Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Thomas S. Kuhn und das Erzeugen der Wirklichkeit

(Stand 22.06.02)

Kapitel 6

Der Begriff des Paradigmas, das Beweisende des wissenschaftlichen Weges und die Erzeugung der Wirklichkeit.

Eine ganz zentrale Kategorie seiner historischen Untersuchungen ist Kuhns Begriff des wissenschaftlichen "Paradigmas". Er ist in der Folgezeit ein ausgesprochenes Modewort für wissenschaftstheoretische und -soziologische Sachverhalte geworden, so daß es notwendig ist, einige erläuternde Bemerkungen an dieser Stelle anzuschließen.

In seiner lexikalischen Bedeutung meint der Ausdruck des Paradigmas soviel wie "Musterbeispiel", "Modell", "Schulbeispiel" usw. Übertragen auf Forschungszusammenhänge hat man damit eine erste Annäherung an die von Kuhn gemeinte Bedeutung. Kuhn selbst differenziert den Begriff in eine mehr soziologische und eine mehr philosophische Richtung.52 In soziologischer Hinsicht steht dieser Begriff "für die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen [Forschungs-] Gemeinschaft geteilt werden".53 In mehr philosophischer Hinsicht bezeichnet er Elemente dieser Konstellation von Meinungen usf., "die konkreten Problemlösungen, die, als Vorbilder oder Beispiele gebraucht, explizite Regeln als Basis für die Lösung der übrigen Probleme der «normalen» Wissenschaft ersetzen können."54 Ein solches Paradigma, läßt sich mit Kuhn und über Kuhn ein wenig hinausgehend sagen, ist zugleich jenes gedanklich-geistige Wahrnehmungsorgan, mit dem der Wissenschaftler an das "Gegebene" herantritt und Wirklichkeit "sieht" und im Akt dieses "Sehens" in gewisser Weise auch erzeugt.

Reife Forschung, so Kuhn, ist insofern nicht voraussetzungslos, als sie nicht beziehungslos im historisch-soziologischen Raum steht. Sie muß vielmehr an vorhandene Erkenntnisse anknüpfen. Diese Erkenntnisse liegen zunächst in Form gewisser allgemein anerkannter Basisannahmen über jenen Teil der Wirklichkeit vor, der von den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft erforscht wird. Diese Basisannahmen bilden den Kern eines Paradigmas. Solche Erkenntnisse liegen aber nicht lediglich in Form von Begriffen und Theorien vor sondern ebenso in Gestalt spezifischer Methoden, standardisierter Beweis- und Testverfahren, exemplarischer Lehr- und Lernverfahren usw., die sich alle aus jenen basalen theoretischen Annahmen speisen, die den begrifflichen Kern eines Paradigmas bilden. Theorien metamorphosieren sich zu Handlungsanweisungen, zu Konstruktionsplänen und technischen Apparaten, in Planungen für Tests und Laboreinrichtungen. Kuhn spricht ausdrücklich nicht nur von theoretischen, sondern auch von "apparativen" Erwartungen.55 Spezifische Erscheinungen werden überhaupt erst zur Wahrnehmungsgegebenheit über den Bau und die Verwendung spezieller Geräte, in deren Konstruktionsmerkmalen und Gebrauchsvorschriften sich die theoretischen Grundannahmen widerspiegeln. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Grundannahmen mit Sicherheit wirklichkeitsgemäß sind oder nicht. Oft genug ist eine Entscheidung darüber nicht definitiv zu fällen, weil nicht hinreichend viele Zusammenhänge bekannt sind. Eine wissenschaftliche Tatsache wird vielfach erst zur Tatsache durch theoretische und "apparative" Erwartungen vor dem Hintergrund bestimmter Basisannahmen. Solche Basisannahmen bestehen nach Kuhn immer und sie führen bisweilen zu recht skurrilen Gerätschaften, die später wieder verschwinden oder einen völlig unerwarteten Funktionswandel erleben, weil sich die leitenden Theorien, die zu ihrer Entwicklung führten, entweder als falsch erwiesen oder die ursprüngliche Funktion in neuem Licht und völlig anders gesehen wird. Kuhn bringt in diesem Zusammenhang ein besonders plakatives Beispiel: die sogenannte Leidener Flasche, die sich in den elektrischen Kondensator "verwandelte". Dieses flaschenartige Gebilde ging direkt hervor aus gewissen Theorien welche in der Elektrizität so etwas wie eine Flüssigkeit sahen, die man in besagten Flaschen zu speichern trachtete.56

