Studien
zur Anthroposophie
Michael
Muschalle
Ende
vorwärts
Inhalt
Gesamtinhalt
Home
Michael
Muschalle
Über
den Zusammenhang von Freiheitsfrage und Erkenntnisfrage
Ein Beitrag zum Verständnis
des intuitiven
Denkens in Steiners Philosophie
der Freiheit
(Stand 29. 04. 13 )
*
"Ein erkennendes Wesen kann nicht unfrei
sein. "
Rudolf
Steiner, Die
Natur und unsere Ideale,
(1886) GA 30,
Dornach 1989, S. 239
*
I.
Erkennen
und Freiheit gehören für Steiner zusammen. Freiheitsphilosophie
wurzelt in der Erkenntnistheorie.
Der
Philosoph Peter Bieri schreibt in seinem Buch Das Handwerk der
Freiheit (München/Wien 2001, S. 397) "In dem Maße, in
dem die Aneignung des Willens auf Artikulation und Verstehen
beruht, handelt es sich um einen Erkenntnisprozeß. Wachsende
Erkenntnis bedeutet wachsende Freiheit. So gesehen ist
Selbsterkenntnis ein Maß für Willensfreiheit. Dieser
Zusammenhang gibt uns eine erste Lesart der intuitiven Idee, daß
ein freier Wille ein Wille ist, mit dem ich mich
>indentifizieren< kann: Es ist ein Wille, den ich mir
zurechnen kann, weil ich ihn in seinen Konturen erkannt und weil
ich verstanden habe, wie er in die Geschichte und die
gegenwärtige Struktur des Wünschens eingebettet ist, die mich
zu dieser bestimmten Person machen."
Eine der Auffassung Bieris sehr verwandt
klingende Überzeugung drückt Steiner gegen Ende des ersten
Kapitels der Philosophie der Freiheit (GA - 4, Dornach
1978, S. 23) aus, wenn er sagt: "Daß eine Handlung nicht
frei sein kann, von der der Täter nicht weiß, warum er
sie vollbringt, ist ganz selbstverständlich. Wie verhält es
sich aber mit einer solchen, von deren Gründen gewußt wird?"
In beiden Fällen geht es darum, sich der
Gründe seines Handelns bewußt zu werden. Von Freiheit kann
nicht die Rede sein, wenn ich nicht weiß, was mich umtreibt. Ich
muß Kenntnis haben von den Motiven meines Handelns, um ernsthaft
von freien Handlungen reden zu können. Und das kann, wie Bieri
in seinem Buch ausführlich darlegt, eine ziemlich verwickelte
Angelegenheit sein, weil sich diese Motive nicht so ohne weiteres
zeigen, sondern sich oft hinter Masken verbergen oder zunächst
ganz und gar unsichtbar bleiben. Auf jeden Fall aber gilt: Ohne
den Willen zur Selbsterkenntnis, ohne die Erkenntnis der
Handlungsmotive keine Freiheit.
Es wäre reizvoll diese Gegenüberstellung
erheblich auszuweiten. Ich will mich hier auf einen einzelnen
Punkt beschränken und demonstrieren, daß Steiner mit seinen
Gedanken in mancher Hinsicht doch konsequenter ist als Peter
Bieri. Deswegen konsequenter, weil er in einem viel umfassenderen
Sinne als Bieri die Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage
verknüpft und die Untersuchung auch auf das Erkennen selbst
ausdehnt. Dahingehend, sich zu fragen, was Denken und Erkenntnis
überhaupt ist, und ob denn das denkende Erkennen selbst auch
frei, oder von woher auch immer determiniert sei.
Steiner führt den eben zitierten Gedanken (S.
23 f) mit den Worten fort: "Das führt uns auf die Frage:
welches ist der Ursprung und die Bedeutung des Denkens? Denn ohne
die Erkenntnis der denkenden Betätigung der Seele ist ein
Begriff des Wissens von etwas, also auch von einer Handlung nicht
möglich. Wenn wir erkennen, was Denken im allgemeinen bedeutet,
dann wird es auch leicht sein, klar darüber zu werden, was für
eine Rolle das Denken beim menschlichen Handeln spielt. «Das
Denken macht die Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum
Geiste», sagt Hegel mit Recht, und deshalb wird das Denken auch
dem menschlichen Handeln sein eigentümliches Gepräge geben."
Bei Steiner führt die Freiheitsfrage durch
die ihr eigene Sachstruktur mit Notwendigkeit auf die
Erkenntnisfrage. Und zwar in einem dreifachen Sinn. Einmal will
im Grundsatz geklärt sein, was wir überhaupt tun, wenn wir
denken und erkennen. Zweitens geht sie darauf, welche Rolle das
Denken und Erkennen ganz speziell in unserem Handeln spielt. Und
drittens schließlich, - Steiner sagt das an dieser Stelle nicht
ganz so explizit, aber es ist fast die entscheidende Frage seiner
ganzen Freiheitsphilosophie - geht sie darauf: Ist dieses
denkende Erkennen selbst frei oder nicht? Man muß, um bei
Steiner die Bedeutung dieser dritten Frage zu ermessen, sich die
Zusätze zur Neuauflage von 1918 ansehen. Dort wird ausdrücklich
hervorgehoben, daß es die Freiheit des intuitiven
Denkens ist, auf die sich jede Freiheit des Handelns stützt.
Auf S. 253 f der Philosophie der Freiheit führt Steiner
diese Sachlage vor Augen. Und das intuitive Denken
wiederum ist ist ein solches, das vorrangig bei
Erkenntnisvorgängen zur Geltung kommt. Es ist - wie Steiner auf
S. 254 sagt - das Denken, durch das "eine jegliche
Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird."
Schon im Sendschreiben von 1886 Die Natur
und unsere Ideale (GA 30, Dornach 1989, S. 237 ff) betont
Rudolf Steiner diesen engen Zusammenhang zwischen
Erkenntnisfähigkeit und Freiheit. "Oh, wir sollten doch
endlich zugeben, daß ein Wesen, das sich selbst erkennt, nicht
unfrei sein kann!", heißt es da. (S. 238.) Und weiter:
"Indem wir die ewige Gesetzlichkeit der Natur erforschen,
lösen wir jene Substanz aus ihr los, die ihren Äußerungen
zugrunde liegt. Wir sehen das Gewebe der Gesetze über den Dingen
walten, und das bewirkt die Notwendigkeit. Wir besitzen in
unserem Erkennen die Macht, die Gesetzlichkeit der Naturdinge aus
ihnen loszulösen und sollten dennoch die willenlosen Sklaven
dieser Gesetze sein? Die Naturdinge sind unfrei, weil sie die
Gesetze nicht erkennen, weil sie, ohne von ihnen zu wissen, durch
sie beherrscht werden. Wer sollte sie uns aufdrängen, da wir sie
geistig durchdringen? Ein erkennendes Wesen kann nicht unfrei
sein."
Wenige Jahre später wird dieser Gesichtspunkt
aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive erneut aufgegriffen
und vertieft. Den Hinweis, beim denkenden Erkennen handele es
sich um einen Akt der Freiheit, gibt Steiner jetzt in seinem
Vorspiel zur Philosophie der Freiheit, der Schrift
Wahrheit und Wissenschaft. (Rudolf Steiner, Wahrheit
und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit.
GA-03, Dornach 1980.) Auf S. 11 dieser Schrift schreibt er, das
Ergebnis seiner Analyse vorwegnehmend: "Das Resultat dieser
Untersuchungen ist, daß die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich
annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist,
sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt
nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten."
Weiter (S. 12) führt er aus: "Für die Gesetze unseres
Handelns, für unsere sittlichen Ideale hat diese Anschauung die
wichtige Konsequenz, daß auch diese nicht als das Abbild von
etwas außer uns Befindlichem angesehen werden können, sondern
als ein nur in uns Vorhandenes. Eine Macht, als deren Gebote wir
unsere Sittengesetzte ansehen müßten, ist damit ebenfalls
abgewiesen. Einen «kategorischen Imperativ», gleichsam eine
Stimme aus dem Jenseits, die uns vorschriebe, was wir zu tun oder
zu lassen haben, kennen wir nicht. Unsere sittlichen Ideale sind
unser eigenes freies Erzeugnis. Wir haben nur auszuführen, was
wir uns selbst als Norm unseres Handelns vorschreiben. [...] Die
Anschauung von der Wahrheit als Freiheitstat begründet somit
auch eine Sittenlehre, deren Grundlage die vollkommen freie
Persönlichkeit ist."
Gegen Ende von Wahrheit und Wissenschaft
(S. 83 f) greift Steiner diesen Gedankengang noch einmal auf im
Zusammenhang mit einer Erörterung der Philosophie Fichtes, und
führt aus: "Der Umstand, daß das Ich durch Freiheit sich
in Tätigkeit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich
heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Erkennens zu
realisieren, während in der übrigen Welt die Kategorien sich
durch objektive Notwendigkeit mit dem ihnen korrespondierenden
Gegebenen verknüpft erweisen. [...] Das Wesen der freien
Selbstbestimmung zu untersuchen wird die Aufgabe einer auf unsere
Erkenntnistheorie gestützten Ethik und Metaphysik sein. Diese
werden auch die Frage zu erörtern haben, ob das Ich auch noch
andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag. [...]
Daß die Realisierung des Erkennens durch Freiheit geschieht,
geht aber aus den oben gemachten Anmerkungen bereits klar hervor.
Denn wenn das unmittelbar Gegebene und die dazugehörige Form des
Denkens durch das Ich im Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so
kann die Vereinigung der sonst immer getrennt im Bewußtsein
verbleibenden zwei Elemente der Wirklichkeit nur durch einen Akt
der Freiheit geschehen."
Was Rudolf Steiner hier ankündigt, "das
Wesen der freien Selbstbestimmung zu untersuchen" und
zugleich der Frage nachzugehen, "ob das Ich auch noch andere
Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag", das
findet statt in der Folgeschrift Die Philosophie der Freiheit,
auf die in ihrem Vorspiel Wahrheit und Wissenschaft
wiederholt hingedeutet wird. Und entsprechend weist Steiner
seinen Leser dort (S. 254) auch darauf hin, daß der zweite Teil
dieses Buches " ... seine naturgemäße Stütze in dem
ersten" finde. "Dieser stellt das intuitive Denken als
erlebte innere Geistbetätigung des Menschen hin. Diese
Wesenheit des Denkens erlebend verstehen, kommt aber der
Erkenntnis von der Freiheit des intuitiven Denkens
gleich."
In der Philosophie der Freiheit geht es
folglich, wenn man beide Schriften aufeinander bezieht, sowohl
darum näher zu untersuchen, wie die Verwirklichung der Idee des
Erkennens sich vollzieht und worauf sich dieser Akt der Freiheit
im einzelnen gründet - was Steiners Bemerkung in der Philosophie
der Freiheit zufolge im ersten Teil des Buches verhandelt
wird. Und sich ferner zu fragen: " ... ob das Ich auch noch
andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag."
Letzterem ist der zweite Teil der Schrift gewidmet. Beiden
Fragestellungen wird nachgegangen, wie Steiner 1917 an anderer
Stelle ausdrücklich betont, "durch rein philosophische
Forschung". Mit den "Denkmitteln" und der
"Methodik allein", "die man gewöhnt ist, in
philosophischen Arbeiten zu finden." (Die
Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische
Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35, 1984,
S. 319).
Die Idee des Erkennens wird, so können wir
festhalten, durch einen Akt der Freiheit realisiert. Bezogen auf
die Philosophie der Freiheit: Das intuitive
respektive erkennende Denken verwirklicht oder vollzieht
im Erkennen diesen Akt der Freiheit. Und nur weil es dieses
vermag, also selbst frei ist, ist auch Freiheit des Handelns
denkbar und möglich. Der Auffassung eines freien oder
freiheitsfähigen menschlichen Individuums liegt demnach
fundierend zugrunde die Einsicht vom Erkennen als einer
Freiheitstat des Menschen. Der Umstand, daß Steiner dieses
erkennende Denken später in der Zweitauflage der Philosophie
der Freiheit, - und auch dort nur an wenigen Stellen - , ein
intuitives Denken nennt, hat viel zur allgemeinen
Verwirrung bei seinen Rezipienten beigetragen. Ich meine aber,
daß die Sachlage verständlich sein sollte, wenn man die
Materialien hinreichend berücksichtigt. Wenn also Steiner in der
Zweitauflage der Philosophie der Freiheit (S. 254) betont,
das freie Handeln gründe in der Freiheit des intuitiven
Denken, dann gibt es unter Berücksichtigung seiner dortigen
Bemerkungen zu diesem intuitiven Denken und unter
Einbeziehung dessen, was er in den vorausdeutend programmatischen
Hinweisen in Wahrheit und Wissenschaft zum Erkennen als
Freiheitstat ausführt, mehr als Anlaß genug, vom intuitiven
Denken als einem erkennenden Denken zu sprechen. Denn die
Philosophie der Freiheit versteht sich als Programm, das
in ihrem Vorspiel angekündigt wird.
I
I.
Probleme
mit dem intuitiven Denken
Vielen
Lesern der Philosophie der Freiheit wird es wahrscheinlich
ähnlich gehen wie mir am Beginn meiner Studien vor rund 25
Jahren: Wenn vom intuitiven Denken die Rede ist, dann
assoziieren sie damit eher Ungewöhnliches, Besonderes -
Ausnahmesituationen des Denkens. Falls sie philosophisch
vorgeprägt sind, dann werden sie sich vielleicht an Kants
Unterscheidung diskursiv - intuitiv in der Kritik der
Urteilskraft erinnern, wo der intuitive Verstand
(intellectus archetypus) nur als schiere, spekulative Möglichkeit
genannt wird. Eine für Kant rein theoretische Größe ohne
praktische Bedeutung und ohne tatsächliche Realität im
Bewußtsein. Und als Anthroposophen, die mit Steiners Werk etwas
vertraut sind, werden sie sich an die Intuition genannte
höchste Form der höheren Erkenntnis erinnern. Ebenfalls für
den normalen Sterblichen eine rein theoretische, für ihn im
Augenblick kaum zu erreichende Größe, die ihm allenfalls
Zukunftsmöglichkeiten andeutet, aber ohne faktische Relevanz für
sein tatsächliches Bewußtsein jetzt ist. Was sich um Ausdrücke
wie intellectus archetypus, anschauende Urteilskraft
oder eben auch die hohe Stufe der Intuition rankt, das
sind häufig die Verstehenshintergründe, wenn jemand auf einen
Ausdruck stößt wie intuitives Denken. Man tut gut daran
Assoziationen dieser Art beim Studium der Philosophie der
Freiheit vorerst einmal beiseite zu schieben, sonst befindet
man sich allzu leicht auf dem Holzweg. In der
Philosophiegeschichte oder auch in der Anthroposophie verankerte
Begrifflichkeiten sind manchmal hilfreich und unentbehrlich für
das Verständnis der Philosophie der Freiheit. Doch sie
können auch gehörig hinters Licht führen, wenn man sie
übereilt und ohne eingehende textimmanente Prüfung auf den
sachlichen Kontext dieser Schrift überträgt. Damit keine
Mißverständnisse aufkommen: Es gibt natürlich eine direkte
Verbindung zwischen Steiners Intuitionsbegriff hier und dort.
Aber es ist für das Erschließen der Philosophie der Freiheit
- zumal für das anfängliche - mitunter sehr entlastend, sich an
das zu halten, was er in der Vorrede von 1918 sagt, daß nämlich
niemand auf seine spätere Geistesforschung hinschielen
muß, um den Inhalt dieses Buches annehmbar zu finden.
Kaum
anthroposophische Forschung zum intuitiven Denken.
Folge: Mythen und
Legenden darüber.
Von anthroposophischen Autoren werden bisweilen regelrechte
Mythen bezüglich des intuitiven Denkens konstruiert -
(ein aktuelles Beispiel dazu aus der Zeitschrift Die Drei,
2/2008, S. 56 ist im Internet abrufbar unter
http://www.diedrei.org/Heft_2_08/09%20Forum%20Anthroposophie%202-08.pdf)
- was sicherlich im wesentlichen eine Folge des Umstandes ist,
daß Steiner sich in der Philosophie der Freiheit über
das intuitive Denken nur sehr wenig explizit erläuternd
äußert. Es gibt keine erschöpfenden unmittelbaren Erklärungen
zu diesem Ausdruck. Der Terminus intuitives Denken taucht
überhaupt nur in den späteren Zusätzen der Zweitauflage dieses
Buches auf. Und auch hier - soweit ich sehe - nur im zweiten Teil
des Buches, wo die grundsätzlichen Fragen des Denkens längst
abgehandelt sind. In der Erstauflage von 1894 dagegen ist er
nicht explizit vorhanden, aber das intuitive Denken der
Sache nach. Denn im ersten Teil, wo dieser Ausdruck zwar fehlt,
soll gleichwohl schon die Rede davon sein. Denn: "Dieser
[erste Teil, MM] stellt das intuitive Denken als erlebte innere
Geistbetätigung des Menschen hin. " (S. 254) Man muß
demnach unterstellen, daß dort, wo im ersten Teil vom Denken
die Rede ist, und zwar schon 1894, Steiner das intuitive
Denken meint. Das deckt sich mit der hier von mir vertretenen
Auffassung vom intuitiven Denken als einem erkennenden,
denn um dieses geht es ja dort. Anthroposophische Autoren
verweisen mit Vorliebe auf Steiners spätere Zusätze zur
Philosophie der Freiheit, wenn sie eine Differenz zwischen
dem intuitiven und dem sogenannten normalen Denken (was
immer das sein mag) anhand dieser Schrift festzustellen glauben.
Daß Steiner in dieser Schrift (siehe oben) ausdrücklich darauf
hinweist, daß im gesamten ersten Teil schon von diesem
intuitiven Denken, und folglich auch im dritten Kapitel schon die
Rede ist, das kommt ihnnen gar nicht in den Sinn. So sehr sind
sie befangenen in einer apriorischen und ungeprüften
Vorwegannahme dahingehend, das intuitive Element komme im
gewöhnlichen erkennenden Denken des Menschern grundsätzlich
nicht vor.
Wie dem auch sei: Für den Interpreten ist das
eine ziemlich vertrackte Situation. Schließlich - man kann es
nicht oft genug wiederholen - gründet in der Freiheit des
intuitiven Denkens die Freiheit des Handelns. Weiß man
aber nicht, was dieses intuitive Denken denn nun für
Steiner ist, dann hat man nicht die Spur einer Aussicht zu
begreifen, worin bei ihm die Freiheit des Handelns wirklich
gründet. Mit allen Folgen, die das wiederum für weiteres
philosophisches Arbeiten mit diesem Buche hat. Es ist, als habe
Steiner in der Zweitauflage auf den letzten Seiten dieser Schrift
dem Verständnis einen regelrechten Riegel vorgeschoben. Das ist
eine sehr sperrige, Mythenbildung geradezu herausfordernde
Faktenlage und macht die Dringlichkeit offenbar, eine Klärung
dieses Begriffs anhand des Textes voranzutreiben. Gerade wegen
der kargen Erläuterungen, die Steiner dazu gibt, scheint es mir
daher wichtig, wirklich auch alle ausdrücklichen Bemerkungen,
die er dazu macht, in die Interpretation einzubeziehen. Dazu
gehört nun einmal, daß er es vorrangig als erkennendes
Denken qualifiziert, dahingehend, daß durch das intuitive
Denken "eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit
erkennend hineingestellt wird", wie er im zweiten Zusatz von
1918 auf S. 255 ausführt. Und als ein in im Sinne dieser
Erläuterung gekennzeichnetes erkennendes Denken wird es von
jedem Denker ausgeübt, der sich erkennend betätigt, ganz
gleichgültig, ob dieser seinem eigenen Denken schon
Erkenntnisinteresse entgegengbracht hat oder nicht.
Diese Sachlage, daß das intuitive
Denken in jedem Erkenntnisvorgang des normalen Bewußtseins
wirksam ist, wird von anthroposophischen Autoren vielfach
übersehen oder ignoriert. Stattdessen erhält es einen ganz
eigentümlichen Status, in dem Sinne daß es auf jeden Fall nicht
im normalen, naiven Denkbewußtsein anzutreffen sei.
Einen derartigen
Mythos etwa konstruiert Marcelo da Veiga Greuel in seinem Buch
Wirklichkeit und Freiheit, Dornach 1990, S. 46 f, wenn er
dort sagt: "Das intuitive, durch die Selbstreflexion
entdeckte Denken, ist also nicht die Form des Denkens, welche im
naiven Bewußtsein vorkommt. Hier gilt vielmehr durchgängige
Diskursivität, d.h. ein sich in zeitlicher Schrittfolge
vollziehendes und an die Wahrnehmung der Sinne gebundenes Denken,
das sich seines tätigen Ursprungs nicht bewußt wird."
Diese These wird quellenkritisch durch nichts
weiter belegt als den Hinweis darauf, daß es, "eine
Wahrnehmung" sei, "in der der Wahrnehmende selbst tätig
ist, und" ebenso " ... eine Selbstbetätigung, die
zugleich wahrgenommen wird", wie Steiner auf S. 256 in einer
allerdings etwas anderen Absicht anmerkt. Was der Autor hier
nicht berücksichtigt, ist, daß Steiner an dieser Stelle nicht
generell charakterisierend vom intuitiven Denken spricht,
sondern in einem engeren Sinne vom intuitiv erlebten
Denken. (Was der Autor übrigens auch noch irreführend zitiert.)
Und nur darauf, auf dieses intuitiv erlebte Denken
trifft die Kennzeichnung zu, daß es "eine Wahrnehmung"
sei, "in der der Wahrnehmende selbst tätig ist, und"
ebenso " ... eine Selbstbetätigung, die zugleich
wahrgenommen wird". Denn in diesem Fall nimmt der Denker
aktiv-tätig den ideell-begrifflichen Gehalt seines Denkens wahr
- dies entspricht einer von Steiner durchgängig im
philosophischen Schrifttum vorgetragenen Ansicht vom Denken als
Auffassungs- oder Wahrnehmungsorgan für Begriffe und Ideen. Und
er nimmt seine eigene aktuelle denkerische Aktivität wahr.
Das (begrifflicher Inhalt und denkerische
Aktivität) sind zwei verschiedene Wahrnehmungen, die
häufig verwechselt oder gleichgesetzt werden, aber nicht
verwechselt werden dürfen. Eine derartige Verwechselung bzw
Gleichsetzung findet sich etwa im Kommentarteil des im übrigen
sehr zu empfehlenden Buches von Renatus Ziegler, Intuition und
Ich-Erfahrung, Stuttgart, 2006, S. 418. Ziegler paraphrasiert
dort diesen Passus des zweiten Zusatzes von 1918 aus dem Kapitel
Die Konsequenzen des Monismus mit tätigem Wahrnehmen
und wahrnehmendem Tätigsein, wobei zwischen diesen seinen
beiden Kennzeichnungen von der Sachaussage her für mich kein
Unterschied zu erkennen ist. Tätiges Wahrnehmen und
wahrnehmendes Tätigsein besagt in meinen Augen jeweils
dasselbe: ein aktives Wahrnehmen. Während auf der anderen Seite
die von Steiner ausdrücklich hervorgehobene Wahrnehmung der
Selbstbetätigung in Zieglers Kommentierung vollständig
untergeht. Doch darum geht es ja gerade hier: Nicht nur ist die
ideelle Wahrnehmung Folge einer Aktivität, sondern diese
wahrnehmende Aktivität ihrerseits wird ebenfalls vollbewußt
wahrgenommen und als Aktivität auch erlebt. Sie bleibt nicht
etwa vorbewußt, bewußtseinsunterschwellig oder gar völlig
unbewußt wie manche glauben. Es müßte also bei Ziegler
korrekterweise heißen: tätiges Wahrnehmen und
wahrgenommenes Tätigsein oder besser Wahrnehmen des
Tätigseins. (Vielleicht handelt es sich hier nur um einen
sprachlichen Lapsus in Zieglers Kommentierungen. Im Hauptteil
seiner Arbeit, der allerdings nicht mehr explizit an den Text der
Schrift angebunden wird, trifft er diese Unterscheidung sehr
wohl.) Die Wahrnehmung des begrifflichen Inhalts (als Resultat
des tätigen Wahrnehmens oder wahrnehmenden Tätigseins) findet
bei jedem begrifflichen Denkvorgang statt. Die Wahrnehmung der
Selbstbetätigung (wahrgenommenes Tätigsein/Wahrnehmen des
Tätigseins) aber nur, wenn der Denker seine erlebende
Aufmerksamkeit bewußt auch auf die eigene denkerische Aktivität
hinorientiert. Sonst wird sie einfach übersehen, weil sie weiter
nicht interessiert und somit unter der Schwelle des Bewußtseins
bleibt.
Der Ausdruck intuitiv erlebtes Denken
trifft also nur auf ein Denken zu, in dem beide
Wahrnehmungsformen (Inhalt und Tätigkeit) wirklich
vorliegen. Damit kennzeichnet er etwas, das Steiner im Zusatz von
1918 zum 3. Kapitel (S. 55) einfordert, wenn er dort sagt: "...
es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem es sich
vollzieht, vor dem «Ich» nicht restlos als seine eigene, von
ihm überschaubare Tätigkeit erscheint", und ist somit ein
terminus technicus für erlebtes gegenwärtiges
Denken. (Man beachte: für erlebtes, nicht für
beobachtetes gegenwärtiges Denken. Das aber
selbstverständlich auch als Erkenntnismittel in der Beobachtung
des Denkens zu finden ist, weil ja dann die Erfahrungen oder
Erlebnisse des Denkens selbst einer denkenden Betrachtung
unterworfen werden.)
Es ist übrigens, soweit ich sehe, der einzige
Versuch da Veiga Greuels - um wieder auf diesen zurückzukommen -
sich am expliziten Steinerschen Sprachgebrauch intuitives
Denken etwas zu orientieren. Wohlgemerkt am Ausdruck
intuitives Denken und nicht nur an dem der Intuition,
den er obendrein weitgehend links liegen läßt, ohne sich
Steiners Ausführungen dazu näher anzusehen. Und bis auf dieses
eine, irreführende und nicht weiter aufgeschlossene Zitat
verliert er kein Wort mehr darüber, was Steiner höchstselbst in
der Schrift ausdrücklich zum Begriff intuitives Denken
sagt. Und so hält der Leser dann am Ende ein Buch in der Hand.
Eine wissenschaftliche Arbeit, die ihm versichert, das intuitive
Denken komme im naiven Bewußtsein nicht vor. Deren Autor unter
anderem Steiners Freiheitsverständnis auf die Spur kommen
möchte. Der dem Leser nichts näheres über Steiners
Intuitionsbegriff berichtet, und noch viel weniger über den im
Sachzusammenhang entscheidenden Steinerschen Sprachgebrauch das
intuitive Denken betreffend. Man fragt sich: Warum
tut er das nicht? - Warum führt er einen Begriff vom intuitiven
Denken vor, der Steiners eigene direkte Äußerungen dazu
nahezu komplett ignoriert? Dem jede seriöse
Untersuchungsgrundlage für die fragliche Behauptung fehlt! Die
Folgen treten dann auch zu Tage. Denn: Daß das naive
Bewußtsein, das sich "seines tätigen Ursprungs nicht
bewußt" ist, nur in der Lage sein sollte, diskursiv und an
die Sinne gebunden zu denken, dünkt mir abenteuerlich. Warum
sollte das der Fall sein? Es würde doch bedeuten, daß dieses
Bewußtsein solange nicht imstande wäre, reinen,
sinnlichkeitsfreien - etwa mathematischen oder philosophischen -
Gedanken nachzugehen, solange es sich seines tätigen Ursprungs
nicht bewußt ist. Das ist denn doch zu weit hergeholt. Ein
derartiges Junktim läßt sich aus der Philosophie der
Freiheit nun wirklich nicht ablesen.
Der Umstand, daß der Autor diese disparaten
Sachverhalte (Wissen um die Tätigkeit des Denkens und Befähigung
zum reinen Denken - Wer sich des tätigen Ursprungs seines
Denkens nicht bewußt ist kann nur an die Sinne gebunden denken)
derart sachwidrig verquickt, geht zu erheblichen Teilen auf eine
fehlende Textanalyse zurück. Aber die ganze Passage offenbart
darüber hinaus auch ein derartiges gedankliches, hier nicht
analysierbares Durcheinander, daß die Vermutung nahe liegt, ob
dahinter nicht ein fundamentales und weit reichendes Mißverstehen
dieser Schrift steht, das nicht originär auf eigenem Boden
gewachsen ist, sondern mittelbare Folge ist einer bestimmten
philosophischen Schulenbildung innerhalb der Anthroposophie, die
nicht hinreichend unterscheidet zwischen dem Beobachten
und dem Erleben des aktuellen Denkens. (Siehe hierzu auch
die Ausführungen an anderer Stelle
auf dieser Homepage.)
(Noch weit ärger, dies sei kurz angemerkt,
ist die Sachlage bei Florin Lowndes, der sich in seinem Buch Das
Erwecken des Herzdenkens, Stuttgart 1998, auf S. 20 ff in
eine völlig haltlose Phantastik über das intuitive
Denken versteigt. Und zwar ohne auch nur den Schimmer einer
Begründung für seine Auffassung an der Philosophie der
Freiheit selbst zu liefern. Bei ihm wird es gar als
"überlogisches" Denken etikettiert, mit dessen Hilfe
allein der "rein geisteswissenschaftliche" - sprich:
esoterische - Charakter des Buches zugänglich sei. Das somit
also weit jenseits dessen liegt, wozu das normale Denkbewußtsein
in der Lage ist. Woher er seine Weisheiten hat und warum er das
glaubt, das erklärt der Autor dem Leser erst gar nicht. Dafür
deckt er ihn aber mit einer wahren Flut esoterischen Beiwerks und
zusammengewürfelter Vortragszitate ein, die den Unwissenden
beeindrucken mögen, faktisch aber doch nur bluffen und
Sachkenntnis lediglich vortäuschen. Ein wahrhaft
dokumentationswürdiges Beispiel für mangelnde Sorgfalt,
Paralogik des Denkens und Pseudowissenschaftlichkeit innerhalb
der anthroposophischen Bewegung, wenn sich ihre Autoren mit der
Philosophie der Freiheit und speziell mit dem intuitiven
Denken befassen. Und ein besonders symptomatisches Beispiel für
den Zustand dieser Bewegung, da Lowndes auf der Umschlagseite von
seinem Verlag Freies Geistesleben gleich mit drei
umfangreichen Bänden zum Thema angekündigt wird. Vom Schaden,
der damit im Erkenntnisleben des Lesers und für dessen weitere
Entwicklung angerichtet wird will ich erst gar nicht reden. Mir
scheint es bezeichnend für die wissenschaftliche Gesinnung, wenn
Autoren wie Lowndes von bekannteren anthroposophischen Verlagen
mit großem Aufwand ins Publikum gepreßt werden, während andere
Autoren wie etwa Lorenzo Ravagli, die wirklich etwas
Substantielles zu sagen haben, eigene Verlage gründen müssen,
damit sie überhaupt Gehör finden. Irgendwo auf dieser Linie
anthroposophischer Pseudowissenschaft liegt auch, was das
Dornacher Vorstandsmitglied Sergej Prokofieff seinem Leser über
die Philosophie der Freiheit und das intuitive
Denken auftischt: Fachlich substanzlos, dafür umso mehr
aufgeschäumt mit reichlich Esoterik und suggestiv-dämagogischem
Steinerkult. Näheres dazu siehe hier.)
Es macht allerdings für den Interpreten einen
maßgeblichen Unterschied aus, ob ein philosophischer Autor vom
intuitiven Denken spricht, oder vom intuitiv erlebten
Denken. Beachtet man diese Differenz nicht, dann kommt man zu
allen möglich irreführenden Auffassungen, die zwangsläufig
Folgen haben für das Verständnis der Philosophie der
Freiheit insgesamt. (Ich sage das ganz im Bewußtsein eigener
leidvoller Erfahrungen mit diesem Begriff.)
Um es zusammenzufassen: Die von Marcelo da
Veiga Greuel vertretene Auffassung, das intuitive Denken
komme im normalen (naiven) Bewußtsein nicht vor, scheint mir
unplausibel. Und schon gar nicht, so meine ich, läßt sich seine
Ansicht mit der von ihm angeführten Textstelle belegen. Vielmehr
gilt: Das intuitive Denken ist nicht etwa das erst "durch
Selbstreflexion entdeckte Denken", wie es bei da Veiga
Greuel heißt, sondern, das entdeckende, erkennende
Denken. Und als solches kann es sich eben auch selbst entdecken,
erkennen, und vor allem: seinen intuitiven und darauf basierend
seinen Freiheitscharakter entdecken und erkennen. Worauf Steiner
ja eigens hinweist, wenn er (S. 255) jene Methode, die ihm in der
Philosophie der Freiheit gleichermaßen zur Erhellung der
Freiheitsfrage wie der näheren Beleuchtung des Denkens dient,
selbst auch als intuitives Denken bezeichnet, und
andernorts als ein Verfahren, das man gewöhnlich in
philosophischen Arbeiten angewendet findet. Wer sich damit dem
intuitiven Denken erlebend und verstehend
zuwendet, der erkennt den Freiheitscharakter des
intuitiven Denkens (S. 254). Was sich nicht zuletzt doch
auch mit der Tatsache der Wesensgleichheit von
beobachtendem und beobachtetem Denken deckt, wie sie im drittem
Kapitel der Philosophie der Freiheit betont wird. Insofern
ist auch die von da Veiga Greuel oben getroffene, jedoch von
Steiner weder hier noch sonst im Buche gebrauchte Unterscheidung
diskursiv-intuitiv nicht eben hilfreich im fraglichen
Zusammenhang, sondern führt auf Abwege. Denn es geht ums
Erkennen. Und jede Erkenntnis, ob sinnlich oder übersinnlich, ob
im naiven oder kritischen Bewußtsein, operiert nach Steiner mit
Intuitionen, also intuitiv, sonst wäre es keine Erkenntnis. Die
Unterscheidung diskursiv-intuitiv, wie sie für Immanuel Kants
Erkenntnisbegriff charakteristisch ist, dahingehend, daß dem
Menschen ohnehin nur ein sinnlichkeitsgebundenes diskursives und
kein intuitives (auf das Sinnlichkeitsfreie, Übersinnliche
bezogene) Erkenntnisvermögen zugestanden wird, - siehe dazu etwa
den § 77 seiner Kritik der Urteilskraft -, kommt bei
Steiner schlichtweg nicht vor. Für Steiner, und da liegt eine
der basalen Differenzen zu Kant überhaupt, ist die intuitive,
übersinnliche oder sinnlichkeitsfreie Wahrnehmung konstitutiv
für den Erkenntnisbegriff. Das heißt: in jeder
Erkenntnis ist bereits dieses intuitive, übersinnliche
respektive sinnlichkeitsfreie Element enthalten. (Weiteres dazu
siehe auch hier)
*
Versuch
eines Verständnisansatzes
Auf fünf wesentliche Fakten ist nach meiner
Einschätzung bei dem Bemühen um eine begriffliche Klärung des
intuitiven Denkens das Augenmerk besonders zu richten:
1) Das intuitive Denken wird von
Steiner als diejenige Methode gekennzeichnet, die diesem Buche
als Forschungsverfahren zugrunde liegt. Und die, wie oben gezeigt
wurde, nach Steiner explizit dieselbe ist, "die man gewöhnt
ist, in philosophischen Arbeiten zu finden." Sie liegt also
nicht nur der Philosophie der Freiheit zugrunde, sondern
philosophischen Untersuchungen ganz allgemein.
