Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Wirklichkeitsbegriff Rudolf Steiners

(Stand 21.01.2018)

Kapitel 5

Ein folgenreicher Zitierfehler bei Witzenmann

Seinen philosophischen Zeitgenossen macht Rudolf Steiner am Ende der Anmerkung zu Seite 16 der "Grundlinien ..." den Vorwurf, eine Wirklichkeit zu suchen, die jenseits des Erkennens liegt und von dieser Wirklichkeit sich im Erkennen ein Abbild machen zu wollen: "Alles dies setzt doch voraus, daß die Wirklichkeit irgendwo außer dem Erkennen vorhanden sei, und in dem Erkennen eine menschliche, abbildliche Darstellung dieser Wirklichkeit sich ergeben soll, oder auch, sich nicht ergeben kann." sagt Steiner dort. Weiter: "Daß diese Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird, das wird kaum irgendwo empfunden. Die philosophisch Denkenden suchen das Leben und Sein außer dem Erkennen;" 42

Diese Formulierung Steiners ist nun ausgesprochen mehrdeutig und eine sicheres Verständnis läßt sich nicht ohne weiteres gewinnen. Ich stelle deswegen hier zwei alternative Deutungsmöglichkeiten vor, die jeweils Plausibilität für sich beanspruchen könnten. Man kann sich der Formulierung "diese Wirklichkeit" im zweiten Teil des Zitats in zwei Lesarten zu nähern versuchen, je nachdem, ob man den Ausdruck "diese Wirklichkeit" in einem allgemeineren Sinne versteht oder ihn enger auf jene Wirklichkeit bezieht, die "irgendwo außer dem Erkennen" vorhanden sein soll.43 Beide Lesarten sind grammatikalisch möglich und ergeben auch einen Sinnzusammenhang. Aber - und das ist das philosophisch Bemerkenswerte an diesen beiden Lesarten: sie haben jeweils eine recht verschiedene Aussage. Im ersten Fall wird die "Wirklichkeit" im Erkennen erst geschaffen und kann daher nicht "gefunden" werden. Im zweiten Fall aber wird lediglich die "erkenntnisjenseitige Wirklichkeit" im Erkennen erst geschaffen und kann deswegen nicht "gefunden" werden. Und diese zweite Lesart ist in meinen Augen inzwischen die einzig sinnvolle.

Die erste Lesart ergibt sich wie folgt: Was Steiner seinen Zeitgenossen implizit vorhält ist ein Mehrfaches, nämlich eine Reihe von logischen Ungereimtheiten und offenkundigen Unklarheiten hinsichtlich dessen, was sie tun. Sie suchen eine dem Erkennen jenseitige ("außer") Wirklichkeit, etwa im Sinne der Kantschen Dinge an sich, die entweder abbildbar sein soll oder auch nicht. Sie setzen damit die Wirklichkeit als fertig vorgegebene und (noch) zu findende voraus und sie setzen weiter voraus, daß das Erkennen weder wirklichkeitsfähig noch selbst wirklichkeitsangehörig ist, deswegen suchen sie Leben und Sein jenseits ("außer") des Erkennens. Gleichwohl erörtern sie die Möglichkeiten eines Erkenntniszugangs zu dieser erkenntnisjenseitigen Wirklichkeit, was ja ein Widerspruch in sich ist. Denn was grundsätzlich jenseits meiner Erkenntnis liegt, darüber brauche ich gar nicht erst zu reden. Rede ich aber darüber, dann liegt es nicht mehr jenseits meiner Erkenntnis. Sie versuchen also etwas zu vollziehen, was nicht vollziehbar ist. Es ist somit unsinnig, jenseits der Erkenntniswirklichkeit noch eine andere zu suchen und deren mögliche Abbildbarkeit zu debattieren.

Aber die Wirklichkeit, das ist Steiners Auffassung, kann als fertig vorgegebene nicht gefunden werden, weil sie im Erkennen als Erkenntnis-Wirklichkeit durch das Zusammenfügen von Wahrnehmlichem und Begrifflichem erst erzeugt wird und erzeugt werden muß. Da sie also für das Erkennen nicht fertig vorgegeben ist, kann sie in dieser fertigen Form auch niemals gefunden werden. Sie muß unter allen Umständen vom Erkennen erst fertiggestellt, das heißt: rekomponiert werden.