Ein Paradigma führt den Wissenschaftler zu einer ganz bestimmten, auf Grund der theoretischen und apparativen Erwartungen auch völlig festgelegten Art des "Sehens", wie Kuhn sagt. Der Wissenschaftler lebt in einer wissenschaftlichen Welt von Objekten, die zunächst nur für ihn und nur deswegen Bestand haben, weil er sie mit den ihm zu Verfügung stehenden Begriffen als "erkannte" Objekte überhaupt erst erzeugt.

Um ein Beispiel zu bringen: Ein Wissenschaftler sieht unter dem Mikroskop eine bestimmte zelluläre Struktur, die er nach einer genau angebbaren Operation dort zur Erscheinung bringt. Diese Struktur ist ihm visuell als wahrnehmliches Objekt bestimmter Form und Farbschattierung gegeben, die er vielleicht mit bestimmten ihm bekannten Verfahren zielgerichtet manipulieren kann. Eine wissenschaftlicher Laie könnte weder eine solche Struktur hervorbringen, noch hätte er, mit diesem Ausschnitt des "Gegebenen" konfrontiert, die geringste Ahnung, was er da vor sich hat. Für ihn bleibt das Wahrnehmliche weitgehend bedeutungsleer. Der Fachmann dagegen hat gewöhnlich in langjährigen verwickelten Studien und praktischem und gedanklichem Umgang mit spezifischen Theorien, Materialien und Techniken gelernt, eine solche Struktur zielgerichtet zu erstellen und in ihr das richtige zu "sehen". Kein Mensch wäre anders in der Lage, dieses Wahrnehmliche in seinem besonderen Charakter zu formen und zu erkennen: das Wahrnehmungsbild allein käme gar nicht erst zustande und sagte, selbst wenn es schon vorhanden wäre, über sein Was so gut wie nichts aus. Es sind vielmehr die theoretisch-gedanklichen Wege dorthin ebenso wie die technologisch-methodischen, ebenso hochgradig theoriebefrachteten Verfahren, welchen das Deutungspotential innewohnt. Wolfgang Stegmüller hat diesen Sachzusammenhang anhand zweier Beispielsanalysen aus Astronomie und Literaturgeschichte sehr aufschlußreich dargestellt.57 Der eigentliche punktuelle Beweis besteht in der richtigen Anwendung all dieses theoretischen und manipulativen Vorwissens, das zu einer spezifischen Wahrnehmungsgegebenheit und ihrer Deutung führt. Wer dieses Vorwissen nicht hat, wer diese gedanklichen und methodischen Wege nicht gegangen ist, wird nichts Wahrnehmliches erzeugen und nichts erkennen.

Man kann hier mit Recht in Anlehnung an eine bekannte Auffassung Steiners gegenüber geisteswissenschaftlichen Beweisen sagen: Das Beweisende oder Deutende der Wissenschaft ist eigentlich im Weg enthalten.58 Und wenn Steiner vom geisteswissenschaftlichen Beweis schreibt: "Im geisteswissenschaftlichen Denken liegt aber die Betätigung, welche die Seele beim naturwissenschaftlichen Denken auf den Beweis wendet, schon in dem Suchen nach den Tatsachen. Man kann diese nicht finden, wenn nicht der Weg zu ihnen schon ein beweisender ist. Wer diesen Weg durchschreitet, hat auch schon das Beweisende erlebt"59, so zeigt Kuhn und in seiner Kollegschaft Stegmüller, daß eben dies auch für den naturwissenschaftlichen Beweis gilt, und nicht nur für ihn sondern oft genug für die naturwissenschaftliche Entdeckung gleichermaßen. Der naturwissenschaftliche Beweis ist bei genauer Betrachtung ebensowenig etwas ausschließlich Punktuelles wie die Entdeckung, sondern etwas Prozeßhaftes; beide erscheinen nur punktuell, wenn man den beweisenden Weg unterschlägt, der auf der Suche nach den naturwissenschaftlichen Tatsachen gegangen wird, und lediglich das Endstadium dieses Weges ins Auge faßt. Hinsichtlich der Entdeckungen führt Kuhn überzeugend vor, daß diese in den Naturwissenschaften eher selten rein zufällig gemacht werden, sondern viel häufiger die Folge einer zielgerichteten Suche nach den Tatsachen sind, die sich aus paradigmatischen Basisannahmen herleitet. Das heißt, selbst der Weg zu diesen Entdeckungen ist in der Regel schon ein beweisender.