2) Für den Erkenntnistheoretiker Steiner ist
notwendigerweise vor der Beantwortung der Freiheitsfrage
die Erkenntnisfrage zu klären. "Denn ohne die Erkenntnis
der denkenden Betätigung der Seele ist ein Begriff des Wissens
von etwas, also auch von einer Handlung nicht möglich. Wenn wir
erkennen, was Denken im allgemeinen bedeutet, dann wird es auch
leicht sein, klar darüber zu werden, was für eine Rolle das
Denken beim menschlichen Handeln spielt", um Steiners
Argumentation von S. 23 der Philosophie der Freiheit noch
einmal aufzugreifen. Deswegen hängt aus logisch-systematischen
Gründen die Freiheitsfrage von der Erkenntnisfrage ab und kann
nur dieser nachfolgend gelöst werden. Und man sieht auch, es
geht in der Argumentation Steiners nicht darum irgend welche
Spezialformen des Denkens erforschen, sondern zu klären, "was
Denken im allgemeinen bedeutet." Das wird im ersten Teil der
Philosophie der Freiheit - und da geht es ja vielfach um
diese Frage - auch in geradezu augenfälliger Weise sichtbar. Da
bleibt für mystifizierende Überhöhungen des dort untersuchten
Denkens überhaupt kein Raum, und auch kein Raum, ihm von
vornherein irgend welche Eigenschaften anzuheften, die fern
abliegen von dem, was es gewöhnlich unter normalen Verhältnissen
tut.
3) Steiners entsprechende Hinweise auf den
generellen Freiheitscharakter des Erkennens in der Schrift
Wahrheit und Wissenschaft (s.o.) und die dortigen
Vorausdeutungen auf die Philosophie der Freiheit, ferner
4) der Umstand, daß er das intuitive
Denken in seiner knappen Kennzeichnung auf S. 255 der Philosophie
der Freiheit ebenfalls in einem generalisierenden Sinn mit
der Erkenntnistätigkeit verknüpft, wenn er sagt: durch das
intuitive Denken wird »eine jegliche Wahrnehmung in die
Wirklichkeit erkennend hineingestellt«, - man beachte: eine
jegliche Wahrnehmung und nicht etwa nur geistig-ideelle
respektive auf sinnlichkeitsfreiem Denken beruhende - und
schließlich
5) die Tatsache, daß er (ebd., S. 253 f) in
diesem intuitiven Denken Freiheit überhaupt begründet
sieht, was angesichts der unter 2) genannten Sachlage logisch
konsequent ist und sich auch mit seinen Ausführungen in Wahrheit
und Wissenschaft bezüglich des Freiheitscharakters jedes
Erkennens deckt, verweisen unverkennbar darauf: Man wird auf
jeden Fall seinen Erkenntnisbegriff einbeziehen müssen, wenn es
um die begriffliche Klärung des intuitiven Denkens als
Grundlage jeder freien Handlung geht.
Und hier wiederum scheint mir bemerkenswert,
daß gleichsam am philosophischen Quellort dieses Begriffs, jener
Passage, in der Steiner in der Philosophie der Freiheit
(S. 95) den Intuitionsbegriff einführt, in keiner Weise von
irgendwelchen Sonderformen des Denkens die Rede ist, sondern von
einem Denken, das sich an ganz konkreten sinnlichen Gegenständen
entzündet. Von einer Schnecke und einem Löwen ist
dort (S. 95) die Rede, mit denen sich das Denken erkennend
befaßt. "Diese Tätigkeit des Denkens", heißt es,
"ist eine inhaltvolle. Denn nur durch einen ganz bestimmten
konkreten Inhalt kann ich wissen, warum die Schnecke auf einer
niedrigeren Organisationsstufe steht als der Löwe. Der bloße
Anblick, die Wahrnehmung gibt mir keinen Inhalt, der mich über
die Vollkommenheit der Organisation belehren könnte." Und
jetzt folgt die Passage mit der Einführung des
Intuitionsbegriffs: "Diesen Inhalt bringt das Denken der
Wahrnehmung aus der Begriffs- und Ideenwelt des Menschen
entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen
gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern. Die Form, in
der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuition
bezeichnen. Sie ist für das Denken, was die Beobachtung für die
Wahrnehmung ist. Intuition und Beobachtung sind die
Quellen unserer Erkenntnis." In der Schrift Von
Seelenrätseln erläutert er diesen Abschnitt noch einmal
näher und führt dort aus: "Ich sage also hier: Intuition
wolle ich als Ausdruck für die Form gebrauchen, in der die im
Gedankeninhalt verankerte geistige Wirklichkeit zunächst in der
menschlichen Seele auftritt, bevor diese erkannt hat, daß in
dieser gedanklichen Innenerfahrung die in der Wahrnehmung noch
nicht gegebene Seite der Wirklichkeit enthalten ist. Deshalb sage
ich: Intuition ist «für das Denken, was die Beobachtung für
die Wahrnehmung ist»." Und weiter: "Mir gilt eben
Intuition nicht «bloß» als die «Form, in der ein
Gedankeninhalt zunächst hervortritt», sondern als die
Offenbarung eines Geistig-Wirklichen, wie die Wahrnehmung als
diejenige des Stofflich Wirklichen." (GA-21, Dornach 1976,
S. 61)
Nur nebenbei gesagt steckt in dieser letzten
Formulierung Steiners ein wesentliches Verständnismittel, die
beiden scheinbar verschiedenen Varianten seines
Intuitionsbegriffes (erkenntnistheoretische und esoterische
Variante) sachlich aufeinander zu beziehen. Gerade durch Steiners
Gebrauch des Intuitionsbegriffs in erkenntnistheoretischen
Zusammenhängen tun sich viele Leser außerordentlich schwer, den
Charakter des intuitiven Denkens realistisch
einzuschätzen, weil sie zunächst an die höhere Form der
Intuition denken, die im Zusammenhang mit dem anthroposophischen
Schulungsweg von Steiner erörtert wird. Was in der Kürze dazu
gesagt werden kann ist, daß es sich hier nicht um zwei dem Wesen
nach verschiedene Formen der Intuition handelt, sondern daß sie
nur dem Grade oder der Qualität nach voneinander verschieden
sind. Wenn auch in dieser Hinsicht in Abhängigkeit vom
Schulungsfortschritt ganz erheblich. Aber in beiden Fällen geht
es um die "Offenbarung eines Geistig-Wirklichen". Das
eine Mal auf der Ebene des normalen, das andere Mal auf der des
besonders geschulten Bewußtseins. Und schon in jedem
gewöhnlichen Erkenntnisvorgang hat man es mit einem
"Geistig-Wirklichen" zu tun, das durch Intuition -
einer der zwei genannten Erkenntnisquellen - gegeben wird. Eben
das wird durch Steiners Erläuterung in der Schrift Von
Seelenrätseln noch einmal ausdrücklich unterstrichen.
Insofern ist es auch folgerichtig, wenn Steiner in der Vorrede
von 1918 zur Philosophie der Freiheit (S. 9) darauf
hinweist, daß er in diesem Buche hat zeigen wollen, " ...
wie eine unbefangene Betrachtung, die sich bloß über die beiden
gekennzeichneten für alles Erkennen grundlegenden Fragen
erstreckt, zu der Anschauung führt, daß der Mensch in einer
wahrhaftigen Geistwelt drinnen lebt."
Man kann es ja manchmal nicht drastisch genug
sagen: Aber wenn ich darüber nachdenke, was eine vor mir
liegende Konservendose von einem Baumwollsocken unterscheidet,
dann liegen dieser erkennenden Unterscheidung Intuitionen
zugrunde, denn - um Steiners Gedankengang von eben aufzugreifen -
"nur durch einen ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich
wissen," daß ein Baumwollsocken aus textilem Material
gefertigt ist, das organischen, pflanzlichen Ursprungs ist und
eine Konservendose aus Metall. "Der bloße Anblick, die
Wahrnehmung gibt mir keinen Inhalt", der mich über die
materielle Beschaffenheit und Herkunft dieser Gegenstände
"belehren könnte" . "Diesen Inhalt bringt das
Denken der Wahrnehmung aus der Begriffs- und Ideenwelt des
Menschen entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns
von außen gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern."
Die Form, in welcher der Gedankeninhalt bei dieser Unterscheidung
zunächst auftritt, nennt Steiner Intuition. Der
erkennenden Unterscheidung von Konservendose und Baumwollsocken
liegt demnach zugrunde ein Gedankeninhalt, der die Offenbarung
eines Geistig-Wirklichen ist, wie die Wahrnehmung dieser
beiden Gegenstände diejenige des Stofflich Wirklichen.
Das heißt: Die Erkenntnis eines ganz normalen sinnlichen
Gegenstandes geschieht im Rückgriff auf eine geistige
Wirklichkeit, die im begrifflichen Inhalt verankert ist, den das
Denken in der Intuition findet.
Mit Blick auf die oben unter Punkt 1) - 5)
genannte Faktenlage läßt sich dazu sagen: Das von Steiner
angeführte Beispiel skizziert paradigmatisch die Struktur des
intuitiven Denkens, indem er hier im Grundsätzlichen
darlegt, wie eine Wahrnehmung - in diesem Fall eine
sinnliche - in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird.
Wobei das Auftreten der Intuition noch nicht die eigentliche
Erkenntnis ist, sondern, wie er sagt, lediglich deren
Voraussetzung auf der ideellen Seite. Das ist übrigens ein
Punkt, der besondere Beachtung verdient, und auch von mir in den
hier veröffentlichten Arbeiten nicht immer adaequat behandelt
wird. Deswegen noch einmal der Hinweis: Die Intuition allein ist
noch nicht die Erkenntnis, sondern es muß neben der Wahrnehmung
noch etwas nur vom Ich Ausgehendes hinzukommen, was den
eigentlichen Erkenntnisakt - die Synthese zwischen intuitiv und
wahrnehmlich Gegebenem - vollzieht. Erst in der sachgemäßen
Verbindung der von zwei Seiten gegebenen Wirklichkeitsteile durch
das Ich liegt die Erkenntnis selbst. Auf S. 146 der
Philosophie der Freiheit spricht er diesbezüglich von
einer "denkenden Durchsetzung der Wahrnehmung". Diese
Vereinigung des intuitiv (durch Intuition)
Gegebenen mit dem durch die Wahrnehmung Gegebenen ist ein Akt der
Freiheit, um noch einmal Steiners Bemerkung aus Wahrheit und
Wissenschaft (s.o., S. 84) aufzunehmen: "Denn wenn das
unmittelbar Gegebene und die dazugehörige Form des Denkens durch
das Ich im Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so kann die
Vereinigung der sonst immer getrennt im Bewußtsein verbleibenden
zwei Elemente der Wirklichkeit nur durch einen Akt der Freiheit
geschehen." Dieser Freiheitsakt findet folglich in jedem
Erkenntnisprozeß statt. Ein Denken, das intuitiv (auf der
Basis von Intuitionen) diesen Erkenntnis- und Freiheitsakt
vollzieht, nennt Steiner in der Philosophie der Freiheit
ein intuitives Denken. Durch dieses Denken wird "eine
jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend
hineingestellt".
Dieses Paradigma gilt nun generell für den
Erkenntnisprozeß, mit der Variante, daß die mit ideellem Gehalt
zu verbindenden Wahrnehmungsteile nicht nur sinnliche sein
müssen, sondern beispielsweise selbst auch ideelle sein können.
In diesem Fall hat man es etwa mit reinem Denken zu tun,
wie es die philosophisch gedankliche Entfaltung der Philosophie
der Freiheit selbst über weite Strecken hin demonstriert.
Das im einzelnen unter Einbeziehung von Steiners in der Schrift
(S. 133) erweitertem Wahrnehmungsbegriff - "Man wird aus dem
schon Vorangehenden, aber noch mehr aus dem später Ausgeführten
ersehen, daß hier alles sinnlich und geistig an den Menschen
Herantretende als Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem
tätig erarbeiteten Begriff erfaßt ist." - darzulegen würde
hier zu weit führen. So viel soll nur resümierend gesagt sein:
Weil im Erkenntnisvorgang immer - auf welchen
Wahrnehmungstyp er nun auch bezogen sein mag - vom Denken
intuitiv der ideelle Gehalt geschöpft, und die
Wahrnehmung mit dem intuitiv Gegebenen denkend durchsetzt
wird, deswegen ergibt es einen guten Sinn, wenn Steiner (S. 255)
hervorhebt, daß durch das intuitive Denken "eine
jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend
hineingestellt" werde. Das deckt sich vollständig mit dem,
was er bei Einführung des Intuitionsbegriffs zu der
Angelegenheit sagt. Da ist nichts Mystisch-Nebulöses, nichts
Abgehobenes, nichts Rätselhaftes drin, sondern nur eben das, was
er über den Erkenntnisvorgang ohnehin schon bis dahin im
philosophischen Schrifttum geäußert hat und auch in der
Philosophie der Freiheit schreibt. Denn die Sache liegt
für Steiner so, "daß alle in meiner «Philosophie der
Freiheit» vorgebrachten Grundanschauungen bereits in meinen
früheren Schriften ausgesprochen und in dem genannten Buche nur
in einer zusammenfassenden und sich mit den
philosophisch-erkenntnistheoretischen Ansichten vom Ende des
neunzehnten Jahrhunderts auseinandersetzenden Art vorgetragen
sind." (GA-21, Dornach 1976, S. 59) Der Ausdruck intuitives
Denken benennt also nichts wirklich Neues gegenüber
diesem älteren Schrifttum, sondern was dort gesagt wird, findet
sich auch in der Philosophie der Freiheit. Das heißt: das
intuitive Denken ist tätig sowohl bei der Erkenntnis der
gegenständlichen Welt, der seelischen und auch der
geistig-ideellen Welt; in letzterem Fall zum Beispiel bei
philosophischen Fragestellungen, wie sie die Abfassung einer
Schrift nach Art der Philosophie der Freiheit aufwirft.
Aber auch bei geistigen Erfahrungen, die über das, was auf der
Ebene der Philosophie der Freiheit anzusiedeln ist, weit
hinausreichen, worauf Steiner in den späteren Anmerkungen zu
seinen Grundlinien... ausdrücklich hinweist. (Siehe
Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen
Weltanschauung, GA-2, Dornach 1979, S. 137 f) Es ist als
erkennendes Denken ein Denken, das in Geistig-Wirkliches
tätig-empfangend hineinreicht, um Steiners Erläuterung aus der
Schrift Von Seelenrätseln (siehe oben) aufzugreifen.
Intuitives
Denken versus reines oder sinnlichkeitsfreies Denken
Für Mystifikationen des intuitiven
Denkens, so scheint mir, gibt es in der Philosophie der
Freiheit keinen Anlaß, keine Materialgrundlage und auch
keine theoretischen Spielräume. Will man sich vorsichtig an dem
orientieren, was Steiner vortragsweise 1918 über das intuitive
Denken sagt, indem er es dort als sinnlichkeitsfreies Denken
charakterisiert, so hat man damit im Prinzip ganz gut die
Sachlage getroffen. (Siehe GA-67, Dornach 1962, S. 352; Vortr.
Berlin 20. April 1918. Siehe ebendort auch S. 336 ff im selben
Vortrag wesentliches zur Frage der in der Philosophie der
Freiheit vorausgesetzten Bewußtseinsverfassung.) Dies sagt
zwar noch nicht alles, aber immerhin wesentliches über das
intuitive Denken aus; einen Begriff, der ja nicht ohne
Grund von Steiner in der Zweitauflage neu eingeführt wird, und
nicht an seiner statt der des sinnlichkeitsfreien bzw.
reinen Denkens, der seinerseits mehrfach in der Schrift
erscheint. Deswegen spreche ich von vorsichtiger
Orientierung. Denn für das Verständnis dieses Buches sind nicht
Steiners Vorträge zuständig, sondern das, was in der Schrift
selbst steht. Das soll sagen: Die Differenzierung ist bewußt von
Steiner so gesetzt, und entspringt nicht seiner zufälligen
Verfasserlaune oder lediglich stilistischen Erfordernissen. Die
beiden Begriffe sind also nicht völlig deckungsgleich,
selbst wenn Steiner gelegentlich auch in Aufsatzform die
Bedeutungsvariante sinnlichkeitsfreies Denken zu
favorisieren scheint. (Siehe in diesem Sinne verschiedene Stellen
in GA-34, Dornach 1960; S. 126; S. 494; S. 495) Das reine
Denken ist zwar stets ein intuitives Denken, aber nicht
jedes intuitive Denken ist ein reines Denken im
engeren Sinne. Eine Differenz ist vorhanden und vor allem: sie
ist nicht mehr vernachlässigbar wenn es darum geht, den
Freiheitsgrad der Erkenntnis im allgemeinen zu beurteilen.
Man käme sonst unter Umständen in die Verlegenheit, für den
Fall der sinnlichen Erkenntnis entweder ohne Handhabe dazustehen
oder gar der nicht mit dem Begriff des reinen Denkens
im engeren Sinne zu umfassenden sinnlich-gegenständlichen
Erkenntnis Unfreiheit zu attestieren und Freiheit nur jener durch
das reine Denken. Mehr als kurios wäre das, wenn just
jener exemplarische Fall von erkennender Betätigung, anhand
dessen Steiner den Intuitionsbegriff in der Philosophie der
Freiheit einführt, mit dem Begriff des intuitiven
Denkens selbst gar nicht erreichbar und die Wahrheit ausgerechnet
hier gar keine Freiheitstat wäre! Für denjenigen also,
der nach der Freiheit des Erkennens überhaupt fragt, ist es
daher nicht mehr harmlos, wie er mit dem Begriff des intuitiven
Denkens verfährt. Er muß schon genauer hinsehen - genauer, als
Steiner in Vorträgen und Aufsätzen hin und wieder selbst. (Wie
der Leser bemerkt haben wird, setze ich hier sinnlichkeitsfreies
und reines Denken gleich. Das wäre im Einzelfall
vielleicht noch einmal genauer zu hinterfragen. Auf die
Gesamtaussage hier, das intuitive Denken betreffend, hätte
eine weitere Differenzierung dort allerdings keinen Einfluß. )
Wo aber liegt der Unterschied? - Der Begriff
des intuitiven Denkens setzt einerseits (schon sprachlich)
exakt am Moment der Intuition, das heißt an der
Geistigkeit des Erkennens selbst an, wie sie in der Schrift
eingeführt wird. Und er verfügt andererseits über eine größere
Weite und Anschmiegsamkeit, als der des engeren
sinnlichkeitsfreien oder reinen Denkens, indem er
das mit umgreift, was auch bei der Erkenntnis der
gegenständlichen Welt an Geistigkeit vorhanden ist. Und nicht
nur das: Er reicht sowohl nach unten, zur sinnlichen Erkenntnis,
als auch nach oben, zur rein geistigen Erkenntnis, über den
Bedeutungsradius des sinnlichkeitsfreien oder reinen
Denkens hinaus, und korrespondiert infolgedessen auch mit der
eben angedeuteten Erweiterung des Wahrnehmungsbegriffes in der
Zweitauflage, wonach "alles sinnlich und geistig an den
Menschen Herantretende als Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es
von dem tätig erarbeiteten Begriff erfaßt ist". Der
Begriff des intuitiven Denkens ist folglich auf jede
Erkenntnis anwendbar. In dieser Universalität gleicht er ganz
und gar dem Erkenntnisbegriff Steiners. Und das scheint mir auch
einsehbar konsequent. Denn wenn Wahrheit und Erkenntnis von
Steiner als Freiheitstat begriffen wird, als Grundlage von
Freiheit überhaupt aber das intuitive Denken gilt, dann
muß freilich das intuitive Denken in jeder dieser
Wahrheits- und Freiheitstaten vorhanden sein und ihnen diese
Basis geben, sonst hätten sie diesen Charakter nicht. Deswegen
muß der Begriff des intuitiven Denkens nach unten zum
Sinnlichen und nach oben zum Geistigen mindestens ebenso weit
reichen wie der Erkenntnisbegriff selbst. Insofern ist auch die
Geistigkeit dieses Denkens bereits bei einer sinnlichen
Erkenntnis erlebbar. Und die sinnliche Erkenntnis wegen
ihrer intuitiven Wesenheit ein Akt der Freiheit. Wenn
Steiner also in der Philosophie der Freiheit betont, durch
das intuitive Denken werde "eine jegliche Wahrnehmung
in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt", dann heißt
das auf die sinnliche Erkenntnis bezogen soviel wie: Schon die
Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmungswelt enthält stets die
entscheidenden Elemente des sinnlichkeitsfreien oder
reinen Denkens in sich - nämlich das intuitive,
begriffliche, geistige Element, das nicht aus der sinnlichen
Wahrnehmung stammt, in jeder Erkenntnis zu finden ist, die
Verbindung zur geistigen Wirklichkeit herstellt, und dadurch den
freiheitlichen Charakter dieses Erkennens garantiert. Was sich
nahtlos fügt zu einer Bemerkung an anderer Stelle, daß nach
seinem Verständnis ein "jedes Erkennen die
Gesetzmäßigkeit des reinen Denkens zur Voraussetzung hat".
(Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die
zeitgenössische Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches.
In: GA-35, Dornach 1984, S. 321) In jedem Erkenntnisprozeß ist
also reines oder sinnlichkeitsfreies Denken vorhanden. Er ist
überhaupt nur Erkenntnisprozeß, soweit und insofern in ihm
reines Denken vorhanden ist. Und eben das bringt Steiner ja an
der zitierten Stelle zum Ausdruck, wenn er seinen
Intuitionsbegriff anhand einer Erkenntnis von Schnecke und Löwe
einführend erläutert und in diesem Zusammenhang von den zwei
Quellen der Erkenntnis spricht. "Mein Begriff eines
Löwen" sagt er auf S. 107 der Philosophie der Freiheit,
"ist nicht aus meinen Wahrnehmungen von Löwen gebildet.
Wohl aber ist meine Vorstellung vom Löwen an der Wahrnehmung
gebildet." Der Begriff einer Sache stammt aus der Quelle der
Intuition, die zur Wahrnehmung etwas hinzufügt, aber nichts aus
ihr herauszieht. In den Begriff geht von der sinnlichen
Wahrnehmung nichts ein, wohl aber in die Vorstellung. Das
intuitive Denken ist, wenn man sich an Steiners oben
erwähnte Erläuterung zum Intuitionsbegriff in der Schrift Von
Seelenrätseln hält, ein Denken, dem sich auf den
unterschiedlichsten Seinsebenen Geistig-Wirkliches offenbahrt.
Kurz und prägnant kann man es als eines bezeichnen, das sich
nach intuitiv gegebenen reinen begrifflichen Inhalten richtet.
Und als ein Denken, das sich nach begrifflichen Inhalten richtet,
ist es essentieller Bestandteil einer jeden Erkenntnis. Das wird
von Steiner nicht nur in der Philosophie der Freiheit klar
und unmißverständlich gesagt.
Deswegen läßt sich vor dem Hintergrund des
in der Philosophie der Freiheit Gesagten auch nicht in
Abgrenzung zu anderen Formen des erkennenden Denkens von einem
eigentlichen intuitiven Denken sprechen, wie es ein von
mir sehr geschätzter kritischer Leser unlängst tat. Denn der
Begriff intuitives Denken ist Sammel- oder Oberbegriff für
erkennendes Denken überhaupt, der nur Binnendifferenzierungen
erlaubt - etwa in Richtung reines Denken. Aber keine
Bewegungsräume mehr bietet in Richtung auf ein noch
eigentlicheres intuitives Denken. Man kann allerdings von
einem eigentlichen reinen Denken sprechen, wenn man
ein intuitives Denken meint, daß sich - etwa bei
philosophischen oder mathematischen Fagestellungen -
ausschließlich mit sinnlichkeitsfreien Begriffen erkennend
auseinandersetzt. Wo also auch auf der Wahrnehmungsseite nichts
Sinnliches, sondern nur Geistig-Ideelles gegeben ist. Erkenntnis
besteht für Steiner immer in der Synthese von Wahrnehmung
(gleich welcher Art, ob sinnlich oder ideell-geistig) und
Begriff, schließt also per definitionem immer begriffliches,
reines Denken ein. (Siehe Grundlinien ... a.a.O., S. 137
f) Eine Erkenntnis ohne dieses intuitive, begriffliche
Denken wäre für Steiner gar keine, nicht vorstellbar - ein
Unding. Die erkenntnistheoretisch, freiheitsphilosophisch und
bewußtseinsphänomenologisch herausragendste Eigenschaft des
intuitiven Denkens liegt darin, neben allen übrigen
Daseinsbereichen sich auch selbst erkennen und erklären zu
können. Aber es ändert im letzten und entscheidenden Fall - der
Beobachtungs des Denkens selbst - nicht die Art seiner Funktion,
sondern nur den Inhalt oder Objektbereich mit dem es sich
erkennend befaßt, indem es - intuitiv erlebend - ganz bei
sich bleibt. ("Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ
derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet.") Man
könnte doch allenfalls in bezug auf diese
Selbsterklärungsleistung des intuitiven Denkens noch von
einem eigentlichen intuitiven Denken sprechen. Dafür aber
bietet die Philosophie der Freiheit keinerlei Anhalt. Denn
hierfür verwendet Steiner wahlweise die Ausdrücke Beobachtung,
Betrachung, Anschauung des Denkens oder auch Denken
über das Denken. Tätigkeiten, die vom intuitiven
Denken vollzogen werden. Man kann also nur nach Objektbereichen
oder Wahrnehmungstypen weiter spezifizieren, an denen sich das
intuitive Denken erkennend betätigt. Je nachdem, ob es
sich mit dem sinnlichen, seelischen oder geistig-ideellen Bereich
erkennend befaßt. Zum eigentlichen intuitiven Denken
gehören indessen sämtliche Erscheinungsformen, in denen es
aufzutreten vermag. So wie zur eigentlichen Währung Frankreichs
sämtliche Erscheinungsformen dieser Währung gehören - also
auch Zwei-Cent-Münzen und nicht nur Zwanzig-Euro-Scheine.
Davon abgesehen: Auch das reine oder
sinnlichkeitsfreie Denken im engeren Sinne und für sich
genommen birgt keinen Anlaß für Mystifikationen. Die Befähigung
dazu, der ausschließliche intuitive Umgang mit reinen Begriffen
und Ideen ist unter den gegenwärtigen kulturellen Bedingungen
ein durchaus normales menschliches Vermögen, wenn auch nicht
überall gleich ausgeprägt. - Es ist bereits ein Vermögen des
naiven Bewußtseins. (Siehe hierzu etwa: Renatus Ziegler,
Reines Denken und reine Begriffe: Einwände und Widerlegungen,
in Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 2004, S. 71
ff.) Und dieses setzt in keiner Weise ein Wissen um den tätigen
Ursprung des Denkens voraus, sonst müßte der reine Denker
apriori ein Beobachter respektive Erkenner des Denkens sein. Man
sollte dann die Beobachter des Denkens mit Vorrang bei den
Mathematikern suchen, was so natürlich Unsinn ist. In der
ungebührlichen Vermengung dieser beiden Sachebenen bei da Veiga
Greuel, so meine ich, steckt unter Umständen weit mehr als nur
ein persönliches Mißverständnis des Autors, sondern
möglicherweise ein ernstes Verständnisproblem einer
spezifischen philosophischen Schule innerhalb der Anthroposophie.
Nebenbei gesagt: Dieses Entdecken und
philosophische Begründen des Freiheitscharakters des erkennenden
Denkens gleichermaßen wie der darauf sich stützenden Freiheit
des Handelns, hat Steiner eigenen Worten zufolge ganz persönlich
als ein außerordentlich mühevolles Geschäft erlebt. Dermaßen
mühevoll, daß er, wie er am 4. November 1894 an die
Schriftstellerin Rosa Mayreder schreibt, vor lauter
Schwierigkeiten gar nicht daran denken konnte, seinen Lesern
einen Verständnisweg zur Lösung der Freiheitsfrage zu ebnen,
sondern vorrangig und nahezu ausschließlich sich selbst. Und
dabei auch noch manche Hürde gewaltsam überspringen mußte:
"Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich versucht,
die geeigneten Wege sogleich für andere zu suchen. Ich bin
meinen gegangen, so gut ich konnte; hinterher habe ich
diesen Weg beschrieben. ... Willkürlich, ganz individuell
ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch Dickicht habe ich
mich in meiner nur mir eigenen Weise durchgearbeitet. Wenn man
ans Ziel kommt, weiß man erst, daß daß man da ist."
(siehe, Edwin Froböse und Werner Teichert (Hgr), Rudolf Steiner,
Briefe II, 1892-1902, Dornach 1953, S. 176 ff) Das ist nicht
höflich zurückhaltendes Understatement eines brillianten
philosophischen Kopfes, sondern durchaus im Wortsinne zu nehmen
und kennzeichnet eine rezeptionsgeschichtliche Sachlage, an der
seine philosophischen Schüler bis heute hart zu beißen haben.
Es rückt auch von dieser konkreten, forschungspraktischen Seite
den erkennenden und entdeckenden Charakter der von ihm dabei
verwendeten und später intuitives Denken genannten
Methode in ein deutliches Licht.
Weil für Steiner jedes Erkennen auf
den oben genannten intuitiven Teil zurückgreift - unabhängig
davon, ob dem Denker diese Tatsache bewußt ist oder nicht - kann
das intuitive als erkennendes Denken auch von jedem naiven
Denker ausgeübt werden, und wird auch von jedem erkennenden
Denker ausgeübt. Und nicht erst dann, wenn dieser bereits ein
Wissen um den tätigen Ursprung des Denkens hat. Das scheint mir
auch eine Notwendigkeit. Nicht nur weil entdeckendes und
entdecktes - respektive beobachtendes und beobachtetes - Denken
wesensgleich sind. Sondern auch, weil erst nach der
Entdeckung um bestimmte Sachverhalte des Denkens gewußt wird.
Wer aber sollte darüber prüfend und abwägend befinden, ob eine
Einsicht bezüglich des Denkens zutreffend ist oder nicht, wenn
nicht das entdeckende Denken selbst? Ursprünglich entdeckt
werden aber kann das Denken nur von einem Denken, das noch nichts
von sich weiß. Also: Auch dieses selbstentdeckende Denken ist
ein intuitives - erkennendes. Also ist zu sagen: Das
intuitive Denken muß nicht notwendigerweise auch intuitiv
erlebt werden. Und zwar wird es dann nicht intuitiv
erlebt, wenn der Denker seine erlebende Aufmerksamkeit nicht
eigens auf den Aktivitätsaspekt dieses Denken hin orientiert.
Oder auch dann, wenn er selbst das Denken noch nicht für sich
entdeckt hat, und für diesen Bereich seiner inneren Aktivität
noch nicht sensibilisiert ist. Dann vollzieht er zwar im Erkennen
das intuitive Denken, aber es fällt in seinem besonderen
Tätigkeitscharakter aus seinem Erlebnishorizont heraus, weil er
diesem keine gesonderte Aufmerksamkeit schenkt - was ja in den
meisten Fällen, während wir uns erkennend betätigen,
zweifellos der Fall ist; wenn wir zwar um Eigenarten des Denkens
wissen, aber gleichwohl situativ bedingt nicht darauf achten.
(Letzteres gilt auch für den Vorgang des reinen Denkens,
wenn wir etwa von der Fragestellung derart absorbiert sind, daß
wir unserer Tätigkeit keine Aufmerksamkeit zuwenden, sondern nur
dem Inhalt des Denkens.) In diesem Fall hat der Denker nur die
Resultate seines Denkens (den ideell wahrgenommenen begrifflichen
Gehalt) im Bewußtsein, aber nicht den intuitiven Vorgang des
Denkens selbst. Das heißt: die Wahrnehmung der
Selbstbetätigung - eines der von Steiner angeführten beiden
Kennzeichen für ein intuitiv erlebtes Denken - hat in
diesem Fall nicht stattgefunden, wohl aber ein intuitives
Denken. Das intuitive Erleben ist allerdings dann
unverzichtbar, wenn es um die Erkenntnis des eigenen Denkens
geht, vor allem, aber nicht nur, hinsichtlich des
Aktivitätsaspektes dieses Denkens. Und erst hier könnte man
davon sprechen, daß der naive Bewußtseinsstandpunkt gegenüber
dem eigenen Denken verlassen und einem kritischen - sprich:
faktisch erkennenden - gewichen ist. Man könnte präzisierend
sagen: das intuitive Erleben des Denkens ist eine
methodische Voraussetzung für eine Erkenntnis des Denkens, die
sich nicht nur der bloß formalen, logischen Seite des Denkens
widmet (etwa im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Erörterung),
sondern der faktischen, bewußtseinsphänomenologischen,
erkenntnispsychologischen - und auch seiner rein geistigen Seite.
