Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Über den Zusammen­hang von Freiheitsfrage und Erkenntnisfrage

Ein Beitrag zum Verständnis der Philosophie der Freiheit

(Stand 14.01.07)

Am 27. 12. 23 wurden einige Literatur-Links gesetzt. Inhaltlich aber nichts verändert.

IV.

Warum in der Freiheitsfrage auch die Logikforschung ein Wort mitzureden hat

Die Erkenntnisfrage, die Freiheitsfrage und die Frage nach mentaler Kausalität sind außerordentlich eng miteinander verschränkt. Deswegen befindet sich der Philosoph, wenn er nach der Möglichkeit einer menta­len Kausalität fragt, in einem Dilemma. Entweder er stellt bei Annahme menschlicher Freiheit einige anerkannte und bedeutende Grundprinzipien der Physik infrage - etwa den Energieerhaltungssatz bzw die kausale Ge­schlossenheit der physikalischen Welt - , oder er stellt die Prinzipien des Erkennens infrage wenn er den Energieerhaltungssatz und das physikali­sche Weltbild retten will. In diesem Fall gibt es keine tatsächliche Frei­heit, aber auch kein Erkennen mehr, und die Folge ist, daß das Weltbild der Physik, weil seiner Legitimation beraubt, von dieser Seite her frag­würdig wird. Denn dieses Weltbild lebt seinerseits gänzlich vom logi­schen und logisch begründeten Denken. Werfen wir hierzu noch einen vertiefenden Blick in die zeitlich weiter zurückliegende Diskussion um das Verhältnis von Naturkausalität und Logik:

Folgt man der Einschätzung des Physikalisten, daß kausale Ursache für eine jegliche Handlung der unmittelbar vorangehende Gesamtzustand des Gehirns ist, dann ist dieser auch für unser mentales Handeln, das wir Denken oder Erkennen nennen, verantwortlich. Was und wie wir denken und erkennen ist dann kausale Folge vorgängiger Hirnprozesse und eine jegliche Einsicht im Endeffekt bestimmt durch die materiellen hirnorga­nischen Ausgangsbedingungen. Was aber wird bei Annahme des Kausa­litätsprinzips aus der Wahrheit? Was wird aus der Logik, die wir bei al­lem Denken schon voraussetzen? Und was wird schließlich aus den Na­turgesetzen selbst, auf die sich der Neurobiologe beruft, wenn er den Zwang des Hirnmechanismus geltend macht?

Mit Fragen dieser Art hatte es die Logik um die Wende vom 19. zum 20. Jh. im Rahmen ihrer Auseinandersetzung um das Verhältnis von Logik, Psychologie und Physiologie zu tun. Diese Diskussion trifft gleichzeitig ins Zentrum der Auseinandersetzung um den freien Willen, weil das mentale Handeln zur Logik in einer spezifischen Beziehung steht, derge­stalt, daß die physiologische Relativierung des Logischen auch die Be­wertung dieses Handelns nicht unbeeinflußt läßt. Und umgekehrt, die Souveränität der Logik gegenüber der Physiologie zugleich auch ein frei­heitsphilosophisch relevantes Licht auf das mentale Handeln im Denken wirft.

So hielt man dazumal den Physiologen vor, aus einseitiger Sicht das Sys­tem der Logik im Sinne einer physiologisch dominierten und definierten Psychologie vereinnahmen zu wollen. Die Gesetze des Denkens - so die Auffassung von Psychologisten - sollten nämlich psychologische Gesetze sein. Und weil und sofern die psychischen Prozesse bloß leiblich bedingt waren, wurden eben auch die Gesetze des Denkens als eines psychischen Prozesses letztlich zu physiologischen Gesetzen. Folglich wurde die Lo­gik der Sache nach selbst zu einem Zweig der Psychologie, bzw. der Physiologie: "Der Physiologe nämlich, der den Blick von den rein orga­nischen Lebensfunktionen zu den Akten des geistigen Lebens erhebt, wird geneigt sein alle psychischen Erscheinungen bloss als Schattenspiel zu betrachten, welches die physiologischen Vorgänge in paralleler Weise begleitet. (Psychophysiologischer Parallelismus.) Wer aber die geistige Thätigkeit des Menschen bloss als Schattenspiel der durch äussere Reize verursachten Empfindungen, Gefühle und Affekte betrachtet, der vermag der eigentümlichen Autonomie unserer Verstandesthätigkeit nicht ge­recht zu werden, und der wird deshalb geneigt sein, die Logik ganz in eine Lehre von jenem inneren Schattenspiel, d. h. ganz in die Psycholo­gie aufgehen zu lassen. Daraus aber ist zu ersehen, dass der Psychologis­mus nichts anderes ist als ein neugeprägter Name für den modernen Sen­sualismus: so wie er der Neigung einseitig geschulter Physiologen ent­sprechen mag." So skizziert es Melchior Palágyi 1902 in einer kleinen Schrift. (Melchior Palágyi, Der Streit der Psychologisten und Formalis­ten in der modernen Logik", Leipzig 1902, S. 3) Die "Autonomie der Verstandestätigkeit" steht danach in einem engen Verhältnis zur Logik. Und indem der physiologisch geprägte Psychologismus nach der Logik greift, zielt er zugleich auch auf diese Autonomie des mentalen Han­delns. Palágyi beschreibt dieselbe Sachlage, wie sie sich ergibt, wenn man heutigen Physikalisten folgt. Die von ihm behandelte Thematik hat also nichts von ihrer Aktualität verloren.

Nun bleibt aber dieser physiologische Griff nach dem Logischen nicht folgenlos für die Prinzipien des Erkennens selbst, und muß letzten Endes zur Preisgabe der Erkenntnistätigkeit selbst führen, wie Palágyi (S. 3) weiter ausführt, weil die Erkenntnistätigkeit damit ihrer logischen Grund­lage beraubt wird: "Fasst jemand alles geistige Leben bloss als ein Ne­benprodukt organischer Lebensfunktionen auf, so wird ihm alles Den­ken abhängig bleiben von der Konstitution unseres Organismus, und er wird bemüssigt sein auch das, was wir Wahrheit nennen, ganz und gar von dem leiblichen Bau eines Wesens abhängig zu machen. Nicht nur wird einer jeden Gattung von Wesen eine andere Wahrheit entsprechen, son­dern auch ein jedes Einzelwesen dürfte dann eine von den anderen ver­schiedene aparte Logik für sich in Anspruch nehmen. Der Psychologism­us führt also zu einer relativistischen Weltauffassung, ja zu einer völligen skeptischen Zersetzung des Wahrheitsbegriffes."

Mit dem Eingriff in die Autonomie der Verstandestätigkeit geht also eine noch viel weiter reichende relativistische Intervention in den Bereich der Wahrheitsfindung einher und macht jedes intersubjektiv geltende logisch begründete Urteil unmöglich, weil der allgemeinverbindliche Charakter der Denkgesetze verloren geht, indem diese der Hirnphysiologie bezie­hungsweise dem Kausalitätsprinzip geopfert werden. Denn jeder Orga­nismus hat jetzt seine eigene Wahrheit und Logik, gemäß der in ihm gel­tenden biologisch-physikalischen Vorgänge. Das aber wiederum bleibt nicht folgenlos für das Gesetz der Kausalität selbst und das System der Wissenschaften im allgemeinen: Beides verschwindet entweder völlig oder gilt nur in der Sphäre des vereinzelten Individuums. Wobei kaum zu erwarten ist, daß dieses Individuum bei Preisgabe der Logik zu Wissen­schaft und Kausalgesetz überhaupt sollte gelangen können. Auf jeden Fall aber gäbe es kein allgemeingültiges Kausalitätsprinzip mehr, so we­nig wie andere allgemeingültige Gesetze, und damit wäre so etwas wie kollektiv von einer Forschergemeinschaft betriebene Mathematik oder Physik ausgeschlossen.

Bringt man also Logik, Wahrheit und Erkenntnis in Abhängigkeit von der psychologischen oder materiellen Konstitution der jeweiligen Den­ker, so hören sie infolge skeptischer und relativistischer Zersetzung auf, eine über die einzelne Persönlichkeit hinausgreifende Bedeutung zu ha­ben. Und daraus folgt als eine von mehreren Konsequenzen die Unaus­führbarkeit intersubjektiver wissenschaftlicher Verständigung und der vom Neurobiologen beschworene logisch begründete Konsens unter Fachleuten ist mit das erste, was im Zuge dieser Relativierung verloren geht. Wissenschaft als soziales und kulturelles Phänomen, das vom Dis­kurs und vom Appell an die Einsichtsfähigkeit fremder Individuen lebt, wäre damit illusorisch.