Der Sauerstoff beispielsweise wurde keineswegs völlig unerwartet und beiläufig entdeckt, sondern sein Auffinden ist mit einer gewissen Zwangsläufigkeit die Folge theoretischer und apparativer Erwartungen, die sich aus der damaligen Phlogistonchemie ergaben. Man wußte aus diesen Erwartungen, daß da etwas war beziehungsweise sein mußte, aber man wußte nicht genau, wie dieses Etwas im Detail beschaffen war und wie man es in den Gesamtzusammenhang der übrigen chemischen Erscheinungen eindeutig einzuordnen hatte: "Lange bevor Lavoisier überhaupt eine Rolle bei der Entdeckung des neuen Gases spielte," schreibt Kuhn, "war er überzeugt, daß einerseits mit der Phlogistontheorie etwas nicht stimmte und daß andererseits brennende Körper irgend einen Teil der Atmosphäre absorbierten. Das hatte er in einer versiegelten Niederschrift dargelegt, die 1772 bei dem Sekretär der Académie Française deponiert wurde. Was nun die Arbeit über den Sauerstoff anging, so gab sie Lavoisiers vorherigem Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung sei, wesentlich mehr Form und Gestalt. Sie zeigte ihm, was zu entdecken er schon bereit war - die Natur des Stoffes, welchen die Verbrennung aus der Atmosphäre entfernt. Dieses fortgeschrittene Problembewußtsein muß ein bedeutender Teil dessen gewesen sein, was Lavoisier in die Lage versetzte, in Experimenten von denen wie Priestleys ein Gas zu sehen, das Priestley selbst dort zu sehen nicht in der Lage war."60

Das "fortgeschrittene Problembewußtsein", die Einsicht, daß etwas mit der vorhandenen Theorie nicht stimmt, gehört schon zum Beweisenden des Weges, denn diese Einsicht bildet sich nur heran im Umgang mit traditionellen Theorien und Verfahren, die zu Erwartungen führen, welche immer wieder enttäuscht werden. Und in dieser Ent-Täuschung liegt zumindest ein negatives Beweismoment, welches zeigt, daß die verwendeten Begriffe und Verfahren nicht passen. Positiv gewendet ist die Enttäuschung der theoretischen und apparativen Erwartung gleichbedeutend mit der Wahrnehmung einer "Anomalie": es läuft anders als es nach der Theorie sollte und dafür muß es einen Grund geben. Der Entdeckung der Röntgenstrahlung und der Entdeckung des Sauerstoffs ging die Wahrnehmung solcher Anomalien als notwendiger Vorläufer voraus: "vor dem Experimentieren mit rotem Quecksilberoxyd hatte Lavoisier Experimente durchgeführt, die nicht die Ergebnisse erbrachten, welche nach dem Phlogiston-Paradigma zu erwarten waren; Röntgens Entdeckung begann mit der Erkenntnis, daß sein Schirm leuchtete, als er es gar nicht sollte" stellt Kuhn fest "In beiden Fällen spielte die Wahrnehmung einer Anomalie - eines Phänomens also, auf welches das Paradigma den Forscher nicht vorbereitet hatte - eine wesentliche Rolle als Wegbereiter für die Wahrnehmung einer Neuheit."61

Die (negative) Beweiskraft einer Anomalie ist um so größer, je festgelegter die Erwartungen sind und diese sind es um so mehr, je präziser die leitende Theorie ist: "Ohne die Spezialapparate", so Kuhn, "die in erster Linie für erwartete Funktionen konstruiert werden, könnten die letztlich zur Neuheit führenden Ergebnisse nicht eintreten. Und selbst wenn der Apparat existiert, taucht die Neuheit gewöhnlich nur für den auf, der genau weiß was er erwarten sollte, und dadurch in der Lage ist zu erkennen, daß etwas nicht richtig läuft. Eine Anomalie stellt sich nur vor dem durch das Paradigma gelieferten Hintergrund ein. Je exakter und umfassender dieses Paradigma ist, desto empfindlicher ist es als Indikator für Anomalien..."62