Man kann also festhalten, und hier gibt es
vielleicht eine gewisse Brücke der Verständigung zu Marcelo da
Veiga Greuels Ansicht: Wenn ich ernsthaft und begründet von
eigenem Denken oder einer moralischen Intuition als Grundlage
meiner freien Handlung reden will, dann muß ich idealerweise
über das Zustandekommen dieses Gedankens bzw dieser moralischen
Intuition im Einzelfall dezidiert Auskunft geben können. Und das
kann ich letzlich ja nur, wenn ich in der Lage bin, vor mir
selbst zu rechtfertigen, daß beidem eine echte Denkleistung
meinerseits zugrunde liegt, und nichts anderes, wie etwa
Eingebungen und dergleichen. Und das wiederum setzt
verständlicherweise voraus, daß ich diesen Denkvorgang wirklich
auch in den Einzelheiten intuitiv erlebt habe. Ihn also
als meine eigene Erkenntnisleistung, als meine freie Schöpfung
anerkennen kann, die auf eigener Tätigkeit basiert und nichts
sonst. Ich muß also hier ein verläßlicher Zeuge meiner Denk-
oder Erkenntnisleistung gewesen sein. Und das ist übrigens
etwas, was im Prinzip jeder Mensch leisten kann, sofern er nur
mit Aufmerksamkeit auf das Zustandekommen seiner Gedanken achtet,
und zu unterscheiden vermag, was nur Assoziation oder Eingebung
ist, und was eigenes Denken ist.
Ein
vielversprechender aber noch etwas unvollständiger Ansatz bei
Renatus Ziegler
Für interessierte Leser sei aus aktuellem
Anlaß noch erwähnt: Das Verständnis vom intuitiven Denken
wie es hier anhand des Quellenmaterials herausgearbeitet wurde,
ist weitgehend deckungsgleich mit demjenigen, das Renatus Ziegler
in seiner jüngsten Buchveröffentlichung Intuition und
Ich-Erfahrung, Stuttgart 2006, zugrunde legt, aber
dort nicht näher belegt. Anders gesagt: es deckt sich
weitestgehend mit Steiners Begriff des reinen Denkens.
Und dies läßt sich, so glaube ich wenigstens ansatzweise
gezeigt zu haben, auch gut an den einschlägigen Texten Steiners
nachweisen. Und zwar ganz unabhängig von Ziegler selbst, oder
den Forschungszusammenhängen in denen er persönlich steht. Bei
Ziegler fehlt wie gesagt ein solcher Beleg noch, obwohl er es
sicherlich ebenfalls belegen könnte. Daß es dort nicht
hinlänglich geschieht, dafür gibt es viele Gründe, die nicht
allein nur beim Autor liegen.
Für den Leser, vor allem wenn er mehr in
akademischen Kontexten oder im Rahmen der Steinerforschung
arbeitet, ist Zieglers Buch deswegen leider nur bedingt - z. B.
als wertvolle und anregende Verständnishilfe - nutzbar zu
machen, weil er in wissenschaftlichen Kontexten natürlich
quellenkritische Nachweise benötigt, die auch demonstrieren
können, daß er Steiner nicht lediglich eine
subjektiv-willkürliche Lesart seiner Begrifflichkeit
aufprojiziert. Insbesondere bei Begrifflichkeiten wie Beobachtung
des Denkens oder intuitives Denken, die unhinterfragt zu
so hochgradig abenteuerlichen Verständnisansätzen führen, wie
es hier an einigen Beispielen gezeigt wurde, ist das notwendig.
Und so ein Prüfungsnachweis läßt sich der inneren Konsistenz
der Gedankenführung eines Autors allein nicht entnehmen; diese
mag im übrigen noch so scharfsinnig sein, und der Autor gar wie
im vorliegenden Fall Lehrbuchansprüche anmelden.
Die Frage ist eben, ob sein Brückenschlag von
der Untersuchung des Denkens zur Philosophie der Freiheit auch
sachlich zu rechtfertigen ist. Konkret: Ist sein Verständnis
etwa vom intuitiven Denken dasselbe, wie es Steiner in
seiner Schrift meint? Das läßt sich nun einmal nur durch eine
Untersuchung der von Steiner publizierten Texte und einen
entsprechenden Vergleich herausfinden. Bezüglich dieser
begrifflichen Klärung des intuitiven Denkens aber steht
Ziegler bedauerlicherweise kaum anders da als etwa Prokofieff,
Kirn, Lowndes oder da Veiga Greuel, dessen persönlicher Mythos
vom intuitiven Denken noch heute seine Spuren in
wissenschaftlichen Publikationen um die Waldorfpädagogik
hinterläßt. (Siehe: Marcelo da Veiga, Diskursfähigkeit der
Waldorfpädagogik und ihre bildungsphilosophischen Grundlagen,
in: Horst Philip Bauer/Peter Schneider, Waldorfpädagogik.
Perspektiven eines wissenschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M,
2006, S. 27; S. 34.) Bei einer Schrift, die laut Verfasser
Lehrbuchcharakter hat, ist das eigentlich nicht hinnehmbar. Auch
nicht hinnehmbar, daß ein so regelmäßig mißverstandener
Schlüsselbegriff, an dem das ganze Freiheitsverständnis der
Philosophie der Freiheit letztlich hängt, nicht einmal
als terminus technicus im ausführlichen Sachregister dieses
Lehrbuchs Erwähnung findet. Ich glaube für den Nutzer seiner
Schrift hätte Ziegler am Ende mehr getan, wenn er diesen Begriff
eingehender geklärt hätte, als um jeden Preis bei der auf nur
hypothetischem Niveau behandelten Reinkarnationsfrage anzukommen.
Seine Leser müssen es ihm letzten Endes vertrauensvoll abnehmen,
daß er den Begriff des intuitiven Denkens adaequat
wiedergibt. Vertrauen aber, um ein Wort Zieglers aus seinem Buch
aufzugreifen, hat in Erkenntnisfragen nichts zu suchen.
Wäre, was er dort vorträgt, nicht trotz
dieser Schwäche so weitgehend kongruent zu dem, was ich selbst
auf dieser Internetseite versuche den Lesern nahezubringen, dann
würde ich mich nicht für dieses Buch stark machen. So kann man
vielleicht ersatzweise all den anderen Lesern sagen, daß sie
sich im großen und ganzen ohne weiteres auf den Gedankengang
Zieglers einlassen können, weil er mit Steiners Schrift und
dessen Verständnis vom intuitiven Denken, von einigen
marginalen Details einmal abgesehen, kompatibel ist. Und sie
werden außerordentlich davon profitieren. Bei Dingen, die weiter
weg von der Philosophie der Freiheit liegen und mehr den
Charakter von logischen Schlußfolgerungen oder nachgeschobenen
erkenntnisphilosophischen Reflexionen haben, müssen sie ohnehin
genauer hinsehen und prüfen. Denn da ist manches mit einer
gewissen Vorsicht zu genießen. So glaube ich zum Beispiel, daß
das von Ziegler auf S. 178 ff eingeführte Aktualitätsprinzip
seinen eigenen Erkenntnisbegriff in große Schwierigkeiten
bringt, weil dieses Prinzip auf das Erkennen von Denken und
Erkennen nicht uneingeschränkt anwendbar ist. Und was der Autor
etwa auf S. 209 f über die Erinnerung sagt, scheint mir
empirisch wenig gesättigt und unausgegoren, teilweise gar
kurios. Aber davon abgesehen - es ist soweit ich sehe das erste
mal, daß es im Rahmen einer Buchveröffentlichung gelungen ist,
den Gedankengang der Philosophie der Freiheit einigermaßen
konsistent in etwas Geisteswissenschaftliches zu überführen -
und zwar anhand des eigenen Erlebens und nicht nur der Wiedergabe
anthroposophischer Steinerzitate. Ziegler macht da wirklich ernst
mit Steiners Aufforderung vom Ende des Kapitels Die
Konsequenzen des Monismus: "Vom lebendigen Ergreifen des
in diesem Buche gemeinten intuitiven Denkens wird sich aber
naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die geistige
Wahrnehmungswelt ergeben." In dieser Hinsicht ist es
ungeachtet der fehlenden Nachweise und mancher internen
Schwierigkeiten sicherlich mit das Beste, was die
anthroposophische Bewegung derzeit zu bieten hat.
*
In der Vorrede von 1918 zur Philosophie
der Freiheit macht Steiner eine Angabe über seine
Beweggründe für Veränderungen und Erweiterungen der Schrift im
Zuge der Neuausgabe. Er nennt (S. 10) nur zwei Anlässe dafür:
"Nur längere Zusätze habe ich zu einer ganzen Reihe von
Abschnitten gemacht. Die Erfahrungen, die ich über
mißverständliche Auffassungen des von mir Gesagten gemacht
habe, ließen mir solche ausführliche Erweiterungen nötig
erscheinen. Geändert habe ich nur da, wo mir heute das
ungeschickt gesagt schien, was ich vor einem Vierteljahrhundert
habe sagen wollen." Wenn man Steiner hier sehr streng folgt,
dann steht sachlich in der Zweitausgabe dieses Buches dasselbe
wie in der Erstausgabe, nur um Ungeschicklichkeiten und
Mißverständliches bereinigt. Nun finden sich seine Ausführungen
über das intuitive oder intuitiv erlebte Denken
ausschließlich in solchen späteren Zusätzen, die dazu dienen
Ungeschicklichkeiten oder Mißverständliches auszuräumen.
Frage: Was ist denn da so mißverstanden worden, daß Steiner
sich genötigt sieht den Aspekt des erlebten gegenwärtigen
Denkens mehrfach aufzugreifen und in geradezu definitorischer
Weise zu präzisieren? Warum spricht er in der Zweitauflage der
Philosophie der Freiheit vom intuitiv erlebten Denken?
Warum wird jetzt gesagt, was 1894 noch nicht zu lesen ist: Das
intuitiv erlebte Denken sei eine Wahrnehmung, "in der
der Wahrnehmende selbst tätig ist, und" auch " ...
eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird"?
Obwohl im Grundsätzlichen doch sachlich die Zweitauflage nichts
anderes enthält als die erste. - Eine mögliche und
plausible Erklärung dafür finden Sie in meiner Arbeit über
Walter Johannes Stein auf dieser
Homepage.
Für weitere Einzelheiten darf ich den Leser
an einen anderen Aufsatz auf dieser Homepage verweisen. (Über
das Zusammenfallen von
Wahrnehmung und Begriff und intuitives Denken )
*
Warum
die Klärung des intuitiven Denkens überhaupt notwendig ist
Vielleicht noch eine letzte Bemerkung zu
diesem zweiten Abschnitt für Leser, denen der ganze Aufwand der
begrifflichen Klärung um das intuitive Denken noch nicht
recht einleuchtet. Einiges dazu habe ich schon im Kommentar zu
dieser Arbeit angedeutet. Das wichtigste Argument ist sicherlich,
daß man Steiners Freiheitsbegriff nicht verstehen kann wenn man
nicht weiß, was das intuitive Denken ist. Eine
Folge davon sollte man sich vor Augen führen: Ein so hehres
Motto wie: Erziehung zur Freiheit, mit dem sich
Waldorfschulen gern schmücken, entbehrt bis heute jeder tieferen
Verständnisgrundlage und bleibt ohne eine solche letztlich hohl.
Und diese Grundlage ist, nach allem was ich
sehe, bislang tatsächlich nicht vorhanden. Nicht, daß sie
Steiner nicht gegeben hätte, aber niemand scheint sie bislang
begriffen zu haben. Exemplarisch kann man diese Sachlage fassen,
wenn man das umfangreiche und um Fundierung bemühte Buch Stefan
Lebers zur Hand nimmt, das sicherlich die Frucht eines
lebenslangen Ringens um Verständnis auf hohem Niveau genannt
werden kann: Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik,
Stuttgart 1993. Ins Auge fällt die eigentümliche Sparsamkeit,
mit der Leber dem Steinerschen Freiheitsbegriff dort im
allgemeinen und vor allem im einschlägigen Kapitel Anthropologie
des Individualismus und der Freiheit (S. 23 ff) nachgeht.
Dieses Kapitel etwa beginnt zwar mit der Bemerkung, daß Steiner
in seiner Erkenntniswissenschaft einen "empirischen
und keinen spekulativen Nachweis der Möglichkeit menschlicher
Freiheit" geführt habe. Nur: wie dieser Nachweis wirklich
aussieht, darüber gibt es bei Leber keinen stringenten
Aufschluß, sondern nur mehr oder weniger vage Andeutungen. Über
Gründung der Freiheit im intuitiven Denken schließlich -
das ist ja das Entscheidende - erfährt man nichts, auch nicht
mittelbar. So daß mit Blick auf das intuitive Denken der
Leser verschiedener anthroposophischer Bücher die Wahl zwischen
verschiedenen Extrempositionen hat: die Grundlegung der Freiheit
entweder im fantastischen überlogischen Jenseits der
Philosophie à la Lowndes oder Kirn zu suchen, oder in den
erkenntniswissenschaftlichen Niederungen von Wahrnehmung und
Begriff. Manchmal auch irgendwo dazwischen. Logisch paßt das
alles wohl nicht recht zusammen. Und das ist schon bemerkenswert,
wenn das anspruchsvolle Buch Lebers - Untertitel:
Anthropologische Grundlagen der Erziehung des Kindes und
Jugendlichen - kaum schlüssige Angaben macht über die
eigene philosophische Basis der anthropologischen Kategorie
Freiheit. Da Stefan Leber gewiß kein Bruder Leichtfuß
war, Steiner auf der anderen Seite aber eine solche Begründung
explizit gegeben hat, kann man seriöserweise nur vermuten: Leber
hat das Thema aus strategischen Gründen so sparsam behandelt,
weil auf der Rezeptionsebene zu vieles unklar und ungesichert
ist. Für eine Waldorfpädagogik mit wissenschaftlichem
Fundierungsanspruch ist das wenig befriedigend. Die Fragestellung
sollte also dem Bund der Waldorfschulen mindestens drei
Dissertationen wert sein, sofern man dort Einfluß darauf hat.
Ein
Wort zur desolaten Forschungskultur in der anthroposophischen
Bewegung
Daß sich an dieser Stelle eine Fragestellung
auftut, die vielen sich wissenschaftlich um die Waldorfpädagogik
Bemühenden noch wenig bewußt ist, läßt sich am jüngsten von
Horst Philipp Bauer und Peter Schneider herausgegebenen
Sammelband Waldorfpädagogik. Perspektiven eines
wissenschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M, 2006 ablesen. Ein
ausgezeichnetes, lesenswertes Buch, dessen kritisch
reflektierende Positionen man im großen und ganzen nur
unterstreichen kann. Da werden viele in der Waldorfbewegung
offenbar werdenden Fragen und Schwierigkeiten beherzt
aufgegriffen und benannt. Und dennoch fehlt diesem Buch aus
meiner Sicht etwas ganz entscheidendes: Die explizite und
pointierte Forderung nach der internen methodenbewußten
wissenschaftlichen Aufarbeitung und Klärung der
philosophisch-anthroposophischen Quellen dieser Waldorfpädagogik.
Die Tatsache, daß der Rationalitätsnachweis
der Steinerschen Anthroposophie von den eigenen vor allem
wissenschaftlich orientierten und arbeitenden Anhängern dieser
Bewegung in vielerlei Hinsicht noch gar nicht adaequat verstanden
worden ist, und die Lösung manches gravierenden Problems noch in
weiter Ferne zu liegen scheint, wird dort weitestgehend
ausgeblendet. Dabei hätte dieser Fragestellung dort seiner
faktischen Bedeutung nach, so glaube ich, mindestens ein
eigenständiger Beitrag gewidmet werden müssen. Tatsächlich
aber läßt sich ein solches Anliegen soweit ich sehe allenfalls
höchst mittelbar beispielsweise aus den Beiträgen Peter
Schneiders entnehmen. Und auch die von Marcelo da Veiga (S. 22)
formulierte Aufforderung: "Die Waldorfpädagogik und die sie
begründende anthroposophische Geisteswissenschaft müssen in
Theorie und Praxis kritisch reflektiert, beforscht und gewürdigt
werden ..." steht da noch sehr vereinzelt und blaß nur
allgemein programmatisch, ohne eine nähere Beleuchtung dessen,
was daraus an konkreten Fragestellungen und Forschungszielen
bezüglich dieser begründenden Geisteswissenschaft zu entnehmen
ist. Zwei vage Sätze, wenn man großzügig ist drei, werden über
diesen Kardinalpunkt fallen gelassen. Weit davon entfernt
Problembewußtsein in dieser Angelegenheit zu vermitteln oder gar
zu demonstrieren. Da wird nicht etwa davon gesprochen, daß es
beispielsweise bezüglich des intuitiven Denkens so
vielerlei unterschiedliche und kaum belegte Verständnisansätze
gibt, die untereinander nicht verträglich sind, aber auch nicht
diskutiert werden. Oder so viele undiskutierte Versionen dessen
existieren, was bei Steiner Beobachtung des Denkens sein soll.
Daß manche da gar von einem Erzeugungsproblem des Denkens
reden und man diesem Thema vielleicht einmal kritisch nachgehen
sollte. Daß es bis heute keine verbindlichen
Interpretationsstandards über die Philosophie der Freiheit
gibt, und viele Autoren, selbst Mitglieder des Dornacher
Vorstandes, darüber zu schreiben scheinen was ihnen beliebt,
ohne sich um Belege und Nachweise zu kümmern oder irgend ein
tiefer gehendes Verständnis zu zeigen. Daß darüber auch kaum
öffentlich debattiert wird, weil das anscheinend nicht zum guten
Ton in dieser Bewegung gehört, und alle offenbar irgendwie
nebeneinander her und aneinander vorbei reden, ohne sich
gegenseitig - von Ausnahmen abgesehen - kritisch aufzugreifen und
zu beleuchten.
Das jüngste Buch Prokofieffs zur
Philosophie der Freiheit ist vielleicht ein krasser
Fall, aber so ungewöhnlich für die anthroposophische
Szene auch wiederum nicht: Der Autor verweist in seinem
Anmerkungsapparat über hundert mal auf Rudolf Steiner, und
vielleicht zehn mal auf übrige anthroposophische
Sekundärliteratur ohne näher auf Details einzugehen.
Kritisierte Literatur wird überhaupt nicht genannt, obwohl er
sich über philosophische Autoren einige heftige Ausfälle
leistet, und hält schließlich einen einzigen Verfasser mehr
als siebzig mal für zitierwürdig: nämlich sich selbst.
Darin liegt viel Exemplarisches: Man bindet andere in Büchern
nicht wirklich ein, noch nicht einmal wenn man sie öffentlich
kritisiert. Publikationen dieser Art haben einen unverkennbar
egozentrischen und selektiven Charakter. Ein großer Teil der
wissenschaftlich relevanten Fakten wird bewußt ausgeblendet,
zurückgehalten und dem Leser vorenthalten. Es geht nicht
darum über eine Sachlage möglichst breit und facettenreich
problemorientiert zu unterrichten, sondern die spezifische
Sichtweise eines Autors konzentriert, wirkungsmächtig und
unrelativiert von anderen Auffassungen ins Publikum zu tragen.
Ein Schelm, wer da an die Nähe zur politischen Propaganda
denkt. [Siehe Sergej O. Prokofieff, «Anthroposophie und
die Philosophie der Freiheit», Dornach 2006]
Renatus Ziegler vermeidet in seinem erwähnten letzten Buch
die Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen unter Hinweis
(S. 29) darauf, daß dann sein Buch nicht zustande gekommen
wäre. Obwohl das von ihm behandelte Thema mehr als strittig
ist unter den Bearbeitern von Steiners philosophischem Werk
und genügend publizierte Auffassungen existieren, die mit der
seinigen nicht vereinbar sind. Die von Ziegler vorgebrachte
Begründung hätte auch Prokofieff vorbringen können. Es ist
ein wahrer argumentativer Joker, der beliebig oft gezogen
werden kann und jeden Kritiker zum Schweigen bringen muß,
weil ja nichts nachvollziehbarer ist als das. Nur mit
Wissenschaft hat das alles nichts zu tun. Wenn ein Autor ein
Lehrbuch verfaßt zu einem teilweise
hochproblematischen und kontrovers behandelten
Forschungsgegenstand namens Philosophie der Freiheit,
ohne ein Bewußtsein für die heikle Forschungslage zu
demonstrieren oder seinem Leser gar zu vermitteln. Sich
stattdessen mit der Bemerkung dieser Aufgabe entledigt, sein
Buch wäre dann nicht zustande gekommen. Dort eine Serie
strenger Erkenntnisgesetze formuliert und doch selbst,
abgesehen von bescheidenen
Textkommentierungen (näheres dazu siehe hier),
keinen brauchbaren am Forschungsobjekt festgemachten Nachweis
dafür liefert, daß er die umstrittene Begrifflichkeit der
Philosophie der Freiheit auch adaequat behandelt: dann
gehört das mit zu den wissenschaftlich-existentiellen
Kuriositäten der anthroposophischen Bewegung.
Prokofieff und Ziegler stehen sich
qualitativ zwar auf der einen Seite wie Antipoden gegenüber,
aber in dieser Art der wissenschaftlichen Einbindung
ihres Umfeldes sind sie sich innerhalb gewisser Grenzen
ähnlicher als man wünschen möchte. Daß es da noch einen
betroffenen Leser gibt, der dezidierten Anspruch darauf hat
über gewisse Dinge, Schwierigkeiten und Forschungsprobleme
mit aufgeklärt zu werden, spielt offenbar in den Überlegungen
der Verfasser nur eine untergeordnete Rolle. Und auch das
scheint mir charakteristisch für das anthroposophische
Publikationswesen: Da stellt man einen Haufen miteinander
unverträglicher Literatur beziehungslos nebeneinander hin und
halst dem ahnungslosen Leser die Verantwortung dafür auf,
sich in diesem literarischen Konglomerat zurechtzufinden.
Derjenige, der in der Regel ja kein Fachmann ist, soll jetzt
darüber befinden was davon akzeptabel oder inakzeptabel ist.
Diejenigen Autoren aber, die es zumindest besser wissen müßten
und ihm dabei dienlich sein könnten, schweigen sich aus. Das
kann schlechterdings nicht funktionieren und muß auf Dauer
dazu führen, daß nicht das sachlich Angemessene sich
durchsetzt, sondern was die unaufgeklärte Erwartungshaltung
der meisten Leser bedient.
Zu welch kontraproduktiven Blüten auch in
eben diesem Sinne dieser Verzicht auf öffentliche Kritik und
das damit verbundene Benennen von Forschungsproblemen führt,
wird im erwähnten Buch Prokofieffs evident. Ein
exemplarisches und folgenschweres Beispiel dafür, was
passiert, wenn dann so ein unaufgeklärter Leser selbst zum
Autor wird und seine eigene Unwissenheit literarisch weiter
transportiert: Prokofieff ist so ein Ahnungsloser, der dieser
Strategie zwar selbst folgt, aber ihr gleichzeitig auch zum
Opfer fällt. Seine dortige (S. 34) für Sachkundige kaum zu
begreifende Forderung nach einer Überwindung der
"bloß" philosophisch-philologischen Zugangsweise
zur Philosophie der Freiheit ist nicht allein, aber
maßgeblich auch damit zu erklären, daß er sehr schlecht
informiert ist über die außerordentlichen Schwierigkeiten
eines Zugangs zu diesem Werk schon auf dieser "bloß"
philosophischen Ebene. (Näheres siehe hier)
Vergleichbares gilt für die Vorhaltungen, die er
philosophischen Autoren gegenüber auf S. 243 erhebt. Ihm
fehlt augenfällig die Einsicht und Übersicht über
Forschungslage und Forschungsproblematik zur Philosophie
der Freiheit. Nur so scheinen mir angesichts dieser
Forschungslage derart blauäugige und wirklichkeitsfremde
Ansprüche verständlich. Denn so kann nur ein Anfänger
urteilen und fordern, dem jede nennenswerte
Forschungserfahrung mit der Philosophie der Freiheit
abgeht. Aber woher, so möchte man sich fragen, sollte er
diese Übersicht auch haben als interdisziplinärer
Grenzgänger? Als jemand, der in der Anthroposophie, aber
allenfalls besuchsweise in der Erkenntnistheorie bzw. der
Philosophie der Freiheit zu hause ist? (Man vergleiche
dazu sein Nachwort S. 243 ff.) Wie sollte er das überschauen,
wenn nicht einmal von jenen öffentlich etwas davon
thematisiert wird, die sich weit besser auf diesem Sachgebiet
auskennen als er selbst?
Hält man sich die forschungspraktischen
Konsequenzen aus Prokofieffs Forderungen in seinem Buch vor
Augen, dann heißt das nichts anderes als: im Endeffekt führt
die Enthaltsamkeit von problemorientierter öffentlicher
Kritik hier dazu, daß der Dornacher Vorstand aus schierer
Unwissenheit den forschenden Philosophen (und letztlich auch
sich selbst) das Wasser abgräbt für essentiell wichtige
Forschungsarbeit. Und das wird natürlich nicht nur bei einer
literarischen Wasserabgrabung bleiben, sondern auch faktisch
umgesetzt werden. Da sollte man sich nicht von Illusionen
leiten lassen: Dies wird seine ganz realen und pragmatischen
Auswirkungen auf die anthroposophisch-gesellschaftliche
Entwicklung und die Forschung dort haben, wenn sich bei den
Entscheidungsträgern und Multiplikatoren im Dornacher
Vorstand Überzeugungen wie diejenigen Prokofieffs festsetzen.
Das bitte ich all jene sich vor Augen zu führen, die mir
gelegentlich Vorwürfe machen weil ich manchmal etwas sehr
kritisch mit anthroposophischen Autoren umgehe, und dies ja so
gar nicht dem anthroposophischen Positivitätsideal
entspricht. Gerade der Fall Prokofieff zeigt, daß eine
Bewegung, die ihre Forschungsprobleme nicht öffentlich
thematisiert und hier für Transparenz sorgt, über kurz oder
lang mehr davon und weit gravierendere bekommt als ihr lieb
sein kann. Da deutet sich schon jetzt ein Szenario als real
möglich an, wo selbst ein Buch wie dasjenige Zieglers im
anthroposophischen Rahmen gar nicht mehr publizierbar sein
wird. Die Tendenzen dahin sind allemal vorhanden.
(Die Wirklichkeit ist manchmal schneller
als ihr Vorausdeuter es ahnte. Inzwischen - Herbst 2008 - wird
Ziegler mit seinem Buch ganz offen schon als Gegner Steiners
und der Anthroposophie gehandelt. So von einer Frau Mieke
Mosmuller. Und deren Rezensent im Europäer von Thomas
Meyer, Nr. 12, Oktober 2008, S. 21 f, ist auch noch arglos und
unbesonnen genug, die kritische Frage zu unterlassen, welchen
Sinn es wohl haben kann, wenn ein Anthroposoph einen anderen,
der ersichtlich ernsthaft um Verständnis bemüht ist, ganz
öffentlich und in Buchform als Gegner Steiners und der
Anthroposophie etikettiert, nur weil der bei manchen heiklen
Sachfragen anderen Auffassungen zuneigt als er selbst. Und ob
diese Fundamentalkategorisierung nach Gegnerschaft in
anthroposophischen Forschungszusammenhängen wirklich
angemessen ist, oder nicht eher Ausdruck einer gewissen
paranoidoformen und intoleranten Psychologie, wie sie viele
fundamentalistische Religionsströmungen auszeichnet.
Man darf gespannt sein auf die nächste
Eskalationsstufe solcher Prädikationen. Wohin diese
unsägliche interne Gegnerschaftsattribution zu führen
vermag, das lässt sich höchst eindrucksvoll studieren nicht
nur anhand der Geschichte der christlichen Kirchen, sondern
tagtäglich und weltweit in den monumental-monströsen Werken
religiös motivierter Sprengmeister jeglicher Provenienz. Sie
alle haben einmal klein und bescheiden angefangen. Und eine
Bewegung, deren Anhänger schon in der Vergangenheit mitunter
nicht immer leicht zu unterscheiden wußten zwischen dem, was
geistgetragene Weltsicht ist und was bloß dumpfes Nazitum, -
Beispiele siehe etwa hier
zu Haverbeck und hier
zu Benesch -, ist da zweifellos noch für Überraschungen
gut.
Wenn zwei seriöse Physiker sich über ein
physikalisches Sachproblem streiten, dann werden sie versuchen
ihr Problem mit Sachargumenten und weiterer Forschung zu
lösen. Aber schwerlich wird deswegen der eine den anderen
öffentlich als Feind der Physik anprangern. Bei
Anthroposophen ist so etwas prinzipiell möglich. Da fällt
das Absurde dieser Geisteshaltung bisweilen noch nicht einmal
auf. Selbst im Europäer von Thomas Meyer nicht.
Personen wie Frau Moosmuller mit ihren
Ansprüchen und fundamentalistischen
Gegnerschaftsunterstellungen scheinen mir geradezu ein
Belegexemplar zu sein für die Folgen der hier skizzierten
wissenschaftlichen Verfassung der anthroposophischen
Bewegung.)
|
Schließlich: Über den verbreiteten
unreflektierten, ungehemmten und katastrophalen Umgang mit
Steiners Vorträgen wird in dem erwähnten Sammelband auch nichts
gesagt. Obwohl alle daran beteiligten Autoren davon sicherlich
Kenntnis haben. Bei aller Zustimmung zum Anliegen dieses
Sammelbandes: Wo, wenn nicht dort, sollte dies öffentlich
angesprochen werden in der Hoffnung dadurch etwas zu bewegen? Es
gibt offensichtlich eine Art blinden Fleck in der
wissenschaftlich-kritischen Selbstwahrnehmung. Vielleicht auch
ein Gesetz des Schweigens - eine
anthroposophisch-wissenschaftliche Omerta. Vielleicht hat auch
niemand Zeit das alles zu tun, dann sollte man sich die
Bedingungen wissenschaftlichen Forschens in dieser Bewegung
ansehen. Eine eingehende wissenschaftssoziologische Studie würde
vermutlich aufzeigen können, daß hier ein Gemisch von all dem
vorliegt.
Und darin scheint mir einer der wesentlichen
Gründe für manche in diesem Sammelband angesprochene Misere zu
liegen. Das Vorhandensein eines gewissen allgemeinen
Grundkonsenses in der Einschätzung von Steiners Werk und dessen
philosophischer Begründung darf nicht mit der Tatsache eines
Konsenses in jeder Hinsicht verwechselt werden. Schaut man
nämlich mehr in die Feinheiten der jeweiligen Überzeugungen
selbst nur bei den philosophisch orientierten Vertretern, dann
ist es mit dem Konsens in einigen zentralen Fragen sehr schnell
vorbei. Und nimmt man noch die rein anthroposophischen Vertreter
wie etwa Prokofieff hinzu, dann scheint eine Verständigung
zwischen den Lagern nahezu ausgeschlossen, weil die
Einschätzungen und Erwartungen des jeweils anderen kaum noch
verstanden werden können. Dem läßt sich dauerhaft und wirksam
nur entgegenwirken durch die Etablierung einer vergleichbaren
Forschungskultur, wie sie meinetwegen in der Hegel- oder
Kantforschung gepflegt wird. Das ist bezogen auf die gesamte
Anthroposophie und realistisch betrachtet nur multiprofessionell
und interdisziplinär umzusetzen, weil das Steinersche Werk
dermaßen viele Fachbereiche und Forschungsfragen übergreift,
die von einem einzelnen nicht zu überschauen sind. Weder
intellektuell noch kräftemäßig. In diese Richtung muß wohl
auf lange Sicht gearbeitet werden. Auf dieser Linie liegt auch
eine sehr treffende Bemerkung Marcelo da Veigas in der Anmerkung
2 auf S. 21 des Sammelbandes. Das bislang noch weitgehende Fehlen
einer reifen anthroposophischen Wissenschaftkultur, die sich
ihrer eigenen Grundlagenprobleme bewußt ist und diese
selbstkritisch öffentlich reflektiert und methodenbewußt
aufarbeitet, führt hingegen auf der einen Seite gleichermaßen
zu internen wie externen Vermittlungs- und Diskursschwierigkeiten
und massiven Forschungsblockaden. Und auf der anderen Seite dazu,
daß Zieglers über weite Strecken fabelhaftes Buch erscheinen
kann, ohne daß ihm die entscheidenden Plausibilitätsnachweise
beigefügt werden, weil offenbar niemand sieht wie notwendig und
unerläßlich das in einer Wissenschaftskultur ist. Beides ist
symptomatisch für eine Bewegung, die im großen und ganzen noch
wissenschaftlich vor sich hin zu träumen scheint - das
jedenfalls möchte man mitunter meinen.
Wohin diese beklagenswerte
anthroposophische Forschungskultur führt, das läßt sich
unmittelbar studieren in der ursprünglich zur Dissertation
vorgesehenen Arbeit von Jonael Schickler, Metaphysik als
Christologie. Eine Odysse des Ich von Kant und Hegel zu
Steiner. Aus dem Englischen übersetzt, herausgegeben und mit
einem Nachwort versehen von Peter von Rukteschell, Würzburg
2004. (Inzwischen in deutscher Sprache nicht mehr
erhältlich. Die englische Ausgabe lautet Metaphysics as
Christology. An Odyssey of the Self from Kant and Hegel
to Steiner. Ashgate New Critical Thinking in Religion,
Theology and Biblical Studies Series, Aldershot:
Ashgate, 2005) [Mein herzlicher Dank geht an G. D. für
Literaturhinweise]
Dieser in philosophischen Dingen begabte
junge Mann konnte sein Projekt nicht mehr definitiv zum
Abschluß bringen, da er tragischerweise 25-jährig
unmittelbar vor dem Einreichen seiner Dissertation in England
bei einem Zugunglück im Mai 2002 ums Leben kam.