Die Verbindlichkeit der logischen Normen und des logischen Denkens indessen lebt gerade davon, daß man ihnen Unabhängigkeit von allen physiologischen oder psychologischen Bedingungen beilegt. Man setzt voraus, daß eine allgemeinverbindliche Logik ebenso für den Denker A wie den Denker B gilt: " ... die Logizität der Erkenntnis ist Grundvoraus­setzung, ohne welche Erkenntnis überhaupt nicht möglich wäre, und die­se Logizität bedeutet notwendig systematische Ordnung und Gesetzmä­ßigkeit. Ein Zweifel an der grundlegenden Bedeutung der Logik wäre ra­dikaler Skeptizismus." (Willy Moog, Logik, Psychologie und Psycholo­gismus. Wissenschaftssystematische Untersuchungen. Halle a. S. 1919, S. 180.) Diese Voraussetzung ist die Grundlage jeder wissenschaftlichen Er­kenntnis und jedes wissenschaftlichen Diskurses. Denn nur unter dieser Prämisse läßt sich sinnvollerweise an die Einsicht eines Diskurspartners apellieren. Das logische Verhältnis, das in der Beziehung dreier Größen A, B und C zum Ausdruck kommt wenn wir sagen: Wenn A=B, und wenn B=C, dann ist A=C, es gilt nicht nur für irgend ein vereinzeltes In­dividuum, sondern generell. Bringt man dagegen das Logische in Abhän­gigkeit von den Bedingungen der individuellen Hirnphysiologie, dann hat jeder Denker, falls er überhaupt eine hat, seine eigene Wahrheit und Lo­gik. Unter diesen Umständen freilich wäre alles naturwissenschaftliche Reden von allgemein anerkannten Naturgesetzen und einem Kausalitäts­gesetz im besonderen müßig, und der Hinweis auf einen persönlichkeits­übergreifenden diesbezüglichen Konsens ein aussichtsloses Unterneh­men, denn es gäbe dann gar keine Gesetze von intersubjektiver Geltung. Die behauptete konsensfähige Feststellung des Physikalisten, dass alle Prozesse im Gehirn deterministisch sind und Ursache für einen jeglichen mentalen Vorgang, einschließlich des logischen Denkprozesses, der un­mittelbar vorangehende Gesamtzustand des Gehirns sei, rekurriert auf ei­nen absurden Begründungszusammenhang, der den eigenen Prämissen zuwiderläuft. Wenn dieser Konsens der Neurobiologen tatsächlich Gül­tigkeit hat - und zwar als Folge logischer Einsicht und nicht von Massen­suggestion oder Zwangsmaßnahmen -, dann dürfte es ihn als Faktum nicht geben. Gibt es ihn aber dennoch, dann kann er seinem Inhalt nach nicht gültig sein.

(Unter den Bedingungen bloßer Naturkausalität müßte jede Übereinstim­mung in den komplexen Rechnungen verschiedener Mathematiker, die dasselbe Problem behandeln, wie ein Wunder erscheinen, da ja die phy­siologische Ausgangslage in jedem einzelnen Mathematikerhirn eine an­dere ist. Und sogar der einzelne würde schwerlich bei neuerlicher Bear­beitung desselben Problems exakt dasselbe Resultat zweimal erhalten, da ja auch in seinem eigenen Hirn die physiologischen Ausgangsbedingun­gen ständig schwanken. Geht man bis auf die Ebene der Elementarteil­chen hinunter, dann gibt es in seinem Hirn fast überhaupt nichts Dauer­haft-Beständiges mehr, weil sich alles in winzigsten Bruchteilen von Se­kunden verändert und umorganisiert. Was sich gegenüber der Physiolo­gie und den materiellen Vorgängen im weitesten Sinne durchsetzt ist eben die mathematische und damit inbegriffen die begrifflich-logische Gesetzmäßigkeit. Und zwar nicht blind, wie bei der mechanischen oder elektronischen Rechenmaschine, sondern auf der Grundlage von Ein­sicht. Der Mathematiker rechnet also nicht richtig, weil die mathemati­sche Gesetzmäßigkeit auf ihn nach Art eines Computerprogramms einen Zwang ausübt, wie sie es bei der Rechenmaschine tut, sondern er will richtig rechnen, weil er diese Gesetzmäßigkeit versteht und durchschaut. Die Sachlage ist also offensichtlich die: Nicht das biologisch-chemisch-atomare Gewusel im Gehirn des Mathematikers erzeugt oder verursacht das richtige Resultat, was nun wirklich ein Wunder wäre, sondern die willentlich gehandhabte mathematische Information des Mathematikers - wenn man sein Wissen einmal vereinfachend so nennen will - behält ge­genüber diesem Gewusel die Oberhand und diktiert diesem seinerseits spezifische Ordnung und Verlauf. - Ein gewisser Vergleich zwischen ei­nem Gehirn und Kröplinschen Tropfenbildern drängt sich hier unweiger­lich auf.)

Wenn wir von Naturgesetzen sprechen, dann setzen wir notwendigerwei­se die Geltung logischer Normen auch außerhalb der nur persönlichen Sphäre voraus. Gegenüber diesen Gesetzen ist das Logische das Primäre, an dem sie gemessen werden. Die gemeinschaftliche Anerkenntnis von Gesetzmäßigkeit überhaupt und von naturhafter im besonderen, erfolgt also immer schon vom Logischen und seiner übersubjektiven Verbind­lichkeit her: "Denn wenn es nichts Logisches gibt, wie kann es dann überhaupt Gesetze geben? Müssen Gesetze als solche nicht eo ipso auch logisch sein, um Gesetze sein zu können? Wie können Naturgesetze Ge­setze sein, wenn sie nicht logisch sind? Auch bloße kausale Regeln müs­sen der logischen Gesetzmäßigkeit entsprechen. ... Auch das Naturgesetz muß als Gesetz logisch bedingt sein und kann nicht als bloß empirisches Produkt bezeichnet werden." (Moog, a.a.O., S. 206) Ein Naturgesetz zu sein bedeutet apriori: mit den Gesetzten der Logik im Einklang stehen. Ein Gesetz der Natur, das nicht schon auf die Geltung des Logischen be­zogen wäre und ihm widerspräche, wäre gar kein Gesetz, und die Rede von Naturgesetzen ohne den Bezug zum Logischen etwas Sinnloses und nicht Diskursfähiges.

Das Logische aber kann nichts sein, daß der physikalisch-dinghaften Na­tur in irgend einem Sinne gleichartig ist. Das heißt, es gibt keinen Be­reich innerhalb dieser Natur, der zugleich den Charakter des Dinghaften - etwa des Physiologischen - und den des Logischen an sich haben könnte, ohne die Geltung des Logischen zu annullieren, womit die Möglichkeit des Erkennens selbst aufgehoben wäre. "Wie sollen Naturgesetze abge­bildet oder umgestaltet werden, um logische Gesetze zu werden?", so Moog (S. 209). "Müßten dann nicht logische Gesetze durch Naturgesetze rektifiziert werden und logische Gesetze aus Naturgesetzen gewonnen und an ihnen gemessen werden, wenn diese die eigentlich gesetzgeben­den sind? ... Wie könnte z.B. ein chemisches Gesetz ein logisches Denk­gesetz selbst werden oder ein solches auch nur in der logischen Geltung verändern, bestätigen oder verwerfen?" Und weiter: "Eine Abhängigkeit der logischen Gesetze von irgendwie aufgefaßten existentialen Naturge­setzen ist in keiner Form möglich, und selbst eine Gleichartigkeit des Ne­beneinanders kann nicht angenommen werden, - denn immer tritt die lo­gische Gesetzlichkeit doch als die herrschende hervor, und jede Unter­ordnung unter eine existentiale oder auch die Nebenordnung zu einer sol­chen erweist sich als undurchführbar, da die logisch-systematische Ge­setzmäßigkeit immer notwendig vorausgesetzt wird. ... Entweder müßte man das Existentiale als maßgebend anerkennen, dann bliebe man bei Ausschaltung des Logischen ganz im rohesten Empirischen stecken, ja man gelangte nicht einmal zur Empirie und müßte jede logische Gesetz­lichkeit leugnen, da man sie aus dem bloß Daseienden nicht ableiten kann. Das wäre ein in sich unmögliches Chaos, keinerlei Theorie, radi­kalster Relativismus und Skeptizismus, der unvollziehbar ist." (S. 209 f)

Naturgesetze als erkannte Naturgesetze setzen immer schon die logischen voraus und müssen zu ihnen kompatibel sein. Nicht etwa wird das Logi­sche gemessen an der Meßlatte der Naturgesetze, sondern an diese wird der Maßstab des Logischen angelegt. Das logische Gesetz gilt nicht, weil das Kausalitätsgesetz gilt, sondern das Kausalitätsprinzip gilt, weil die Gesetze der Logik gelten. Diese Beziehung ist nicht umkehrbar in dem Sinne, daß sich logische Gesetze ihrerseits aus Naturgesetzen herleiten ließen, an ihnen justiert werden könnten, oder als Spezialfall etwa mit ih­nen oder einem von ihnen zusammenfielen. Ein solcher Zirkel ist nicht ausführbar, denn er hebt jegliche Gesetzmäßigkeit überhaupt auf. "Nicht die Natur kann das Maßgebende sein, und nicht weil die Natur in dem Denken stecke, darum gibt es logische Gesetze, sondern erst dadurch, daß es logische Gesetze gibt, kann überhaupt auch die Gesetzmäßigkeit der Natur möglich werden." (Moog, a.a.O., S. 211)

Die kausale Erklärung logischer Denkvorgänge ist letzten Endes selbstrui­nös für den Physikalisten, weil er sich damit den Ast absägt, auf dem er selber sitzt. Eben das behauptet - vollkommen zu recht - Karl Popper mit seinem Selbstwiderlegungsargument.

