Michael Muschalle
Ende zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home Michael Muschalle Zum Wirklichkeitsbegriff Rudolf Steiners (Stand 23.09.01) Einleitung In seiner Replik auf meine Kuhn-Arbeit äußert Werner Firgau 1 sein Unbehagen über Formulierungen wie "Erzeugung der Wirklichkeit im Erkenntnisprozeß". Es könne sich, schreibt er, doch bei dieser Erzeugung "keinesfalls um jene von uns unabhängige Wirklichkeit, z.B. der Naturgesetze, handeln, sondern um deren Nachschöpfung in meinem erkennenden Bewußtsein." In meinem Bewußtsein aber habe sie doch ganz offenkundig einen anderen Wirklichkeitscharakter. Und zwischen jener Nachschöpfung und der eigentlichen Wirklichkeit müsse ein ganz grundlegender, kategorialer Unterschied bestehen. Wirklichkeit hier (in meinem Bewußtsein) und Wirklichkeit dort (außerhalb meines Bewußtseins) sind verschiedene Kategorien. Die Verwendung desselben Ausdrucks für differierende Sachverhalte sei wenig hilfreich und daher solle man sich doch erst einmal darum bemühen, begriffliche Klarheit zu schaffen. Zur Stützung seiner Auffassung verweist Firgau auf die Anmerkung 17 zur Neuausgabe der Grundlinien ... von 1924. "Was offenbart wird, muß vorher schon unoffenbar existiert haben und auch weiterhin existieren." schreibt Firgau dazu. Und weiter: "Man muß demnach unterscheiden zwischen zwei Wirklichkeitskategorien, zwischen der unoffenbar existierenden und der durch den Erkenntnisakt »erzeugten« (=offenbarten) und als solche gleichfalls existierende Wirklichkeit." 2 Ich glaube Werner Firgaus kritische Bemerkung und sein Wunsch nach begrifflicher Klärung ist mehr als berechtigt, weil die von ihm angesprochene Erzeugungsproblematik wegen ihrer Mehrdimensionalität ziemlich verwickelt und unübersichtlich ist. Nicht nur erlaubt die engere Frage des Wirklichkeitsschaffens verschiedenartige Verständnismöglichkeiten, sondern sie ist wegen der Überlagerung erkenntnistheoretischer und ontologischer Aspekte obendrein etwas spröde. Und der Steinersche Sprachgebrauch läßt nicht immer auf den ersten Blick erkennen, ob das fragliche Thema gerade ontologisch - und wenn ja, in welchem Sinne? - oder erkenntnistheoretisch behandelt wird. Darüber hinaus geht es bei dieser Angelegenheit auch darum, ob unsere Erkenntnis vorhandene, vorgegebene Wirklichkeit in irgend einem Sinne abbildet bzw. repräsentiert oder ob sie diesen Anspruch weder erheben will noch kann. Auf eben diese Thematik stößt man unweigerlich im Zuge der Firgauschen Fragestellung. Und auch hier scheint mir manches einer Klärung bedürftig. Wenn es nämlich so ist, wie Werner Firgau mit guten Gründen meint, daß zwischen der Wirklichkeit in meinem Bewußtsein d.h. der "offenbarten Wirklichkeit" und der von mir unabhängigen "der unoffenbar existierenden Wirklichkeit" ein kategorialer Unterschied besteht, dann müßte das Wirklichkeitsbild in meinem Bewußtsein die unoffenbare Wirklichkeit in irgendeinem Sinne repräsentieren. Anders gesprochen: ich müßte eine bis dahin unoffenbare Wirklichkeit in meinem Bewußtsein auf dem Erkenntniswege abbilden und in dieser abgebildeten Form wäre sie dann geoffenbart. Gegen einen solchen Gedanken der Abbildung spricht vieles - insbesondere der konstruktivistische Zug Steiners, sein Konzept des produktiven Erkennens, schließt augenscheinlich eine Abbildung von Wirklichkeit aus, wie Wilfried Gabriel unlängst in seiner Untersuchung betont hat. "Alle Abbildungstheorien des Erkennens sind ... nach Steiner zu verwerfen. Die Welt des Beobachters ist kein mehr oder weniger deutliches bzw. ähnliches Abbild einer vorgegebenen Wirklichkeit, sondern sein eigenes Erzeugnis." 3 Diese Ansicht läßt sich auf den ersten Blick mit Steiners eigenen Aussagen recht gut dokumentieren, denn Steiner selbst hat sich wiederholt explizit ablehnend gegen ein Abbildungsverständnis der Erkenntnis geäußert. (Besonders ausführlich im Kapitel Goethes Erkenntnistheorie = GA-1, 1973, S. 143 ff) 3a Zum anderen gibt es offensichtlich aus wahrheitstheoretischen Überlegungen heraus gewisse Schwierigkeiten mit einer Korrespondenz- oder Abbildtheorie der Erkenntnis, wie sie sich aus Werner Firgaus Überlegungen anzudeuten scheint. Wenn unsere Erkenntnis etwas abbildet, nämlich die Wirklichkeit, dann müßten wir unser Bild der Wirklichkeit mit dem Original vergleichen können, andernfalls wir keine Möglichkeit einer Überprüfung dieses Abbildes hinsichtlich seiner genauen Entsprechung hätten. Wenn aber das, was wir Wirklichkeit nennen, immer schon den Weg durch unser Erkenntnisvermögen genommen hat, dann können wir unter Umständen Erkenntnisse lediglich mit Erkenntnissen vergleichen, also Abbilder mit Abbildern, Offenbartes mit Offenbartem und nicht Offenbartes mit Unoffenbarem. Die Übereinstimmung von Abbild und Original müßte aber im Falle einer Abbildtheorie gewährleistet sein und wir hätten damit die Aufgabe, zu überprüfen, auf welchem Wege sich die geoffenbarte Wirklichkeit mit ihrem unoffenbaren Vorbild vergleichen ließe. 4 Nun läßt sich aber auch Werner Firgaus Position stützen, nicht nur mit dem von ihm angeführten Zitat, sondern auch mit analogen Textstellen, in denen Steiner den Erkenntnisvorgang als einen Rekompositionsprozeß (Witzenmann) begreift. Danach wird eine vorgegebene und in dieser Form noch unoffenbare Wirklichkeit im Erkenntnisprozeß nicht etwa neu geschaffen sondern lediglich re-komponiert, d.h. die ursprüngliche Einheit der Wirklichkeit wird wieder hergestellt. Die Rekomposition ist zwar ein produktiver, konstruktivistischer Prozeß, aber die Bestandteile dieser Zusammenfügung sind bereits vorhanden und werden lediglich in ihrem Ursprungszusammenhang durch das Erkennen sichtbar gemacht. Die Erkenntnisleistung besteht danach in der Sichtbarmachung dieses ursprünglichen Zustandes. Aus dieser Perspektive gesehen ist das Erkennen durchaus als Abbildung begreifbar.
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