Die Tragik dieses kurzen Lebens wiegt
insofern doppelt, als Schickler offensichtlich nie in seinen
jungen Jahren einen sachlich verwertbaren Hinweis darauf
erhalten hat, daß der entscheidende Aspekt dessen, was er
philosophisch sucht, von seinem Kern her in der Philosophie
der Freiheit und in den übrigen Steinerschen
Frühschriften längst enthalten ist. Was seinen sichtlich
beeindruckten, wohlmeinenden und offensichtlich nicht
anthroposophisch geprägten Rezensenten Martin Wendte zu der
resignierend kritischen Feststellung veranlaßt: "The key
issue is this: Schickler himself states that today’s mankind
is unable to perceive the etheric body, and that the
clairvoyance of Steiner and other mystics is necessary to do
so. Could this not be a hint that a problem has been reached
here which, at this side of the eschaton, cannot be solved?
Schickler is right in stating the problem he states—but
perhaps under the conditions of fallen human beings, we simply
cannot solve it and must learn to live with the rest of
ontological scepticism inherent to a Kantian position. "
(Siehe diese Renzension im Internet unter
http://www.arsdisputandi.org/publish/articles/000268/article.pdf
)
Der Rezensent fühlt sich bei aller
Bewunderung für Schicklers Scharfsinn und Kenntnisreichtum
Kant und Hegel betreffend gleichsam vom Verfasser allein
gelassen, weil Schickler ausschließlich auf Steiners höhere
übersinnliche Fähigkeiten und die darauf basierenden
Forschungsergebnisse verweisen zu können glaubt.
Daß die übersinnliche Schlüsselfähigkeit
und geistige Basisgröße, auf die es philosophisch vorrangig
ankommt, nämlich das reine, sinnlichkeitsfreie oder
intuitive Denken in der Philosophie der Freiheit
ausdrücklich thematisiert wird, und dessen Charakter als
geistiges Wahrnehmungsorgan und individuelle
Erscheinungsform des Wesens der Welt ganz explizit auch in
anderen Frühschriften (Siehe etwa GA-02, Dornach 1979, S. 79)
Steiners hervorgehoben wird, diesem Gedanken scheint der junge
Mann nie begegnet zu sein. Und entsprechend findet sich auch
kein Hinweis darauf in seiner Schrift. Kaum mehr als vage
Andeutung oder Ahnungen (etwa S. 165), teilweise schlicht
unzutreffende enthält sein Buch in dieser Richtung. Wie man
überhaupt darüber staunt, daß ein Buch mit diesem
anspruchvollen Titel und wertvollen Gedankengängen über Kant
und Hegel, sich schließlich und endlich damit begnügt bei
rund 180 Seiten Gesamtumfang Steiner selbst auf den Seiten 151
ff kaum mehr als grob überschlägig 15-20 Seiten zu widmen.
Angesichts der Verständnisschwierigkeiten, mit denen sich die
Steinerforschung seit vielen Jahrzehnten plagt, ist das
verzweifelt wenig. Und im Literaturverzeichnis (S. 185 f)
findet sich nicht einmal die von Steiner selbst als
grundlegend bezeichnete Schrift Wahrheit und
Wissenschaft (GA-03) vermerkt. Jene Schrift übrigens, die
laut Vorrede Steiners ausdrücklich einen Beitrag leisten
wollte zur Überwindung des ungesunden Kant-Glaubens seiner
Zeit. Für jemanden, der Steiner professionell
philosophisch mit Kant vergleicht, sollte es schon einen
forschenden Blick wert sein, was Steiner da möglicherweise zu
dieser Überwindung beizutragen gedenkt. Ebensowenig finden
sich erwähnt die Einleitungen in Goethes
naturwissenschaftliche Schriften (GA-01) oder die Schrift
Goethes Weltanschauung (GA-06).
So ausgestattet läßt Schickler
entsprechend wenig Neigung erkennen in die Details
Steinerscher Grundschriften einzusteigen. Und was er dann
schließlich über Steiners philosophische Frühschriften
schreibt kann man auch nicht eben als Ausdruck einer
überbordenden philosophischen Wertschätzung bezeichnen. Die
hat ihm offensichtlich niemand nahe gebracht. Die
geringschätzigen Bemerkungen, die er ganz beiläufig über
Steiners Erkenntnistheorie fallen läßt - z. B. S. 167 ff, -
sind ihm noch nicht einmal eine sachliche Begründung wert.
So herrscht eine geradezu verblüffende
Asymmetrie zwischen der profunden Werkkenntnis und Liebe zum
Detail, die er bei seinen Untersuchungen von Kant und mehr
noch Hegels walten läßt, und der um Größenordnungen
darunterliegenden Neigung, sich mit Steiners philosophischen
Schriften zu befassen. Hätte man nicht die Versicherung des
Herausgebers, diese Arbeit sei faktisch zur Abgabe bereit
gelegen, man würde sie glatt für ein Fragment halten, das
auf seinen Abschluß erst noch wartet. Man fühlt sich
regelrecht in eine philosophische Podiumsdiskussion versetzt,
wo der Hauptakteur (Steiner), der angeblich die Probleme der
beiden anderen (Kant und Hegel) lösen kann, gar nicht
eingeladen wurde. An seiner statt verliest dann der Moderator
in ein paar dürren Statements das, was er für die
philosophische Meinung Steiners hält, während er sich
tatsächlich auf dessen eigene Gedankenbildung gar nicht erst
groß eingelassen hat. Der Part über die Frühschriften
Steiners ist gemessen an der Gründlichkeit mit der er Kant
und Hegel behandelt mit Abstand der schwächste der Arbeit,
und steht in einem so auffallenden Mißverhältnis dazu, daß
man die Anmutung hat, er sei überhaupt erst vor kurzem zum
ersten mal damit in Berührung gekommen, nachdem er die
Vorarbeiten zu Kant und Hegel weitgehend hinter sich hatte.
Was zumindest die Unvollständigkeit seiner Literaturangaben
dieses philosophische Werk Steiners betreffend erklären
würde.
Er rauscht, da er vorrangig auf Steiners
späteres esoterisches Werk hinorientiert ist, flüchtig
hindurch, läßt wichtige Teile unbeachtet und an den
entscheidenden Einzelheiten hetzt er achtlos vorüber. Nur
eine davon ist die alles überragende Entdeckung
Steiners aus den Grundlinien ... (GA -02, Dornach 1979,
S.79): Jene vom Denken als Wesen der Welt, und vom
menschlichen Denken als einzelner Erscheingsform dieses
Wesens. Eine Entdeckung ausdrücklich als Resultat
philosophisch-erkenntnistheoretischer Untersuchung vermerkt,
die sich ihrer Bedeutung und ihrem Fundamentalcharakter nach
nur vergleichen läßt mit der staunenden Entdeckung des
kleinen Kindes, daß es überhaupt eine Welt gibt. Hier ist im
Prinzip in einem Vorentwurf alles schon enthalten, was später
dann zur weit feiner ausziselierten esoterischen
Weltbeschreibung Steiners wird. Sogar der Methode nach, wie
Steiner oft genug betont, selbst wenn sie hier philosophischer
Natur ist (vergleiche etwa hier).
Erkenntnistheorie ist hier nur ein anderer, der
spezifischen philosophischen Problemlage Rechnung tragender
Ausdruck für Geistesforschung. Es ist eine
hellseherische Methode, die im Grundsatz jeder denkende Mensch
ohne weiteres anzuwenden in der Lage ist. Auch der Rezensent
Martin Wendte, der sich so sehr darüber beklagt, daß er nun
einmal kein Hellseher sei. Er ist es im Prinzip längst - er
weiß es nur noch nicht. Der Verfasser des von ihm
rezensierten Buches weiß es unglücklicherweise auch nicht.
Und warum er es nicht weiß, das ist eine der großen
Fragen, die hinter diesem tragisch unvollendeten Leben steht.
Sie geht die ganze anthroposophische Bewegung etwas an.
Dieser Entdeckung vom Denken als Weltwesen
ordnet sich letztlich alles unter. Auch Steiners Hinweis aus
der Philosophie der Freiheit (Kap. IV) dahingehend, das
Denken sei jenseits von Subjekt und Objekt, ist nur eine
selbstverständliche Konsequenz aus dieser grundlegenden
Entdeckung. Ebenso wie sein methodischer Hinweis vom Ende der
Philosophie der Freiheit, vom lebendigen Ergreifen des
intuitiven Denkens werde sich der weitere Eintritt in die
geistige Wahrnehmungswelt von selbst ergeben, auch nur eine
Konsequenz der Tatsache ist, daß das übersinnliche Wesen der
Welt auch auf übersinnlichem Wege und keinem anderen gefunden
wird. Und demgemäß natürlich auch die weitere
Hineinarbeitung in dieses Weltwesen organisch an diese
philosophisch-hellseherische Methode der Frühschriften
anknüpft. Dieser Hinweis Steiners über die Geistnatur des
Denkens und den Charakter der Philosophie der Freiheit
als geisteswissenschaftliches Forschungsresultat hätte
sachlich gesehen auch schon in den Grundlinien ...
stehen können. Und wer die Materie etwas überschaut, der
könnte beispielsweise entsprechend klare Hinweise im Kapitel
18. der Grundlinien ..., Psychologisches Erkennen
ausfindig machen. (Siehe auch die entsprechenden
diesbezüglichen Anmerkungen Steiners dazu zur Neuauflage von
1924 der Grundlinien ... .) Der weitere Weg in die
geistige Welt ist letzten Endes ein methodisch verfeinerter
und geregelter Weg in dasjenige, was in den Grundlinien ...
über das Denken als Wesen der Welt bereits aufgezeigt
wird.
Was in diesem Weltwesen dann alles
enthalten ist und wohinein es sich weiter differenziert, das
gilt es dann ebenso fortschreitend aufzuklären, wie ein Kind
erst nach der Entdeckung der Welt als solcher weitere
Einzelheiten dieser Welt nach und nach bemerken wird. Und
nicht gleich schon von Anfang an weiß, daß da auch Sonne,
Mond und Tiefseekraken warten, die noch gefunden werden
wollen. Insofern ist auch Schicklers Bemerkung von S. 167
wenig zielführend, Steiner behandele in der Philosophie
der Freiheit nicht wie aus der Erkenntnistheorie Ontologie
werden könne. Abgesehen davon, daß er es schon in den
Grundlinien ... behandelt hat, wiederholt sich das
ganze noch einmal in der Philosophie der Freiheit im
Hinweis vom Denken als einem sich selbst tragenden
Wesensweben, um nur ein Beispiel von manchen möglichen zu
nennen. Und angesichts der ausgesprochen empiristischen und
nicht etwa nur formalen Orientierung der Steinerschen
Erkenntniswissenschaft - letzteres hält Steiner seinen
philosophischen Zeitgenossen häufiger vor - ist es mir
ohnehin schleierhaft, wie jemand überhaupt auf so einen
Gedanken wie Schickler verfallen kann. Auch dies nur ein
beredtes Zeichen dafür, wie wenig er sich darum bemüht hat,
die Steinersche Philosophie aufzuschließen.
Das meiste von dem, was Schickler über
Steiners Frühschriften schreibt, wirkt dagegen bloß altklug
und lieblos nur so hingesetzt wie von jemandem, der einen
grandiosen Überblick über die Details hat und sich darum
nicht mehr scheren muß. Nur trifft das eben in diesem Fall
nicht zu. Was spätestens dann offensichtlich wird, wenn man
in diese Details und die Art seiner handwerklichen
Auseinandersetzung damit selbst hineingeht. Er hat, so scheint
es, nicht wirklich Interesse daran. Und in anderem wiederum
meint man geradezu authentisch einen hinlänglich bekannten
Ton mancher Anthroposophen herauszuhören, die ohnehin
Steiners philosophischen Bemühungen nicht allzuviel
abgewinnen können, weil sie das spätere
Anthroposophisch-Geisteswissenschaftliche für allemal
wertvoller halten als diese vorläufige Philosophie
Steiners, die man tunlichst überwinden sollte. Wo notwendige
Klärungsarbeit im ungünstigsten Fall auch noch als
anthroposophischer Intellektualismus gebrandmarkt wird,
der am wesentlichen vorbeigeht. Bei Schickler - er scheint ja
aus diesem geistigen Milieu zu kommen - mutet dies, obgleich
er darin zurückhaltender ist und nur eine deutliche Tendenz
dahin erkennen läßt (siehe etwa S. 168) insofern
eigentümlich aufgesetzt an, weil der junge Mann das, so
hoffnungslos ungenügend wie er durch seine Übersicht über
die Einzelheiten der Steinerschen Philosophie qualifiziert
erscheint, natürlich realistischerweise gar nicht beurteilen
kann. Weil er noch nicht einmal mit diesen philosophischen
Detailfragen der Frühschriften Steiners zurecht kommt. Weil
er sie - dieser Eindruck drängt sich auf - in ihrem
Eigencharakter auch gar nicht wahrnehmen will.
Der junge Mann muß, das kann man hier nur
vermutungsweise konstatieren, auf die philosophischen
Grundlagen der Anthroposophie, die Wesenhaftigkeit des
Geistigen und das sogenannte Hellsehen bezogen furchtbar
schlechte anthroposophische Lehrer und Ratgeber gehabt haben.
Und niemand von denen, die er hatte, hat ihm offenbar einen
ernstzunehmenden und produktiven Hinweis darauf geben können,
was das intuitive Denken ist und welche
außerordentliche Bedeutung es für den philosophischen und
gleichermaßen empirischen Zugang zur Anthroposophie
und für das Verständnis des Geistigen hat. So bleibt ihm,
abgesehen von der vagen Andeutung (S. 165) Steiners
Phänomenologie des Denkens in der Philosophie der Freiheit
lege einen Grund "für das Verstehen des Hellsehens, das
daraus erwächst", weiter nichts übrig als auf Steiners
spektakuläre Hellsichtigkeit zu verweisen, anstatt seinen
Leser darüber aufzuklären, daß dieser ja längst schon
Anteil an dieser Hellsichtigkeit und damit Zugang zum
Geistigen hat, insofern er nämlich in der Lage ist, das reine
Denken auszuüben.
Denn den Philosophen, und das ist ja bei
aller Anerkennung auch Wendtes Problem mit diesem Buch,
interessiert vor allem der Übergang vom sogenannten normalen
zum hellseherischen Bewußtsein. Dasjenige, was ihm selbst
unmittelbar davon erreichbar ist. Denn das ist ihm auch am
leichtesten einer Überprüfung zugänglich. Und ihn
interessiert warum und mit welchen Gründen Steiner das dem
hellseherischen Bewußtsein zuschlägt. (Näheres siehe hier)
Kurz gesagt: Ihn interessiert was dieses hellseherische
Bewußtsein grundsätzlich genommen überhaupt ist!
Darüber aber bekommt er keine Auskunft. Er hätte sie
zumindest mit dem Verweis auf die Geistnatur des intuitiven
oder reinen Denkens bekommen können, wie ihn Steiner in der
Philosophie der Freiheit gibt. Oder mit dem Hinweis auf
den Charakter des reinen Denkens als intellektuelle
Anschauung, wie er es in der Schrift Wahrheit und
Wissenschaft vermerkt. Für jemanden, der sich wie
Schickler mit Kant auseinandersetzt ganz gewiß kein
unerheblicher Fingerzeig. Aber letztere grundlegende Schrift
findet sich wie gesagt nicht einmal in seinem
Literaturverzeichnis. Und nicht zuletzt hätte so ein Hinweis
gegeben werden können via Steiners Bemerkung aus der Schrift
Goethes Weltanschauung, der Beobachter des Denkens
schaue die wirkende Idee unmittelbar selbst an. Da wäre
sogar ein möglicher philosophischer Anknüpfungspunkt zum
Ätherischen gegeben. Auch diese Schrift wie gesagt nicht in
Schicklers Literaturliste aufgeführt. Diese Aufzählung
konkreter Steinerscher Hinweise läßt sich um etliche
Stationen erweitern.
Daß diese Phänomenologie des Denkens in
der Philosophie der Freiheit nicht nur den Grund legt
für das Verstehen des Hellsehens, das daraus erwächst,
sondern daß dieses dort behandelte Denken ganz explizit von
Steiner schon dem Hellsehen zugerechnet wird und ein
essentieller Bestandteil davon ist; wie die Schrift überhaupt
dem Selbstverständnis Steiners nach schon das Resultat eines
philosophisch geprägten Hellsehens ist, darüber verliert
Schickler keine weitere Bemerkung. Und - so wie die Dinge in
der Steinerforschung bislang liegen - konnte er das vermutlich
auch nicht. Die zentrale Größe dieses Buches, so scheint es
mir, hat er gar nicht ernsthaft erfaßt.
Mit anderen Worten: Er beruft sich im
Hinblick auf sein christologisches Anliegen auf Steiners
hellseherisches Vermögen, das er selbst, und zwar allen
diesbezüglichen und expliziten philosophischen Angaben
Steiners zum Trotz, nicht einmal im Ansatz versteht. Daß dies
für seinen philosophischen Rezensenten Wendte unbefriedigend
sein muß läßt sich nachvollziehen. Schickler läßt ihn an
der entscheidenden Stelle buchstäblich im Regen stehen. Ob
dem letzteren mit einer dahingehenden aufklärenden
Erläuterung Schicklers ernstlich weitergeholfen wäre, so daß
er es auch hätte akzeptieren können, mag dahingestellt
bleiben. Auf jeden Fall aber kommt, wer
philosophisch-empirischen Zugang zum Geistigen und zur
Christologie Steiners sucht, am intuitiven Denken und dessen
Verständnis nicht vorbei.
Mit den schlechten anthroposophischen
Ratgebern meine ich sowohl einzelne Lehrerpersönlichkeiten,
als auch den anthroposophischen Forschungskontext im
allgemeinen, so wie er oben kritisch skizziert wurde. Wovon
ich mich selbst übrigens nicht ausnehme. (Man müßte hier
den soziokulturellen und nichtwissenschaftlichen
bildungsbiographischen Kontext, auch den informellen
bildungsbiographischen Kontext eigentlich mit einbeziehen.)
Es ist unrealistisch zu glauben, ein junger
Mann von anfang 20 mit großer philosophischer Begabung sei
imstande, alles das, was anthroposophische Forschung im
Verlauf vieler Jahrzehnte versäumt und vernachlässigt hat,
in vier oder fünf Jahren im Alleingang zu bewältigen. Daß
das nicht klappt, dafür kann man die jungen Menschen nicht
verantwortlich machen. Die jungen Leute, auch wenn sie noch so
talentiert sein mögen, ob Doktorranden oder Diplomanden,
müssen geradezu mit einer gewissen Zwangsläufigkeit
an den anthroposophischen Fragen scheitern, wenn ihnen nicht
entsprechend ernsthaft von anderer Seite zugearbeitet wird.
Oder um das ganze wenigstens perspektivisch noch einmal ins
Positive zu wenden, so kann man sich angesichts Schicklers
Leistung dort die Frage stellen: Was wäre einem
talentierten jungen Menschen möglich, wenn die
philosophisch-anthroposophische Grundlagenforschung einen
ähnlich hohen Reifegrad hätte wie die Kant- oder
Hegelforschung? So daß er nicht nur scharfsinnige und
weitreichende Fragen stellen kann, sondern ihm das
Forschungsumfeld auch die (theoretischen, praktischen und
menschenkundlichen) Mittel an die Hand gibt, sie in
realistischen Zeiträumen und mit vertretbarem Aufwand
einzulösen. Daß dies für den anthroposophischen Bereich
noch eine ganz andere Herausforderung darstellt als es etwa
für Kant oder Hegel gilt ist klar. Aber wo, wenn nicht dort,
sollte diese Zukunftsaufgabe überhaupt realisiert werden?
Schickler sagt auf S. 22, seine
Ausführungen über Steiner seien "mehr als alles andere
eine Einführung". Das erklärt in mancher Hinsicht die
Kürze und Flüchtigkeit seiner unmittelbar auf Steiner
gewendeten Gedankengänge. Es zeigt aber auch, daß seine hoch
angesetzte Programmatik aus dem Vorwort von S. 7 spätestens
bei den philosophischen Aspekten Steiners ins Stocken geraten
ist und gar nicht mehr eingelöst werden konnte, sondern
vorsichtig ausgedrückt: im besten Sinne Vision bleiben mußte.
Er verheddert sich wie so viele andere vor ihm schon in
Steiners philosophischen Schriften und findet, abgesehen von
einigen guten grundsätzlichen Gedankengängen den Faden zur
Anthroposophie nicht, so daß er ihn fruchtbringend weiter
freilegen könnte. Diese Methode, daß jeder für sich das Rad
immer wieder neu zu erfinden sucht und mehr oder weniger
ratlos in Steiners Philosophie herumzustochert, bis er mit
etwas Glück den einen oder anderen brauchbaren Brocken
aufgelesen hat, ist ineffizient und muß am Ende zu
unbefriedigenden Resultaten führen. (Soweit ich sehe zitiert
er keinen einzigen anthroposophischen Autoren im Kontext der
Steinerschen Frühschriften und gibt nur ein paar
Literaturhinweise auf Witzenmann, der aber auch nicht
aufgegriffen wird.)
Daß Jonael Schickler beachtliches
philosophisches Talent hatte zeigt seine Behandlung von Kant
und Hegel. Dort sind aber auch die Bedingungen entsprechend,
denn dort steht eine lange Tradition der Forschung zur
Verfügung, die Hilfe und Orientierung geben kann. Während in
der Anthroposophie bislang noch eine Kakophonie von Meinungen
herrscht, die vielfach nicht einmal nachvollziehbar belegt
sind. Auch ein großes Talent muß am Ende vertrocknen, wenn
die Bedingungen für seine Entfaltung nicht stimmen.
Einige zusätzliche Quellen: Rudolf
Steiner vortragsweise über das reine Denken als Hellsehen.
Siehe GA-146, Vortr. Helsingfors , 29.
Mai 1913, S. 33 ff:
"Auf logisches Denken, auf Denken in
Abstraktionen weist gewissermaßen als auf etwas Neues hin,
was jetzt erst in die Menschheit eintreten soll, Krishna den
Arjuna hin. Aber dieses Denken, das der Mensch so entwickelt,
dieses Denken, das nimmt man zwar heute als etwas ganz
Natürliches, aber man hat die schiefesten, unnatürlichsten
Ansichten über dieses Denken. Und gerade die westländischen
Philosophen haben über dieses Denken die allerschiefsten
Anschauungen, denn man hält gewöhnlich dieses Denken für
eine bloße Photographie der äußeren sinnlichen
Wirklichkeit, man glaubt, die Begriffe, Ideen entstehen im
Menschen, dieses ganze innere Denken überhaupt entstehe im
Menschen von der physischen Außenwelt herein." (S. 33f)
[...] " Hier komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der
ganz und gar wichtig ist gerade für diejenigen, die mit der
eigenen Seele eine okkulte Entwickelung durchmachen wollen.
... So ist es nämlich, wenn auch nicht mit dem Goldmachen, so
ist es mit dem Hellsehen. Kein Mensch könnte eigentlich zu
wirklichem Hellsehen kommen, wenn er nicht zunächst ein
Winziges an Hellsehen in der Seele hätte. Wenn es wahr wäre,
was ein allgemeiner Glaube ist, daß die Menschen, wie sie
sind, nicht hellsichtig seien, dann könnten sie überhaupt
nicht hellsichtig werden. Denn wie der Alchimist meint, daß
man etwas Gold haben muß, um viele Mengen Goldes
hervorzuzaubern, so muß man unbedingt etwas hellsehend schon
sein, damit man dieses Hellsehen immer weiter und weiter bis
ins Unbegrenzte hinein ausbilden kann." [...] "Es
gibt wirklich keinen unter Ihnen, der nicht - wenn er sich
dessen auch nicht bewußt ist - diesen Ausgangspunkt hätte.
Sie haben ihn alle. Keiner von Ihnen ist in der Not, weil Sie
alle ein gewisses Quantum Hellsehen haben. Und was ist dieses
Quantum? Das ist dasjenige, was gewöhnlich gar nicht als
Hellsehen geschätzt wird." [...] "Niemand könnte
abstrakt denken, wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er
nicht hellsichtig wäre, denn in den gewöhnlichen Gedanken
und Ideen ist die Perle der Hellsichtigkeit von allem Anfang
an. Diese Gedanken und Ideen entstehen genau durch denselben
Prozeß der Seele, durch den die höchsten Kräfte entstehen.
Und es ist ungeheuer wichtig, daß man zunächst verstehen
lernt, daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz
alltägliches eigentlich ist: man muß nur die übersinnliche
Natur der Begriffe und Ideen erfassen. Man muß sich klar
sein, daß aus den übersinnlichen Welten die Begriffe und
Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht. Wenn ich Ihnen
erzähle von Geistern der höheren Hierarchien, von den
Seraphim, Cherubim, von den Thronen herunter bis zu den
Archangeloi und Angeloi, so sind das Wesenheiten, die aus
geistigen, höheren Welten zu der Menschenseele sprechen
müssen. Aus eben diesen Welten kommen der Seele die Ideen und
Begriffe, sie kommen geradezu in die Seele aus höheren Welten
herein und nicht aus der Sinnenwelt." [...] "Es
wurde als ein großes Wort eines großen Aufklärers gehalten,
das dieser gesagt hat im 18. Jahrhundert: Mensch, erkühne
dich, deiner Vernunft dich zu bedienen. - Heute muß ein
größeres Wort in die Seelen klingen, das heißt: Mensch
erkühne dich, deine Begriffe und Ideen als die Anfänge
deines Hellsehertums anzusprechen. - Das, was ich jetzt
ausgesprochen habe, habe ich schon vor vielen Jahren
ausgesprochen, ausgesprochen in aller Öffentlichkeit, nämlich
in meinen Büchern <<Wahrheit und Wissenschaft>>
und <<Philosophie der Freiheit>>, wo ich gezeigt
habe, daß die menschlichen Ideen aus übersinnlichem,
geistigen Erkennen kommen. Man hat es dazumal nicht
verstanden; das ist ja auch kein Wunder, denn diejenigen, die
es hätten verstehen sollen, die gehörten, nun ja, halt zu
den Hühnern" (34 ff)
Siehe GA 255b, Vortr. Stuttgart, 25. Mai
1923, S. 295 ff:
"Und nun, was mir vor allen Dingen die
Möglichkeit bot, eine solche Brücke zu finden, das war
zunächst nicht das Hinschauen auf innere, subjektive
Schauungen; das war mir vom Anfange an klar geworden. Sollten
subjektive Schauungen noch so überzeugend, noch so intensiv
vor der Seele auftreten, man hat keine Berechtigung, sie
irgendwie, durch ihr subjektives Auftreten veranlaßt, zur
objektiven Geltung zu bringen, wenn man nicht in der Lage ist,
aus dem naturwissenschaftlich Sicheren heraus die Brücke
hinüber zu geistigen Welt zu schlagen." (S. 298) [...]
"Wer nun meine <<Philosophie der Freiheit>>
durchliest, wird finden, wie diese Wege zur Ergründung der
Natur des menschlichen Denkens gesucht worden sind. Und für
mich stellte es sich heraus, daß nur derjenige das
menschliche Denken richtig verstehen könne, welcher in den
höchsten Äußerungen dieses Denkens etwas sieht, das sich
unabhängig von unserer Körperlichkeit, von unserer
leiblichen Organisation vollzieht. Und ich glaube, es gelang
mir nachzuweisen, daß die Vorgänge des reinen Denkens im
Menschen sich unabhängig von den leiblichen Vorgängen
vollziehen. ... Und ich glaube, daß sich mir durch diese
<<Philosophie der Freiheit>> nichts Geringeres
ergeben hat als die übersinnliche Natur des reinen Denkens.
Und hatte man diese übersinnliche Natur des menschlichen
Denkens erkannt, dann war damit der Beweis geliefert, daß der
Mensch im gewöhnlichsten Alltagsleben, wenn er sich nur
erhebt zum wirklichen Denken, durch das er durch nichts
anderes als durch die Motive des Denkens selbst bestimmt wird,
daß er dann ein übersinnliches Element in diesem Denken vor
sich hat." (S. 299 f) [...] " Wer dasjenige, was ich
als Forschungsmethode meiner anthroposophischen
Geisteswissenschaft zugrunde lege, Hellsehen nennt, der muß
auch schon das gewöhnliche reine Denken, das durchaus aus dem
Alltagsleben heraufströmt in das menschliche Bewußtsein, das
hineinströmt in das menschliche Handeln, Hellsehen nennen.
Ich selber sehe qualitativ keinen Unterschied zwischen dem
reinen Denken und demjenigen, was ich als Hellsehen bezeichne.
... Dann aber, wenn man den Vorgang kennt, durch den man zu
solchem reinen Denken kommt, kann durch das, was wahre
tiefergehende Philosophie gibt, etwas ausgebildet werden, was
ich dann in der verschiedensten Weise als Erkenntnismethode
für die höheren Welten dargestellt habe in meinem Buch <<
Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> und
in meiner <<Geheimwissenschaft>>. Geradeso, wie
aus den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen
Seele zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine
besondere Schulung braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang
weiter ausbildet, zu dem kommen, was ich in dem genannten Buch
und im zweiten Teil meiner <<Geheimwissenschaft>>
die Stufen der höheren Erkenntnis - also Imagination,
Inspiration, Intuition - genannt habe. Was sich im reinen
Denken äußert, das wird uns Menschen einfach eigen dadurch,
daß wir geboren sind; es ist uns in unserem jetzigen Stadium
der Menschheitsentwicklung vererbt." (S. 300 f)
|
Und um ein weiteres Argument betreff Klärung
des intuitiven Denkens anzuführen, so gilt: Nur auf der
Grundlage dieses Verstehens sind echte, fundierte Brückenschläge
möglich zu anderen philosophischen Ansätzen. Und zwar in
erkenntnistheoretischer, freiheitsphilosophischer und mehr
bewußtseinsphänomenologischer, ja sogar in
physikalisch-naturphilosophischer Richtung. Nicht nur um
argumentativ die eigene Auffassung verteidigen zu können,
sondern auch und vor allem um Verwandtschaften zu erkennen und
eventuell gemeinsam weiterführende Fragestellungen zu
formulieren, ist ein solches Verständnis unerläßlich. Bei
Lichte besehen ist das Thema intuitives Denken eines der
spannendsten, aussichtsreichsten, ergiebigsten, vielschichtigsten
und zukunftsfähigsten überhaupt für eine Dissertation mit
anthroposophischem Hintergrund und gibt genügend Stoff her für
mindestens sieben von einander unabhängige wissenschaftliche
Arbeiten dieser Art. - Tatsächlich sogar weit mehr, weil man es
in jede Richtung nahezu unbegrenzt weiter entfalten kann. Das
liegt einfach mit daran, weil sich im intuitiven Denken
alles mit essentiellen Fragestellungen trifft: Erkenntnistheorie,
Anthroposophie, Freiheitsphilosophie, Psychologie,
Bewußtseinsphänomenologie, Naturphilosophie, Medizin, Biologie,
Physik und im engeren Sinne Quantenphysik, und letztlich auch die
Theologie.
Nichtanthroposophische
Forschung zum intuitiven Denken
Was die Erkenntnis des Denkens im engeren
Sinne angeht, so gilt: Das intuitive Denken ist ja
zunächst eine Eigenschaft oder ein Vermögen des ganz normalen
erkennenden Bewußtseins. Was die Frage einer
Bewußtseinsphänomenologie des intuitiven Denken
betrifft, so liegt hier - abgesehen von seinen epistemologischen
Betrachtungen, die ja ausschließlich Grundsatzuntersuchungen
darstellen - nur sehr wenig Material von Steiner selbst vor, das
diesen normalbewußten Bereich abdeckt. Das gesamte
bewußtseinsphänomenologische Areal zwischen Epistemologie und
höherer Erkenntnis im eigentlichen Sinne ist von ihm nahezu
völlig unbearbeitet.
Allerdings gibt es von Steiner in der Schrift
Von Seelenrätseln (GA-21, 1976, S. 170 f), die einiges in
dieser Beziehung enthält, den ausdrücklich geäußerten Wunsch,
in einem psychologischen Laboratorium arbeiten zu können, um zu
zeigen, wie das gewöhnliche Bewußtsein bereits zum Schauen
veranlagt ist. Das heißt, er zielt hier exakt auf dieses
unbearbeitete Areal hin. Damit, so Steiner dort, sei es sogar
möglich, "... die beste Grundlage [zu] schaffen zu
anthropologisch-psychologischen Ergebnissen, die bis an die
«Erkenntnis-Grenzorte» gehen, an denen sich Anthropologie mit
Anthroposophie treffen muß ...". Nun sind aber all die
Erscheinungsformen des intuitiven Denkens im normalen
Bewußtsein bereits Ausdrucksformen dieser Veranlagung zum
Schauen und entsprechend an diesem "Treffpunkt" bzw
"Grenzort" anzusiedeln, wo sich Anthroposophie und
Anthropologie Steiners Worten zufolge treffen müssen.