V.

Warum eine Bewertung von Erkenntnisprozessen ohne innere Beobachtung nicht auskommt

Der einseitige Blick in die Natur, in die physikalische insbesondere, führt unter gar keinen Umständen zur Aufhellung dessen, was uns beim erkennenden Denken leitet, woran wir uns orientieren und worin die Na­turwissenschaft selbst ihren Lebensnerv hat. Das wird von Physikalisten gern vergessen, wenn sie über mentale Vorgänge wie etwa das Urteilen und Denken sprechen. Tatsächlich nehmen sie die rein bewußtseinsphä­nomenologische Seite des Erkennens, wenn überhaupt, dann nur wider­strebend zur Kenntnis. Und so machen es sich Autoren, die mit dem Phy­sikalismus sympathisieren, manchmal ein wenig leicht, wenn sie sich ge­gen Argumente wie etwa das oben erwähnte Selbstwiderlegungsargu­ment Poppers wenden. So schreibt der unter Anmerkung 1 in Teil I-III dieser Arbeit genannte Henrik Walter (S. 83): "Wenn etwa behauptet wird, ein Urteil könne nicht wahr sein, weil es nur die Wirkung eines kausal determinierten Ablaufes sei, so ist das nicht richtig. Wenn Wahr­heit die Übereinstimmung eines Urteils mit einer Tatsache ist (Korre­spondenztheorie der Wahrheit), so kann natürlich auch ein vollständig determiniertes Urteil wahr sein." Eine Auffassung die sich etwa gegen Popper richten ließe, wenn sie denn Gewicht hätte. Eins von manchen Problemen an dieser These ist indessen, daß jeglicher Nachweis dafür fehlt, daß es sich tatsächlich so verhält. Es hat bislang noch niemand ei­nen solchen Fall aufzeigen können, und wird wohl auch in absehbarer Zeit nicht dazu imstande sein. Mit anderen Worten: Ein Problem liegt darin, daß er diesen Nachweis unter den bislang gegebenen Umständen der Forschung grundsätzlich gar nicht führen kann. Denn er müßte dazu den schlüssigen Beleg beibringen, daß das Urteil tatsächlich durchgängig kausal determiniert war. Und genau hier liegt für den Physikalisten der Hase im Pfeffer. Kein ernst zu nehmender analytischer Philosoph würde seine These (einschließlich ihrer empirischen Überprüfung) heute wagen. Um die vollständige kausale Determination nachzuweisen wäre nämlich

a) zunächst einmal die hirnphysiologische Kausalkette lückenlos sichtbar zu machen. Wie das gehen könnte steht bislang noch in den Sternen.

b) Müßte gezeigt werden wie sich diese physiologische Kausalkette ir­gendwie, irgendwann und irgendwo zum mentalen Phänomen des Urtei­lens umwandelt. Das heißt, es müßte ebenso lückenlos nachgewiesen werden, wie die Metamorphose der kausalen physikalisch-physiologi­schen Phänomenfolge in eine mentale oder seelische Phänomenfolge sich vollzieht. Der kritische Punkt hierbei ist so etwas wie ein Brückenglied, das eine physiologisch-kausale Verlaufsfolge in eine mental-kausale Ver­laufsfolge umwandelt oder übersetzt. 1) Wie dieser Nachweis einer der­zeitigen Naturwissenschaft empirisch-experimentell möglich sein sollte, dazu gibt es nicht den Schatten eines Hinweises, wie Godehard Brüntrup in seinem Buch Mentale Verursachung (siehe Anmerkung 1 in Teil I-III dieser Arbeit) auf S. 250 ff resignierend schreibt. "Es kann", so sagt er am Ende seiner ausgedehnten Durchmusterung gegenwärtiger For­schungsansätze, "der Verdacht aufkommen, daß uns die genaue Bezie­hung zwischen mentalem und physischem Geschehen für immer verbor­gen bleibt." Von der introspektiven Seite her sei es nicht möglich, phy­siologische Hirnprozesse zu beobachten und zu analysieren. Und von der physiologischen Seite her läßt sich kein Bewußtsein beobachten. - Was nun wahrlich keine neue Einsicht unter Philosophen ist.

So viel ist an Walters Argumentation bis hier hin abzulesen: Er nimmt Tatsachen und Erkenntnisse voraus, für die es derzeit nicht den Funken eines plausiblen Nachweises gibt. Der Physikalismus - so kann man es vielleicht im Sinne Poppers sagen - ist eine Art Schuldscheinphilosophie und arbeitet mit ungedeckten Wechseln auf die Zukunft. "... alles, was der Physikalist vorbringt, ist sozusagen ein auf seine zukünftigen Aus­sichten ausgestellter Wechsel; alles beruht auf der Hoffnung, daß eines Tages eine Theorie ausgearbeitet wird, die seine Probleme für ihn löst, kurz, auf der Hoffnung, daß sich etwas herausstellen wird." (Karl R. Popper, John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München, 1982, S. 132)

Schließlich aber müßte, was Goedehard Brüntrup in seinem Buch nicht explizit sagt,

c) der Hirnphysiologe zeigen, was ein Urteil bewußtseinsphänomenolo­gisch überhaupt ist. Über diesen inneren Bereich, über den mit naturwis­senschaftlichen Mitteln zu richten er sich anschickt, erfährt man bei Phy­sikalisten in aller Regel herzlich wenig. Was aber tun wir innerlich wenn wir urteilen? Was erleben wir da? Wie hängen all diese inneren Ereignis­se und Tatsachen mit einander zusammen? Denn wenn man schon von einem Urteil als mentalem Vorgang postuliert, es sei vollständig kausal determiniert, dann wird man das begreiflicherweise doch nur können, wenn man sich auch davon einen empirisch-bewußtseinsphänomenologi­schen Begriff gemacht hat, um nicht Gefahr zu laufen, zwei Phänomen­bereiche miteinander in Beziehung zu setzen, deren einer eine weitestge­hende terra inkognita ist. Diese Sachlage - oben schon erwähnt - ist wahr­haftig keine Entdeckung der neuesten Zeit. Sie wird in ihrer grundsätzli­chen Form z. B. schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts von John Stuart Mill hervorgehoben anläßlich einer übereilten Parallelisierung oder gar Gleichsetzung von physischen und seelischen Erscheinung. " ... denn wie kann man das Sich-Entsprechen zweier Dinge feststellen", so Mill da­mals, "wenn man nur eins derselben der Beobachtung unterzieht? Damit eine Beziehung zwischen geistigen Funktionen und Gehirnbildungen als feststehend erwiesen werde, bedarf es nicht bloß eines Systems paralle­ler, auf beides gerichteter Beobachtungen, sondern auch ... einer Analyse der geistigen Fähigkeiten ... die ganz ohne Rücksicht auf ihre physischen Bedingungen zu vollziehen wäre. Denn der Beweis der Theorie läge ja in dem Parallelismus der Einteilung des Gehirns in Organe und jener des Geistes in Vermögen, zwei Einteilungen, deren jede auf selbständigen Beweisgründen ruhen müßte. Die Ausführung dieser Analyse erfordert ein zu hoher Vollendung gediehenes direktes psychologisches Studium..." (J. St. Mill, August Comte und der Positivismus, übersetzt von E. Gomperz, Leipzig 1874, Nachdruck Aalen 1968, S. 46 .) Dem ist sicherlich nicht viel hinzuzufügen.

