Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Anthroposophie und wissenschaftliche Selbstbeobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 6

Möglichkeit und Notwendigkeit eines methodologischen Diskurses zwischen Anthroposophie und Psychologie der Selbstbeobachtung

Was einer Psychologie der inneren Selbstbeobachtung am allermeisten Kopfschmerzen bereitet, ist der Umstand, daß ihre Befunde "nicht öffentlich sind, d.h., daß sie von einem anderen als dem Selbstbeobachter nicht festgestellt werden können", wie es Hans Aebli formuliert.46 In derselben Lage findet sich der anthroposophische Seelen- und Geistesforscher. Wegen dieser Gemeinsamkeit ist es so überaus lohnend, sich vergleichend mit dem Steinerschen Verfahren zu befassen. Die Diskussion um die wissenschaftliche Selbstbeobachtung seit Mitte des letzten Jahrhunderts führt auf die Frage: Über welche intellektuellen, charakterlichen, dispositionellen und moralischen Eigenschaften muß ein Selbstbeobachter verfügen, um den Kriterien der Wissenschaftlichkeit auch dann zu genügen, wenn ihm kein Forscherkollektiv kritisch und fördernd zur Seite steht, wie dies in externen Disziplinen möglich ist? Und wie kann er diese Eigenschaften erwerben? Mir scheint, daß Steiner auf diese Frage diskutable Antworten geben kann.

Wenn man die Problematik der praktischen Durchführung von wissenschaftlicher Selbstbeobachtung studiert und mit den Steinerschen Verfahrensvorschlägen kontrastiert, lernt man dessen Angaben zur Methodologie schätzen. Man wundert sich nicht darüber, daß die Psychologie der Selbstbeobachtung nach anfänglichen Erfolgen seit den 30er Jahren zunehmend auf Grund ihrer methodologischen Probleme in die Defensive geriet und erst gegenwärtig wieder eine gewisse Renaissence in der Sozialpsychologie und Selbstkonzeptforschung erlebt. 47 Man wundert sich allenfalls darüber, mit welcher Weitsicht, Differenzierung und Konsequenz Steiner den Risiken einer solchen Wissenschaft begegnet ist.

Es bleibt bei Autoren wie Wundt, Külpe oder Müller fast immer bei der Konstatierung bestimmter problematischer Tatbestände, verbunden mit einigen Fingerzeigen für Versuchsleiter. Wohl konstatiert Külpe das Problem der mangelhaften Wahrnehmungsfähigkeiten des Selbstbeobachters - seine Anregungen, wie dem zu begegnen sei, bleiben gestaltlos oder beziehen sich auf externe Kontrollen. Zwar äußert Müller sich zur Frage der fehlenden Urteilsvorsicht - abgesehen von vagen indirekten Kontrollen bietet er nichts an, wie dem zu begegnen sei. Külpe kommt auf die Notwendigkeit der Sachlichkeit des Selbstbeobachters zu sprechen - wie sie aber konkret zu erreichen sei, überläßt er dem Einfallsreichtum seiner Leser.

Der einzige Autor, der neben Steiner erkennbar konkrete Vorschläge zur Verbesserung der dispositionellen Voraussetzungen des Beobachters unterbreitet, ist Johannes Volkelt. Gerade hier aber, so zeigt die skizzierte Sachlage, könnte ein Arbeitsschwerpunkt der Methodologie liegen. Am beobachtenden Individuum mit seinen seelischen Anlagen und Dispositionen wäre anzusetzen. Es bleibt nur zu bedauern, daß auf diesem Felde der Psychologie ein fruchtbarer Diskurs mit der Anthroposophie entweder ausgeblieben oder folgenlos verlaufen ist. Er lohnt sich in jedem Fall.

Ende Kapitel 6            


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