Soweit die erste Lesart des Zitats. Die für uns wichtige Kernaussage lautet: »Die Wirklichkeit kann durch das Erkennen nicht gefunden werden, weil sie im Erkennen erst geschaffen wird.« Mit dieser Interpretationsrichtung findet man das Zitat bei Herbert Witzenmann kommentiert und ich selbst habe ihm - unabhängig von Witzenmann - diesen Sinn in meiner Kuhn-Arbeit im Jahrbuch 96 beigelegt. Bei Herbert Witzenmann kommt neben einer zusätzlichen interpretatorischen Besonderheit auch eine textliche Eigentümlichkeit hinzu: Witzenmann scheint diesem Zitat zu entnehmen, daß Steiner sich hier generell auch gegen das Voraussetzen von Wirklichkeit wende und folglich diese nicht vorausgesetzt werden dürfe. Zumindest dient es ihm zur Bestätigung seiner diesbezüglichen eigenen Auffassung. Und auch in textlicher Hinsicht lautet das Steinerzitat bei Witzenmann ganz geringfügig anders - um zwei Buchstaben reduziert - aber diese zwei Buchstaben haben es in sich. Das Zitat bekommt dadurch einzig den oben zuerst genannten Sinn: Die Wirklichkeit wird im Erkennen erst geschaffen, während die andere Zitatvariante, einen davon doch sehr verschiedenen Gedankengang wesentlich plausibler erscheinen läßt. Und dieser andere Gedankengang wird durch die Textveränderung gleichsam ausradiert.

Ich gebe nachfolgend das von Witzenmann angeführte Zitat mit der näheren Witzenmannschen Textumgebung wieder. Witzenmann schreibt: "Die Idee der im Erkennen erst entstehenden, diesem also nicht vorgegebenen Wirklichkeit ist von grundlegender Bedeutung für das Werk Rudolf Steiners. Eine wissenschaftliche Überwindung des Materialismus ist ohne sie nicht möglich.'° Dennoch ist die Bedeutung dieser Idee bis heute nicht erkannt worden. Als Rudolf Steiner in seiner letzten Lebenszeit sein Jugendwerk «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» neu herausgab, hatte sich die Erkenntnissituation seit den Jahren seiner Entstehung so wenig verändert, daß er sich zu der Bemerkung genötigt sah: «Alles dies setzt doch voraus, daß die Wirklichkeit irgendwo außer dem Erkennen vorhanden sei, und in dem Erkennen eine menschliche, abbildliche Darstellung dieser Wirklichkeit sich ergeben soll, oder auch sich nicht ergeben kann. Daß die Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird, das wird kaum irgendwo empfunden».71 Die Wirklichkeit wurde also damals und wird auch noch heute vorausgesetzt." [Fettdruck MM] 44

Es ist anzumerken, daß Witzenmann sich hier auf ein Zitat stützt, das so in keiner einzigen Auflage der Grundlinien ... existiert, wie eine Überprüfung sämtlicher Ausgaben dieser Schrift durch das Rudolf Steiner Archiv in Dornach am 16.10.01 ergeben hat. Witzenmann hat statt dessen Steiners Originaltext im Sinne einer spezifischen Interpretation verändert. Und zwar im Sinne einer Interpretation, die, wie wir nachfolgend zeigen werden und wie aus der Nachricht des Rudolf Steiner Archivs hervorgeht, gravierend vom ursprünglichen Sinnzusammenhang des Textes abweicht und in eine diametral entgegengesetzte Richtung weist. (Näheres zur Korrespondenz mit dem Rudolf Steiner Archiv finden Sie hier.)

Das fehlerhafte Zitat findet sich bereits in einer Ausgabe von Witzenmanns Schrift aus dem Jahre 1958. (Siehe Anmerkung 44) Dort noch nicht enthalten ist sein abschließender Kommentar: "Die Wirklichkeit wurde also damals und wird auch noch heute vorausgesetzt." Witzenmann hat sich also erkennbar im Zuge der Neuauflage seiner Schrift mit der Aussage des Grundlinienzitats noch einmal näher befaßt, ohne zu bemerken, daß er falsch zitiert und dadurch den Sinn der ursprünglichen Steinerschen Aussage verdreht, - man möchte sagen: auf den Kopf gestellt - hat. Infolgedessen hat er in der späteren Auflage sein ursprüngliches Mißverständnis noch einmal in einer prägnanten Formel zementiert.