Ohne introspektive Klärung der seelischen Vorkommnisse beim Urteilen und Denken besteht folglich für eine physikalistische Bewertung dieser Phänomene keinerlei Aussicht. Und hier, so scheint mir, liegt ein weite­rer Hase im Pfeffer, denn hinter dem Begriff des Mentalen verbirgt sich derzeit so ziemlich alles an Bewußtseinserscheinungen, was sich nicht auf Anhieb der Welt des Physikalischen zuordnen läßt: Urteile und Denkvorgänge; Schmerzzustände; Gefühle; Strebungen aller Art; Wahr­nehmungen; Phantasien; Assoziationsgebilde; Erwartungen und so wei­ter. Tatsächlich ist der Ausdruck Mental nichts weiter als ein modern klingender Ersatz für den guten alten, schon von Wilhelm Wundt und Friedrich Albert Lange gerügten, Ausdruck der Seele, den man vom et­was anrüchigen Bodensatz der Theologie gereinigt hat, ohne allerdings wesentlich mehr darüber in Erfahrung zu bringen, als man vor 100 Jahren schon über ihn wußte. Kaum mehr als ein neuer Schlauch für alten Wein, der bei der Umfüllung deutlich an Geschmack verloren hat. Das Wissen um diesen seelischen Bereich, das darf wohl unterstellt werden, war unter früheren Philosophen wie etwa Oswald Külpe oder Franz Brentano we­sentlich ausgeprägter, als bei vielen Philosophen der Gegenwart. Denn die Psychologie war damals noch ein Zweig der Philosophie und führen­de Psychologen eben auch Philosophen. Und seither gab es in diesem Be­reich der Forschung nicht nur wenig Fortschritt, sondern vielmehr Rück­schritte, weil sich die wissenschaftlich unmittelbar beobachtende Zuwen­dung zu den Tatsachen des Seelenlebens nachgerade zu einem akademi­schen Tabuthema entwickelt hat - sei es aus wissenschaftsideologischen oder politisch-ideologischen Gründen. Und entsprechend wurde auch auf die Tradierung des einstmals vorhandenen Wissens nicht ungeheuer viel Wert gelegt. (Exemplarisch deutet Karl Popper auf diesen Rückschritt hin in Das Ich und sein Gehirn, a.a.O., S. 141 ff. ) Tatsächlich befinden wir uns in dieser Hinsicht heute auf einem Niveau, das eher dem der Kosmologie vor der kopernikanischen Wende entspricht als dem danach. Deswegen auch erinnern philosophische Debatten der Gegenwart über mentale Kausalität so eigentümlich an ein scholastisch-scientistisches Pa­laver um metaphysische Gegenstände, zu denen man keinen Erfahrungs­zugang hat. (Siehe hierzu auch die Literaturangabe in Anmerkung 3 so­wie die entsprechende Textumgebung dazu.)

In diesem Sammelsurium innerer Phänomene wäre also selbst erst einmal Ordnung und Übersicht zu schaffen und zwar ganz unabhängig von jeder physiologisch kausalen Erklärung. Denn diese Phänomene sind sehr un­gleich hinsichtlich dessen, was sich mit einem Kausalitätsbegriff verbin­den läßt, und ganz und gar nicht von einheitlicher Qualität, wie es der Begriff des Mentalen womöglich suggeriert. Will sagen: Wenn schon von mentaler Kausalität die Rede ist, und man von außen nicht dort hin­einschauen kann - siehe Brüntrup - dann wäre es ja vielleicht angebracht, im Bereich des Mentalen selbst nach Vorgängen und Erscheinungen zu suchen, auf die sich der Begriff eines mental Kausalen anwenden läßt. Denn daß ein Schreck, ein Gefühl, eine Assoziation oder ein Traumpro­zess in dieser Hinsicht anders zu bewerten sind als ein ganz willentlich hervorgebrachter Gedanke oder eine willkürliche Phantasievorstellung, das liegt doch auf der Hand. Also ist erst einmal nachzusehen, ob es in diesem Bereich selbst so etwas wie Ursachen und Wirkungen gibt. Dann kann man sich legitim als nächstes fragen, ob Ursache und Wirkung hier in irgend einer Beziehung stehen zu Verursachungen außerhalb dieses Bereichs. Also wenn schon nach mentaler Kausalität suchen, dann zual­lererst im Bereich des Mentalen selbst. Und das ist ohne eingehende und unmittelbare - sprich: introspektive - Untersuchung dieser Sphäre nun einmal nicht zu haben. - Das gilt übrigens nebenbei gesagt auch für die nicht enden wollenden Behauptungen, das menschliche Denken sei letzt­lich dasselbe wie ein im Computer ablaufender Berechnungsvorgang. Woher will man das eigentlich wissen, wenn man das Denken selbst nicht erst einmal von seiner Innenseite her untersucht hat? Es gilt also al­les, was hier zum Thema Physikalismus und mentale Verursachung vor­getragen wird auch für den Bereich der künstlichen Intelligenz und die Ansprüche dort, etwas empirisch Abgesichertes über das menschliche Denken auszusagen.

Zurück zu Henrik Walters vollständig kausal determiniertem Urteil: Vielleicht stellt sich ja heraus, daß dasjenige, was er unter einem voll­ständig kausal determinierten Urteil begreift, seiner bewußtseinsphäno­menologischen und erkenntnistheoretischen Qualität nach gar kein Er­kenntnis-Urteil ist, sondern irgend etwas anderes, das er nur deswegen mit dem Ausdruck Urteil etikettiert, weil er keine hinreichend klare intro­spektiv basierte Begrifflichkeit dessen hat, was Erkenntnis-Urteile in Ab­grenzung zu anderen mentalen oder naturwissenschaftlich kausalen Vor­kommnissen erst zu solchen macht. Das heißt: Ohne Kenntnis der be­wußtseinsphänomenologischen Verhältnisse läßt sich gar nicht erst von Urteilen reden, und schon gar nicht von vollständig kausal determinier­ten Urteilen. Es ist nicht viel mehr als ein leeres Spiel mit Worten bzw. sprachlichen Schablonen. Es könnte also durchaus der Fall eintreten, daß sogenannte vollständig kausal determinierte Urteile in keiner Weise An­spruch darauf erheben können, überhaupt Urteile im Sinne des Erkennens zu sein! (Was ja Popper mit seinem Selbstwiderlegungsargument implizit auch betont.)

Um dieser letzten Frage noch ein wenig nachzugehen: In der Philosophie kann man bezüglich des Urteilens auf den Satz vom Grund verweisen, wonach "im Fortgange des Denkens nichts als gültig zu behaupten oder anzunehmen [ist], ohne es in Erkenntnisgrundlagen logisch zu verankern, ohne es also als notwendige Folge aus gültigen Urteilen zu legitimieren." (Rudolf Eisler, Handwörterbuch der Philosophie, 2 1922, S. 263.) Das vollständig kausal determinierte Urteil könnte also, wenn überhaupt, nur dann Anspruch auf Gültigkeit erheben, wenn es in Erkenntnisgrundlagen logisch verankert war. Seine Dignität hängt folglich unter allen Umstän­den von den logischen Quellen des Erkennens ab. Wie aber wollen wir das im Einzelfall überprüfen, wenn wir uns in unserer Bewußtseinswelt nicht eigens umsehen und uns dort hinlänglich orientieren? Die logische Verankerung ist - das sollte man nicht vergessen - heute schon überprüf­bar. Für die physikalisch-neurobiologische Überprüfung einer durchgän­gig kausalen Determiniertheit bei Urteilen hingegen gibt es derzeit nicht den Hauch eines Hinweises, wie sie aussehen könnte.

Orientieren wir uns an dem, was weiter oben gesagt wurde, so können wir zweierlei unterstellen:

1) Wenn ein Urteil auf der einen Seite vollständig kausal determiniert sein sollte, auf der anderen Seite aber gemäß dem Satz vom Grund in Er­kenntnisgrundlagen logisch verankert zu sein hat, dann müßte das Urteil zugleich logisch verankert und kausal durchgängig determiniert sein. In diesem Fall müßte es eine Klasse von Gesetzen geben, die zugleich logi­sche und physiologische sind. Logische und physiologische Gesetze müßten da also zusammenfallen. Gemäß dem Prinzip der erforderlichen Logizität physiologischer Gesetze ist dies allerdings, wie wir oben sahen, nicht möglich, denn diese setzen immer die Geltung logischer Gesetze voraus und sind auf Gedeih und Verderb an deren vorgängigen Bestand gebunden.

2) Die physiologischen Bedingungen sind subjektiv; es sind eben die leiblichen Bedingungen des Organismus dieses einen Subjektes. Ein von ihnen diktiertes Geschehen ist folglich diesen subjektiven Voraussetzun­gen unterworfen. Und sofern vollständig diktiert, ist es eben ganz und gar von diesen subjektiven Bedingungen abhängig. Die Logik hingegen ist gerade nicht subjektiv sondern subjektübergreifend; sie gilt für alle er­kennenden Individuen gleichermaßen ungeachtet deren körperlicher An­lage und Besonderheit. Sie ist gänzlich frei vom organischen Substrat des Individuums, so wie die mathematischen Gesetze nicht von der Hirnphy­siologie dessen abhängen, der sie denkt. Soweit sich das Urteilen und Denken an der Logik orientiert, kann es folglich auch nicht den bloß sub­jektiven Bedingungen der physiologischen (auch nicht der psychologi­schen) Organisation unterworfen sein, sondern das nicht-physiologische logische Moment regelt seinen Fortgang. Das eine schließt das andere aus. Ein sich an der Logik ausrichtendes Urteil orientiert sich demgemäß an etwas, was nicht aus den Bedingungen seiner Organisation stammt, mit der Physiologie gar nichts gemein hat, und ist daher, soweit es sich daran zu orientieren vermag, von seinen physiologischen Bedingungen auch nicht determiniert. Wer also die Erwartung hegt, es gäbe so etwas wie kausal vollständig determinierte logische Urteile, der verlangt Un­mögliches im selben Urteilsakt zu vereinen: Die völlige (kausale) Abhän­gigkeit vom Organismus mit der (logischen) Unabhängigkeit vom Orga­nismus. Daß das nicht funktionieren kann liegt auf der Hand. Denn ent­weder ist der Urteilsakt logisch bestimmt, dann kann er nicht vollständig kausal determiniert sein. Ist er aber vollständig kausal determiniert, dann kann er nicht mehr logisch bestimmt sein. 1a)

In dieser Frage, was den logischen Urteilsakt reguliert und bestimmt, so scheint mir, liegt das Zentrum des ganzen Freiheitsproblems.

