Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Anthroposophie und wissenschaftliche Selbstbeobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 4

Die Gefahr von Projektionen und das Problem der Immunität introspektiv gewonnener Beobachtungsaussagen

Gegenüber den Naturwissenschaften hatte es eine Psychologie der Selbstbeobachtung schwer und gab es gute Gründe, ihr mit Vorsicht oder gar Mißtrauen zu begegnen. Diese reservierte Haltung kommt deutlich zum Ausdruck in den Einwänden, die Friedrich Albert Lange schon in seiner <<Geschichte des Materialismus>> geltend macht: "Die äußere Beobachtung würde nie zu einer sicheren empirischen oder gar zu einer exakten Wissenschaft geführt haben", so Lange, "wenn nicht jede Beobachtung hätte geprüft werden können. Die Elimination der Einflüsse vorgefaßter Ansichten und Neigungen ist das wichtigste Element des exakten Verfahrens, und dies Element gerade wird bei denjenigen Beobachtungen, die sich auf eigene Gedanken, Gefühle und Triebe richten, unanwendbar; es sei denn, daß man die eigenen Gedanken etwa ganz unbefangen durch Schrift oder andere Mittel fixiert hat, und nun nachträglich den Vorstellungsverlauf prüft wie den eines Fremden."30

Lange sieht die Kernprobleme der Selbstbeobachtung in der mangelhaften Kontrollmöglichkeit für Außenstehende. Speziell scheint ihm dieses Verfahren ungeeignet, da der Selbstbeobachter nicht die hinreichende Kraft der Distanzierung von den wahrgenommenen Phänomenen aufzubringen vermag. Auf diese Weise fließen zwangsläufig charakterliche Dispositionen, persönliche Neigungen, Vorurteile und theoretische Erwartungen in die Interpretation der Wahrnehmungen ein, welche durch angemessene Kontrollmöglichkeiten nicht ausgeräumt werden können. Ob es sich nun um theoretisches Vorverständnis oder um Vorurteile im umgangssprachlichen Sinne handelt, ist für Lange vergleichsweise belanglos - beide führen letztendlich dazu, daß nicht die Kraft der Fakten zählt, sondern die der Wünsche und Erwartungen, und diese Folgeerscheinungen sind wegen der ausbleibenden Kontrolle äußerer Instanzen nicht oder kaum zu korrigieren. Die Selbstbeobachtung wird ihm dadurch zum Spielplatz für jede beliebige theoretische Absicht, oder in seinen Worten: es wird "stets ein Mittel bleiben, den willkürlichsten Gebilden der Metaphysik den Schein empirischer Ableitung verleihen zu können"31. Die einzige Form der Selbstbeobachtung, welche er bedingt gelten lassen will, ist ein Protokollverfahren.

Der Hinweis auf Külpe und Lange zeigt, daß im Bereich der Selbstbeobachtung moralische Anforderungen unter Umständen ein deutlich größeres Gewicht erhalten als in sog. externen Wissenschaften. Wie sehr schon im Bereich der Naturwissenschaften Moralität und Erkenntnis miteinander verwoben sind, hat Goethe in seinem Essay <<Der Versuch als Mittler zwischen Objekt und Subjekt>> deutlich ausgesprochen. Für die Selbstbeobachtung steigert sich diese Abhängigkeit ins nahezu Grenzenlose, weil der Selbstbeobachter so weitgehend auf sich allein gestellt ist. Niemand außer ihm selbst kann in den Phänomenbereich eindringen, der ihm offensteht - es ist ja Gegenstand seines Bewußtseins, was er da wahrnimmt, und zu diesem Bewußtsein hat einen unmittelbaren Zugang nur er allein. Was ein Außenstehender von dieser Beobachtung erfährt ist daher immer ein Wissen aus zweiter Hand und stützt sich auf ein sehr weitgehendes Vertrauen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Beobachters. Er muß daran glauben, daß dieser tatsächlich ein entsprechendes Phänomen wahrgenommen hat, daß er es adäquat beschreiben kann und schließlich auch, daß er überhaupt geneigt ist, ihm die Wahrheit zu sagen. Es gibt nach Müller oder Külpe nur indirekte Möglichkeiten, den Beobachter einer willentlichen oder unbeabsichtigten Falschaussage zu überführen.32 Eine externe Widerlegung seiner Beobachtungsaussagen ist also äußerst schwierig - anders gewendet: sie sind gegenüber solchen kritischen Instanzen weitgehend immun.

Aus diesem Grunde weist G.E.Müller in einer für seine Zeit außergewöhnlich gründlichen 33 Methodendiskussion ausdrücklich auf die Risiken auch der von Versuchsleitern kontrollierten Form experimenteller Selbstbeobachtung mit Hilfe von Versuchspersonen hin. Dabei handelt es sich dort um recht triviale Untersuchungsgegenstände, bei denen es z.B. darum geht, sich bestimmte Silben vorzustellen. Doch selbst hier ist das Gefährdungspotential so beträchtlich, daß Müller sich veranlaßt sieht, einen entsprechenden Problemkatalog mit einschlägigen Verhaltenshinweisen für die Versuchsleiter zu entwicklen. So erwähnt er die Gefahr der Fremdsuggestion durch den Versuchsleiter (S. 89 f), der Vorurteile bei Probanden (S. 95), bestimmter charakterlicher Dispositionen, als da sind Eitelkeit des Probanden (S. 90, u. S. 116 f), mangelnde Urteilsvorsicht (S. 105), und ungenügende Affektkontrolle (S. 110).34 In ähnlicher Weise äußert sich auch Oswald Külpe.35

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