Der für uns wichtige textliche Unterschied besteht in der Formulierung "Daß die Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird, ...." [Fettdruck MM] im zweiten Satz des von Witzenmann angeführten Steinerzitats aus den "Grundlinien ...". Während wir in der GA-2 von 1979 auf S. 137 die Wendung "Daß diese Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird, ..." [Fettdruck MM] lesen und dasselbe in der Taschenbuchausgabe von 1960 auf S. 137, finden sich im Zitat von Witzenmann zwei Buchstaben weniger. Und dieses um zwei Buchstaben geminderte Zitat läßt unsere obige erste Deutung besonders augenfällig erscheinen: die Wirklichkeit kann durch das Erkennen nicht gefunden werden, weil sie durch die Synthese von Wahrnehmung und Begriff als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird. Witzenmanns anschließender Kommentar allerdings: "Die Wirklichkeit wurde also damals und wird auch noch heute vorausgesetzt." scheint mir dagegen in gar keinem Falle sinnvoll auf dieses Zitat angewendet werden zu können, weil Steiner hier nicht eine vorausgesetzte Wirklichkeit zum Thema macht, sondern eine vorausgesetzte erkenntnisjenseitige Wirklichkeit und das ist schon etwas anderes. Wir können demnach Steiners Anmerkung keinesfalls als Beleg dafür nehmen, daß er sich gegen das Voraussetzen von Wirklichkeit wendet, sondern lediglich gegen das Voraussetzen von erkenntnisjenseitiger Wirklichkeit.

Die Taschenbuchvariante des Zitats, ebenso wie die Variante von GA-2, 1979, die sich laut Auskunft des Rudolf Steiner Archivs ausnahmslos in sämtlichen Auflagen der Grundlinien ... findet, macht indessen nicht unsere obige erste Deutung, sondern einen anderen Sinn stichhaltiger. Die Formulierung "Daß diese Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird, ..." bezieht sich dann nämlich auf die Wirklichkeit, die "irgendwo außer dem Erkennen" vorhanden sein soll und von welcher man sich ein Abbild machen will oder auch nicht machen kann. Und diese Wirklichkeit "außer dem Erkennen" wird dabei vorausgesetzt.

Was ist nun eine Wirklichkeit "außer dem Erkennen"? - Wenn wir dem direkten Wortsinn folgen, dann, denke ich, ist es eine Wirklichkeit außer-halb des Erkennens, vielleicht auch neben dem Erkennen, in jedem Fall - ob außerhalb oder neben - ist es eine Wirklichkeit jenseits des Erkennens. Es ist eine Wirklichkeit an sich, die aus Dingen an sich besteht und dem Erkennen nach Ansicht Kants und vieler Nachfolger gänzlich unzugänglich ist. Und diese erkenntnisjenseitige Wirklichkeit aus Dingen an sich wird von Steiners Zeitgenossen vorausgesetzt und deren Abbildbarkeit wird diskutiert, was ja auch der philosophischen Zeitsituation des Neukantianismus entspricht. Deswegen suchen die "philosophisch Denkenden" auch das "Leben und Sein außer dem Erkennen", wie Steiner anmerkt. Und gegen diese vorausgesetzte Wirklichkeit der Dinge an sich, gegen den Kantianismus in allen möglichen Spielarten - gegen den "ungesunden Kant-Glauben" seiner Zeit - richtet sich Steiner, wie wir in "Wahrheit und Wissenschaft" lesen können: "Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Kant-Glauben. Die vorliegende Schrift soll ein Beitrag zu seiner Überwindung sein. Frevelhaft wäre es, die unsterblichen Verdienste dieses Mannes um die Entwickelung der deutschen Wissenschaft herabwürdigen zu wollen. Aber wir müssen endlich einsehen, daß wir nur dann den Grund zu einer wahrhaft befriedigenden Welt- und Lebensanschauung legen können, wenn wir uns in entschiedenen Gegensatz zu diesem Geiste stellen. Was hat Kant geleistet? Er hat gezeigt, daß der jenseits unserer Sinnen- und Vernunftwelt liegende Urgrund der Dinge, den seine Vorgänger mit Hilfe falsch verstandener Begriffsschablonen suchten, für unser Erkenntnisvermögen unzugänglich ist. Daraus hat er gefolgert, daß unser wissenschaftliches Bestreben sich innerhalb des erfahrungsmäßig Erreichbaren halten müsse und an die Erkenntnis des übersinnlichen Urgrundes, des «Dinges an sich» , nicht herankommen könne. Wie aber, wenn dieses «Ding an sich» samt dem jenseitigen Urgrund der Dinge nur ein Phantom wäre! Leicht ist einzusehen, daß sich die Sache so verhält."45