(Für Leser, die sich im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit etwas auskennen, sei hinzugefügt: Die Parallelstelle zu dieser letzten These lau­tet bei Steiner: "Was in den übrigen Beobachtungssphären nur auf mittel­bare Weise gefunden werden kann: der sachlich-entsprechende Zusam­menhang und das Verhältnis der einzelnen Gegenstände, das wissen wir beim Denken auf ganz unmittelbare Weise. Warum für meine Beobach­tung der Donner auf den Blitz folgt, weiß ich nicht ohne weiteres; warum mein Denken den Begriff Donner mit dem des Blitzes verbindet, weiß ich unmittelbar aus den Inhalten der beiden Begriffe. Es kommt natürlich gar nicht darauf an, ob ich die richtigen Begriffe von Blitz und Donner habe. Der Zusammenhang derer, die ich habe, ist mir klar, und zwar durch sie selbst.

Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denkprozeß ist ganz unab­hängig von unserer Kenntnis der physiologischen Grundlagen des Den­kens. Ich spreche hier von dem Denken, insoferne es sich aus der Beoba­chtung unserer geistigen Tätigkeit ergibt. Wie ein materieller Vor­gang meines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt, während ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht. Was ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang in meinem Gehirne den Begriff des Blitz es mit dem des Donners verbindet, son­dern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in ein bestimmtes Verhält­nis zu brin­gen. Meine Beobachtung ergibt, daß mir für meine Gedankenverbindung­en nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedan­ken; nicht nach den materiellen Vorgängen in meinem Ge­hirn richte ich mich." (PdF, S. 43 f)

Steiner spricht hier nicht explizit von logischen Gesetzen, nach denen wir uns richten, sondern nur davon, daß ich mich nach begrifflichen Inhalten richte; er bleibt gewissermaßen noch eine Ebene elementarer, als die Ausführungen der vorliegenden Arbeit. Es gehört aber die ganze Logik­diskussion in diesen Kontext hinein, denn das hier behandelte logische Moment des Denkens ist in seinen zitierten Aussagen implizit enthalten. Denn wer sich im Denken nach begrifflichen Inhalten richtet, richtet sich per se auch nach den Gesetzen der Logik. Das ist sicherlich auch einer der Punkte, den Steiner, wie er Rosa Mayreder gegenüber einmal ausge­führt hat, etwas willkürlich übersprungen hat. In der Schrift Von Seelen­rätseln (GA-21) geht er etwas ausführlicher auf Fragen der Logik ein.)

Bevor wir den Gedankengang fortführen sei in Parenthese angemerkt: Man muß sich ernstlich darüber im klaren sein, daß an dieser Stelle die Physik wirklich auf dem Prüfstand steht, und die Frage des logischen Denkens bedeutungsvoll und tief eingreift in das derzeitige Naturver­ständnis gleichermaßen wie in das Freiheitsverständnis. Denn wenn sich das logische Moment als nicht-materielle Entität in einen physiologi­schen Vorgang einschaltet und diesen regelt bzw bestimmt, so rührt das an den Grundfesten der heutigen physikalischen Weltanschauung. Denn diese Regelung könnte nur unter Energieaufwand sich vollziehen, die in diesem Fall nicht aus der Physiologie selbst stammen kann, denn das lo­gische Moment steht ja gänzliche außerhalb der Physiologie. Und einen solchen Vorgang, der, ohne von einem anderen physischen Vorgang un­terhalten zu sein, Energie praktisch aus dem Nichts zuführt, läßt der Energieerhaltungssatz nicht zu. Sollte er dennoch stattfinden, so hätte das bedeutende Folgen für die derzeitige Physik. Deswegen ist die Frage nach der Kausalität des logischen Denkens wenigstens implizit die zen­trale Frage, um die es bei der Diskussion um mentale Kausalität in letz­ter Konsequenz geht. Auch wenn das den Autoren nicht immer bewußt zu sein scheint. (Siehe Anmerkung 1) Deswegen auch hat die Freiheits­frage so viel mit dem logischen Denken und seiner Erkenntnis zu tun. In der Erkenntnis des logischen Denkens bündeln sich einige der weitrei­chendsten Forschungsfragen, die es zur menschlichen Existenz gibt. Phi­losophen wie Karl Popper haben nach einem Weg gesucht, den Bruch mit der Physik zu vermeiden, ohne das Prinzip der Logizität aufzugeben - mit bislang wenig Erfolg. 2) Rudolf Steiner - um den es hier ja letztlich geht - bezieht in dieser Hinsicht eine sehr klare Stellung. In der Philoso­phie der Freiheit spricht er im Kapitel IX, S. 147 von einer Zurückdrän­gung der leiblichen Organisation durch das Denken. Allerdings ohne dort auf physikalische Fragen wie den Energieerhaltungssatz im einzelnen einzugehen. Anthroposophen haben vielleicht wegen dieser etwas offe­nen Formulierung Steiners gelegentlich eher an eine Lösung im Poppers­chen Sinne gedacht, die bemüht ist, mit der derzeitigen Physik nicht zu kollidieren. Im späteren Vortragswerk allerdings wird Steiner in dieser Frage sehr explizit und spricht unmißverständlich davon, daß beim Den­ken der Energieerhaltungssatz außer Kraft gesetzt wird und die derzeitige Physik an dieser Stelle nicht mehr gültig ist (Siehe etwa GA-78, Dornach 1968, Vortrag vom 5.11.1921, S. 143 und an anderen Stellen ebendort). Steiners Bemerkungen in der Philosophie der Freiheit sind also im mi­krobiologisch-physiologischen Sinne wörtlich zu nehmen: Der Geist drängt im Denken als kraftender und organisierender Sinn die Materie buchstäblich zurück. Eine Konsequenz, die ganz auf der Linie dessen liegt, was hier weiter oben schon ausgeführt wurde. Das ist übrigens ein Vorgang, der sich im Prinzip heute schon mit neurophysiologischen und psychologischen Verfahren nachweisen lassen sollte. Ein gangbarer Weg in dieser Beziehung scheint mir darin zu liegen, bei der Plastizität des Gehirns anzusetzen. Denn daß das Gehirn durch Lern- und Denkvorgän­ge veränderbar ist, ist bekannt. Eine Frage also könnte sein, wie sich lo­gische Denkvorgänge im Rahmen dieser Plastizität auswirken?

VI.

Begrifflich geleitetes Erkennen und leiblich determinierter se­mantischer Output

Diese etwas formale Betrachtungsweise sollten wir der Anschaulichkeit halber um eine mehr pragmatische ergänzen, damit die Thematik nicht bloß in einem abstrakten Raum abgehandelt wird. Denn letztlich geht es ja um das, was wir im konkreten Denken und Erkennen wirklich tun.

Sehen wir einmal ab von der bislang bestehenden grundsätzlichen Schwierigkeit, die es uns nicht möglich macht, die Wirkung physiologi­scher Kausalität bis in den Bewußtseinsbereich hinein lückenlos nachzu­weisen, so ließe sich doch in einer gewissen Näherung eine Anschauung davon erreichen, wo die charakteristischen Unterschiede zwischen lo­gisch verankertem und physiologisch vollständig determiniertem Urteil vielleicht anzusiedeln sind. Im Begriff eines vollständig kausal determi­nierten Urteil liegt: Es ist ganz und gar von unserer Organisation und ih­rer physiologischen Voraussetzung abhängig, sonst wäre es ja nicht durchgängig kausal determiniert. Für anderes also bleibt da kein Raum. Daher sollten wir, um uns einen gewissen exemplarischen Eindruck von derartigen Urteilen zu verschaffen, einen Fall betrachten, wo diese Ab­hängigkeit besonders augenfällig wird, und ihn mit einem anderen ver­gleichen. Nachfolgend zwei Beispiele, wie sie einem Leser unter Um­ständen widerfahren könnten:

Zunächst ein Beispiel, von dem sich sagen läßt, die von uns gefällten Ur­teile sind in jedem Fall logisch zu legitimieren:

Nehmen Sie an, Sie gehen im Dunkeln durch Ihren Garten und verneh­men irgend ein leise scharrendes-schurrendes und kratzendes Geräusch. Sie merken auf und fragen sich ewa: "Was ist denn das?" Falls Sie eine Art explorativer Neugier Ihr eigen nennen, dann setzt jetzt ein wahres Feuerwerk an innerer Aktivität ein.