Ein Paradigma ist nicht nur eine mehr oder weniger umfassende Theorie über gewisse Zusammenhänge des Wirklichen, sondern es ist zugleich so etwas wie eine Landkarte, die all jene gedanklichen und praktischen Wege enthält, die zum "Sehen" dieser Wirklichkeit führen. Ohne diese Wege wäre diese Wirklichkeit als Wirklichkeit für den Erkennenden gar nicht vorhanden. Und sie kann zunächst auch gar nicht anders gesehen werden, als es die Wahrnehmungsanleitung des Paradigmas vorgibt.

Diese zwingende Koppelung von Denken und Wirklichkeitswahrnehmung gilt nach Kuhn uneingeschränkt für den Bereich sogenannter normaler Forschung. In dieser normalen Forschung bestimmt ein Paradigma darüber, welche Entitäten die Welt bevölkern und auf welchen Wegen man zu ihrer Wahrnehmung gelangt. Nun gibt es aber Krisen innerhalb der Forschung, die ausgelöst werden, weil sich gewisse Aspekte des Wirklichen nicht mehr in ein bestehendes Theoriengebäude integrieren lassen. Aus solchen Krisen können regelrechte Revolutionen werden, wie etwa die Kopernikanische. Eine solche Revolution ist nun für denjenigen, der in einer bis dahin festgelegten Weise zu sehen gewohnt war, nicht nur ein grundlegender Wandel innerhalb eines Theoriengebäudes, sondern ein Wandel der Wirklichkeit, die er gelernt hat wahrzunehmen. Es ändern sich nicht nur die Wege, die zur Wirklichkeit führen, sondern es ändert sich für ihn auch diese Wirklichkeit selbst und zwar irreversibel.

"Wenn der Wissenschaftshistoriker die Ergebnisse der früheren Forschung vom Standpunkt der zeitgenössischen Geschichtsschreibung untersucht," schreibt Kuhn, "könnte sich ihm der Gedanke aufdrängen, daß sich bei einem Paradigmawechsel die Welt ebenfalls verändert. Unter der Führung eines neuen Paradigmas verwenden die Wissenschaftler neue Apparate und sehen sich nach neuen Dingen um. Und was noch wichtiger ist, während der Revolution sehen die Wissenschaftler neue und andere Dinge, wenn sie mit bekannten Apparaten sich an Stellen umsehen, die sie vorher schon einmal untersucht hatten. Es ist fast, als wäre die Fachgemeinschaft plötzlich auf einen anderen Planeten versetzt worden, wo vertraute Gegenstände in einem neuen Licht erscheinen und auch unbekannte sich hinzugesellen. Natürlich geschieht in Wirklichkeit nicht ganz dies: es gibt keine geographische Verpflanzung; außerhalb des Labors gehen die alltäglichen Geschehnisse wie bisher weiter. Und doch, Paradigmawechsel veranlassen die Wissenschaftler tatsächlich, die Welt ihres Forschungsbereichs anders zu sehen. Soweit ihre einzige Beziehung zu dieser Welt in dem besteht, was sie sehen und tun, können wir wohl sagen, daß die Wissenschaftler nach einer Revolution mit einer andern Welt zu tun haben."63

Kuhn selbst vergleicht diesen Wandel der Wirklichkeit mit einem Gestaltwandel, wie er in psychologischen Versuchen jedem Laien leicht demonstriert werden kann. Was diese Versuche vom Gestaltwandel des Wissenschaftlers indessen grundlegend unterscheidet, ist die Irreversibilität des letzteren. Bei Gestaltversuchen läßt sich ohne weiteres zwischen alternativen Sehweisen hin- und herpendeln. Was vorher Ente war, wird Kaninchen und umgekehrt; das Wahrnehmungsmuster ist gleichermaßen offen für Kaninchen- wie für Entenbegriffe. Ein solches Umkehren der Sichtweise ist für den Wissenschaftler nicht möglich. Er kann nicht mehr zurück in jene alte Gedankenwelt, die die Konturen des Wahrnehmlichen ausfüllte. Seine Welt ist tatsächlich eine andere geworden.