Zu einem ähnlich prägnanten Fazit kommt Steiner im Kapitel Goethes Erkenntnistheorie (GA-1, 1973) das sich SS 143 ff ausführlicher kritisch mit den verschiedensten Varianten einer Abbildungstheorie des Erkennens befaßt, und betont auf S. 157: "Damit haben wir der transzendenten Weltansicht Lockes, Kants, des späteren Schelling, Schopenhauers, Volkelts, der Neukantianer und der modernen Naturforscher eine wahrhaft immanente gegenübergestellt. Jene suchen den Weltgrund in einem dem Bewußtsein Fremden, Jenseitigen, die immanente Philosophie in dem, was für die Vernunft zur Erscheinung kommt. Die transzendente Weltansicht betrachtet die begriffliche Erkenntnis als Bild der Welt, die immanente als die höchste Erscheinungsform derselben. Jene kann daher nur eine formale Erkenntnistheorie liefern, die sich auf die Frage gründet: Welches ist das Verhältnis von Denken und Sein? Diese stellt an die Spitze ihrer Erkenntnistheorie die Frage: Was ist Erkennen? Jene geht von dem Vorurteil einer essentiellen Differenz von Denken und Sein aus, diese geht vorurteilslos auf das allein Gewisse, das Denken, los und weiß, daß sie außer dem Denken kein Sein finden kann."

Durch den parallelen Gebrauch des Wörtchens "außer" im letzten Zitat findet sich schließlich eine weitere, noch direktere Verständnishilfe zur diskutierten Anmerkung aus den Grundlinien ... . Am Ende der Passage schreibt Steiner: " ...diese [immanente Weltansicht, MM] geht vorurteilslos auf das allein Gewisse, das Denken, los und weiß, daß sie außer dem Denken kein Sein finden kann." Wobei er die Bedeutung dieses "Außer" schon kurz vorher im Sinne von "fremd" oder "jenseits" erläutert hat: "Jene suchen den Weltgrund in einem dem Bewußtsein Fremden, Jenseitigen, die immanente Philosophie in dem, was für die Vernunft zur Erscheinung kommt." Hier ist nicht nur der philosophische Kontext vergleichbar mit dem der Anmerkung der Grundlinien ..., sondern auch der spezifische sprachliche Ausdruck ist derselbe. Wenn Steiner also gleichsam im Sinne einer Ortsbestimmung sagt, daß etwas außer dem Denken beziehungsweise außer dem Erkennen liege, dann meint er das im Sinne von jenseits des Denkens oder Erkennens und diesem ganz fremd und unzugänglich.

Steiner polemisiert in dem Zitat der "Grundlinien ..." nicht gegen eine vorausgesetzte Wirklichkeit, sondern gegen eine vorausgesetzte erkenntnisjenseitige Wirklichkeit, beispielsweise nach Kantscher Vorstellung. (Siehe hierzu ausführlicher auch das IV., V. und VI. Kapitel der Philosophie der Freiheit.) Wenn man das ganze Zitat so liest, ergibt der Witzenmannsche Nachsatz zum Steinerzitat keinen rechten Sinn mehr, ebensowenig wie seine einleitende Kommentierung. Denn gegen eine vorausgesetzte erkenntnisjenseitige Wirklichkeit polemisieren ist nicht dasselbe wie gegen eine vorausgesetzte Wirklichkeit polemisieren. Und gegen eine vorausgesetzte erkenntnisjenseitige Wirklichkeit zu polemisieren ist aus Steiners Sicht philosophisch sinnvoll und notwendig. Gegen eine vorausgesetzte Wirklichkeit zu polemisieren dagegen nicht. Das wäre nur angemessen am Ausgangspunkt einer Erkenntnistheorie oder wenn wir einen Solipsismus vertreten. Wer außerhalb der engeren erkenntnistheoretischen Umgebung Wirklichkeit nicht voraussetzt, weitet die erkenntnistheoretische Eingangssichtweise entweder unsinnigerweise auf Erkenntnis und Wirklichkeit schlechthin aus oder er ist ein Solipsist oder, um an heutige Strömungen anzuknüpfen: radikaler Konstruktivist, der seine Wirklichkeit generell schafft, und sie daher prinzipiell nicht voraussetzen kann, oder aber - auch diese Möglichkeit besteht - er verwechselt die Erkenntnis-Wirklichkeit mit ontisch vorgegebener Wirklichkeit. Weder im einen noch in den andern Fällen kann er sich dabei auf die Wirklichkeitsauffassung Rudolf Steiners berufen.