Zunächst haben Sie nur ein reines Hörerlebnis, das anfangs noch nicht einmal besonders deutlich ist, also hören Sie genauer hin. Wie klingt es? Von wo kommt es? Wie weit ist die Geräuschquelle vielleicht entfernt? Wo genau ist sie? Sie hören mehrfach in Intervallen und konzentrieren sich auf bestimmte Eigenarten des Geräusches. Die bemerken Sie näm­lich nicht alle gleichzeitig beim ersten Mal, obwohl sie von Beginn an gemeinsam da sind. Sie schälen sich erst allmählich aus einem diffusen Hörerlebnis heraus. Sie bemerken hellere Töne gepaart mit dumpferen und schleifenden. Dazu Abgehacktes und etwas wie leise Vibrierendes. Jedes für sich mit einer gewissen Stärke, Dauer, Rhythmik in das Gesam­torchester eingebunden. Schon allein die akustische Klärung der einzel­nen Geräuschqualitäten und Geräuschsplitter setzt eine Fülle von aktiven, gedanklich gelenkten Bestimmungsvorgängen voraus, die oft sehr schnell aufeinanderfolgen und nicht explizit verlaufen. Sprache spielt dabei oft überhaupt keine Rolle. Logische Schlußfiguren? Nicht wirklich erkenn­bar, soweit sie auf Sprache basieren. Und dennoch wird fortwährend ver­glichen und gefolgert. Sie treten gewissermaßen vom unmittelbaren sinn­lichen Eindruck zurück, distanzieren sich von ihm, um das Gehörte mit etwas zu vergleichen, was Sie schon kennen. So schälen sich Gemein­samkeiten und Differenzen zu bekannten Geräuschfiguren heraus, die es Ihnen erlauben, das Geräusch nach Möglichkeit einem spezifischen Ver­ursacher zuzuordnen und seinen Herkunftsort zu lokalisieren. Das alles ist in hohem Maße von logischen Überlegungen geleitet, denn indem Sie das Geräusch identifizieren und klassifizieren, sind Sie fortwährend da­bei, das Für und Wider einer Ähnlichkeit zu bestimmten Geräuschtypen abzuwägen. Manches stimmt überein, anderes nicht, wieder anderes könnte unter bestimmten Verhältnissen so sein und so weiter. Schon beim Hören und näher Hinhören, so könnte man es ausdrücken, bewegen Sie sich sehr weitgehend in einem logischen Raum des Urteilens, Beur­teilens und Reflektierens. Von Herbert Witzenmann stammt das sehr schöne Bild, daß man gleichsam Begriffsschleier über die Wahrnehmung wirft, die sich ihr immer feiner annähern, bis sie mit der Wahrnehmung zur Passung gebracht sind.

Immer wieder die Frage: Was könnte das sein? Für was ist diese Ge­räuschfigur typisch? Da setzen Vergleiche ein mit Vielfältigem, was man schon elebt hat und kennt. Wie klingt es, wenn Hosenbeine aneinander­schleifen? Wie, wenn Sie mit dem offenen Klettverschluß Ihrer Ärmel im Bewegungsrhythmus an Ihrer Jacke vorbeischwingen und regelmäßig et­was daran hängenbleiben? Wie klingt es, wenn ein kleiner Zweig an den Schuhen hängenbleibt und über den Boden schabt? Welche Geräusche können da entstehen? Wie werden die durch die Gehwegplatten modu­liert? Wie durch das Heidekraut am Rande? Wie klingt ein Igel wenn er durchs Gebüsch streift? Wie wenn er ganz nah ist? Und wie wenn er wei­ter weg ist? Wie eine Maus? Wie eine Katze oder ein aufgeschreckter Vogel? Welche Geräusche könnte der unbemerkte Nachbar nebenan jetzt machen? Welche ein Passant auf der Straße oder ein Anlieger mit dem geparkten Auto? Warum kann es kein Wetterphänomen wie Wind oder Regen sein? Warum schließen Sie aus, daß Ihr Dackel dieses Geräusch verursacht? ... Man könnte diese Liste endlos verlängern, um all das auf­zuführen, was da an Denkmöglichkeiten so durch den Kopf geht. Dabei sind wir noch nicht einmal sehr weit vorangekommen. Und alles spielt sich in vergleichsweise kurzer Zeit ab. In dieser Zeit werden fortwährend Hypothesen entworfen und das Für und Wider reflektiert, die Wahrneh­mung erfaßt, analysiert und spezifiziert.

Bestimmungen der Zeit: Z. B. Wie lange dauern Einzelsequenzen des Geräusches? Wie schnell folgt das Schnarrende aufeinander? Wann tre­ten Intensitätsspitzen auf? Wann und wie oft das Vibrierende und Krat­zende?

Ortsbestimmungen: Kommt es mehr von oben oder von unten? Mehr seitwärts? Von vorn? Von hinten? Wie weit könnte es weg sein, wenn es dies oder das wäre? Vor allem bei dieser Entfernungsbestimmung läßt sich ausgezeichnet beobachten, welche Fülle an Urteilsvorgängen schon in einer so simplen Wahrnehmungslokalisation enthalten ist. Denn das genaue Schätzen der Entfernung einer unsichtbaren und unbekannten Ge­räuschquelle ist natürlich von extrem vielen Faktoren abhängig, die in die Überlegungen einzubeziehen sind. (Für Leser der Philosophie der Frei­heit sei angemerkt: Die Entfernungsbestimmung einer unsichtbaren und unbekannten Geräuschquelle ist ein ausgezeichnetes Mittel, um sich die Eigentümlichkeiten des intuitiven Denkens vor Augen zu führen.)

Kausale Bestimmungen: Warum könnte so ein Geräusch entstehen? Wie könnte es entstehen? Bin ich womöglich selbst der Urheber oder etwas anderes?

Sie fangen an zu testen: Sie heben ein Bein einen Augenblick hoch. Was passiert jetzt? Dann das andere. Was nun? Drehen den Kopf in die Rich­tung der Geräuschquelle. Verändern Ihren Standort. Heben die Arme seitwärts - Stille. Bewegen die Arme wieder seitwärts am Körper vorbei. Wieder das Geräusch. Das Ganze noch einmal. Tasten mit den Fingern. Es war wohl der offene Klettverschluß am Ärmel. Sie schließen ihn, ge­hen weiter wie vorher. Das Geräusch ist verschwunden. Vielleicht blei­ben Sie noch ein- zweimal stehen, um Ihre Hypothese neuerlich zu testen und Überraschungen zu vermeiden.

Um diesen kognitiven Vorgang erschöpfend mit Worten zu beschreiben, wäre ein ganzes Kapitel vonnöten. Und das meiste, von dem, was sich er­eignet, geschieht in Ihren Denk- und Urteilsvorgängen. Das Geräusch selbst nimmt sich demgegenüber eher bescheiden aus. Es dauert ja je­weils nur Bruchteile von Sekunden. Im Hinblick auf den Satz vom Grund können wir wohl mit Recht sagen: Wir haben mit unseren begrifflich-lo­gischen Mitteln ziemlich gründlich unsere Annahmen in unseren Er­kenntnisgrundlagen verankert. Deswegen waren unsere Urteile echte Er­kenntnis-Urteile. Und zumindest insofern und soweit wir uns an den nicht-subjektiven Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten der Logik orientier­ten, war diese Urteilsfindung nicht abhängig von den bloß subjektiven Bedingungen unserer physiologischen oder psychologischen Organisati­on.

Nehmen wir jetzt einen anderen Fall, der für das krasse Gegenteil steht:

Wir krallen uns mit aller Macht in den Behandlungsstuhl des Zahnarztes, um nicht vor Panik und Schrecken davonzufliegen. Der Sauger schlürft und schmatzt, es sirrt bedrohlich, und in unserem rechten unteren Ba­ckenzahn vernehmen wir ein bedenklich knarschendes und knirschendes Geräusch, hervorgerufen durch den Hochgeschwindigkeitsbohrer, der ef­fizient sein Werk verrichtet. Da passiert es: Ein Blitz durchzuckt den Un­terkiefer und raubt uns schier den Verstand. Der Bohrer hat den Nerv ge­troffen und es gurgelt aus uns von Schmerzen gepeinigt heraus: "Ohuaah! - Ach och ouch! - Chuh Chüngkäh!" (Auf Hochdeutsch: Aua! - Paß doch auf! - Du Trümpel!) Der Zahnarzt versteht nicht unsere Worte, aber er ahnt wohl, was wir sagen wollten, und spricht beruhigend auf uns ein. Macht vielleicht den Vorschlag noch etwas Lokalanaesthesie nachzus­pritzen. Worauf sich in Aussicht darauf unser Klammergriff am Behandl­ungsstuhl etwas verstärkt, und das Weiß der Fingerknöchel noch ein we­nig weißer wird.