Denn das reine Denken - ich habe es schon wiederholt im Rahmen
der hier veröffentlichten Arbeiten gesagt - ist für Steiner
bereits eine Form des schauenden Bewußtseins. (Siehe
GA-35, Dornach 1984, S. 321 : "Meine früheren Schriften
behandeln das reine Denken so, daß ersichtlich ist, ich zähle
dieses durchaus zu den Verrichtungen des «schauenden
Bewußtseins». Ich sehe in diesem reinen Denken die erste, noch
schattenhafte Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen." )
Deswegen erfüllt die Untersuchung des erkennenden
Normalbewußtseins einen wichtigen Zwischenschritt zur weiteren
Erkenntnis des Denkens; sowohl was die Begriffsbildung bezüglich
dieses intuitiven Denkbewußtseins und in ihm veranlagte
Möglichkeiten angeht - und auch im Hinblick auf eine
Brückenbildung zwischen Anthroposophie und Anthropologie. (Man
sollte sich den Steinerschen Ausdruck "beste Grundlage"
wahrlich auf der Zunge zergehen lassen.)
Es ist daher gut zu wissen, daß es in den auf
dieser Homepage immer wieder vorgestellten denkpsychologischen
Untersuchungen Karl Bühlers um eine experimentelle Erhellung des
normalbewußten intuitiven Denkens ging - oder in Steiners
Ausdrucksweise: der "schattenhaften Offenbarung der
geistigen Erkenntnisstufen". Nicht nur das, sondern es ging
mehr noch um eine Untersuchung des intuitiv erlebten Denkens.
Denn das Erleben der Denkaktivität, des Denkprozesses selbst,
war eines der Hauptziele der Untersuchung. Das leuchtet
unmittelbar ein, wenn man sich vorstellt, daß einem
Untersuchungsteilnehmer (dem Philosophie- und
Psychologieprofessor Oswald Külpe) etwa die Frage vorgelegt
wurde, ob es möglich sei, mit dem Denken das Wesen des Denkens
zu klären, und ihn der Versuchsleiter aufforderte zu berichten,
was er bei der denkenden Entscheidung dieser Frage erlebt hat. Es
ist dieselbe (Schlüssel)Frage, die unter anderem in der
Philosophie der Freiheit im dritten Kapitel verhandelt
wird. Külpe berichtet also über Erlebnisse, die er beim
intuitiven Denken (in diesem Fall beim reinen, mehr
noch: beim sich selbst erkennenden Denken) hat. Und in diesem
Sinne ist die ganze Bühlersche Untersuchung auch mit anderen
Teilnehmern und auch mit davon abweichenden Formen des intuitiven
Denkens eingerichtet. - Das mag manchmal dort - schließlich war
es eine Pioniertat der Würzburger - im einzelnen noch unbeholfen
und unausgereift aussehen. Aber es geht in diesen Untersuchungen
alles in allem um das erlebte intuitive Denken in
seinen verschiedenen normalbewußten Erscheinungsformen!
Wer also konkretes Anschauungsmaterial und
sinnvolle weiterführende Fragestellungen zum normalbewußten
intuitiven Denken sucht, der wird bei Steiner nicht viel
finden über das hinaus, was in den erkenntnistheoretischen
Grundschriften und in der Schrift Von Seelenrätseln vorhanden
ist, weil Steiner sich darüber kaum weiter ausgelassen hat. Er
muß bei Bühler in den erwähnten Untersuchungen nachsehen. Dazu
kann er sich weiter an Problemstellungen entlangarbeiten, wie sie
etwa im sachlichen Umfeld von Hönigswald oder Palágyi,
aufgeworfen wurden. (Siehe: Richard Hönigswald,
Prinzipienfragen der Denkpsychologie, Berlin 1913. Siehe
auch: Melchior Palágyi, Der Streit der Psychologisten und
Formalisten in der modernen Logik, Leipzig 1902.) Das dann
vom Anthroposophischen her zu beleuchten und zu problematisieren
entspräche einer Arbeit, wie sie an dem von Steiner genannten
Treffpunkt von Anthroposophie und Anthropologie stattfinden
könnte. Nur muß man eben wissen, daß es bei besagten Forschern
überhaupt um das intuitive Denken geht. Diese bedeutsame
Tatsache, daß andere, nichtanthroposophische Forscher längst
dabei sind oder waren das intuitive Denken näher zu
untersuchen, aber fällt aus dem anthroposophischen
Explorationsraster völlig heraus, wenn man hier keine
Vorstellung davon hat, was das intuitive Denken ist und
ihm nur exotisch-esoterische Eigenschaften anheftet - man möchte
besser sagen: andichtet. Dann ist man unfähig Brücken
dieser Art zu bauen und weitergehende interdisziplinäre
Forschung zu treiben, weil man keine Ahnung hat, wonach man
überhaupt suchen soll und logischerweise auch nicht wo
man interdisziplinär in anderen Forschungsbezirken hinsehen
soll. Das heißt: Die Unklarheit über das intuitive
Denken führt direkt zur wissenschaftlichen Blindheit und
Orientierungslosigkeit in dieser wichtigen Frage. Genau so, wie
sie zur (nicht nur) interdisziplinären Lähmung in bezug auf die
Freiheitsfrage führt. Und genau das kennzeichnet in Bezug auf
das intuitive Denken die gegenwärtige Lage der
anthropsophischen Bewegung. Vor lauter Wirrwarr, so mein
gelegentlicher Eindruck, weiß man weder was, noch wo
man nachschauen soll! Statt sinnvollen Fragestellungen
nachzugehen produziert man oft genug literarische Geisterbilder
und jagt Chimären nach.
III.
Ein
kurzer Blick auf Peter Bieri und Karl Popper
Einmal
ganz unabhängig von Steiner bemerkt: Es gibt einen mehr als
guten Grund, nach der Freiheit des eigenen Denkens und Erkennens
zu fragen. Das wird uns deutlich werden, wenn wir uns Bieris
Auffassung ansehen, die dieser Frage aus dem Wege geht, und uns
die Konsequenzen dieses Vermeidungsverhalten vor Augen führen.
Auch bei Bieri führt die Freiheitsfrage
zunächst zu Erkenntnisfragen, im engeren Sinne zur Frage der
Selbsterkenntnis und Klärung der eigenen Handlungsmotive. Doch
dann finden wir bei ihm (S. 409 f) einen eigentümlichen Abbruch
des Untersuchungsverfahrens, der gewaltsam und sachlich wenig
schlüssig erscheint. Bieri schreibt dort: "Es gibt in jedem
Moment, wo ich nach der Freiheit meines Willens frage, ein Stück
inneres Terrain, das nicht Thema dieser Frage sein kann. Und das
ist kein bedauerliches Defizit, kein beklagenswerter blinder
Fleck, sondern eine Voraussetzung dafür, daß die Frage nach der
Freiheit überhaupt in Gang kommen und einen Sinn haben kann.
Während ich artikulierend, verstehend und bewertend damit
beschäftigt bin, meinen Willen zu modellieren, stellt sich die
Frage nach der Freiheit dieser Beschäftigung nicht. Und das ist
nicht deshalb so, weil ich, engagiert in der Beschäftigung,
einfach keine Zeit hätte, sie zu stellen. Es ergäbe keinen
Sinn, sie zu stellen, denn die aneignende Beschäftigung
bildet den Rahmen für das Stellen jeder solchen Frage."
Nennen wir die "aneignende
Beschäftigung" mit den Motiven des eigenen Handelns ein
Erkennen dieser Motive, beziehungsweise mit Peter Bieri
"Selbsterkenntnis", so lautet das Urteil Bieris: Die
Frage nach der Freiheit der erkennenden Beschäftigung mit den
eigenen Handlungsmotiven ergibt keinen Sinn! Sein Hinweis, daß
es sich ja um eine Rahmenbildung handele, die es erst möglich
mache, die Freiheitsfrage zu stellen, und daher die
Freiheitsfrage darauf nicht anwendbar sei, scheint mir
argumentativ wenig überzeugend. Und zwar deswegen, weil es
keinen vernünftigen Grund gibt, das eigene Erkennen von der
Freiheitsfrage auszunehmen. Ganz im Gegenteil: Sollte sich
nämlich herausstellen, daß dieses Erkennen selbst schon
durchgängig kausal determiniert ist, was ja der Physikalist aus
triftigem Anlaß behauptet. - Etwa dahingehend, daß sämtliche
mentalen Vorgänge einschließlich Erkenntnisprozeß ausnahmslos
durch hirnorganische Prozesse bestimmt, nur Epiphänomene der
Hirnphysiologie sind, denn wäre dies nicht so, dann müßte man
ja das ganze physikalische Weltbild in Frage stellen. 1)
- Dann würde uns die Erkenntnis der eigenen Handlungsmotive
nicht ein Haar breit in Richtung Freiheit voranbringen, weil sich
diese Erkenntnis selbst mit Naturnotwendigkeit vollziehen muß.
Ob wir unsere Motive nun kennen oder auch nicht, das alles
spielte nicht die geringste Rolle, weil, was wir tun, ob
erkennend oder handelnd, im Grunde nicht getan wird, sondern
sich vollzieht, gemäß dem Gesetz der Kausalität.
Nicht wir sind die Täter, sondern die Chemie unseres Gehirns,
die Vorgänge des Stoffwechsels und die physikalischen
Verhältnisse unserer Umgebung. Erkenntnisgeleitete Steuerung
oder Veränderung von Handlungen verdanken diese ihre scheinbare
Steuerung dann ebensowenig unserem Erkennen, sondern vollziehen
sich in Wirklichkeit mit derselben Naturnotwendigkeit, wie unser
Erkennen selbst. Der Steuermann sitzt nicht am Steuer sondern
hinter einer wirkungslosen Spielzeugattrappe wie der Bub im
Kinder-Spielmobil, der sich an der Illusion freut die Richtung
vorzugeben, während die Mutter ihn schiebt wohin es ihr beliebt.
Das derart entstandene Freiheitsbewußtsein wäre lediglich ein
Scheingebilde. Wir gaukeln uns nur eine Art von Freiheit vor und
lügen uns etwas in die Tasche.
Weil wir im Erkennen erst
einen Rahmen bilden, in dem die Freiheitsfrage gestellt wird,
deswegen ist das Erkennen nicht etwa von der Freiheitsfrage
auszunehmen, sondern mit absolutem Vorrang auf seine Freiheit hin
zu prüfen. Denn wenn das Erkennen selbst schon durchgängig
kausal determiniert sein sollte, dann können wir das Stellen
jeder weiteren Freiheitsfrage getrost vergessen. 2)
Die Frage (physiologischer) Determinismus oder
Freiheit im Erkenntnisvorgang ist also alles andere als eine
sinnlose Frage. Sie ist ein, wenn nicht sogar der Dreh-
und Angelpunkt des ganzen Freiheitsproblems. Karl Popper sah in
dieser Beziehung etwas genauer hin als Bieri. Der Determinismus,
schreibt Popper (Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis,
Hamburg 1984, S. 232 ff) schließt logisch begründete Einsicht
aus, weil sich der Erkenntnisvorgang dann selbst mit
Notwendigkeit vollzieht. Und weil das so ist, gibt es für ihn
auch keine Argumente, weder für ihn, noch gegen ihn. Für den
Determinismus gibt es überhaupt keine Argumente mehr: "Denn
nach dem Determinismus vertritt jemand irgendwelche Theorien -
etwa den Determinismus - wegen seiner bestimmten physikalischen
Struktur (etwa der seines Gehirns). Wir täuschen uns also (und
sind dazu physikalisch vorherbestimmt), wenn wir glauben, es gäbe
so etwas wie Argumente oder Gründe, die uns dazu bringen, den
Determinismus zu akzeptieren. Oder mit anderen Worten, der
physikalische Determinismus ist eine Theorie, über die man, wenn
sie wahr ist, nicht argumentieren kann, denn sie muß alle unsere
Reaktionen, auch das, was uns als auf Argumente gegründete
Überzeugung erscheint, auf rein physikalische Bedingungen
zurückführen. Rein physikalische Bedingungen, zu denen unsere
physikalische Umgebung gehört, veranlassen uns, zu sagen oder zu
akzeptieren, was immer wir sagen oder akzeptieren; ... Doch das
bedeutet: Wenn wir glauben, wir hätten eine Theorie wie den
Determinismus wegen der logischen Kraft bestimmter Argumente
angenommen, dann täuschen wir uns gemäß der Theorie des
physikalischen Determinismus; oder genauer: Wir befinden uns in
einem physikalischen Zustand, der uns dazu bestimmt, uns zu
täuschen." (Siehe hierzu auch Popper/Eccles, Das Ich und
sein Gehirn, München 1982, S. 105; S. 641, Anm 3)
Eben dieser Täuschung unterliegt bei
Gültigkeit des Determinismus der Erkenner seiner
Handlungsmotive, wenn er annimmt, er habe sich durch sachliche
bzw logische Gründe vom Vorhandensein bestimmter Handlungsmotive
überzeugt. Falls der Determinismus Recht hat, dann befindet er
sich lediglich in einem physikalischen Zustand, der ihn glauben
macht, er habe so etwas wie logische Gründe oder überzeugende
Belege für seine Einsicht. Es ist nicht die logische
Kraft von Argumenten, sondern die kausale Kraft
seiner Hirnchemie, die ihm dies vorgaukelt. Verhält sich unser
Selbsterkenner jetzt wie Peter Bieri und erklärt die Frage nach
der Freiheit des Erkennens zur sinnlosen Frage, dann wird er
folglich niemals herausfinden, ob er der Freiheit durch die
sogenannte Selbsterkenntnis tatsächlich näher kommt oder nicht.
Es könnte durchaus sein, daß der Determinismus Unrecht hat und
uns die Selbsterkenntnis der Freiheit schrittweise näher bringt.
Aber Bieri wird es nie mit Bestimmtheit behaupten können,
sondern allenfalls eine nicht begründete Glaubensüberzeugung
hegen.
Es kann, wenn man Poppers Argumentation folgt,
in Wirklichkeit in einem komplett kausal-deterministisch
bestimmten Bewußtsein nichts dergleichen geben wie logische
Beweise, Plausibilisierungen, sachliche Begründungen, und im
echten Sinne wirksame Erörterungen über das Für und Wider
einer Auffassung. Das alles sind nur Vorspiegelungen oder
Täuschungen seitens Vorgängen, die tatsächlich streng nach
kausaler Gesetzmäßigkeit verlaufen und keinen Raum mehr lassen
für logisch verankerte Reflexionen aller Art. Von der anderen
Seite gesehen: Läßt man logisch begründete und orientierte
Bewußtseinsvorgänge zu - und das tut letztlich jede seriöse
Wissenschaft - dann muß man implizit dem Bewußtsein - speziell
dem Denkbewußtsein - einen Grad an Freiheit und Unabhängigkeit
gegenüber den kausalen Vorgängen des Organismus einräumen.
Übrigens gilt dieses Poppersche Argument
spiegelbildlich auch gegenüber der geistigen Welt. Popper
selbst hat hier nur die physikalisch-materielle Welt vor
Augen. Man könnte infolgedessen zu der irrigen Auffassung
gelangen, gegenüber der geistigen Welt stelle sich die
Freiheitsfrage nicht, weil der Mensch als geistiges Wesen per
se frei sei. Ein strenger Spiritualist könnte demgegenüber
die Ansicht vertreten, daß der Mensch von geistigen Mächten
in allem was er tut und denkt abhängig und gesteuert sei. Er
sähe nur eben die Silberfäden nicht, an denen er wie eine
Marionette von Geistwesen gelenkt und manipuliert werde. In
Wirklichkeit aber sei der Mensch der geistigen Welt vollkommen
ausgeliefert und von dieser Seite alles andere als frei. Er
sei zwar nicht physisch determiniert, weil es die physische
Welt in Wirklichkeit ja gar nicht gibt. Nichts desto trotz sei
er durchgängig der Macht und Willkür Gottes oder etwaiger
anderer bedeutender Geistwesen unterstellt. Man könnte dies
einen fatalistischen Spiritualismus,einen spirituellen
Fatalismus, oder vielleicht besser: einen spirituellen
Determinismus nennen. (So könnte etwa ein Anthroposoph die
Überzeugung vertreten, der Mensch sei zwar in seinem Erkennen
nicht physiologisch-physikalisch determiniert, wohl aber
karmisch. Und in allen seinen Gedankenoperationen zeige sich
nichts weiter als die Abfolge und Wirksamkeit unentrinnbarer
karmischer Notwendigkeit. )
*
Übrigens hat Steiner schon in der Vorrede
zur Zweitausgabe von 1918 die Problematik so weit und
allgemein gefasst, dass in der Philosophie der Freiheit
nicht etwa nur an Freiheit gegenüber den kausalen
Naturmächten gedacht ist, sondern auch gegenüber
geistigen Mächten. So lautet seine zweite der dort
behandelten Wurzelfragen: "Die andere Frage ist die: Darf
sich der Mensch als wollendes Wesen die Freiheit zuschreiben,
oder ist diese Freiheit eine bloße Illusion, die in ihm
entsteht, weil er die Fäden der Notwendigkeit nicht
durchschaut, an denen sein Wollen ebenso hängt wie ein
Naturgeschehen?" (PdF.,a.a.O., S. 7) Es geht hier, wie zu
erkennen ist, nicht nur um Freiheit gegenüber einer wie immer
gearteten Naturkausalität respektive -notwendigkeit. Sondern
um Freiheit im Gegensatz zu Notwendigkeit überhaupt. Der
entscheidende Passus lautet: " ... wie ein
Naturgeschehen?" Es geht um Determination jedweder Art:
Das an den Fäden der Notwendigkeit hängende Naturgeschehen
ist hier lediglich als Vergleichspunkt und exemplarisches
Beispiel gemeint für etwas an den Fäden der Notwendigkeit
Hängendes. Im Prinzip aber könnte es sich ebensogut um
geistige oder seelische Notwendigkeiten handeln, an denen das
Wollen hängen kann. Der von Steiner verwendete Begriff der
Notwendigkeit ist in diese Richtung völlig offen.
Steiner macht hier keine Einschränkung, in welchem Sinne
Notwendigkeit hier zu sehen ist. Naturhafte, seelische
und eben auch geistige Notwendigkeit sind gleichermassen
darunter zu fassen.
Ich erwähne diesen letzteren Sachverhalt
hier vor allem im Hinblick auf Hartmut Traubs Buch Philosophie
und Anthroposophie, Stuttgart 2011. Speziell im Hinblick
auf die dort (S 268 ff) geäusserten erheblichen Bedenken
Traubs an Steiners Spinozakritik von S 17 ff der Philosophie
der Freiheit.
Es sticht ja in der von Steiner zitierten
Briefpassage Spinozas ins Auge, dass diese gewissermassen
beginnt mit einer Vergesellschaftung der Begriffe von Freiheit
und Notwendigkeit. So zitiert Steiner Spinoza
eingangs: "«Ich nenne nämlich die Sache frei, die aus
der bloßen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt, und
gezwungen nenne ich die, welche von etwas anderem zum Dasein
und Wirken in genauer und fester Weise bestimmt wird. So
besteht zum Beispiel Gott, obgleich notwendig, doch frei, weil
er nur aus der Notwendigkeit seiner Natur allein besteht.
Ebenso erkennt Gott sich selbst und alles andere frei, weil es
aus der Notwendigkeit seiner Natur allein folgt, daß er alles
erkennt. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in ein
freies Beschließen, sondern in eine freie Notwendigkeit
setze.» An dieser eigentümlichen Gemengelage von Freiheit
und Notwendigkeit ändert sich auch in Spinozas Ethik
nichts, die Traub in seiner Kritik als Referenz anführt.
Und eine solche Position - das lässt sich hier zunächst nur
allgemein und ungeschützt sagen, müsste aber eingehender
belegt und demonstriert werden - ist für Steiner völlig
unvertretbar. Dass Spinoza, wie Traub mit Recht zeigt,
natürlich auch von den einsehbaren Vernunftgründen des
menschlichen Handelns spricht, und damit die Freiheit auch mit
der menschlichen Erkenntnistätigkeit verknüpft, ändert an
dieser grundsätzlich widersprüchlichen Sachlage nichts. Denn
eine Frage wäre ja in Anlehnung an Popper oben zu
stellen: folgt die menschliche Erkenntnistätigkeit im Sinne
Spinozas nicht a priori wieder nur einer unsichtbaren
(geistigen) Notwendigkeit? Im Sinne Poppers wäre das
eigentlich nicht denkbar. Und ich meine im Sinne Steiners auch
nicht. Und eine andere Frage ist die: Was versteht eigentlich
Spinoza unter einsehbaren Gründen und
Erkenntnistätigkeit? Aus der nominellen Verwandtschaft
sprachlicher Formulierungen im Sinne Traubs auf die
Verwandtschaft der Erkenntnisbegriffe bei Steiner und Spinoza
zu folgern, scheint mir etwas reichlich kurz gegriffen. Bei
Steiner geht die Kernfrage der Freiheitsphilosophie nun gerade
darauf, was der Ursprung und die Bedeutung des Denkens ist (s.
o.). Ein ernsthafter Vergleich mit Spinoza müsste sich dann
der Aufgabe zuwenden, ob dieser sich eine vergleichbare
Kernfrage stellt wie Steiner, und wie er sie einlöst. Bei
Traub ist, so weit ich sehe, darüber nichts zu erfahren.
(Interessierte Leser, die selbst einen solchen Vergleich
anstellen wollen, darf ich zu diesem Zweck an Spinozas Ethik
verweisen. Siehe dort etwa in Teil II (Von der Natur
und dem Ursprung des Geistes) den Lehrsatz 40
ff. Dazu können sie sich parallel die Frage vorlegen,
warum Rudolf Steiner in Kapitel III der PdF so viel Wert legt
auf die Beobachtung des Denkens, respektive auf die Frage nach
dem Ursprung und der Bedeutung des Denkens in Kap I, und was
ihn methodisch in dieser Beziehung von Spinoza unterscheidet.
Wie zum Beispiel erkennt Spinoza das Erkennen in
der Ethik, Teil II, Lehrsatz 43; siehe auch Teil III,
Lehrsatz 58, und welche Ansicht äussert Rudolf Steiner in
dieser methodischen Frage des Erkennens der Erkenntnis?)
Schliesslich auch: Ist eine auf der
Grundlage moralischer Phantasie und moralischer Intuitionen
vollzogene Handlung, die ich vollziehe, weil ich sie liebe
(Steiner), deckungsgleich mit einer aus einsichtigen Gründen
vollzogenen Handlung, die ich vollbringe, weil ich gar nicht
anders kann (Spinoza)? Ob ein gewolltes Handeln aus
einsichtigen Gründen nach Spinoza überhaupt möglich ist,
das wird unten ebenfalls etwas zu betrachten sein.
Siehe zu Spinozas Ethik auch
folgenden Link: http://gutenberg.spiegel.de/buch/5217/1
Ein Überblicksartikel zu Spinoza:
http://www.kunstinfrankfurt.de/BaruchDeSpinozaLayout.html#oben
Es ist auch keineswegs so, wie Traub auf S.
271 f Steiner unterstellt, nämlich dieser habe sich in seiner
Spinozakritik "nahezu ausschliesslich" auf die von
Spinoza erwähnte illusionäre Freiheit bezogen. Das ist
durchaus nicht der Fall - man muss es nur sehen (wollen). Und
man sollte vor allen Dingen nicht Quantität (Textumfang des
Steinerschen Zitats) mit Qualität (ihrem argumentativem
Gehalt) verwechseln. Denn in dem von Steiner wiedergegebenen
Brief Spinozas ist, wie Traub selbst erwähnt, sogar eine
Definition dessen vorhanden, was Spinoza unter Freiheit
versteht. Und zwar nicht nur, wie Traub schreibt, eine
exemplarische, erläuternde Definition der Freiheit anhand der
Wesenheit Gottes, sondern durchaus eine generelle Definition
unabhängig von dieser Gotteswesenheit. Und exakt mit dieser
lässt Steiner sein Spinozazitat auch beginnen mit den
Worten Spinozas: "Ich nenne nämlich die Sache frei, die
aus der blossen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und
handelt." (Nicht nur in dem von Steiner zitierten Brief,
sondern auch in Spinozas Ethik findet sich eine
vergleichbare Formulierung an ausgesprochen prominenter
Stelle, nämlich gleich zu Beginn des Buches in der Definition
7. Siehe dazu Spinozas Ethik in der
lateinisch-deutschen Studienausgabe des Felix Meiner Verlages,
Hamburg 2010, dritte verbesserte Auflage; S. 7 )
Exemplifiziert anhand der Wesenheit Gottes wird dies von
Spinoza erst im von Steiner ebenfalls zitierten Folgesatz des
Briefes: "So besteht zum Beispiel Gott, obgleich
notwendig, doch frei, weil er nur aus der Notwendigkeit seiner
Natur allein besteht. Ebenso erkennt Gott sich selbst und
alles andere frei, weil es aus der Notwendigkeit seiner Natur
allein folgt, daß er alles erkennt. Sie sehen also, daß ich
die Freiheit nicht in ein freies Beschließen, sondern in eine
freie Notwendigkeit setze." Steiner ist da ersichtlich
präziser in der Textauffassung als sein Interpret Traub. Und
es ist gewiss nicht ohne Grund, dass Steiner mit eben dieser
allgemeinen Definition Spinozas beginnt und damit den
qualitativ gewichtigsten Anteil von dessen Gedankengang des
Briefes an erster Stelle aufgreift. Er hätte ihn auch
weglassen können und wäre anders vorgegangen, wenn er sich
nur am Aspekt der illusionären Freiheit Spinozas hätte
aufhalten wollen. Er hat also ein deutliches Bewusstsein für
die Gewichtung und Wertigkeit der Argumente.
"Argumentationsstrategisch", um ein häufiger
verwendetes Wort Traubs aufzunehmen, ein durchaus vernünftiges
Unterfangen. (Davon abgesehen wäre es wenig realitätsnah
anzunehmen, dass der Herausgeber von Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften - Steiner - so wenig über
das Verhältnis Goethes zu seinem mannigfachen philosophischen
Inspirator Spinoza aufgeklärt ist und Spinozas Philosophie so
ungenügend kennt, dass er den Fehler begeht bei Spinoza die
illusionäre Freiheit mit der echten zu verwechseln. Siehe
dazu Steiners zahlreiche Erläuterungen zu Spinoza in Goethes
Naturwissenschaftliche Schriften, GA-1, Dornach 1987)
Also wird man mit guten Gründen
unterstellen können, dass Steiner sich in seinem
abschliessenden Resüme dann ebenso auf diese Definition der
einleitenden Sätze mit bezieht, und nicht etwa irrtümlich
nur auf dasjenige, was bei Spinoza unter illusionärer
Freiheit firmiert, wie Traub behauptet. Für Traubs Vermutung
besteht gar kein Anlass. Denn warum sollte Steiner Spinozas
Definition von Freiheit in seiner abschliessenden
kritischen Beurteilung ausser Acht lassen, wenn er sie eigens
an erster Stelle anführt? Interpretatorisch plausibel ist
diese Vermutung einer Vernachlässigung oder eines Übersehens
des schwerwiegendsten Argumentes durch Steiner nicht. Und dass
er es mit einbezieht ist bei Steiner auch ersichtlich, wenn er
nach dem Ende des Zitats (S. 18 f) ganz sachgemäss
kritisiert: "So notwendig, wie der Stein auf einen Anstoß
hin eine bestimmte Bewegung ausführt, ebenso notwendig soll
der Mensch eine Handlung ausführen, wenn er durch irgendeinen
Grund dazu getrieben wird." Wohlgemerkt: "durch
irgendeinen Grund ... getrieben". Das können bei
Beachtung der Vollständigkeit des Steinerschen Zitats eben
auch Vernunftgründe sein, die im Sinne Spinozas notwendig zu
Handlungen treiben. Womit Steiner bis in die
sprachliche Wendung hinein einen massgeblichen Kern der
spinozistischen Freiheitsphilosophie aufgenommen hat, nämlich
dessen Trieb- und Affektlehre, die bei all dem eine
fundamentale Rolle spielt. Wobei man als heutiger Zeitgenosse
eigentlich nur staunt, auf welch sonderbarem
bewusstseinsphänomenologischen Boden Spinoza seine Urteils-
und Entscheidungspsychologie in diesem Kontext entwickelt.
Auf diesen zentralen Punkt jedenfalls - dem
aus einer mangelhaften Untersuchung des menschlichen
Erkenntnisvermögens folgenden geistigen Determinismus
Spinozas mit einhergehendem Ich-Verlust - scheint Steiner doch
sein Augenmerk vor allen anderen Dingen zu richten. Siehe dazu
Spinozas Ethik, Teil I, Von Gott; ferner im Teil
III. die weitläufigen Anmerkungen zum Lehrsatz 2.
Dort werden unter anderem auch die Beispiele aus Steiners
zitierter Briefstelle angeführt. Und in ihren
freiheitsphilosophischen Konsequenzen sind sie dort noch
weitaus prägnanter und aussagefähiger als die Formulierungen
in Steiners Zitat. Angesichts des beträchtlichen
argumentativen Aufwandes von Seiten Spinozas kann man sie wohl
als eine empirische Schlüsselpassage in seiner Philosophie
betrachten. Man vergleiche mit Spinozas dortigen Ausführungen
einmal Steiners Kapitel III der Philosophie der Freiheit.
Man wird dann besser verstehen können, warum die
Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des Denkens für
Steiner eine so grosse Rolle spielt. Und warum es sehr
sinnvoll ist, die von Spinoza vorgelegten
bewusstseinsphänomenologischen Beispiele zu prüfen. Was
daran ist realistisch, und was blosse, zum Teil doch sehr
abwegige Hypothese, Vermutung oder wirklichkeitsfremde
theoretische oder metaphysische Konstruktion?
Ich denke, dass diese der Erfahrung
entlehnten Argumente Spinozas sehr viel zum Verständnis von
seinem Determinismus beitragen können, weil sie im Kontext
der Frage stehen, ob und wie weit der denkende Geist überhaupt
in der Lage ist, auf den physischen Leib Einfluss zu nehmen
und ihn zu Handlungen oder Bewegungen zu veranlassen. Und wie
Beschlüsse zustande kommen und zu bewerten sind. (Letztere
Frage ist für Rudolf Steiner die Kernthematik seiner
Philosophie der Freiheit) Siehe zum Thema Beschlüsse
die beiden Schlußsätze Spinozas in den genannten Anmerkungen
zu Lehrsatz 2. im Teil III der Ethik: "Die
erwähnten Entscheidungen des Geistes [zu Handlungen, MM]
entstehen im Geist mithin mit derselben Notwendigkeit, wie die
Ideen von wirklich existierenden Dingen. Wer also glaubt, er
rede oder schweige oder tue sonst etwas aus einer freien
Entscheidung des Geistes, der träumt mit offenen Augen."
Hier geht es, das muss man hinzufügen, nicht um illusionäre
Freiheit, sondern die getroffenen Aussagen sind ganz
grundsätzlicher Natur und gelten für sämtliche Handlungen
respektive Entscheidungen. Zwar spricht Spinoza hier auch von
geträumten oder eingebildeten Entscheidungen, doch diese
stellt er gewissermassen auf eine Stufe mit den wachbewussten,
weil das Nebeneinanderbestehen verschiedener
Entscheidungsbewusstheiten auf einen Widerspruch führen
müsste, wenn man die eine akzeptiert, die andere aber nicht.
Da dies aber nicht sein könne werden sie allesamt in das
Gebiet der Notwendigkeiten verwiesen. Die unterschiedlichen
Qualitäten von geträumten und wachen Entscheidungen scheinen
ihm argumentativ, und das ist wirklich bemerkenswert,
irrelevant. Die Ethik Spinozas ist nicht gerade reich
an bewusstseinsbezogenen empirischen Belegen. Umso
aufschlussreicher ist es zu beobachten, wie er mit dem Wenigen
verfährt, was er an bewusstseinsphänomenologischen
Grundtatsachen überhaupt beibringt.
Deswegen noch einmal das Zitat
ausführlicher: "Wenn wir aber träumen, daß wir
sprechen, glauben wir auf Grund eines freien Entschlusses des
Geistes zu sprechen, und dennoch sprechen wir nicht, oder wenn
wir sprechen, so geschieht es auf Grund einer willkürlichen
Bewegung des Körpers. Uns träumt ferner, daß wir manches
den Menschen verhehlen, und zwar nach demselben Beschlusse des
Geistes, nach welchem wir wachend verschweigen, was wir
wissen. Uns träumt endlich, daß wir manches nach dem
Beschlusse des Geistes tun, was wir wachend nicht wagen, und
deshalb möchte ich wohl wissen, ob es im Geiste zwei
Gattungen von Beschlüssen gebe, nämlich phantastische und
freie? Wenn wir nicht so weit im Unsinn gehen wollen, muß man
notwendig zugeben, daß dieser Beschluß des Geistes, den man
für frei hält, sich von der Vorstellung selbst oder
Erinnerung nicht unterscheidet und nichts anderes ist als jene
Bejahung, welche die Idee, sofern sie Idee ist, notwendig in
sich schließt (siehe Lehrsatz 49, T. 2). Folglich entstehen
diese Beschlüsse des Geistes nach derselben Notwendigkeit im
Geiste wie die Ideen der wirklich daseienden Dinge. Wer also
glaubt, daß er aus freiem Beschlusse des Geistes spreche oder
schweige, oder sonst etwas tue, träumt mit offenen Augen."
Wie wachbewusste Entscheidungen zustande
kommen, welchen Anteil ein selbstbewusstes Ich daran
möglicherweise hat, und wie sich qualitativ ein Traum vom
wachen Bewusstsein abhebt - das alles interessiert hier nicht.
Spinoza räumt den augenfälligen Unterschied zwischen
geträumten und wachen Entscheidungen rigoros beiseite, setzt
Traumphantasien mit wachbewussten Beschlüssen qualitativ
gleich und siedelt sie epistemologisch und
freiheitsphilosophisch auf dem selben Niveau an. Ganz
offensichtlich ist er, aus welchen Gründen auch immer, hier
nicht in der Lage die gewaltige Differenz zwischen geträumten
und wachbewussten Entscheidungen zu bemerken, zu bewerten und
adaequat in seine Theorie der Entscheidungsbildung
einzubringen. Die Annahme, dass es tatsächlich zwei
verschiedene "Gattungen von Beschlüssen" geben
könne, nämlich "phantastische" (geträumte) und
"freie" (wachbewusste), zwischen denen genetisch
gesehen Welten liegen, hält er stattdessen für "Unsinn".