Die Besonderheit von Witzenmanns fehlerhaftem Zitat der "Grundlinien ...", das Weglassen der zwei Buchstaben, führt nun weiter dazu, daß die grammatikalische Bezugnahme auf die von Steiner gemeinte erkenntnisjenseitige Wirklichkeit nicht mehr sichtbar ist. Wir lesen dann sinngemäß, so wie bei Witzenmann angegeben,: >Die Wirklichkeit wird im Erkennen erst geschaffen.< Lassen wir die zwei Buchstaben nicht weg, so lesen wir sinngemäß: >Diese Wirklichkeit wird im Erkennen erst geschaffen.< Wir erhalten durch das »Diese« eine direkte Bezugnahme auf die vorher von Steiner angeführte erkenntnisjenseitige Wirklichkeit. Und diese Bezugnahme fällt umso leichter, weil Steiner im Satz vorher auch von "dieser Wirklichkeit" - das ist die erkenntnisjenseitige Wirklichkeit - spricht. Durch die Wendung: "Daß diese Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird, ..." findet nicht nur eine grammatikalische Anbindung, sondern auch eine stilistische Pointierung und Verstärkung dieser Bezugnahme statt, und diese Verstärkung entfällt ebenso wie die augenfällige Bezugnahme, wenn man anstelle von "Daß diese Wirklichkeit..." setzt: "Daß die Wirklichkeit ...". Läßt man die Buchstaben nicht fort, dann erscheint eine Lesart der folgenden Art sinnvoll: »Die erkenntnisjenseitige Wirklichkeit wird durch das Erkennen nicht gefunden, weil sie im Erkennen erst geschaffen wird.« Läßt man die Buchstaben weg, dann erscheint sinngemäß: »Die Wirklichkeit wird durch das Erkennen nicht gefunden, weil sie im Erkennen erst geschaffen wird.«

Die Folgen von Witzenmanns Zitatveränderung sind streng genommen bestürzend: Denn die Wirklichkeit verschwindet. Daher kann sie durch das Erkennen nicht gefunden werden. Und deswegen darf sie laut Witzenmann auch nicht vorausgesetzt werden. Steiners Wirklichkeitsauffassung endet faktisch im Solipsismus.

Nun läßt sich dieser Satz: »Die Wirklichkeit wird durch das Erkennen nicht gefunden, weil sie im Erkennen erst geschaffen wird.« bei genauer Betrachtung und vor allem bei Kontrastierung mit Parallelaussagen Steiners aus der Philosophie der Freiheit ebenfalls nicht sinnvoll auf Steiners Wirklichkeitsauffassung anwenden. Ich sage das, weil und obwohl ich mich in meiner Kuhn-Arbeit gleichermaßen wie Witzenmann auf eben diese Lesart bezogen habe. Aber es fällt schwer, ihr einen klaren Sinn abzugewinnen, ohne sich gedanklich zu verrenken - Werner Firgau ist an dieser Stelle für seine aufmerksame Lektüre und die schriftliche Stellungnahme ganz besonders zu danken, denn ohne den Ansporn seiner kritischen Einwände hätte ich mich der Mühe einer neuerlichen und ausgedehnten Überprüfung sicherlich nicht so bald unterzogen und dieser Sachverhalt wäre mir nicht aufgegangen. - Es scheint wenig sinnvoll, zu sagen: »Die Wirklichkeit wird durch das Erkennen nicht gefunden, weil sie im Erkennen erst geschaffen wird.«, denn gerade durch den produktiven Akt der Zusammenführung von Wahrnehmung und Begriff finden wir ja die Wirklichkeit, wie Steiner im VII. Kapitel auf S. 124 f der Philosophie der Freiheit bemerkt: "Der Monismus kommt gar nicht in die Lage, außer Wahrnehmung und Begriff nach anderen Erklärungsprinzipien der Wirklichkeit zu fragen. Er weiß, daß sich im ganzen Bereiche der Wirklichkeit kein Anlaß dazu findet. Er sieht in der Wahrnehmungswelt, wie sie unmittelbar dem Wahrnehmen vorliegt, ein halbes Wirkliches; in der Vereinigung derselben mit der Begriffswelt findet er die volle Wirklichkeit." [Fettdruck MM]