Unsere Aussage den Zahnarzt betreffend enthält mindestens zwei Urteile an die man die Frage richten kann, ob sie in Erkenntnisgrundlagen lo­gisch verankert sind, wie es der Satz vom Grund verlangt. Ersten: Er hat nicht aufgepaßt und ist unachtsam und ungeschickt. Vielleicht sogar in­teresselos. Zweitens: Er ist eine Dumpfbacke; ein Dummbatz. Einer, dem es im Kopf fehlt und der mit Bestimmtheit den falschen Beruf ergriffen hat.

Frage: Entsprechen die genannten Urteile den Anforderungen des Satzes vom Grund? Haben wir Sie in logischen Grundlagen verankert? Haben wir Hypothesen entworfen? Unser Begriffssystem durchgemustert? Das Für und Wider gründlich erörtert und sind zu einem logisch begründeten Erkenntnisurteil gelangt? Haben wir Umsicht, Vorsicht, Einsicht vorwal­ten lassen? Liegt überhaupt ein Erkenntnismotiv vor? Nichts von all dem. Fakt ist: Unsere notorische Furcht vor Zahnärzten hat uns lange suchen lassen, und wir haben mit ihm denjenigen ausgewählt, der am Ort be­rühmt ist für seine sichere und schonende Hand. Er soll der beste sein. Fakt ist auch: Er hat erst kürzlich auf einem bedeutenden Symposion vor Fachkollegen sein Können demonstriert, damit diese etwas lernen. Und im übrigen steht ihm wegen seiner hohen Fachkompetenz die Professur an einer zahnmedizinischen Fakultät in Aussicht. Die Tatsachen sprechen also sichtlich gegen unser Urteil. Von einer formalen Seite gesehen erin­nert unsere Aussage vielleicht an ein Urteil, weil sie Bewertungen ent­hält. Bei näherem Hinsehen aber stellt sich heraus: es war gar keins, son­dern ein reiner Schmerzreflex, eine Affektäußerung, wo der Schmerz quasi unter Umgehung sämtlicher logischer Beurteilungs- und Kontroll­instanzen auf kürzestem Wege von der Zahnwurzel ins Sprachzentrum durchgeschossen ist. Es ist vollständig aus den momentanen, von Angst, Panik und Schmerz geprägten, subjektiven Bedingungen unserer Organi­sation herausgepreßt und bar jeder Einsicht. Was dabei herauskam war allenfalls ein blinder, unkontrollierter semantischer Output aber kein lo­gisches Urteil. Gemessen an den Forderungen des Satzes vom Grund ist es Lichtjahre von dem entfernt, was für ein Erkenntnis-Urteil von Belang ist.

Logik und logische Erwägungen sind in dieser Reflexäußerung überhaupt nicht erkennbar, ganz im Gegensatz zum ersten Fall, der ganz überwie­gend davon geprägt ist. Von einem Erkenntnismotiv kann ebenfalls nicht die Rede sein. Und während die mentale Aktivität im ersten Beispiel ein Feuerwerk an Denkvorgängen inszenierte, ist sie im zweiten Fall zu ei­nem dimensionslosen Punkt des bloßen Leidens und Fürchtens zusam­mengeschrumpft, aus dem heraus sie sich einzig in einem unkontrollier­ten, explosionsartigen Akt der inneren Abwehr Luft verschafft. Im ersten Fall kann man sagen: Der Gegenstand, um dessen Erkenntnis uns zu tun ist, läßt uns frei. Der Eindruck nötigt und zwingt uns nicht, ihm weiter nachzugehen. Ob wir dies tun oder lassen ist unserer eigenen Entschei­dung anheim gestellt, ebenso wie der Umfang unserer diesbezüglichen Klärung. Und um diese Klärung vornehmen zu können ist ein Motiv oder ein Interesse am Gegenstand selbst erforderlich, das nicht einer irgend­wie gearteten Nötigung durch den Gegenstand oder unseres Innenlebens folgt, sondern im Idealfall einer erkennenden Hingabe an ihn, die sich mit dem etwas althergebrachten, aber gleichwohl zutreffenden Ausdruck der Liebe zur Wahrheit und Erkenntnis charakterisieren läßt. Die Äuße­rung gegenüber dem Zahnarzt unterliegt dagegen durchgängig den Bedingungen der Umstände, in denen wir uns befinden. Von diesen Um­ständen - Angst, Panik, Schmerz - geht im vorliegenden Fall etwas Zwin­gendes und Gewaltsames aus, dem wir uns für den Augenblick nicht ent­ziehen können. Wir sind überwältigt, können nur reagieren, aber nicht wirklich agieren. Können uns vom Sinneseindruck und den äußeren und inneren Umständen nicht distanzieren und frei erkennend damit umge­hen, obwohl selbst dieses im Prinzip natürlich möglich ist: Wer schon einmal versucht hat während einer zahnärztlichen Behandlung bei sirren­dem Bohrer zu meditieren oder frei gewählten Gedanken nachzugehen, der kann in dieser Richtung sehr bemerkenswerte Erfahrungen machen. Angst, Panik und Schmerz sind innerhalb gewisser Grenzen durchaus be­herrschbar und durch meditatives Verhalten - ganz im Sinne einer menta­len Kausalität, die vom Ich ihren Ausgang nimmt - zurückzudrängen. (Siehe zu dieser Thematik der mental- kausalen Zurückdrängung auch Akt2.html auf dieser Homepage.)

Ich denke, wenn man nach Urteilsbeispielen sucht, die näherungsweise in die Richtung vollständiger kausaler Determination zeigen, dann wird man wohl im sachlichen Umkreis dessen suchen müssen, was zuletzt mit dem Zahnarztbeispiel geschildert wurde. Sie können im Grunde nur ab­laufen nach einem stupiden Reiz-Reaktions-Schema unter vollständigem Ausschluß logischer Instanzen und darauf bauender Autonomie des inne­ren Agierens. Ein kausal vollständig determiniertes Urteil wäre ver­gleichsweise in dem Umfang ein Urteil, wie die vom Medienspeicher des Internetproviders stammende Ansage: "Sie haben Post!" ein Urteil ist. Klicken Sie die entsprechende Datei an, dann können Sie sich stunden­lang den Unsinn anhören, daß Sie Post haben, obwohl ihr elektronischer Briefkasten leer ist. Und so ließe sich in Abgrenzung zur Auffassung Walters die Arbeitshypothese vertreten: Vollständig kausal determinierte Urteile können niemals echte Erkenntnis-Urteile sein, weil ihnen per de­finitionem alles fehlt, was für echte Urteile von Relevanz ist: Erkenntnis­motiv; logische Kontrolle beziehungsweise logische Verankerung in Er­kenntnisgrundlagen. Und die darauf basierende relative Unabhängigkeit des inneren Tuns von den subjektiven physiologisch-psychologischen Bedingungen der menschlichen Organisation. Der Begriff eines vollstän­dig kausal determinierten Erkenntnis-Urteils, so denke ich, ist ein Wider­spruch in sich selbst bzw ein Unbegriff.

An der Stelle wird auch offensichtlich, daß es müßig ist, lediglich eine abstrakte Wahrheitsdefinition hinzusetzen - "Wenn Wahrheit die Über­einstimmung eines Urteils mit einer Tatsache ist (Korrespondenztheorie der Wahrheit), so kann natürlich auch ein vollständig determiniertes Ur­teil wahr sein." - und allerlei logische Schlußfolgerungen über die Kausa­lität von Urteilen daran zu knüpfen, ohne das Urteilen selbst von seiner Innenseite her untersucht zu haben, wie dies bei Walter geschieht. Die Definition sagt über Qualität und Charakter des Urteils nämlich gar nichts aus, und die ganze Definition nebst Logik führt in die Irre, wenn man sie benutzt ohne zu klären und zu prüfen, was ein Urteil von seiner bewußtseinsphänomenologischen und logischen Seite überhaupt ist und was es bedeuten könnte, ein kausal vollständig determiniertes Urteil zu sein. Auf diesem Wege jedoch erzeugt man lediglich Scheinresultate. Man muß sich schon anschauen, wie Urteile zustande kommen - das heißt: sich selbst bei der Urteilsfindung beobachten. Dann erst läßt sich etwas darüber ausmachen was es mit kausal vollständig determinierten Urteilen gegebenenfalls auf sich hat. Natürlich könnte eine Affektäuße­rung wie gegenüber dem Zahnarzt auch einmal Zutreffendes enthalten und selbst ein unkontrollierter semantischer Output irgendwie auf die Tatsachen anwendbar sein. Aber das allein qualifiziert ihn nicht als Ur­teil, sondern wir haben nur einen Zufallstreffer gelandet, wie jemand, der wahllos in die Gegend schießt und unvermutet ins Schwarze trifft. Den Anspruch, ein exzellenter Schütze zu sein, wird er doch damit nicht erhe­ben können, weil er dabei zufällig die Zwölf erwischt.