Vorausgesetzt die Übersetzung aus dem
Lateinischen ist hier angemessen, dann erscheint der ganze
Argumentationsgang mehr als seltsam. Um nicht zu sagen so
hochgradig abenteuerlich, dass die nächstgelegen Frage
eigentlich nur lauten kann: Was hindert ihn nur daran, die auf
der Hand liegende Verschiedenheit von wachen und geträumten
Beschlüssen zu sehen? Und möglicherweise zu erkennen, dass
geträumte Beschlüsse eben nur scheinbare sind und keine
wirklichen, weil ihnen eigentlich alles fehlt, was sie in
irgend einem seriösen Sinn als "Beschlüsse"
ausweisen könnte - nämlich Wachheit des Bewusstseins,
gedankliche Kontrolle und das mehr oder weniger sorgfältige
Abwägen von Gründen und Gegengründen. - Es fehlt ihnen
generell gesagt die Zurechnungsfähigkeit des Beschliessenden.
Der "Geist" hat eben im Traum nichts "beschlossen",
weil derjenige, der hätte beschliessen können - die Person
oder das Ich des Träumers - geistig abwesend war.
Infolgedessen ist es einigermassen verwegen zu glauben,
geträumte und wache Beschlüsse seien vergleichbar, oder gar
dieselben, nach denen einmal dies, und einmal das
Gegenteil davon beschlossen werde. Der Träumer erlebt
nur ohnmächtig seine eigendynamischen Traumbilder und weiss
nicht, dass er träumt. Während der Wache sehr wohl weiss,
dass er wach ist, das Geschehen beeinflussen kann und die
Beschlussbildung in der Hand hat. Er weiss auch dass und wann
er geträumt hat, während der Träumende nicht weiss wann er
wach war und wie sich das anfühlt. Deswegen ist es auch wenig
wahrscheinlich, dass der Träumer wirklich glaubt "aus
einem freien Beschlusse des Geistes zu sprechen".
Was Spinoza den entscheidenden Hinweis auf
verschiedene Gattungen hätte geben können, nämlich
eine Untersuchung der Bewusstseinsqualitäten und Genese von
phantastischen und freien Beschlüssen, das fegt er
buchstäblich mit der folgenschweren Bewertung "Unsinn"
vom Tisch. Vielleicht hätte ihn, wenn er noch weiter in
diesem "Unsinn" gegangen wäre, eine nähere
Untersuchung von wachen Beschlüssen zu der Entdeckung
geführt, dass diese auch nicht von einheitlicher Art sind,
und er wäre auf eine dritte Gattung gestossen - nämlich
innerhalb der wachen Beschlüsse auf die potentiell freien. Da
nun die Entscheidungsbildung im Wachbewusstsein die
Voraussetzung für ein angenommenes entscheidungsgeleitetes
freies Handeln bildet, leuchtet es ein, dass für Spinoza
derjenige mit offenen Augen träumen muss, der da glaubt,
seine wachen Entscheidungen als freie Beschlüsse zu fassen,
da sich seine wachbewussten Entscheidungen grundsätzlich ja
nicht von den geträumten unterscheiden. Ich betone noch
einmal: Das Gesagte gilt in Spinozas Augen für sämtliche
Entscheidungen. Seien sie aus Vernunftgründen oder anderen
erfolgt. Oder wie sein Fazit lautet: "Folglich entstehen
diese (geträumten wie wachen, MM) Beschlüsse des Geistes
nach derselben Notwendigkeit im Geiste wie die Ideen der
wirklich daseienden Dinge." Die Beschlüsse des Geistes -
und zwar wache wie geträumte - entstehen "nach derselben
Notwendigkeit". Das heisst: die Beschlussfindung und
-bildung ist generell und vollständig determiniert, und
nichts davon ist in des Menschen freies Vermögen gelegt.
Entscheidungen und Beschlüsse überkommen den Menschen
und werden nicht aktiv gefasst beziehungsweise herbeigeführt.
Das Ich des Menschen beschliesst nichts, sondern ist
allenfalls Zuschauer eines Beschlussvorganges, der sich mit
naturgesetzlicher Notwendigkeit in ihm vollzieht. (Interessant
ist es zu sehen, dass die in der Steinerschen Briefstelle
zitierten Beispiele Spinozas bei letzterem wie auch hier
mehrfach wiederkehren und durchaus auch eine exemplarische
Bedeutung innerhalb dessen Freiheitsdiskussion haben. Denn
Spinozas Argumentation im Lehrsatz 2 richtet sich gegen
diese dort exemplifizierte naive Freiheitsgläubigkeit. Dann
ist es schon erhellend seiner hierzu entfalteten empirischen
Beweisführung zu folgen. Es ist ein offenkundiger und
weitgehend empirieferner philosophischer Rationalismus, den er
hier entfaltet, aber keine empiriegeleitete Philosophie)
Thematisch anders gelagert, aber
argumentativ eingebettet in die umfangreichen Anmerkungen zum
Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik ist die Frage, wie eigentlich
das bewusste Denken mit dem Körper interagiert. Zu dieser
Frage äussert sich Spinoza, und zwar besonders eindeutig,
schon in dem vorangestellten kurzen, aber folgenreichen
einleitenden Lehrsatz 2: "Der Körper kann den
Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den
Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem
(wenn es noch etwas anderes gibt.)"
Was eigentlich die biologische oder
sonstige Grundlage für entscheidungsgeleitetes Handeln ist,
ist streng genommen bis heute fast so unverstanden wie zu
Spinozas Zeit und nach wie vor umstritten, aber im allgemeinen
wird die gewollte Interaktion zwischen Denken und Körper als
Faktum akzeptiert. Die Akzeptanz besteht inhaltlich in der
Annahme, der Mensch sei für seine Taten verantwortlich, weil
er sie von der Vernunft her organisieren, steuern und bewerten
kann. Das heisst, man nimmt an, seine bewussten leiblichen
Äusserungen seien dem Einfluss seiner Vernuft und seines
Urteilsvermögens prinzipiell unterstellt. Worauf diese
Interaktion zwischen Denken und Handeln im physiologischen
oder sonstigen Sinne genau beruht und wie sie verläuft ist
wie gesagt bis heute nicht ernstlich geklärt, aber sie wird
auf jeden Fall aus Evidenzgründen unterstellt und
vorausgesetzt. Es ist einfach evident, das wir willentlich und
gedankengesteuert zur Arbeit gehen, Englisch lernen oder dem
Bedürftigen einen kleinen Geldbetrag schenken. Auch wenn die
genaue Wechselwirkung zwischen Denken und Leibesäusserung
wissenschaftlich noch im Dunkeln liegt. Für Spinoza indessen
ist es laut Lehrsatz 2 prinzipiell gar nicht möglich, dass
vom Denken her irgend ein handlungsbestimmender Einfluss auf
den Körper ausgeht, weil laut nachfolgendem Beweis zu
Lehrsatz 2 Körper nur durch andere Körper, aber nicht
durch Gedanken bewegt werden können: " ... die Bewegung
und Ruhe des Körpers muß durch einen anderen Körper
entstehen, welcher auch zur Bewegung oder Ruhe durch einen
anderen bestimmt worden ist...".
In den Anmerkungen zum Lehrsatz 2
wird dies, unter stetigem Hinweis auf das Nichtwissen in
diesen Dingen, teils mit recht modern und
naturwissenschaftlich anmutenden empirischen Belegen und
Fragestellungen flankiert, die demonstrieren sollen, dass
menschliche Entscheidungen auf Aktionen des Körpers ohne
Einfluss sind. Darunter auch bewusstseinsphänomenologische:
Auf Erinnern und Vergessen habe der Mensch keinen Einfluss. -
Was zu prüfen wäre und nachweislich nicht der Fall ist, wie
jeder ernsthafte Selbstversuch zeigt. Dass es einen
unbeeinflussbaren Erinnerungs- und Vergessensautomatismus gibt
kann nur behaupten, wer diesen Dingen nie gezielt im
Selbstbeobachtungsexperiment nachgegangen ist. Die
unbeeinflussbare Erinnerung indessen ist für Spinoza ein ganz
ernst zu nehmendes und schwerwiegendes
bewusstseinsphänomenologisches Argument, um wache Beschlüsse
mit geträumten gleichzusetzen. Siehe seinen resümierenden
Gedankengang oben. Die Vorgänge des Bewusstseins ereignen
sich eben, und wir können sie nur hinnehmen! (Hier wird
vorausgesetzt, dass Spinoza damals in seinem Bewusstsein
vergleichbar ebenso organisiert war wie wir. Die Möglichkeit,
dass er seine Einflusslosigkeit auf Erinnern und Vergessen
tatsächlich auch so erlebt hat, wie er sie beschreibt, und
auch seine Beschlussbildung vielleicht den oben skizzierten
traumartigen Charakter hatte, besteht grundsätzlich auch
noch. Dann wäre sein Bewusstsein vor rund 400 Jahren
qualitativ in einigem doch sehr anders organisiert, als das
gegenwärtig normalerweise der Fall ist. Dieser interessanten
Frage nach einem möglichen historischen Bewusstseinswandel
kann hier leider nicht nachgegangen werden.)
Erstaunlicherweise aber findet sich bei
Spinoza auch der generelle Hinweis darauf, dass der Körper
allein eben zu vielem fähig sei. Sogar kulturelle
Grossleistungen wie Kirchbau und Kunstwerke hätten danach
ihren Ursprung nicht in denkerischen Entscheidungen und
Entwürfen, sondern vernunftunabhängig in den wahren
Wunderleistungen des menschlichen Leibes. Und zwar führt
Spinoza das unter anderem aus im argumentativen Rückgriff auf
Schlafwandler, die gelegentlich bemerkenswerte Dinge tun,
worüber sie im wachen Zustand sehr verblüfft sind.
Genialische Tatsachen zeigen sich eben in der gesamten Natur,
auch dort, wo vom Denken keine Spur zu finden ist, weil die
Natur so weise eingerichtet ist. Warum sollten sie beim
Menschen nicht durch die ebenfalls genialische aber
ausschliesslich organische Funktion des menschlichen Leibes
zustande kommen? Es ist nach Spinozas Auffassung ersichtlich
realistischer anzunehmen, dass Kirchbauten und Tempel nach
demselben Prinzip entstehen wie die intelligenten Bauten
von Termiten, Spinnengewebe und Vogelfedern: Aus einer
universellen Naturvernunft heraus und nicht aus einer
individuellen menschlichen. Es besteht weder ein notwendiger
Anlass vernunftvoll erscheinende menschliche Taten mit dem
menschlichen Denken faktisch in Verbindung zu bringen, noch
ist dies möglich. Der Glaube der Menschen, sie könnten mit
der Vernunft auf die Bewegungen ihres Leibes Einfluss nehmen,
sei eben naiv und anhand der Tatsachen nicht zu belegen.
Auch dieser Gedankengang mutet wie im Fall
der Traumbeschlüsse derart abenteuerlich und an den Haaren
herbeigezogen an, dass man den Eindruck hat, Spinoza habe sich
hier mit aller Gewalt zu einer Art kopernikanischen Strategie
entschlossen. Nämlich gegen jede Evidenz zu argumentieren,
und eine kopernikanische Wende in der Bewusstseins- und
Handlungsauffassung rein rationalistisch zu inszenieren.
Freilich ist der Lebens- und Erlebenszusammenhang im Fall der
himmelsmechanischen Erscheinungen unmittelbar nicht vorhanden,
der das Trügerische eines vermeintlichen Umlaufs der Sonne um
die Erde leicht entlarven könnte. Deswegen ist es dort
durchaus angemessen eine Beweisführung gegen die
scheinbare Evidenz zu suchen. Während wir im Fall von
Träumen, Wachen, Urteilsvorgängen oder von willkürlichen
Bewegungen in einem Erlebenszusammenhang mitten drin stehen.
Näher als durch die unmittelbare Erlebensweise können wir
diesen Phänomenen gedanklich nicht kommen. Und näher als
Urteils- und Denkvorgänge können uns überhaupt keine
Phänomene kommen. Deswegen haben sich bis heute die Menschen
trotz aller gegenteiligen Beschwörungen mancher Neurobiologen
und aller populärwissenschaftlichen Bekehrungsversuche nicht
von der Überzeugung abbringen lassen, dass sie es
sind, die denken, urteilen und sprechen und nicht das Hirn.
Das von Spinoza hier nahegelegte Bild vom Menschen gleicht
doch eher einem Untoten, als einem menschlichen Individuum.
Mit dieser Unfähigkeit des Geistes den
Körper zu Handlungen zu bestimmen korrespondiert eine analoge
Unfähigkeit des Denkens, sich aktiv mit dem Geist
(besser vielleicht: mit Gedanklichem) in Verbindung zu
bringen. Infolgedessen ist die Wahrnehmung von Ideellem für
Spinoza ebenfalls ein blosses Leiden, eine passive Wahrnehmung
und kein aktives, gewolltes denkerisches Geschehen. Auch
ideelle Wahrnehmungen - hier haben wir eine deutliche
Parallele zum oben erörterten Prozess der Beschlussbildung -
überkommen den Menschen und werden nicht aktiv aufgesucht
oder herbeigeführt. (Ein modernerer Psychologe des 19. oder
frühen 20. Jahrhunderts würde vielleicht von einem rein
assoziativen Mechanismus sprechen.) Wir werden weiter unten
etwas darauf zurückkommen. Ein agiles und selbständig
handelndes oder erkennendes Ich jedenfalls, das muss
man wohl sagen, kommt bei Spinoza nicht vor. Sondern nur ein
betroffener Zuschauer im Stück der Notwendigkeiten.
Abgesehen davon, dass bei Spinoza alles
Geschehen ursächlich in Gott und nicht in der Materie
gründet, und er dafür argumentativ sehr viel Aufwand
investiert, ist er mit seinem Determinismus dem
physikalischen strukturell nicht nur ziemlich ähnlich,
sondern auch methodisch verwandt, wie seine empirischen
Belegversuche oben zeigen. (Infolgedessen gab und gibt es
nicht wenige, die ihn für einen Materialisten halten, der
seinen Materialismus lediglich theologisch verhüllt habe.
Einer der Gründe dafür, warum Marxisten in ihm gern einen
Vorläufer des modernen Marxismus sehen. Siehe etwa
http://www.spinoza.de/Spinoza_Vorgeschichte_Marxismus.pdf)
Offensichtlich jedenfalls nimmt er ein an den
Naturwissenschaften orientiertes Prüfen und Bewerten der
empirischen Tatsachen mitunter, wenn auch auf sehr einseitige
Weise, ernst. Doch sein Umgang mit den empirischen Tatsachen
des Bewusstseins offenbart gerade dies: Die empirischen
Tatsachen scheinen gegenüber der Theoriebildung allemal
nachrangig. Sie sprechen sich nicht aus, sondern werden
gewaltsam in ein gedankliches Schema gepresst und im Zweifel
in grotesker Weise umgedeutet. Auch dies eine deutliche
Parallele zum Physikalismus. Ein autonomer Gedankenbildner
oder Entscheidungsträger für Handlungen findet sich
infolgedessen bei beiden Formen des Determinismus nicht, ob
sie nun von Gott oder von der Materie ihren Ausgang nehmen.
Und am Ende bleibt, wie von Popper gegen den Physikalismus
vorgebracht, auch dasselbe Problem wie beim Physikalismus: Wie
kommt denn der Determinist, ob physikalisch oder geistig
orientiert, dazu, an die Gültigkeit seiner Argumente zu
glauben, die er für den Determinismus ins Feld führt? Die
entscheidende Frage zielt damit auf den, der sich das alles
ausdenkt. Er kann es ja nur glauben unter Berufung auf eine
Instanz, die eben nicht vollständig determiniert sein kann -
und das ist das urteilende, prüfende und erwägende Ich des
Denkers. Damit aber hat er seinem Determinismus bereits den
Boden entzogen. Wenn ihm das nicht klar ist, dann deswegen,
weil er sich mit den faktischen Vorgängen seiner Gedanken-
und Urteilsbildung nicht weiter auseinandersetzt und die
richtigen Konsequenzen daraus zieht.
Bei Spinoza führt das auf die Frage, woher
er denn für den Teil V der Ethik die Überzeugung
nimmt, aktiv in ein vollständig determiniertes Geschehen
eingreifen zu können, welche empirischen Belege er dafür
beibringt und wie plausibel diese sind. (Siehe dazu den
Lehrsatz 1 im Teil III der Ethik und den
nachfolgenden Lehrsatz 2. nebst Anhang) Denn wenn er
glaubt dies aktiv tun zu können, so muss sich diese Aktivität
schon im Prozess der Entscheidungsfindung oder Urteilsbildung
nachweisen lassen. Diese aber, so scheint es doch, sind bei
ihm ganz und gar frei von individueller Aktivität und
Autonomie, sondern gleichen aufs Haar dem Ausgeliefertsein an
etwas, das sich notwendig vollzieht. Deswegen seine
Gleichsetzung von Traumbeschlüssen mit wachen. Es gibt seinen
bisherigen empirischen Ausführungen nach gar kein Anzeichen
von geistiger Autonomie, und die Macht des Verstandes
und die menschliche Freiheit, von denen im V. Teil der
Ethik die Rede ist, erscheinen im Lichte seiner oben
erläuterten Befunde wie ein Hirngespinst. Plötzlich wird nun
aber ohne jede Vorwarnung und vollkommen unbegründet jemand
aus dem Hut gezaubert, der eben doch Entscheidungsträger ist
und die Gedanken selbsttätig verbindet. Denn was er für den
Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik an
Initiativmöglichkeiten des Ich voraussetzt, verlangt auch ein
aktives Ich, das bei der Beschlussbildung die Gedanken
selbsstätig, und nicht traumartig miteinander verbindet. Bei
Spinoza ist das ein noch etwas anonymes "Wir", das
nun laut Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik zur
Überraschung des Lesers etwas tun soll, wozu es laut Theorie
der Beschlussbildung eigentlich gar nicht fähig sein dürfte:
Nämlich in eigener Tätigkeit des Ich Gedanken trennen und
verknüpfen, die sich angeblich nur selbst untereinander
verknüpfen können. Ja, - Ich? - wie denn? - Ich soll in
eigener Tätigkeit Gedanken verknüpfen? - fragt sich der
erstaunte Leser. Diese Möglichkeit hat er doch im Teil III
schon komplett aus der Hand gegeben. Dafür besteht folglich
kein konzeptioneller Spielraum mehr. Denn Traumbeschlüsse
können, wie von ihm selbst betont, Gedanken nicht aktiv
und autonom verbinden oder trennen. Und auf Erinnern und
Vergessen habe ich angeblich ja auch keinen Einfluss. Wie soll
denn so etwas dann überhaupt gehen? - Der Lehrsatz 2
im Teil V. der Ethik ist infolgedessen und
möglicherweise bloss missverständliche philosophische
Rhetorik, und ein aktiv verbindendes und trennendes
"Wir" gar nicht gemeint. Dann freilich wäre die
Macht des Verstandes nebst Freiheit ohnehin eine
bloss traumhaft eingebildete, sprich: illusionäre. Wie auch
immer. Auf jeden Fall aber bedarf er einer ganz anders
gearteten Konzeption der Beschlüsse und Entscheidungsfindung,
als sie Spinoza im Teil III der Ethik vorgelegt hat, um ihren
dort konzeptionell veranlagten illusionären Charakter
abzulegen. Darauf allerdings wartet der Leser vergeblich.
Nehmen wir also Hartmut Traubs Hinweis auf
die von Steiner angeblich übersehenen Vernunftgründe
Spinozas ernst, so müssten wir bei der Genese und
der faktischen Umsetzung dieser Vernunftgründe Spinozas
fündig werden und einen entscheidenden empirischen Fingerzeig
auf die Freiheitsrelevanz von Vernunftgründen entdecken. Was
aber finden wir dort vor? - Die wachbewussten Entscheidungen
und Beschlüsse kommen nicht anders zustande als geträumte
oder phantastische. Es existiert nur eine Gattung von
Beschlüssen und der gehören sowohl wache wie geträumte
gleichermassen an. Die mögliche Existenz einer weiteren
"Gattung" von Beschlüssen wird mit dem Prädikat
"Unsinn" abgelehnt. Also haben die aus
Vernunftgründen gefassten Beschlüsse qualitativ und
freiheitsphilosophisch keinen anderen Status als die
geträumten. Sie kommen entsprechend mit derselben
Notwendigkeit zustande wie auch Traumbeschlüsse zustande
kommen. Und daraus folgt: "Wer also glaubt, daß er aus
freiem Beschlusse des Geistes spreche oder schweige, oder
sonst etwas tue, träumt mit offenen Augen." Das ist
gedanklich zwar konsequent, aber vollkommen abwegig und
meilenweit entfernt von jeder Realität. Man fragt sich, wie
Spinoza die Freiheit des Ich im vernunftgeleiteten Handeln
ansiedeln will, wenn er beides schon im Erkennen oder bei der
Beschlussbildung nicht findet? Wie könnte er im Teil V der
Ethik noch stringent darauf verfallen, wenn er sich empirisch
im Teil III schon so gründlich darin widerlegt?
*
Um es sinngemäss mit den Gedanken des
Steiner von 1899 zu fassen: Erst projiziert der Mensch -
Spinoza - ganz logisch auf der Basis seiner Definitionen ein
allbeherrschendes Gotteswesen in die Welt hinaus, um sich
hernach von diesem hinausprojizierten Gott durchgängig
bestimmt zu denken. Nur übersieht er dabei, dass es ja nur
die Produkte seiner eigenen Subjektivität waren, die er da
zuallererst in seine Definitionen hineinlegt hat, von denen er
sich jetzt, seiner Logik folgend, beherrscht glaubt. Er
versetzt ein allmächtiges Wesen in die Welt, während er
gleichzeitig sein Ich als Produzenten dieser Gedankenbildung
vergisst und verliert. (Siehe Rudolf Steiner, Der
Individualismus in der Philosophie, in: GA 30, Dornach
1989, S. 99-152. Zu Spinoza siehe dort S. 127 f. Erläuternd
dazu siehe ebd, S. 148 ff.)
Von dieser Einsicht, dass die Eigenschaften
Gottes wie Vollkommenheit, Wesensnotwendigkeit etc, aus denen
Spinoza mit dem Anspruch auf Notwendigkeit wiederum seine
Handlungsmaximen zwecks Beherrschung der Affekte mehr oder
weniger herleitet, ursprünglich sein eigenes gedankliches
Erzeugnis sind, ist die Ethik Spinozas in der Tat nicht
nur weit entfernt, sondern völlig frei. Oder wie Steiner in
dem erwähnten Aufsatz (S.127) sagt: "Daß der Mensch das
Bild, unter dem er sich diese Notwendigkeit
[Wesensnotwendigkeit Gottes, MM] vorstellt, seinem eigenen
Inhalte entnimmt, davon hat Spinoza kein Bewusstsein." In
der Tat: Schon die Behauptung über Gottes Vollkommenheit ist
in den Augen Spinozas eine regelrechte geistige
Zwangshandlung, die auf dem Wege einer geistigen
Nötigung durch Gott zustande kommt. Denn, so Spinoza, seine
Aussagen über Gottes Vollkommenheit seien nur deswegen
erfolgt, weil Gottes Vollkommenheit selbst ihn dazu
"gezwungen" habe, diese Vollkommenheit zu behaupten.
(Siehe Ethik, Teil I., Von Gott; Anmerkung 2 zu
Lehrsatz 33) Gott ist der eigentliche Urheber dieser
Überzeugung - nicht der Philosoph Spinoza. Denn der folgt
lediglich Gottes Machtspruch, respektive göttlicher
Notwendigkeit. Man könnte das bezeichnen als eine Erklärung
im Lichte der eigenen (deterministischen) Überzeugung. Aber
nicht im Lichte der empirischen Ereignisse, die bei der
Bildung dieser Überzeugung tasächlich vorgegangen sind. Denn
schon die im allgemeinen doch sorgfältig abwägende und
kritische Gedankenführung Spinozas, die seiner Ethik
zugrunde liegt, und worauf sie aufbaut, belegt nachprüfbar
das völlige Gegenteil dessen, was er soeben behauptet hat:
Sie belegt die Nicht-Existenz göttlicher Erkenntniszwänge
und eines Determinismus, so wie er ihn versteht.
Ironischerweise, möchte man sagen, gründet sich seine Ethik
auf etwas, was er darin unter erstaunlicher Investition
gedanklicher Arbeit theoretisch so gut wie abgeschafft hätte,
falls man seine Behauptung ernst nähme - die menschliche
Gedankenfreiheit.
Wenn man Steiner in diesem Kontext recht
versteht, dann sieht er einen engeren Zusammenhang zwischen
dem Aufkommen des naturwissenschaftlichen Denkens mit seinem
Kausalitätsprinzip und Spinozas nicht mehr christlichem
Gottesverständnis, das letztlich von diesem
naturwissenschaftlichen Kausalitätsdenken inspiriert ist, und
ein Analogon zur Naturkausalität in Form von göttlicher
Notwendigkeit geschaffen hat. Im Prinzip, so könnte man
Steiners Gedanken erläutern, ist dieses Bild der göttlichen
Notwendigkeiten mehr oder weniger dem damaligen
naturwissenschaftlich-philosophischen Zeitgeist geschuldet.
Doch warum sollte in einem vollkommenen Wesen (Gott) zugleich
die Notwendigkeit vorliegen, seine gesamte Schöpfung bis ins
Kleinste nach dem Vorbild der materiellen Welt oder nach Art
logischer Zusammenhänge - wenn man will:
logisch-mechanistisch, nach dem Vorbild von etwas Totem - auch
zu determinieren? Ist ein umfassender Determinismus wirklich
ein notwendiger Ausdruck von Vollkommenheit, zu dem es keine
Alternativen gibt? Was logisch oder aus dem Zeitalter heraus
scheinbar einleuchtet braucht faktisch längst nicht so sein.
Was sich der Philosoph also unter der Vollkommenheit Gottes
jeweils vorstellt, - und das gilt verständlicherweise nicht
nur für Spinoza -, ist in vielerlei Richtung hin durchaus
offen und entscheidungskontingent, weil historisch bedingt und
insofern von eher zufälligen Faktoren. Er muss auf jeden Fall
den Inhalt für diese gedanklich erschlossene Vollkommenheit
aus sich selbst holen - und an dieser Stelle wird das
Verfahren einigermassen windig und anfechtbar. Denn dieser
Inhalt ist gebunden an die Grenzen und an den Horizont seiner
menschlich beschränkten philosophischen Phantasie. Und die
muss mit der Realität nicht unbedingt übereinstimmen.
Steiner speziell dazu an ganz anderer Stelle: "Als man
anfing, nach Gottesbeweisen zu suchen, war dieses Suchen
selbst schon ein Beweis dafür, daß man den lebendigen
Zusammenhang mit der göttlichen Welt verloren hatte. Deshalb
kann auch kein intellektualistischer Gottesbeweis in einer
befriedigenden Weise geführt werden." (Rudolf
Steiner, Drei Schritte der Anthroposophie: Philosophie,
Kosmologie, Religion. Zehn Auto-Referate zum Französischen
Kurs am Goetheanum Dornach, 6. bis 15. September 1922, GA 25,
Dornach, 1999, IV. Erkenntnis- und Willensübungen S. 37)
Und Gideon Spicker zum selben Thema aus
religonsphilosophischer Sicht: "Von einem willkürlich
entworfenen Begriff - Idee der Vollkommenheit - kommt man
durch bloßes Schlußverfahren nicht zu der ihm
korrespondierenden Realität. Es ist und bleibt nur eine
gedachte Vollkommenheit." (Gideon Spicker, Am
Wendepunkt der christlichen Weltperiode, Stuttgart 1910,
Nachdruck des Georg Olms Verlages, Hildesheim 1998, S. 38.
Sowohl der ontologische Gottesbeweis, der von einer
erschlossenen unendlichen Vollkommenheit Gottes ausgeht, als
auch der kosmologische Gottesbeweis, der folgernd auf
eine unbedingte Ursache alles Gewordenen führt, liefert nach
Spicker keine Erfahrunsgegebenheit, sondern bleibt ein
inhaltlich unbestimmtes logisches Konstrukt. Die eigentliche
Beschaffenheit dieses erschlossenen Gottes bleibt in beiden
Fällen völlig im Dunkeln. Und liefert damit, so möchte man
ihn ergänzen, nahezu beliebigen Raum für philosophische
Phantasieproduktionen. Siehe Spicker a.a.O., S. 27)
Ebensogut vorstellbar wäre nun
beispielsweise, dass dieser vollkommene Gott gleichsam
Ebenbilder seiner selbst in die Welt entlässt, die seine
Schöpfung auf unterschiedlichen Stufen fortführen, ohne dass
sie seinen permanenten deterministischen Zwängen unterliegen.
Das wäre eine Vollkommenheit mit dem immanenten Impuls zur
fortlaufenden Schöpfung in Freiheit. Im christlichen Bild von
den Gotteskindern kommt dies ja auf eine gewisse naive Weise
auch zum Ausdruck. Er hätte damit seine Substantialität
weitergeschenkt und die eigene Vollkommenheit gleichsam
vervielfacht, indem er sie auf andere Wesen überträgt, die
zwar in ihm wurzeln, aber nicht durchgängig von ihm
beherrscht werden. Nur - dieser Gedanke ist der
zeitgenössischen Kausalitätsphilosophie Spinozas eben noch
reichlich fremd und weniger naheliegend. Der Kausalgedanke ist
philosophisch zu seiner Zeit stark präsent und ein
vergleichbar beeindruckender Begriff des Lebendigen noch nicht
in Sicht. Eine spätere Philosophie des Organischen und
Lebendigen würde neue Perspektiven eröffnen und sich ihren
Gott vermutlich eher nach dem Idealbild einer göttlichen
Evolution und organischen Werdens, - das ist im Sinne eines
lebendigen, beweglichen Organismus -, und nicht nach dem
einseitigen Muster eines lieblosen und zwanghaften Mechanismus
der toten Materie oder einer starren Logik formen. Das wird im
Zeitalter Kants ja auch beginnen der Fall zu sein, und
beispielsweise bei Johann Gottlieb Fichte wird der Begriff
Gottes sehr eng mit dem Begriff des Lebendigen und der Liebe
verknüpft. (Siehe Fichtes Die Anweisung zum seligen
Leben
[http://www.zeno.org/Philosophie/M/Fichte,+Johann+Gottlieb/Die+Anweisung+zum+seligen+Leben])
Die Vernachlässigung des Ich bei Spinoza
mag weiter auch, wie oben schon angedeutet, damit zu tun
haben, dass Spinoza der Frage nicht ausführlicher nachgeht,
wie eigentlich das Ich des Menschen im Erkennen handelt
und entsprechend zu einer Erkenntnis des Erkennens gelangt.
Bzw weil er glaubt im erkennenden Rückgriff auf Gott sei die
Erkenntnis der Erkenntnis eine sich von selbst verstehende
Beigabe. (Siehe dazu etwa dessen Ethik, Teil II, Lehrsatz
43; siehe auch Teil III, Lehrsatz 58) Bei Spinoza tritt
das Verstehen infolgedessen auf als eine passive
Funktion, das heisst: als ein blosses Leiden: "Denn
wir haben gesagt, daß das Verstehen ein blosses Leiden ist,
d. h. ein Gewahrwerden der Essenz und Existenz der Dinge in
der Seele, so daß wir es also niemals sind, die etwas von dem
Ding bejahen oder verneinen, sondern das Ding selbst ist es,
das etwas von sich aus in uns bejaht oder verneint."
(Spinoza, kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und
dessen Glück, in der Ausgabe des Felix Meiner Verlages,
Hamburg 1991, S. 88 f. 16. Kapitel § 5) Im Kontrast dazu
Steiner, der nicht nur am vollkommenen Gegenpol, nicht von
einem logisch als erstem und absolut gesetztem Gott seinen
Ausgang nimmt, sondern an der empirischen Erkenntnis des
Erkennens, die der Methode nach durchaus empirisch
psychologische Züge hat. Beziehungsweise, wenn wir
systematische Kollisionen der Erkenntnistheorie mit der
Psychologie vermeiden wollen, wäre es angemessener zu sagen,
sie habe bewusstseinsphänomenologische Züge. Und zwar im
Sinne jenes zeitgenössischen Erkenntnistheoretikers Johannes
Volkelt, auf den Steiner in seinen Frühschriften so
ausführlich zurückgreift. (Zur
bewusstseinsphänomenologischen Erkenntnistheorie Volkelts,
auf die Steiner vor allem in den Frühschriften Grundlinien
einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung
sowie Wahrheit und Wissenschaft - siehe die Einleitung
zu Wahrheit und Wissenschaft - ganz ausdrücklich
rekurriert vergleiche Johannes Volkelt, Erfahrung und
Denken, Hamburg und Leipzig 1886. Dort vor allem die
Abschnitte 1. und 2. ; S. 1 - 132 . Zum Verhältnis von
Erkenntnistheorie zur Psychologie dort etwa S. 43 f; S. 46 f.
[ Im Internet frei erreichbar unter
http://ia600600.us.archive.org/18/items/ErfahrungUndDenken/Johannes_Volkelt_Erfahrung_und_Denken.pdf])
Für Steiner kann schon die Realisierung
der Idee des Erkennens, bzw das Erkennen als individueller
Prozess des denkerischen Handelns weder von aussen, noch von
innen aufgenötigt werden, sondern nur auf einen freien
Entschluss des erkennenden Wesens selbst hin erfolgen. Ohne
meinen persönlichen Entschluss zum Erkennen geschieht hier -
und zwar jederzeit überprüfbar - nichts. Auch keine
Erkenntnis Gottes. Spinozas wenn man so will: ideelle
Wahrnehmung (Gewahrwerden der Essenz) findet sich
auch bei Steiner. Aber sie wird bei ihm als ein durchgängig
aktives Geschehen - besser vielleicht: als tätige
Rezeption des Ideellen - eben als Resultat eines gewollten
Denkens und nicht als ein passives Leiden gekennzeichnet.
