein einzufügen ist. Das Fundament dieses "Sehens" aber ruht auf der kollektiven Leistung einer Vielzahl von Wissenschaftlern, die an den Fragen der damaligen Chemie gearbeitet hatten. Deswegen ist eine Entdeckung kein Augenblicksereignis, sondern es gibt nur einen Entdeckungszusammenhang; Entdeckungen sind streng genommen ein soziales und kulturelles Produkt eines Forscherkollektivs und diese Leistungen führen ganz offensichtlich nicht nur zu einer neuen wissenschaftlichen Theorie, sondern nach Kuhn zu einer neuen Art des "Sehens".

Kommen wir jetzt näher auf dieses Phänomen des "Sehens" zu sprechen. Man kann ja mit einigem Recht einwenden, Sauerstoff könne man gar nicht sehen, es sei denn, er liege in tiefgekühlter und flüssiger Form vor. Wenn wir aber eine Ebene tiefer ansetzen und uns mit den Erkenntnistheoretikern und Psychologen fragen, ob man denn überhaupt Gegenstände "sehen" könne, wie oben angeführt, dann gewinnt die Frage eine etwas andere Qualität, weil wir darauf geführt werden, daß das Denken und unsere Begriffe einen maßgeblichen Einfluß darauf haben, was wir sehen. Greifen wir zu einem weiteren Beispiel, das Kuhn anführt, um diesen Tatbestand zu illustrieren.

"Seit dem fernen Altertum haben die meisten Menschen diesen oder jenen schweren Körper an einer Schnur oder einer Kette hin und her schwingen sehen, bis er schließlich zum Stillstand kam" , schreibt Kuhn.46 "Für die Anhänger des Aristoteles, die glaubten, ein schwerer Körper werde aus sich heraus von einer höheren Lage in einen Zustand der natürlichen Ruhe in einer niedrigeren Lage bewegt, war der schwingende Körper lediglich ein mit Behinderung fallender Körper. ... Galilei aber sah im Anblick des schwingenden Körpers ein Pendel, einen Körper, dem es fast gelang, die gleiche Bewegung immer wieder ad infinitum auszuführen. Nachdem er das gesehen hatte, beobachtete Galilei auch noch andere Eigenschaften des Pendels und konstruierte auf Grund dieser Beobachtungen viele der bedeutendsten und originellsten Teile seiner Dynamik. Von den Eigenschaften des Pendels leitete Galilei beispielsweise seine einzigen vollständigen und folgerichtigen Argumente für die Unabhängigkeit von Gewicht und Fallgeschwindigkeit sowie für den Zusammenhang zwischen senkrechter Höhe und Endgeschwindigkeit der Bewegungen auf schiefen Ebenen her. Alle diese Naturphänomene sah er anders, als sie vorher gesehen worden waren"47

"Wie kommt es zu diesem Wandel des Sehens?", fragt Kuhn. Die reinen Wahrnehmungsgegebenheiten, wenn man diesen Ausdruck überhaupt verwenden will, waren weitgehend identisch bei Galilei und jenen, die "mit Behinderung fallende Gegenstände" gesehen hatten. In bezug auf Beschreibung dieser Wahrnehmungsgegebenheit, so Kuhn, ist die Aristotelische fast ebenso genau wie die Galileische. "Worum es hier zu gehen scheint, ist vielmehr, daß ein Genie die Wahrnehmungsmöglichkeiten ausbeutete, die durch einen Paradigmawechsel im Mittelalter geschaffen worden waren."48

Wie Kuhn ausführt, war Galilei nicht vollständig zum Aristoteliker erzogen worden. Er war statt dessen darin geübt, Bewegungen mittels der Impetustheorie zu analysieren, eines spätmittelalterlichen Paradigmas, das die fortlaufende Bewegung eines schweren Körpers auf eine Kraft zurückführte, die der Werfer, der diese Bewegung ausführt, in ihn hineingelegt habe. Im 14. Jahrhundert wurde diese scholastische Impetustheorie auf ihre vollendetste Formulierung gebracht und dort wurde durch Jean Buridan und Nicole Oresme erstmalig in Schwingungsbewegungen alles das gesehen, was Galilei gesehen hat.49 Der Anhänger des Aristoteles dagegen, der einen gehemmten Fall sah, "pflegte das Gewicht des Steines, die senkrechte Höhe, zu der er angehoben wurde, und die von ihm benötigte Zeit bis zum Stillstand zu messen. ... Zusammen mit dem Widerstand des Mediums waren dies die theoretischen Kategorien, welche die Aristotelische Wissenschaft bei der Behandlung eines fallenden Körpers anwandte. Die von ihnen geleitete normale Wissenschaft hätte nicht die von Galilei entdeckten Gesetze finden können."50

Solange also dieses scholastische Paradigma nicht gefunden war, schreibt Kuhn, konnten die Wissenschaftler keine Pendel, sondern nur schwingende oder gehemmt fallende Körper sehen. "Die Pendel wurden durch etwas ins Leben gerufen, das einem durch ein Paradigma herbeigeführten Gestaltwandel sehr ähnlich war."51

Ende Kapitel 5              


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