"Müssen wir...wirklich das, was Galilei von Aristoteles, oder Lavoisier von Priestley trennt, als eine Umwandlung des Sehens beschreiben?", fragt Kuhn.64 "Sahen diese Männer tatsächlich Verschiedenes, wenn sie die gleiche Art von Objekten betrachteten? Können wir in irgendeinem vernünftigen Sinne sagen, sie hätten ihre Forschung in verschiedenen Welten durchgeführt?"65 Man könnte ja immerhin auf den Gedanken kommen, daß diesen Forschern im Prinzip dasselbe Wahrnehmungsmaterial vorlag. Sie hatten möglicherweise ein gleichartiges "Gegebenes" vor sich, daß sie nur jeweils verschieden interpretierten. Um dies zu entscheiden müßte man ein Kriterium des Vergleichs haben, aber wer soll mit welchen Mitteln darüber entscheiden, daß das "Gegebene" tatsächlich erkenntnistheoretisch neutral und stabil ist, also in beiden Fällen gleichartig? Eine Wissenschaftsphilosophie, welche sich um Beobachtungssprachen bemüht, müßte in der Lage sein, dieses "Gegebene" der sinnlichen Wahrnehmung hinreichend präzise zu beschreiben, wenn es denn neutral beschreibbar wäre. "Aber ist sinnliche Erfahrung fixiert und neutral? Sind Theorien einfach menschliche Interpretationen gegebener Daten? Der erkenntnistheoretische Standpunkt, der die westliche Philosophie während dreier Jahrhunderte so oft geleitet hat, verlangt ein sofortiges und eindeutiges Ja! In Ermangelung einer ausgereiften Alternative halte ich es für unmöglich, diesen Standpunkt völlig aufzugeben. Und doch, er fungiert nicht mehr wirksam, und die Versuche, ihn durch die Einführung einer neutralen Beobachtungssprache wieder dazu zu bringen erscheinen mir hoffnungslos."66

Reine Wahrnehmungen lassen sich, so Kuhn, ganz offensichtlich sprachlich nicht adäquat beschreiben, weil es keine begriffs- oder theoriefreie Sprache gibt. "...was dabei herauskommt, ist eine Sprache, welche ... eine Fülle von Erwartungen bezüglich der Natur in sich birgt und dann in dem Augenblick versagt, da diese Erwartungen enttäuscht werden." 67 Und weiter: "Keine Sprache, die sich derart darauf beschränkt, eine Welt zu beschreiben, die im voraus völlig bekannt ist, kann rein neutrale und objektive Berichte über das «Gegebene» hervorbringen. Philosophische Untersuchungen haben bisher noch nicht einmal einen Hinweis darauf erbracht, wie eine Sprache aussehen würde, die dazu in der Lage wäre."68

Es gibt nach Kuhn angesichts der erkenntnistheoretischen und psychologischen Befunde keine sinnvolle Alternative zu der Auffassung, daß Wirklichkeit als Wirklichkeit in einem gewissen Sinne für und durch den Beobachter im Erkennen erst geschaffen oder mitgeschaffen wird. Von einer Wirklichkeit unabhängig von ihrem Erkennen zu sprechen, ist unausführbar, weil sich keine sinnliche Basis auffinden und fixieren läßt, die sich eigenständig von jeglicher Erkenntnis beschreiben ließe. Das Paradigma liefert dem Wissenschaftler jene Kategorien, nach denen er das Wahrnehmliche ordnet und "Sieht", aber es scheint so, als nehme ein Wissenschaftler in dieser Hinsicht keine Sonderrolle ein. Bei einer Sichtung der reichen Experimentalliteratur kommt für Kuhn "der Verdacht auf, daß für die Wahrnehmung selbst etwas Ähnliches wie ein Paradigma vorausgesetzt werden muß. Was ein Mensch sieht, hängt sowohl davon ab, worauf er blickt, wie davon, worauf zu sehen ihn seine visuell-begriffliche Erfahrung gelehrt hat."69

Ende Kapitel 6


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