Auch dieses ist jederzeit einer Verifikation anhand der
Erfahrung zugänglich. Und damit ist es bei Steiner noch nicht
getan. Denn die Wahrnehmung des Ideellen bzw der Essenz
allein ist in seinen Augen noch keine Erkenntnis, sondern
lediglich dessen Voraussetzung auf der ideellen Seite. Das
Bejahen oder Verneinen einer ideellen
Wahrnehmung ist Sache des Urteilens und Prüfens, und damit
vollständig als Vorgang in die Hand des erkennenden Menschen
gelegt. Wer nicht urteilen will hat allenfalls fixe
Ideen und nicht Erkenntnis oder Verständnis. Das gilt
natürlich auch für Wahrnehmungen nicht-ideller Art. Das
Ding, das sich im Sinne Spinozas aussprechen will,
wird dies nur können, sofern der Mensch sich aktiv darauf
einlässt. Der fehlende Hinweis Spinozas auf die Aktivität
des Denkens und Erkennens kontrastiert übrigens ganz
eigentümlich mit dem, was Steiner in der Philosophie der
Freiheit dazu ausführt, weil dieser so eindringlich
fortwährend diese Aktivität betont. Man könnte fast den
Eindruck gewinnen, als habe Spinoza für diese individuelle
Aktivität im Denken gar keine Wahrnehmung. So, wie er
offensichtlich auch keine Wahrnehmung für die Einflussnahme
auf das Erinnerungsgeschehen (s. o.) hat. Ob dies durchgängig
bei ihm der Fall ist, wäre eine detailliertere Untersuchung
wert. Es würde bewusstseinsphänomenologisch zumindest einige
seiner theoretischen Positionen erklären.
Offensichtlich geht es Steiner doch um den
Begriff der Notwendigkeit, und darum, ob eine aus
einsehbaren Gründen erfolgte Handlung sich mit derselben
Notwendigkeit vollzieht, wie die mechanische Bewegung eines
Steines. Deswegen zum Schluss der Passage sein abschliessender
Gedankengang: "Und ein tiefgreifender Unterschied ist es
doch, ob ich weiß, warum ich etwas tue, oder ob das nicht der
Fall ist. Zunächst scheint das eine ganz selbstverständliche
Wahrheit zu sein. Und doch wird von den Gegnern der Freiheit
nie danach gefragt, ob denn ein Beweggrund meines Handelns,
den ich erkenne und durchschaue, für mich in gleichem Sinne
einen Zwang bedeutet, wie der organische Prozeß, der das Kind
veranlaßt, nach Milch zu schreien." Das aber lässt sich
Spinoza doch mit guten Gründen vorhalten, nämlich diesen
Unterschied gar nicht recht zu erfassen, sonst könnte er
nicht (s.o.) zu der Definition kommen, die Sache sei frei,
"die aus der blossen Notwendigkeit ihrer Natur besteht
und handelt." (Dass diese Verknüpfung von Notwendigkeit
und Freiheit wie eben schon angedeutet bei Spinoza in direkter
Verbindung steht zu Spinozas Gottesbegriff, sei hier nur der
Vollständigkeit halber noch einmal erwähnt, kann aber an
dieser Stelle nicht ausführlicher dargestellt werden. Siehe
dazu etwa den oben genannten Überblicksartikel zu Spinoza.)
Man sehe sich seine empirischen Belege oben nur an, um einen
Eindruck davon zu bekommen, was das für Spinoza konkret
heisst. Natürlich spricht er auch von den einsehbaren Gründen
unseres Handelns. Aber das ist sozusagen nur der halbe Aspekt
seiner Freiheitsphilosophie, und auch nicht der zentrale Punkt
von Steiners Kritik. Denn Steiner geht es nicht nur darum, ob
wir überhaupt auch aus Vernunftgründen zu handeln vermögen,
und diese Vernunftgründe unseres Handelns kennen. Sondern
darum, ob einsehbare Vernunftgründe unseres Handelns einen
ähnlich determinierenden Zwang auf uns ausüben wie andere,
uns unbewusste Ursachen des Handelns. Deswegen seine zentrale
Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des Denkens. Denn
genau das von Steiner Bemängelte wird von Spinoza in einen
Topf geworfen. Alles - das (geistige und physische) Handeln
aus einsehbaren Gründen und das Handeln aus dunklen
organischen Bedürfnissen geschieht letztlich mit
Notwendigkeit. Denn Traumbeschlüsse und wache kommen nach
derselben Notwendigkeit zustande. Genetisch und qualitativ
unterscheidet sich daher ein Vernunftgrund nicht von einem
geträumten und ein Vernunftbeschluss nicht von einem
Traumbeschluss. Ich handle in allen Fällen, ob ich die Gründe
meines Handelns kenne oder nicht, weil ich so handeln muss
und gar nicht anders kann. Das eine Mal aus
Vernunftgründen und das andere Mal aus unbewussten
organischen. Auf diesen entscheidenden Punkt, - ob ein aus
Vernunftgründen vollzogenes Handeln vergleichbar ebenso aus
Notwendigkeit geschieht wie ein Handeln aus unbewussten
organischen Ursachen -, so meine ich, zielt berechtigterweise
Steiners Kritik an Spinoza.
Dabei haben wir hier den kaum weniger
entscheidenden Aspekt, dass laut Spinozas Lehrsatz 2 im Teil
III der Ethik einschliesslich Anmerkungen das Denken ohnehin
nicht in der Lage ist (motorische) Handlungen zu steuern, noch
nicht einmal in die Bilanz aufgenommen. Tun muss man das
freilich, denn die motorischen Bewegungen vollziehen sich dort
ja tatsächlich frei vom Einfluss der individuellen Vernunft
so notwendig wie die Bewegung eines Steines. Siehe Lehrsatz
2 im Teil III der Ethik: "Der Körper kann den
Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den
Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem
(wenn es noch etwas anderes gibt.)" So gesehen ist die
Frage nach einer durch individuelle Vernunft oder
Vernunftgründe geleiteten körperlichen Handlung augenfällig
überflüssig, da sie laut Lehrsatz 2, - ganz
physikalistisch gedacht -, grundsätzlich nicht stattfinden
kann. Denn menschliche Willensakte, so Spinoza auch an anderer
Stelle, können nur einen äusseren verursachenden Anlass
haben, von dem sie notwendig bewirkt worden sind. Denn es sei
so, : " ... daß dieser oder jener Willensakt des
Menschen [...] auch eine äußere Ursache haben muß, von der
er notwendig verursacht wird, ..." (Spinoza, Kurze
Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück,
Meiner Ausgabe Hamburg 1991, Kapitel sechs, § 5, S. 45 f.
Siehe ebd auch Kapitel sechzehn, Vom Willen, S. 86 ff.) Alles
in allem tut man sich schwer mit der Vorstellung, dass ein
geistiges Multi - Mängel - Wesen, das zu keiner einzigen
Erinnerung willkürlichen Zugang hat, seine Vernunftbeschlüsse
wie Traumbeschlüsse fasst, und von der Vernunft her keine
körperlichen Bewegungen zu steuern vermag, dass dieses Wesen
mit der Macht des Verstandes ausgestattet und zu irgend einer
nennenswerten Form von Handlungsfreiheit fähig sein soll. Und
damit dürfte auf jeden Fall die von Hartmut Traub
angestossene Frage, welche Konsequenz eigentlich bei Spinoza
das Wissen um die Gründe des eigenen Handelns hat,
beantwortet sein: In körperlicher Hinsicht gar keine! Ob ich
meine Handlungsgründe kenne oder nicht - für den Mechanismus
meiner leiblichen Abläufe hat das keinerlei Bedeutung. Der
ist ohnehin vom Denken her nicht zu erreichen und folgt
vollständig seiner eigenen Betriebsamkeit.
Angesichts dieser Umstände kann man sich
unter mehr menschenkundlichen Gesichtspunkten, und ohne seine
zugrunde liegenden philosophisch-theologischen Basisannahmen
weiter zu thematisieren, die Frage stellen, was Spinoza
eigentlich dazu veranlasst, im Teil V der Ethik von
der Macht des Verstandes zu sprechen. Worauf gründet
sich diese Macht? Worin besteht sie? Und wie wird sie konkret
ausgeübt? Nun sagt Spinoza im Lehrsatz 3. im Teil
V. der Ethik (wohlgemerkt: dort geht es um die
Macht des Verstandes): "Ein Affekt, der
eine Leidenschaft ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein,
sobald wir von ihm eine klare und deutliche Idee bilden."
Das ist eine durchaus empirisch zugängliche Behauptung. Oder
besser vielleicht: eine empirisch prüfbare Prognose. Wissen
ist Macht! - so könnte man sein freiheitsphilosophisches
Credo hier etwas verkürzend in einem geflügelten Wort
zusammenfassen. Aufklärung befreit! Ihr Erkennen führt per
se dazu, dass unerwünschte Affekte und Leidenschaften ihren
Einfluss auf den Menschen verlieren. Dann wäre das vielleicht
ein wünschenswertes Resultat von Vernunftgründen. Wenn es
schon bei den leiblichen Handlungen damit nicht klappt, und
sie zu nichts führen, dann aber doch vielleicht im Bereich
des Seelenlebens. Wenigstens im Umfeld von Affekten und
Leidenschaften könnte man ihnen eine unmittelbare Wirksamkeit
zutrauen.
Eine erste Frage dazu, ganz pragmatisch
genommen: Trifft das zu? Verschwinden Affekte und unerwünschte
Emotionen, nur weil ich von ihnen deutlich weiss? Vielleicht
auch weiss, dass es nicht unbedingt förderlich ist, ihnen
freien Lauf zu lassen? Der Leser wird mit mir vermutlich
seufzend einwenden: Schön wär`s! - Und Spinoza selbst
scheint wohl auch nicht recht an die Durchschlagskraft seines
Konzeptes zu glauben, wenn er in den ausführlichen
Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik
beklagt, dass wir so oft "das Bessere sehen und dem
Schlechteren folgen". (Die selbe Klage erhebt er übrigens
auch in dem von Steiner in der Philosophie der Freiheit
zitierten Brief.) Da scheint doch an dem ganzen Konzept: Aus
Wissen folgt Macht etwas nicht zu stimmen! Augenscheinlich
ist dieser Gedankengang zu kurz gegriffen, wenn er sich
empirisch nicht bewährt. Es wird vermutlich etwas sehr
Wichtiges übersehen worden sein. Aus dem Wissen allein folgt
eben keineswegs ohne weiteres Macht. Menschenkundlich wäre es
naiv anzunehmen, dass lediglich aus dem Wissen allein schon
eine Befreiung von Affekten und Leidenschaften, Herrschaft gar
über dieselben erfolgt. Blosses Wissen ohne den Willen und
die Möglichkeit zur Anwendung führt ersichtlich zu
nichts. Dieser philosophische Traum, dass eine rein
intellektuelle Wissenskultur und Aufklärung den Menschen
gewissermassen automatisch zu einer autonomen und von Affekten
und unerwünschten Emotionen unbelasteten Persönlichkeit
macht, der dürfte wohl längst ausgeträumt und von der
Realität widerlegt sein. Das Wissen selbst ist allenfalls
eine Voraussetzung dazu, in seiner willentlichen Anwendung so
etwas wie Macht zu entfalten. Und das gilt auch und vor allem
für den von Spinoza hier angesprochenen Bereich der Affekte
und Leidenschaften. Blosses Wissen ohne den entschiedenen
Willen und die geeignete Grundlage es umzusetzen ist eben noch
keine Macht. Es bleibt zunächst ein impotentes
intellektuelles Vermögen, so lange sich nicht eine
entsprechend methodisch darauf abgestimmte Willenskultur daran
anschliesst; in Form einer gezielten, willentlichen seelischen
Auseinandersetzung an und mit dem erkannten Gegenstand -
sprich: den unerwünschten Emotionen, Affekten und
Leidenschaften. Das aber setzt ganz andere psychologische
Grundannahmen und eine andere pragmatische Vorgehensweise
voraus, als sie Spinoza in seiner Ethik vorlegt bzw
vorschlägt, und wäre in dem dort vorgegebenen Rahmen
unmöglich zu entwickeln. Schon aus theoretischen Gründen
nicht.
Eine Frage, die sich daran anschliesst,
ist: Wie verträgt sich dieser von uns geforderte willenshafte
und gedankengesteuerte Einfluss aber mit Spinozas Theorie der
(unmöglichen) Geist-Körper-Interaktion und der
Bewusstseinsvorgänge und Entscheidungsbildung aus dem Teil
III der Ethik? (Siehe oben) Noch im langen Vorwort
zum Teil V. der Ethik setzt sich Spinoza etwas
eingehender mit Descartes auseinander. Und gegen Ende dieser
Besprechung sagt er: " ... weil es kein gemeinsames Mass
zwischen dem Willen und der Bewegung gibt, gibt es auch kein
Vergleichen zwischen der Macht oder den Kräften des Geistes
und denen des Körpers; und folglich können die Kräfte des
einen von denen des anderen überhaupt nicht bestimmt werden."
(Man beachte neuerlich, es geht hier um um die Macht des
Verstandes) Anders gesagt: Der menschliche Geist hat laut
Spinoza auf den Körper und seine Handlungen keinerlei
willentlichen Einfluss. Das kennen wir bereits. Es entspricht
exakt dem oben schon erläuterten Lehrsatz 2 im Teil
III. der Ethik, der da lautet: "Der Körper
kann den Geist nicht zum Denken bestimmen, und der Geist nicht
den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem
(wenn es noch etwas anderes gibt)." Das heisst, eine
willentliche Interaktion zwischen Denken (Vernunftgründen)
und Körper - und das ist ja die Voraussetzung jedes vom
Denken her initiierten Handelns - wird von ihm kategorisch
ausgeschlossen. Und das bleibt wie gezeigt auch im Teil V.
der Ethik so, wo er das eigens im Vorwort wiederholt.
Wie verträgt sich das mit der angeblichen Macht des
Verstandes, von welcher dieser Teil V. der Ethik
ausdrücklich handelt? Die geforderte Grundlage
(Interaktionsmöglichkeit zwischen Denken und Körper)
Vernunfteinsichten in körperlich vollzogene Handlungen
einfliessen zu lassen, ist per definitionem nicht
vorhanden. Um es also noch einmal zu wiederholen: Nach vom
Ich autonom und willentlich gefassten reinen Begriffen oder
Gedanken (moralischen Intuitionen), wie bei Steiner, kann sich
der Körper bzw. die Handlung laut Spinoza nicht richten!
Und wie sieht das bei Entscheidungen,
Beschlüssen, Affekten und Leidenschaften aus? Nun, die
Entscheidungen und Beschlüsse - wie oben ebenfalls dargelegt
- überkommen den Mensch mittels eines
unbeeinflussbaren Erinnerungsautomatismus und ähnlichem. So
dass die Frage schon sehr virulent ist, wie er unter diesen
Verhältnissen zumindest eine Beherrschung von Affekten und
Leidenschaften noch plausibel begründen und glaubhaft machen
will, wenn er schon die denkerische Einflussnahme auf
körperliche Aktionen ausschliesst. Das Eigentümliche bei
Spinoza ist wie schon angedeutet: Vom Willen her hat der
Mensch auch im Bewusstseinsraum keinerlei wirkliche Kontrolle
und Einflussnahme, sondern die Dinge passieren wie sie eben
passieren. Das heisst: eine gezielte Interaktionsmöglichkeit
zwischen dem Denken (Vernunftgründen) und dem restlichen
Seelenleben scheint ja auch nicht vorhanden zu sein. Er
beschreibt sie in seinen empirischen Beispielen fast nur aus
dem Blickwinkel der Ohnmacht heraus. Und zwar - und das ist
interessant zu sehen - nicht nur philosophisch-theoretisch
(deterministisch), sondern auch der
Bewusstseinsphänomenologie, also der Erlebnislage nach. Es
gibt keine positiven empirischen Beispiele, nicht einmal die
simpelsten, von willentlicher Affektkontrolle,
Emotionssteuerung und Beherrschung und sonstiger aktiver
Einwirkung auf die Phänomene des Bewusstseins. -
Um ein illustrierendes Beispiel davon zu
geben, was damit gemeint ist: Ich fühle mich von jemandem
infolge einer witzigen Bemerkung über mein Aussehen leicht
gekränkt, unterdrücke dieses Gefühl aber bewusst und
erfolgreich, mit der Folge, dass ich den Kränkenden
freundschaftlich und unverkrampft umarme, und herzlich
mitlache, ohne die Kränkung zurückzugeben. Ohne meinen
aktiven Umgang mit der negativen Emotion hätte ich vielleicht
reflexhaft selber damit begonnen, auszuteilen. So aber ist die
Emotion wirklich weg, und das Ganze nimmt einen anderen
Verlauf als ohne mein Eingreifen. Anzumerken ist: Mit dem
Denken und der Einsicht allein ist es im vorliegenden Fall
nicht getan. Das kann der Leser ja selbst einmal prüfen.
Qualitativ ist dies etwas sehr anderes, als sich nur einen
deutlichen Begriff von einer unerwünschten Emotion zu machen.
Letzteres ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Sondern
man muss wirklich der Emotion aktiv etwas entgegensetzen und
ihr die Wirksamkeit nehmen. Sonst kommt nämlich keine
unverkrampfte und authentische Handlung dabei heraus, sondern
eine geschauspielerte, die man in ihrer Verspanntheit und
Gespreiztheit leicht durchschaut. Das wirkt dann etwas
verlogen. Die Emotion der Kränkung ist dann immer noch
lebendig und wird nur hinter einer umgänglichen Fassade
unsichtbar gemacht. Dass dies nicht von jetzt auf gleich zu
erreichen ist, dürfte einleuchten. Sondern es verlangt
längere Übung und innere Auseinandersetzung. Das meinte ich
in dem Hinweis auf die Willenskultur oben.
Oder ein anderes Beispiel - ein sehr
häufiger Fall der uns geläufigen aktiven Suche nach
Erinnerungen: Mir ist entfallen, wo in einem Buch ein
bestimmtes Zitat steht. Also gehe ich seinen Inhalt noch
einmal strategisch im Geiste durch, und versuche gedanklich
den Kontext einzukreisen, wo ich es wiederfinden könnte. Bis
ich es schliesslich entdeckt habe. Das lässt sich
mnemotechnisch bekanntlich vielfältig verfeinern und einüben.
Die spontane Erinnerung war zum Auffinden nicht in der Lage,
und ohne meinen aktiven Einsatz wäre das Zitat erst einmal
verloren gewesen. -
Das sind alles keine extravaganten
Beispiele von innerer Aktivität, sondern so etwas widerfährt
uns tausendfältig tagtäglich. Doch nichts davon ist bei
Spinoza vorhanden. Scheint nicht zu existieren. Er betont
ausdrücklich in den Anmerkungen zum Lehrsatz 2
im Teil III der Ethik, dass wir auf Erinnern und
Vergessen keinen Einfluss haben: "Denn es gibt noch etwas
anderes, auf das ich hier besonders aufmerksam machen möchte,"
so hebt er hervor, "dass wir nämlich aus einer
Entscheidung des Geistes gar nichts verrichten können, es sei
denn, wir erinnern uns daran. So können wir ein Wort, dessen
wir uns nicht erinnern, nicht aussprechen. Und es steht nicht
in der freien Gewalt des Geistes, sich eines Dinges zu
erinnern oder es zu vergessen." So heisst es in der
Ethik, (Meiner Ausgabe, a.a.O, Hamburg 2010, S. 235)
Und es folgt auch gleich die weitere Konsequenz daraus: "Daher
glaubt man nur, es stehe in der Gewalt des Geistes, über eine
Sache, deren wir uns erinnern, aus blosser Entscheidung des
Geistes schweigen oder reden zu können." Man möchte
fast bedauern, dass es damals anscheinend noch keine
Kreuzworträtsel gab. Von Spinoza ist das an der Stelle
zunächst einmal (die Unfähigkeit aktiv zu erinnern und zu
vergessen) bewusstseinsphänomenologisch und nicht
theoretisch-deterministisch zu nehmen. Es ist offenbar doch
ein Erfahrungsbeleg - hoffentlich. Sollte es nicht so sein,
dann umso schlimmer. Die philosophische Konsequenz daraus im
Nachfolgesatz ist allerdings und auf jeden Fall reine Theorie
und Schlussfolgerung aus dieser vermeintlichen Tatsache: Weil
wir auf das Erinnern und Vergessen keinen aktiven Einfluss
(keine freie Gewalt) haben, deswegen können wir uns auch
nicht aktiv und frei dazu entscheiden, über das Erinnerte zu
reden oder zu schweigen. - Auch hier möchte ich den Leser
auffordern, beides einmal an sich selbst zu kontrollieren, ob
das so zutrifft. Spinoza scheint diesen Zusammenhang ja für
sehr wichtig zu halten, deswegen sein betonter Hinweis darauf.
Sie folgen also seiner ausdrücklichen Empfehlung, das einmal
zu prüfen. Und glauben Sie nicht, dass Sie dazu nicht
imstande sind. - Sie können es! Anschliessend können Sie
lange darüber meditieren, warum philosophische Fehlurteile
von grosser Tragweite manchmal an furchtbar banalen Dingen
hängen. Und wie es möglich ist, dass jemand für sich in
Anspruch nimmt das Wesen Gottes zu erkennen, aber bei ziemlich
simplen Dingen des alltäglichen Lebens, die letztlich doch
die Basis von all dem sind, einigermassen krauses Zeug
erfolgert?
Die Frage nach unsererm Vermögen zum
aktiven Erinnern und Vergessen können wir mit einem klaren
"Jein" beantworten. Wir besitzen es, und auch nicht
- es kommt darauf an. Auf den Einzelfall und auf vieles
andere. Erinnern und Vergessen sind keine absoluten und
starren Grössen, die wir entweder beherrschen oder nicht.
Sondern es sind dynamische und wandelbare Eigenschaften, die
vom völligen (temporären) Unvermögen bis zu einer
bedeutenden Seelenkraft reichen, und auf jeden Fall aber
bildsam sind. Eine absolute Grenze lässt sich da nicht
gut angeben. Wo sie jeweils liegt, das hängt nicht nur an der
biologischen und sonstigen Ausstattung des Menschen, sondern
auch an dem, was er daraus macht. Wir können unter
unkontrollierten Zwangsideen und Ideenflucht leiden (der
ungünstige Fall, den Spinoza anscheinend hier im Auge hat),
aber auch Gedanken und Erinnerungen regelrecht löschen und
fortschaffen, die wir momentan oder dauerhaft nicht haben
wollen. Wir müssen sie nicht erleiden, sondern können sie
bewusst herbeizitieren und aufsuchen - und sie auch wieder
fortschicken. Beides ist möglich - unter gewissen Umständen,
die durchaus variabel und beeinflussbar sind. Diese Grenzen zu
erweitern und das Vermögen zu entwickeln ist uns als
Fähigkeit an die Hand gegeben. Das ist kein esoterisches
Geheimnis, sondern man darf das heute als selbstverständliches
Allgemeinwissen und bekannt voraussetzen. Bücher und Journale
sind voll von diesen Dingen. In unserer Gewalt also sind das
Erinnern und Vergessen innerhalb gewisser und erstaunlich weit
dehnbarer Grenzen schon. Ob das eine absolut freie Gewalt
ist, das sei erst einmal dahingestellt. Nur: Wie will man
herausbekommen, wo da die Möglichkeiten und Grenzen liegen,
wenn man diese Dinge in ihrer empirischen Tatsächlichkeit gar
nicht erst in Augenschein nimmt, und nur undifferenziert,
eindimensional und philosophisch einäugig auf das hinstarrt,
was der Mensch angeblich nicht kann, ohne sich
eingehend mit dem zu beschäftigen was er kann? Was
haben die Menschen davon, wenn sich so ein Philosoph hinstellt
und ihnen aus seiner vorgeblichen Gotteserkenntnis heraus mit
weitschweifender Logik erklärt, wie metaphysisch ohnmächtig
sie sind? Während er die tatsächliche Macht, die sie
tagtäglich erleben können, keines Blickes würdigt, darüber
aber verwickelte Theorien ausheckt, die sich schon bei den
einfachsten Dingen nicht bewähren? Und die Frage ist daher:
Warum blickt Spinoza hier in diesen langen Anmerkungen nur auf
das Unvermögen, wo er doch ebenso gut auf das Vermögen hätte
hinsehen können? Ist das für den Philosophen alles ganz
egal? War das zu seiner Zeit der Bewusstseinslage nach eben
anders als heute bei uns? Oder nur bei ihm? War es vielleicht
noch nicht in den Horizont der (wissenschaftlichen)
Aufmerksamkeit geraten, so wie in unserer Zeit die sogenannte
Umwelt plötzlich seit den 60er und 70er Jahren des
vorigen Jahrhunderts im Horizont des Bewusstseins auftauchte,
so, als hätte es sie vorher nie gegeben? Und bei manchen bis
heute dort nicht angekommen ist.
Spinoza führt in den erläuterten langen
Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik
weitläufige Begründungen und empirische Belege dafür
an, dass und warum das alles im Bewusstsein so eigendynamisch
und unzugänglich sein soll. Und der Blick ist vorzugsweise
auf einen Automatismus der Bewusstseinsvorgänge
gerichtet - von den zombiehaften körperlichen Aktionen und
Wunderleistungen, die er dort ebenfalls argumentativ bemüht,
gar nicht erst zu reden. Man erinnere sich nur an seinen
grandios-paradoxen Vergleich von geträumten und wachen
Entscheidungen. Ein wirklich spektakulärer Fall, in dem das
Ganze gipfelt, und insofern besonders herausfordernd und
geeignet, sich darüber Gedanken zu machen! Heutzutage muss
uns so etwas einfach grotesk erscheinen. Und die Frage ist
schon angebracht: Warum bemerkt er angesichts seines
philosophischen Scharfsinnes den gewaltigen Unterschied
zwischen wachen und geträumten Entscheidungen nicht, sondern
setzt sie gleich? Denn immerhin sind Entscheidungen und
Beschlüsse Denkvorgänge! Träumt er beim Denken? - Steiners
Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des Denkens bekommt
angesichts solcher Verhältnisse noch einen ganz anderen
Akzent, als man ihn gewöhnlich beim Studium seiner
Grundschrift damit verbindet. - Und mit Blick auf Spinoza
lässt sich weiter überlegen: Steht hinter seinem Unvermögen
sachlich zu differenzieren bloss philosophische
Betriebsblindheit, oder existiert dafür auch eine
Erfahrungsbasis? Ist die ganze Ohnmacht einfach nur erdacht,
weil sie so gut in sein Determinismuskonzept passt, und sind
die empirischen Gegenbeispiele taktisch herausselektiert
worden, um das philosophische Konzept nicht zu gefährden?
Oder ist sie tatsächlich so oder ähnlich von ihm erlebt, und
deswegen vielleicht sein Konzept des Determinismus von ihm
erdacht worden?
Solche Fragen scheinen mir keine
philosophischen Nebenschauplätze zu sein, die eher in eine
philosophiegeschichtliche Psychologie gehören. Jedenfalls ist
zu bemerken: Das zentrale Element der direkten willenshaften
Einflussnahme eines gedankenklaren Ich auf Vorgänge
des Bewusstseins (Denken, Erinnern, Emotionen etc) und auf
Vorgänge des Leibes (besser: Handlungen), fällt bei Spinoza
weitestgehend, - um nicht zu sagen: gänzlich - unter den
Tisch. Was bleibt ist eine doch eher glaubensartige, und gar
schon nach seinem eigenen Eingeständnis wenig realistische
Überzeugung dahingehend, dass auf der Basis von Wissen die
Leidenschaften quasi von selbst verschwinden. Während Steiner
doch wesentlich auf dem Element der autonom willentlichen
Aktivität aufbaut. Siehe etwa PdF, Kap III: ": ...
es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem es
sich vollzieht, vor dem "Ich" nicht restlos als
seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint. Man
muß sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit
des Denkens erscheint dieses dem Beobachter als durch und
durch gewollt." (GA-4, Dornach 1978, auch 1995, S. 55)
Nicht, dass Steiner hier etwa behauptet der Mensch habe die
volle Kontrolle über sämtliche leiblichen und seelischen
Vorgänge. Keineswegs! Aber er hat zumindest eine volle
willentliche und sachliche Kontrolle über die
Aktivität seines Denkens und der Beschlussbildung. - Da wird
nicht geträumt. Und von dort her ergibt sich zumindest
insoweit eine Einflussnahme auf leibliche Handlungen, dass sie
im beschlossenen Sinne verlaufen können. Dass diese
willentliche Einflussnahme Steiners im Rahmen des
anthroposophischen Übungsweges dann weiter systematisch und
methodisch auf sämtliche Vorgänge des Seelenlebens (Denken,
Fühlen, Wollen) vertieft und ausgeweitet wird, mit
entsprechenden Folgen für das Erkennen und Handeln, das sei
nur der Vollständigkeit halber erwähnt, aber es soll davon
hier nicht mehr ausführlicher die Rede sein. Jedenfalls wäre
Vergleichbares bei Spinoza schon wegen seiner
deterministischen und psychologischen Grundannahmen ganz und
gar ausgeschlossen.
Hartmut Traub scheint das alles nicht
bekannt zu sein, obwohl sein Buch den Titel trägt Philosophie
und Anthroposophie. Es gibt bei Spinoza keine ernst zu
nehmende und vom Ich ausgehende Entwicklung zur
Freiheit. So etwas wie autonome (Selbst)Entwicklung zu denken,
oder dem Menschen gar eine aktive Rolle innerhalb einer
irdischen oder mehr noch: kosmischen Evolution zuzuweisen, das
scheint ihm (noch) völlig unmöglich zu sein. Was er dem
Menschen zutraut ist lediglich, sich via empirisch
einigermassen fragwürdiger, weil auf dem alleinigen Wege von
Einsicht zu erwerbenden Affektkontrolle der gänzlich
vorausbestimmten göttlichen Weltordnung zu fügen, und
auf diese Weise in einer höchsten Erkenntnisstufe so etwas
wie "höchste Zufriedenheit" zu erlangen, "die
es geben kann". (Siehe dazu Lehrsatz 27 im Teil
V. der Ethik. Man verwechsle dies nicht mit
Steiners höchster Erkenntnisstufe, die methodisch ganz anders
zu erwerben ist und zu anderen Resultaten kommt. Und auch
nicht primär zu höchster Zufriedenheit führt, weil dies
nicht ihr Anliegen ist. Sondern dem Menschen ungeheuer viel
Verantwortung für sich und die Welt aufbürdet, und an sein
Handeln appelliert, im Sinne dieser Verantwortung zu wirken.
Der Handlungsappell vor allem steigert sich ins Unermessliche.
Mit Zufriedenheit hat das alles bei Steiner relativ
wenig zu tun. Vielmehr sieht der Mensch auf diesem Wege vor
allem auch, was alles noch zu leisten ist, und wie wenig er
davon bisher erreicht hat. Um dies zu ertragen und dem
Selbstappell erfolgreich zu folgen benötigt er allerdings des
inneren Gleichgewichtes wegen schon kompensatorisch eine
extreme Form von Gedankenklarheit, Gelassenheit, Geduld,
Ausdauer, Umsicht, Selbstkontrolle, Mut und vor allem Liebe,
was zu erwerben ein massgeblicher Teil des Steinerschen
Übungsweges ist, der sowohl für das Erkennen selbst benötigt
wird, als auch für die individuellen Folgen davon. Natürlich
geht es Steiner gleichermassen um Erkenntnis auf hohen Stufen.
Aber sie kann in seinen Augen unmöglich abgelöst werden von
allen übrigen Eigenschaften und Parametern der menschlichen
Persönlichkeit. Da sie andernfalls Gefahr läuft sich zu
vereinseitigen und ins Destruktive und Illusionäre
abzugleiten. Vielversprechende und gedeihliche höhere
Erkenntnis ohne diese begleitende Selbstentwicklung kann es
bei Steiner nicht geben.)
Unterwerfung, und nicht autonome
Selbstentwicklung oder gar aktive Teilhabe an der Schöpfung
lautet die Devise Spinozas. Er kann seinem Schicksal im
günstigsten Fall einsichtsvoll zusehen und es in
Zufriedenheit akzeptieren wie es ist. Aber er kann es nicht
aktiv in die Hand nehmen und getalten. Und selbst diese vom
Subjekt gebilligte Unterwerfung wäre gemäss der inneren
Architektur von Spinozas Gedankengebäude prädeterminiertes
Resultat der alleinigen Wirksamkeit eines alles verursachenden
göttlichen Wesens. Da ist nichts drin, was originär aus dem
Menschen selbst kommt. Alleinige Folge göttlicher
Vorhersehung und Schicksalsbestimmung. Einzige und eigentliche
Ursache von allem was geschieht und was gedacht wird ist
letztlich doch nur einer: - der Allmächtige. Dies alles das
Resultat eines Wesens, das in Steiners Augen nichts anderes
sein kann als ein rein logisches Konstrukt eines
schlussfolgernden philosophischen Denkens. Dessen Architekt
(Spinoza) nach Steiners Einschätzung kein Bewusstsein davon
hat, dass "der Mensch das Bild, unter dem er sich diese
Notwendigkeit [Wesensnotwendigkeit Gottes, MM] vorstellt,
seinem eigenen Inhalte entnimmt" (s. o.). - Alles
zusammen genommen das Ergebnis einer gigantischen
theoretischen (logisch-mechanistischen) Selbstblendung, die
den empirisch offenbaren schöpferisch-lebendigen Eigenanteil
des Ich an der Gedankenbildung und im Handlungsprozess
hartnäckig übersieht, und den Menschen infolgedessen zu
einem willenlosen Sklaven seines erdachten Gottes degradiert.