Physikalisten im allgemeinen halten sich wie gesagt mit einer gründli­chen Analyse innerer Phänomene gewöhnlich sehr zurück. Obwohl sie über mentale Tatsachen und über die Freiheitsfrage sehr weitreichende Urteile fällen. Die Sachlage wird nicht sehr viel überzeugender, wenn man sich im engeren Bereich der analytischen Philosophen umschaut, die über das Leib-Seele-Problem und die menschliche Freiheit nachdenken. Auch hier ist eine eigentümliche explorative Abstinenz gegenüber den Tatsachen des inneren Lebens zu beobachten. Man könnte diese Lage kaum besser ins Bild setzen als durch Hinweis auf Publikationen, die es in letzter Zeit von seiten des sozialpsychologischen Instituts der Univer­sität Hamburg gegeben hat. 3) Dort wird nämlich - man höre und staune - dazu aufgerufen, die Methode der Selbstbeobachtung oder Introspektion wiederzubeleben. Anders gesagt: Eine Methode, die sich den Bereich des seelischen Innenlebens wissenschaftlich erschließt, gibt es im akademi­schen Bereich schon lange nicht mehr, sondern sie soll mit beträchtli­chem argumentativem Aufwand gerade erst wieder hoffähig gemacht werden. Und zwar fordern dies nicht etwa betroffene Philosophen 4), die festgestellt haben, daß sie irgendwie im Nebel stochern wenn sie über diesen Bereich debattieren, sondern Sozialpsychologen, die in dieser Dis­kussion eher nicht hervortreten.

Auf der einen Seite also zieht sich über Jahrzehnte ein ausgedehntes aka­demisch philosophisches Palaver zur Frage der mentalen Kausalität hin, während auf der anderen Seite erst seit wenigen Jahren ein winziges Häuflein sich anschickt, jene Methode wieder zu etablieren, die eigent­lich die Voraussetzung wäre, um das Thema mentale Kausalität über­haupt ernsthaft akademisch diskutieren zu können. Das mutet bizarr und wirklichkeitsfremd an.

Man darf sich also fragen: Worüber reden die Betreffenden eigentlich, wenn sie über das Leib-Seele-Problem oder mentale Kausalität debattie­ren? Der Gegenstand über den sie fortwährend Urteile und Texte generie­ren, ist ihnen ja offensichtlich gar nicht bekannt, sonst bräuchten andere nicht nach einer Methode zu suchen, die ihn erst bekannt macht!

Anmerkungen Teil IV-VI

1) Für anthroposophische Leser sei angemerkt, daß bei Steiner das Äthe­rische oder der Bildekräfteleib die Funktion dieses Brückengliedes hat.

1a) Der Hinweis, eine Rechenmaschine würde doch auch logischen Ge­setzmäßigkeiten folgen obwohl sie kausal vollständig determiniert sei, hilft an dieser Stelle nicht weiter. Denn die Frage ist eben, ob die Re­chenmaschine Erkenntnisprozesse und Urteilsvorgänge vollzieht. Und davon kann man sich natürlich kein Bild machen, wenn man nicht erst einmal introspektiv untersucht hat, was Erkenntnisprozesse und Urteils­vorgänge beim Menschen überhaupt sind. Solange dies nicht geschieht werden ständig zwei Phänomenbereiche zueinander in Beziehung ge­setzt, von denen nur einer bekannt ist. Von all den anderen Aspekten, die einen Menschen von einer Rechenmaschine unterscheiden einmal ganz abgesehen. Eine höchst zweifelhafte Ausgangslage für eine wissenschaft­liche Bewertung.

Die Rechenmaschine folgt allerdings - in diesem Falle kausal - logischer Gesetzmäßigkeit. Aber in dieser Hinsicht folgt auch ein Hammer logi­scher Gesetzmäßigkeit, wenn er in der Hand des Zimmermanns zielge­richtet und überlegt ein Werkstück bearbeitet. Deswegen käme doch nie­mand auf die Idee zu sagen, der Hammer fällt Urteile, wenn er das Werk­stück planvoll trifft, aber dem Daumen des Zimmermanns ebenso plan­voll ausweicht. Er ist als Werkzeug nur direkter mit seinem Operator ver­bunden als die Rechenmaschine, deswegen ist hier die Sachlage offen­sichtlicher. Letztlich tun aber Hammer und Rechenmaschine vergleichba­res wie jede Maschine oder jedes Werkzeug: Sie folgen Gesetzen, die der Operator, Programmierer oder Konstrukteur in sie hineinlegt und ihnen befiehlt.

Siehe zu diesem Punkt auch Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn, a.a.O., Abschnitt 21, S. 105 ff. Mir scheint, daß Popper in seiner Argu­mentation dort auch etwas zu kurz greift, weil er sich überwiegend auf ei­ner formal argumentierenden Ebene bewegt. Das heißt, das Problem, daß hier ständig Phänomenbereiche mit einander verglichen werden - näm­lich Rechenmaschinen und menschliches Bewußtsein - von denen nur ei­ner wirklich bekannt ist, gerät im engeren argumentativen Kontext nicht einmal in den Fokus seiner Aufmerksamkeit. Dabei scheint es mir ein ganz entscheidender Gesichtspunkt zu sein. Gerade wenn man wie er den Epiphänomenalismus ablehnt und für mentale Kausalität eintritt, dann müßte doch die zwingende Frage auftreten, wie es kommt, daß das Men­tale sich an logischen Standards orientieren kann. Das heißt die Untersu­chung müßte damit energisch auf die Eigenschaften dieses Mentalen selbst konzentriert werden, und nicht nur auf die formalen Aspekte. Aber introspektive Aufklärung über das Mentale wird, soweit ich sehe, auch im ganzen Abschnitt 21 nicht gefordert. Bezeichnend für diese etwas in­konsequente Haltung scheint mir Poppers zusammenfassende Bemer­kung auf S. 186, wenn er dort sagt: "Wenn ich das Wesentliche dieses Kapitels angeben sollte, dann würde ich sagen, daß es für mich keinen Grund gibt, an eine unsterbliche Seele oder an eine psychische Substanz zu glauben, die unabhängig vom Körper existiert. Ich lasse dabei die Möglichkeit offen - die ich für weithergeholt halte -, daß psychologische Forschungsergebnisse mein Urteil ändern könnten." Das ist insofern frap­pierend, als er ja selbst einen der wichtigsten Belege für diese Unabhän­gigkeit der Seele vom Leibe in deren Fähigkeit zur Orientierung an rein ideellen Größen und damit zusammenhängend in der Akzeptanz von mentaler Kausalität respektive in der Ablehnung des materiellen Deter­minismus bzw der Identität von Materie und Bewußtsein sieht. Diese Un­abhängigkeit ist vielleicht noch kein ausreichender Beweis für eine völli­ge Unabhängigkeit, aber doch immerhin ein entscheidendes Indiz in die­se Richtung, das zu weiterer Forschung in dieser Sache auffordert. Es ist auf jeden Fall zu fragen, warum etwas so "weithergeholt" sein soll, was sich als eine realistische Folge seiner eigenen Überlegungen und nicht nur als Hirngespinst andeutet? Man könnte den Eindruck haben, als ob Popper hier vor den Konsequenzen seiner eigenen Gedanken davonläuft.

2) In ihrer Gemeinschaftspublikation Das ich und sein Gehirn, München 1982, bemühen sich Popper und Eccles um eine Lösung, die sich, so gut es geht, gegenüber dem Energieerhaltungssatz neutral verhält und diesen nicht antastet. Popper behält sich allerdings angesichts der Offenheit der Erkenntnisentwicklung in der Physik und angesichts der Entwicklung, die der Energieerhaltungssatz im Laufe seiner Geschichte selbst genom­men hat, auch die Denkmöglichkeit vor, daß es vielleicht eine Lösung ge­ben wird, die den Energieerhaltungssatz verletzt, letzterer also in seiner Geltung eingeschränkt wird. Auf jeden Fall scheint ihm dies weit realisti­scher als die absurde Idee, Michelangelos Werke seien bloß das Resultat von Molekularbewegungen und sonst nichts (S. 638 ff; S. 663 f). Offen­sichtlich ist, daß Popper der hohe argumentative Stellenwert, den das ers­te Gesetz der Thermodynamik in diesem Zusammenhang bei Physikalis­ten oft hat, relativ wenig beeindruckt. Dazu ist das Lehrgebäude der Phy­sik in seinen Augen ein historisch viel zu flüchtiges und unabgeschlosse­nes Gebilde.

3) Siehe hierzu die Beiträge verschiedener Autoren im Journal für Psy­chologie, Jahrgang 7, Heft 2, 1999, S. 2-62

Ausführlichere Hinweise zu diesen Hamburger Forschungsvorhaben fin­den Sie unter der Internetadresse: www.introspektion.net\index.html

4) Die geschilderte Sachlage an sich ist Philosophen nicht unbekannt. Siehe hierzu etwa die Einführung Peter Bieris in Peter Bieri (Hgr.), Ana­lytische Philosophie des Geistes, 3. Aufl, Königsstein/Ts., 1997. Kritika­bel ist allerdings mit wie wenig Konsequenz und Zielgenauigkeit sie dar­aus methodische Forderungen ableiten.


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