Anstatt zu bemerken, dass in der geistigen Gestaltungs- und
Selbstgestaltungsfähigkeit des Menschen selbst so etwas wie
ein göttliches Element unmittelbar vorhanden ist. Dieser also
keineswegs schicksalhaft dazu vergattert ist, lediglich den
ohnmächtigen Lakaien und Automaten eines logisch postulierten
allbestimmenden Herrn abzugeben. Weil er er in seiner
schöpferischen Potenz, in seiner Entwicklungs- und
Selbstentwicklungsfähigkeit, wenn auch keimhaft, selbst das
freischöpferische göttliche Element in sich trägt. Und zwar
der Anlage nach wirksam in sämtlichen Aspekten und
Dimensionen seines geistigen, seelischen und materiellen
Lebens.
Wer den aufschlussreichen, von Steiner in
der Philosophie der Freiheit zitierten Brief Spinozas
einmal studiert, und zwar vollständig, einschliesslich jener
Passagen, die Steiner nicht in sein Zitat aufgenommen hat, der
kann sich davon überzeugen, dass Spinoza nicht entfernt daran
denkt, dem Menschen so etwas wie Entwicklungsfähigkeit zur
Freiheit beizulegen. Sondern seine Sichtweise dort ist durch
und durch deterministisch und fatalistisch. Statisch und
starr. - Wenn man so will ein Determinismus der krudesten Art:
nicht nur materiell, sondern auch spirituell. (Im Internet im
Original, so wie er Steiner vorgelegen hat, erreichbar unter:
[http://archive.org/details/diebriefemehrer00spingoog]
Der von Steiner zitierte Brief Nr 62 findet sich auf S.
203 ff) Dieser Brief ist, das kann man wohl sagen, ein auf
wenige Seiten verdichtetes Konzentrat der Spinozistischen
Freiheitslehre, und zeigt, dass Steiner doch einen recht
präzisen Blick für das Wesentliche dieser Lehre hatte. Sonst
hätte er diese Auswahl vermutlich nicht getroffen. Eine
Bemerkung dazu am Rande: Dieser von Steiner zitierte Brief
trifft Spinozas Freiheitsphilosophie so genau, dass der
Stuttgarter Kröner-Verlag ihn 1955 in einer kürzeren
Werkausgabe Spinozas als einziges und kennzeichnendes
Briefbeispiel für diese Freiheitsphilosophie auszugsweise
abdruckt. Das ist schon sehr bezeichnend. (Siehe: Spinoza, Die
Ethik : Schriften und Briefe; Hrsg. von Friedrich Bülow.
Stuttgart: Kröner, 1955; S. 334 ) Merijn Fagard wird sich in
absehbarer Zeit auf dieser Website ausführlicher zu diesem
Brief Spinozas äussern, und ich kann dem Leser jetzt schon
eine erhellende und an Überraschungen reiche Lektüre
garantieren. Mit der wenig tief schürfenden Feststellung
Traubs, Spinoza lasse auch eine Erkenntnis der Ursachen des
Handelns zu wie Steiner, ist letztlich doch nicht viel
gewonnen. Es kommt schon noch auf ein paar andere wichtige
Details an. Bewusstseinsphänomenologisch und auch auf der
philosophischen Ebene, das kann man mit Fug und Recht
behaupten, leben Steiner und Spinoza in völlig verschiedenen
Welten, die miteinander nicht kompatibel sind. Und betroffen
ist davon so gut wie alles, was sie zum Thema Erkennen und
Freiheit ausführen. Angesichts dessen klingt Traubs
Behauptung von Seite 272 seines Buches, Steiner renne bei
Spinoza offene Türen ein, doch reichlich bizarr.
Steiners Spinozakritik scheint mir also
ganz und gar nicht das "peinliche" und absehbare
Ergebnis eines Versuchs bei Spinoza offene Türen
einzurennen, wie Traub S. 272 mit Blick auf die von
Spinoza erwähnten Vernunftgründe des Handelns seinem Leser
erklärt. Denn tatsächlich ist der angeblich freie Geist
Spinozas dem Erkenntnis- und Gottesverständnis Spinozas
zufolge eingepfercht in ein System aus Zwangshandlungen. Der
Mensch ist einer umfassenden (materiellen und geistigen) Natur
vollständig ausgeliefert und kann dementsprechend von sich
aus nichts unternehmen, was seinem Glück oder Heil dienlich
ist: "Wir sehen also, daß der Mensch als ein Teil der
gesamten Natur, von der er abhängt und von der er auch
regiert wird, aus sich selbst nichts zu seinem Heil und Glück
tun kann. " (Spinoza, kurze Abhandlung von Gott, dem
Menschen und dessen Glück, in der Meiner Ausgabe, S. 93,
Kap 18, § 1) Und ebendort in der Anmerkung 3,
S. 89: "Weil es also kein Ding gibt, das
irgendwelche Kraft hätte, sich zu erhalten oder etwas
hervorzubringen, bleibt nichts anderes übrig, als zu
schließen, daß Gott allein die wirkende Ursache aller Dinge
ist und sein muß und daß alles einzelne Wollen von ihm
bestimmt ist." Folglich kommt es nicht von ungefähr,
wenn Spinoza das Verhältnis des Menschen zu Gott in der
Metaphorik der Sklaverei fasst. Denn es " ... folgt
daraus, daß wir in Wahrheit Diener, ja Sklaven Gottes sind,
und daß es unsere grösste Vollkommenheit ist, es notwendig
zu sein." (Ebd., S. 93, § 2) Und ebendort, S. 95, § 8:
„Denn hierin besteht eigentlich der wahre Gottesdienst und
unser ewig Heil und Glückseligkeit. Denn die einzige
Vollkommenheit und der letzte Zweck eines Sklaven und eines
Werkzeugs ist, daß sie den ihnen auferlegten Dienst gehörig
verrichten." An anderer Stelle wiederum wird dem Leser
berichtet, Spinoza habe erkannt, „daß die Seele nach
bestimmten Gesetzen handelt und eine Art geistiger Automat
ist“ (Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des
Verstandes § 85, in der lateinisch-deutschen
Studienausgabe des Meiner Verlages, Hamburg, 2003, S. 79.)
Woher kommen diese Bilder von Sklaven, Werkzeugen und
geistigen Automaten?
Zusammengefasst: "Von allen übrigen
uns bekannten Naturdingen unterscheidet sich der Mensch durch
das Vermögen des Denkens; ...dieses macht ihn zum Menschen.
Aber sowohl mit seinem Körper als auch mit seinem Geist ist
der Mensch integraler Teil der Natur ... und damit deren
(jeweiligen) Gesetzen vollständig unterworfen. Wie der Körper
gehört auch der Verstand zur "natura naturata";
...die Seele ist "sozusagen ein geistiger Automat"
... und mit allen ihren Äußerungen, auch den "höchsten"
in Kunst und Wissenschaft, Religion und Philosophie, den
Naturgesetzen, d. h. den Gesetzen ihrer Natur vollständig
unterworfen. Kurz: auch in seinem gesamten Denken, Wollen und
Handeln ist der Mensch notwendig und vollständig durch die
Gesetze seiner (jeweiligen) Natur determiniert." Georg
Geismann, Spinoza jenseits von Hobbes und Rousseau, in:
Zeitschrift für philosophische Forschung, 43,1989, S 405
f) Dass Steiner dies kritisiert wird man ihm nicht als
Naivität oder Verwechselung von wirklicher mit illusionärer
Freiheit bei Spinoza vorhalten können.
Im Kern wurzeln alle diese Zwangshandlungen
Spinozas in der Wesensnotwendigkeit und Vollkommenheit eines
Gottes, den er in der Ethik auf der Basis logischer
Zwänge (nach geometrischer Ordnung) erschliesst. Er steht
folglich in dem permanenten Dilemma sich entweder den
Nötigungen der Vernunft oder den Nötigungen der Affekte zu
unterwerfen. Und schliesslich gezwungenermassen ein
höchstes Wesen (Gott) zu lieben, das ihn selbst weder
lieben noch hassen kann, weil das in Gottes Natur nicht
vorgesehen ist. (Siehe dazu Lehrsatz 17 im Teil V. der Ethik)
- Als theoretisches Fundament in ein pädagogisches
Gesamtkonzept implementiert zweifellos eine gute Grundlage für
psychopathologische Entwicklungen aller Art. Oder um es etwas
moderater in den Worten Steiners zu formulieren: "Und was
wäre denn dieser ganze Mensch wirklich, wenn die Behauptung
des Spinoza wahr wäre, daß alles dasjenige, was der Mensch
tut und erlebt, so notwendig wäre, wie, wenn eine
Billardkugel von einer anderen getroffen wird, diese andere,
zweite, mit einer gewissen Notwendigkeit nach gewissen
Gesetzen weiterfliegt. Wenn das so wäre, dann könnte der
Mensch nimmermehr ertragen eine solche Weltordnung. Wie wenig
sie zu ertragen wäre, das würden insbesondere diejenigen
Naturen zu empfinden haben, die «alle Wirkenskraft und Samen»
schauen!" (GA 163, Dornach 1986, S. 54, Vortrag Dornach
28. August 1915)
Mehr theologisch betrachtet könnte man den
Eindruck gewinnen, als habe sich Spinoza eher an einem
mitleidlosen, alttestamentarischen Vatergott der strengen
Gesetzgebung und Notwendigkeiten orientiert. (Betrachtet man
seinen logisch-mechanistischen Denkansatz, so käme man vor
dem anthroposophischen Hintergrund unschwer auf so etwas wie
eine ahrimanische Wesenheit, die ihn vorzugsweise
inspirierte.). Steiner hingegen eher am christlichen Gott der
(Nächsten)Liebe - das heisst: an der Christuswesenheit. Und
eine weitergehende Fage, gewiss auch im Sinne Hartmut Traubs,
wäre: Welchem Gott folgt eigentlich Goethe? Dem Christengott
der Liebe oder dem Gott der Notwendigkeiten des Philosophen
Spinoza, dem er so vielerlei Anregung verdankt? Und wie
spiegelt sich das gegebenenfalls in seiner (Goethes), - und
dadurch vermittelt -, wiederum in Steiners, vor allem dessen
früher Weltsicht wieder?
Als weitere Studienempfehlung kann ich dem
Leser hier besonders Steiners Die Rätsel der Philosophie,
GA-18, Dornach 1985 ans Herz legen. Steiner setzt sich da
an sehr vielen Stellen mit Spinoza auseinander. Zumeist in
Verbindung mit der Besprechung anderer Philosophen. Erkennbar
wird dort, was ich bislang schon angedeutet habe. Was Steiner
an Spinozas Freiheitsverständnis vor allem bemängelt ist
dessen Verquickung von Freiheit und Notwendigkeit, wie
sie in GA 18 exemplarisch auf S. 230 f aus einer Erörterung
Schellings hervorgeht: "Die menschliche
Einzelpersönlichkeit lebt in dem geistigen Urwesen und durch
dieses; dennoch ist sie im Besitze ihrer vollen Freiheit und
Selbständigkeit. Diese Vorstellung betrachtete Schelling als
eine der wichtigsten innerhalb seiner Weltanschauung. Wegen
dieser Vorstellung glaubte er in seiner idealistischen
Ideenrichtung einen Fortschritt gegenüber früheren
Anschauungen erblicken zu dürfen: weil diese dadurch, daß
sie das Einzelwesen im Weltengeiste gegründet sein ließen,
es auch ganz allein durch diesen bestimmt dachten, ihm also
Freiheit und Selbständigkeit raubten. <<Denn bis zur
Entdeckung des Idealismus fehlt der eigentliche Begriff der
Freiheit in allen neueren Systemen, im Leibnizischen so gut
wie im Spinozischen; und eine Freiheit, wie sie viele unter
uns gedacht haben, die sich noch dazu des lebendigsten Gefühls
derselben rühmen, wonach sie nämlich in der bloßen
Herrschaft des intelligenten Prinzips über das sinnliche und
die Begierden besteht, eine solche Freiheit ließe sich nicht
zur Not, sondern ganz leicht und sogar bestimmter auch aus dem
Spinoza noch herleiten.>>"
Für Leser, die mit Steiners
Gedankenwelt etwas näher vertraut sind: Eine sehr
viel weitergehende und intimere Betrachtung der Persönlichkeit
Spinozas im Lichte der Weltanschauung Rudolf Steiners zeigt,
dass der Philosoph Spinoza, so wie er oben gezeichnet worden
ist, - und infolge dieser groben Zeichnung ist vielleicht
einiges an Unbehagen, Ablehnung oder Irritation über diese
Persönlichkeit hervorgerufen worden -, durchaus
Überraschendes zu bieten hat. Denn Spinoza ist, - der
Auffassung des späteren Steiner zufolge -, dieselbe
Individualität, die sich später in Johann Gottlieb Fichte
inkarnierte. Rudolf Steiner macht dies in verschiedenen
Vorträgen deutlich. (Siehe etwa GA-88, Dornach 1999, S. 184:
"Als Beispiel für eine regelmäßige Entwicklung einer
Individualität können wir betrachten einen Zeitgenossen von
Jesus, Philo von Alexandrien. Seine Individualität kam wieder
als Spinoza und dann als Johann Gottlieb Fichte. Wir haben
hier also eine durchgehende Individualität in drei
Persönlichkeiten. Liest man Fichte ohne Kenntnis dieser
Vorgänge, so versteht man ihn nur wenig. Mit dieser Kenntnis
aber findet man, daß seine Worte mit Feuerschrift geschrieben
sind. Alle diese großen Geister haben eine regelmäßige
Entwicklung durchgemacht." Siehe auch GA 158, Dornach,
1993, S. 213: "Wer würde nicht unter scheiden können
den eigentümlichen Grundton Fichtes, des mitteleuropäischen
Philosophen, und den eigentümlichen Grundton Spinozas, der ja
auch ein europäischer Philosoph war. Es ist sogar in der
Menschheitsevolution so, daß dasjenige, was der allgemeinen
Kultur angehört, von derselben Individualität getragen
werden kann. Denn dieselbe Individualität ist ja Spinoza und
Fichte, wie vielleicht schon einige unserer Freunde wissen.
Aber Fichte ist als einzelne Persönlichkeit des 18., 19.
Jahrhunderts ein Geist, der durchdrungen werden konnte von der
ganzen Kraft des Christus-Impulses; Spinoza, also dieselbe
Individualität, steht aber in der andern Strömung darinnen
und hat nichts davon.") Und Johann Gottlieb Fichte
wiederum war, - wie uns dies Hartmut Traub mit einigem Recht
und oftmals sehr guten Gründen, und manchmal bis zum
Überdruss versichert -, auch für Rudolf Steiner ein ganz
wesentlicher Vorläufer der Anthroposophie, dem Steiner und
die Anthroposophie viel verdanken. Unter einem gewissen
Blickwinkel könnte man, wenn man von Steiners ganz
individuellen Voraussetzungen einmal absieht, Fichtes Werke
als einen der ursprünglichen philosophischen Quellorte der
anthroposophischen Geisteswissenschaft bezeichnen. Das wissen
wir von Steiners autobiographischen Äusserungen selbst.
(Siehe Rudolf Steiner, Briefe I., herausgegeben von Edwin
Froböse und Werner Teichert, Dornach 1948. Dort den mit
Genehmigung von Marie Steiner abgedruckten autobiographischen
Vortrag Steiners vom 4. Februar 1913 in Berlin. S. 1 ff,
insbes. S. 33 ff. [Im Internet in leicht überarbeiteter Form
erreichbar unter
http://www.anthroposophie.net/steiner/Lebensgang/bib_steiner_lebensabriss.htm
Ebenso unter http://bdn-steiner.ru/cat/Beitrage/D83_84.pdf
]) Interessant ist in diesem Zusammenhang zu sehen, mit
welcher Energie Fichte sein Erkenntnisinteresse auf etwas
richtet, wofür Spinoza allem Anschein nach vollkommen blind
war: Auf die Aktivität des denkenden und handelnden
Ich. Vermutlich hat Hartmut Traub sogar auch darin recht, wenn
er sagt, Steiner fusse weltanschaulich weit mehr auf Fichte
denn auf Goethe. Eine ernst zu nehmende und diskutable These
ist das allemal. Vor allem vor dem Hintergrund der eben
erwähnten autobiographischen Skizze Steiners. Und zumindest
methodisch lässt sich zeigen, dass Fichte im Gegensatz zu
Goethe eine absolut zentrale Figur für Steiner war.
Insofern nämlich, als es Fichte war, der die philosophische
Aufmerksamkeit so sehr auf die Beobachtung des Denkens -
genauer: auf die Tathandlung des Ich beim Denken - gerichtet
hat, auf der die anthroposophische Empirie des Geistes
eigentlich aufbaut. Und daran (an die Beobachtung des
Denkens) knüpft Steiner in der Anthroposophie (vor allem
schon in den philosophisch geprägten Frühschriften) ganz
explizit und eindrücklich methodisch an. Steiners Methode der
wissenschaftlichen Geistesforschung ist ohne die
Beobachtung des Denkens weder möglich noch vorstellbar.
(Wobei anzumerken ist: Was Hartmut Traub zu diesem Thema -
wissenschaftliche Geistesforschung - schreibt, ist im
wesentlichen nichts als Nonsens. Er hat von diesem Aspekt der
Anthroposophie so gut wie nichts verstanden.) Während Goethe
demgegenüber einer bekannten Bemerkung zufolge, angeblich nie
über das Denken gedacht hat, - einer der wenigen wirklich
markanten Anlässe für Steiner, an Goethe ernsthaft Kritik zu
üben. Wobei er beides moniert: Sowohl dessen mangelndes
Erkenntnisinteresse dem Denken gegenüber, wie auch die daraus
resultierende fehlende Einsicht bezüglich der Freiheit.
(Siehe Goethes Weltanschauung, GA06, Dornach 1990, S.
84 ff). Jedenfalls hat Goethe niemals eine Weltanschauung
darauf gegründet wie Fichte oder Steiner. Da war Spinoza in
der neuen Gestalt Fichtes offensichtlich - zumindest in dieser
Frage - weiter als Goethe. Nimmt man hinzu, dass Spinoza
gewissermassen als eine philosophische Leitfigur Goethes
wiederum von dieser rezeptiven Seite in Steiners
philosophischen Gedankengängen, vor allem in seinem frühen
Idealismus einigen prägenden Eingang gefunden hat, dann
bekommt die Frage nach dem Verhältnis von Steiner zu Spinoza
noch eine vollkommen andere Dimension, als sie einer
vordergründigen rezeptionsgeschichtlichen Betrachtung
zugänglich ist.
*
Zurück zu Popper: Hier zeigt sich nicht
nur die bemerkenswerte Kraft des Popperschen Argumentes,
sondern auch die unglaublich enge Verquickung der
Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage. Denn für die
Anerkennung Gottes wie jedes anderen Geistwesens, dessen
manipulative Existenz vom spirituellen Fatalisten
vorausgesetzt wird, gilt das Prinzip seiner rationalen
Begründbarkeit. Ein Gott, für dessen Existenz es keine
Argumente gibt, ist eine leere und nichtssagende Hypothese.
Dasselbe gilt für alle anderen Entitäten der geistigen Welt,
von denen der Mensch möglicherweise gesteuert werden könnte.
An diese Entitäten kann dann nur noch unbegründet geglaubt,
aber nicht von ihnen begründet gewußt werden. Das
begründete Wissen wiederum setzt die Überzeugung von der
logischen Gültigkeit und Verbindlichkeit der Gründe des
Wissens voraus und damit implizit den Freiheitscharakter des
Erkennens. Im Sinne Poppers ließe sich dazu sagen: «Wenn wir
glauben, wir hätten eine Theorie wie den geistigen
Determinismus wegen der logischen Kraft bestimmter
Argumente angenommen, dann täuschen wir uns gemäß der
Theorie des geistigen Determinismus; oder genauer: Wir
befinden uns in einem geistigen Zustand, der uns dazu
bestimmt, uns zu täuschen.» Das heißt bei Annahme eines
geistigen Determinismus bricht überhaupt das ganze
Begründungsgebäude nicht minder zusammen wie bei Annahme
eines physikalischen Determinismus. Es gibt dann weder
rationale Gründe für noch gegen den Geist, womit
zwangsläufig auch die These vom geistigen Determinismus
nichtig wird und nur noch den Status einer Glaubenüberzeugung
oder unbegründeten geistigen Ideologie einnimmt. Das heißt:
im Vollzug des Erkenntnisprozesses kann der Mensch weder
materiell noch geistig durchgängig determiniert sein. Wäre
er es, dann würde er nicht erkennen, sondern hätte lediglich
den Charakter eines subtilen Automaten, der im einen Fall
physikalisch, im anderen Fall geistig einen Prozeß vollführen
muß, auf den er nicht den geringsten Einfluß hat. Im
zweiten Fall wird der Mensch zum willenlosen Subjekt, Werkzeug
bzw Knecht des Geistes bzw der Idee. (Ein Gott, der dem
Menschen keine Freiheit gewährt, sondern ihn bis in jedes
kleinste Detail beherrscht, könnte von diesem gar nicht
erkannt werden. Auch nicht in marginalen Einzelheiten seiner
Gottesnatur.)
Die Freiheit gegenüber der geistigen Welt
verlangt also nicht minder nach einer Begründung wie die
Freiheit gegenüber der materiellen Welt. Und in beiden Fällen
wurzelt die Begründung der Freiheit in der Erkenntnistheorie,
die nicht nur unserer Überzeugung von den materiellen Dingen
sondern auch von den geistigen Dingen die Rechtfertigungsbasis
liefert.
Beide Fälle hat Rudolf Steiner mit der
Philosophie der Freiheit im Auge. Eben auch den Aspekt
der Freiheit von geistigen Determinationen. Schlaglichtartig
kommt dies zum Ausdruck, wenn er dort am Ende der Schrift im
zweiten Anhang zur Neuausgabe von 1918 schreibt: "Man muß
sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst
gerät man unter ihre Knechtschaft." (Die analoge
Stelle am Ende des ersten Kapitels der Erstausgabe lautet
weniger zurückhaltend: "Man muß sich der Idee als Herr
gegenüberstellen, sonst gerät man unter ihre
Knechtschaft.") Und auf S. 177 heisst es: "Wie der
materialistische Dualist den Menschen zum Automaten macht,
dessen Handeln nur das Ergebnis rein mechanischer
Gesetzmäßigkeit ist, so macht ihn der spiritualistische
Dualist (das ist derjenige, der das Absolute, das Wesen an
sich, in einem Geistigen sieht, an dem der Mensch mit seinem
bewußten Erleben keinen Anteil hat) zum Sklaven des Willens
jenes Absoluten."
|
Wenden wir den Blick kurz zurück auf die
Abschnitte I und II dieser Arbeit, dann können wir festhalten:
Popper macht hier der Sache nach die selben Argumente geltend wie
Steiner, wenn dieser im dritten Kapitel der Philosophie der
Freiheit (S. 44 f) sagt: "Diese durchsichtige Klarheit
in bezug auf den Denkprozeß ist ganz unabhängig von unserer
Kenntnis der physiologischen Grundlagen des Denkens. Ich spreche
hier von dem Denken, insoferne es sich aus der Beobachtung
unserer geistigen Tätigkeit ergibt. Wie ein materieller Vorgang
meines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt, während
ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in
Betracht. Was ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang
in meinem Gehirne den Begriff des Blitz es mit dem des Donners
verbindet, sondern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in
ein bestimmtes Verhältnis zu bringen. Meine Beobachtung ergibt,
daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach
dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach
den materiellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich mich."
Der argumentative Kontext im engeren Sinne ist bei Popper die
Logik. Bei Steiner ist es vordergründig die durch Beobachtung
feststellbare Tatsache, daß sich das intuitive Denken in
seinem Fortgang ausschließlich nach begrifflichen Inhalten
richtet. Der Sachlage nach liegt aber die Argumentation in beiden
Fällen auf der gleichen Ebene. Denn der von Popper ins Feld
geführte Beweisgang: «Logische Erwägung ist überhaupt nur
möglich wenn und weil das begriffliche Denken von den kausalen
Vorgängen des Organismus unabhängig ist», setzt voraus, daß
sich das Denken nach begrifflichen Inhalten richten kann und
nicht von den physiologischen Bedingungen seine Bestimmungen
erhält. Das heißt, er spricht hier von denselben grundlegenden
Tatsachen, die bei Steiner unter die Rubrik Intuitives
Denken; Woher erhält dieses seine Bestimmungen?; Und in
welchem Verhältnis steht es zu unserer leiblichen Organisation?
fallen. Es ist nur konsequent und liegt in der Natur dieser
Sache begründet, wenn Popper gemeinsam mit Eccles den
erheblichen hirnphysiologischen Impikationen dieser Faktenlage
nachzugehen versucht.
(Bemerkung vom 09.08.05: Man kann natürlich
in dieser kurzen Gegenüberstellung nur einige wenige Aspekte
berücksichtigen, die für einen Vergleich zwischen Steiner und
Popper in der diskutierten Frage von Belang sind. Ich sage das
extra, um den Gedankengang nicht zu arg zu verkürzen. Was bei
Steiner unter allen Umständen zu berücksichtigen ist, das ist
die sich selbst tragende und erklärende Eigenschaft des Denkens.
Dafür gibt es bei Popper, soweit ich bislang sehe, nichts
vergleichbares. Er hätte diesen Aspekt vermutlich an die von ihm
nicht übermäßig hoch geschätzte Denkpsychologie verwiesen.
Einer Wissenschaft, der er in jungen Jahren als Schüler Karl
Bühlers noch nahe gestanden hatte. Die er aber, frustriert von
ihrem unreifen methodischen Instrumentarium, sehr bald verließ,
um sich den aussichtsreicheren Naturwissenschaften philosophisch
zuzuwenden. Eine kontrastierende Abklärung zwischen den
logischen Gedankengängen Poppers und Steiners wäre eigentlich
ein (Teil)-Thema einer umfangreichen Arbeit - etwa einer
Dissertation. Und als solche durchaus interessant und
erfolgversprechend.)
Manche Philosophen, die sich
um das ausgehende 19. Jahrhundert mit dem Verhältnis von Logik
und Naturkausalität befaßt haben, waren in dieser Hinsicht
zielbewußter als etwa Peter Bieri. Karl Popper habe ich hier nur
pars pro toto angeführt. Tatsächlich führt die Frage nach der
Freiheit noch sehr viel tiefer in Erkenntnisfragen hinein bis hin
zu den Grundlagen von Logik und Erkenntnis überhaupt. Sehr viel
tiefer noch, als bei Popper auf den ersten Blick deutlich wird.
Aber es ist ein sehr plastisches, sehr drastisches und
folgerichtiges Beispiel, das er hier gibt. Die problematische
Beziehung zwischen logischen Gründen einerseits und
Kausalgründen andererseits findet in der Erkenntnistheorie und
Logik einen regelrechten Kulminationspunkt. Und dort zeigt sich,
daß ein durchgängiger physikalischer Determinismus eine rein
logisch begründete Einsicht nicht nur ausschließt, sondern die
Grundprinzipien des Erkennens selbst zerstört und mit ihnen -
wie es Popper andeutet - auch die Möglichkeit für den
Determinismus zu argumentieren, weil es dann gar keine Argumente
mehr gibt. Der Determinist weiß es nur noch nicht, oder will es
vielleicht auch gar nicht wissen. Anders gesagt: Der
physikalische Determinismus des Erkennens ist mit den
Grundprinzipien von Logik und Erkenntnis, auf die sich der
Physikalist inkonsequenterweise selbst beruft, absolut
unverträglich. Die Frage nach der Freiheit des Erkennens ist
also - wie bereits gesagt - eine der Schlüsselfragen der
Freiheitsphilosophie schlechthin. Und sie ist auch - was den
Physikalisten mit Recht sehr beunruhigt - eine physikalische
Schlüsselfrage. Denn falls es sich so verhält, daß unser
Erkennen kein Epiphänomen der Hirnphysiologie, sondern unser
eigenes von logischen Gründen geleitetes freies Tun ist,
dann ist in der Tat das physikalische Weltbild der Gegenwart
betroffen und in Frage gestellt. Denn Freiheit des Handelns und
Erkennens schließt eine durchgängige und lückenlose
Naturkausalität aus, und untergräbt damit eine der stabilsten
Grundüberzeugungen der gegenwärtigen Physik: den
Energieerhaltungssatz. 3) (Siehe hierzu auch
Anmerkung 1)
Anmerkungen:
1) Vor allem
in den Kritiken an der Philosophie des Geistes von Popper und
Eccles (Karl R. Popper, John C. Eccles, Das Ich und sein
Gehirn, München, 1982. Ebenso John C. Eccles, Daniel N.
Robinson, Das Wunder des Menschseins - Gehirn und Geist,
München 1985) kommen diese Argumente und Befürchtungen
zum Ausdruck. Siehe hierzu etwa:
Henrik Walter, Neurophilosophie der
Willensfreiheit, Paderborn 1998, S. 80 f. :
"Wie wechselwirken die beiden Welten
[gemeint sind die physikalische Welt und die intelligible Welt
unseres Geistes, MM] miteinander? Wie wirkt die zweite Welt in
die erste hinein und wie werden die beiden Welten koordiniert?
Jede Wechselwirkung verletzt den Energieerhaltungssatz und ist
daher eine wissenschaftliche Anomalie."
Ebenso S. 123: "Einerseits behauptet
Eccles, daß der selbstbewußte Geist nicht den üblichen
Naturgesetzen unterworfen ist, andererseits erklärt er, daß der
selbstbewußte Geist in der Lage sei, mit der physikalischen
Welt, d.h. dem Gehirn, in Wechselwirkung zu treten. Er hält also
am Begriff der mentalen Verursachung fest. Eine Veränderung
physikalischer Gegebenheiten im Gehirn erfordert jedoch Energie
und eine mentale Verursachung, die in der physikalischen Welt
vorher nicht vorhandene Energie einführte, bedeutet eine
Verletzung des Energieerhaltungssatzes."
Ausführlicheres ebendort S. 178 ff.
Siehe auch: Mario Bunge, Rubén Ardila,
Philosophie der Psychologie, Tübingen 1990, S. 14:
"An der Philosophie des Geistes von
Popper und Eccles ist folgendes offensichtlich: Erstens, sie ist
unausgegoren, weil ihre Schlüsselbegriffe - vor allem Welt,
Geist und Interaktion - undefiniert bleiben, und sie enthält
überdies keinerlei präzise Hypothese über den Geist und seine
angebliche Interaktion mit dem Gehirn. Zweitens verletzt sie ein
fundamentales physikalisches Prinzip, nämlich den
Energieerhaltungssatz (postuliert sie doch, der immaterielle
Geist könne Materie in Bewegung setzen). Drittens mißachtet sie
eine jedweder experimentellen Wissenschaft stillschweigend
zugrunde liegende Voraussetzung, daß nämlich der Geist nicht
unmittelbar auf Materie wirken könne, ...")
In seiner grundsätzlichen Struktur wird
dieses Problem der Interaktion einer immateriellen mit der
materiellen Welt erörtert bei Peter Bieri (Hgr.), Analytische
Philosophie des Geistes, 3. Aufl, Königsstein/Ts., 1997, S.
5 ff. Bieri schreibt dort etwa (S. 6): "Wenn mentale
Phänomene nicht-pysische Phänomene sind und wenn es mentale
Verursachung gibt, dann kann der Bereich physischer Phänomene
nicht kausal geschlossen sein. Wenn er jedoch kausal geschlossen
ist und wenn mentale Phänomene nicht-physische Phänomene sind,
dann kann es allem Anschein zum Trotz keine mentale Verursachung
geben. Und wenn es sie trotz der kausalen Geschlossenheit der
physischen Welt gibt, dann kann es nicht sein, daß mentale
Phänomene nicht-physische Phänomene sind."
Eine umfassende Übersicht über die
derzeitige Forschungslage zum Thema mentale Verursachung aus der
Sicht der analytischen Philosophie gibt Godehard Brüntrup,
Mentale Verursachung, Stuttgart, Berlin, Köln, 1994.
2) Ein
Argument dieses Typs - daß es in einer völlig deterministischen
Welt keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne geben könne bzw.
"Wenn der Determinismus nun zutrifft, bin ich gar nicht in
der Lage, wirkliche Untersuchungen oder Nachforschungen
anzustellen; daher kann ich kein Vertrauen in die Wahrheit des
Determinismus haben. " - empfindet der oben erwähnte Henrik
Walter (S. 84) als ernstzunehmende "Herausforderung".
Siehe hierzu auch obiges Selbstwiderlegungsargument Poppers gegen
den Determinismus.
Siehe hierzu auch Popper/Eccles, Das Ich
und sein Gehirn, a.a.O., S. 105 ff; S. 641 f, dort die
Anmerkung 3.
3)
Zu diesem Thema: Physikalische Implikationen des
Denkens und Erkennens finden Sie einen Artikel von mir in der
Zeitschrift Die Drei, 7, Juli 2005, S. 31-39: Michael
Muschalle, Errettung des Denkens. Roger Penroses Erkundungen des
Bewussten und Rudolf Steiners Bewußtseinsphilosophie
Siehe weiter dazu die Kritik zu diesem Aufsatz
von Ernst Oldemeyer, Dualistische oder monistische Rettung des
Denkens und der Freiheit, in Die Drei, 10, Oktober 2005, S.
61 ff; (http://www.diedrei.org/Heft%2010%2005/09%20Oldemeyer.pdf)
ebenso meine Antwort an Ernst Oldemeyer,
Quantenphysik und Gedankenleben, in Die Drei 11, November
2005, S. 59 ff.
(http://www.diedrei.org/Heft%2011%2005/09%20Muschalle-Erwiderung.pdf)
Top
vorwärts
Inhalt
Gesamtinhalt
Home
|