In dieselbe Richtung weist eine weitere Passage auf S. 115 der Philosophie der Freiheit: "Es folgt aus dem Begriffe des Erkennens, wie wir ihn bestimmt haben, daß von Erkenntnisgrenzen nicht gesprochen werden kann. Das Erkennen ist keine allgemeine Weltangelegenheit, sondern ein Geschäft, das der Mensch mit sich selbst abzumachen hat. Die Dinge verlangen keine Erklärung. Sie existieren und wirken aufeinander nach den Gesetzen, die durch das Denken auffindbar sind. Sie existieren in unzertrennlicher Einheit mit diesen Gesetzen. Da tritt ihnen unsere Ichheit gegenüber und erfaßt von ihnen zunächst nur das, was wir als Wahrnehmung bezeichnet haben. Aber in dem Innern dieser Ichheit findet sich die Kraft, um auch den andern Teil der Wirklichkeit zu finden. Erst wenn die Ichheit die beiden Elemente der Wirklichkeit, die in der Welt unzertrennlich verbunden sind, auch für sich vereinigt hat, dann ist die Erkenntnisbefriedigung eingetreten: das Ich ist wieder bei der Wirklichkeit angelangt."

Also: Genau da haben wir die gesuchte Wirklichkeit. Im Erkennen wird eine bereits existierende Wirklichkeit gefunden beziehungsweise die bestehende einheitliche Wirklichkeit wiedergefunden, die unsere Organisation auseinandergerissen hat. Wann sollten wir im Sinne Steiners die Wirklichkeit je finden, wenn nicht durch das Erkennen? Sollte etwa der Umstand, daß wir zur Wirklichkeit nur auf dem Wege einer produktiven Synthese kommen, implizieren, daß wir die Wirklichkeit durch das Erkennen nicht finden können? - dem mag man nur mit Mühe einen ernstzunehmenden Sinn abgewinnen. Es gibt nur eine Wirklichkeit, die wir nach Auffassung Steiners grundsätzlich durch das Erkennen nicht finden können, weil wir sie im Erkennen erst schaffen - und das ist die Wirklichkeit jenseits der Erkenntnis.

Wenn wir die Anmerkung in den Grundlinien ... mit den Passagen aus der Philosophie der Freiheit kontrastieren, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten der Interpretation: Entweder sind Steiners Positionen in den beiden Schriften miteinander kompatibel oder sie sind miteinander unverträglich. Wenn sie einander entsprechen, dann wird die Wirklichkeit im Erkennen gefunden. Und jene Wirklichkeit der Anmerkungen, die im Erkennen erst geschaffen wird, aber nicht gefunden werden kann, kann nur die Wirklichkeit außer dem Erkennen sein, von der die Anmerkungen sprechen. Es ist die Wirklichkeit, die jene suchen beziehungsweise schaffen, die von einer "essentiellen Differenz von Denken und Sein" ausgehen, wie es weiter oben hieß. Sollte dagegen die Lesart der Anmerkungen lauten, daß die Wirklichkeit im Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie im Erkennen erst geschaffen wird, dann hätten wir ein ernstes Problem der Steinerrezeption, nämlich zwei ganz entgegengesetzte Auffassungen zum selben Sachverhalt in den Grundschriften.

Wenn wir dagegen den Satz in der vorgeschlagenen Weise auf die erkenntnisjenseitige Wirklichkeit beziehen, dann erscheint er doch recht plausibel. Dann kann nämlich die erkenntnisjenseitige Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden, weil sie als erkenntnisjenseitige Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird. Mit anderen Worten: sie kann nicht gefunden werden, weil sie nicht existiert, sondern eine theoretische Erfindung ist, die teils auf naturwissenschaftliches, teils auf philosophisches Denken und teils auf eine Vermengung beider zurückgeht. Und das ist in jeder Hinsicht einleuchtend. Nähere Einzelheiten über diesen Prozeß des Erfindens, Konstruierens, Erschließens oder Schaffens von erkenntnisjenseitiger Wirklichkeit im Erkennen lassen sich reichlich in der Philosophie der Freiheit (GA-4, 1978), etwa in den Kapiteln V. bis VII. nachlesen, die unter anderem einer Kritik des naiven Realismus, des absoluten Illusionismus, sowie des transzendentalen Realismus Eduard von Hartmanns gewidmet sind. Noch mehr in die Details gehend im Kapitel Die Welt als Illusion in der Schrift Die Rätsel der Philosophie (GA-18, 1968). 45a

Damit kommen wir nun zur zweiten und für mich inzwischen einzig plausiblen Lesart des Steinerzitats aus den "Grundlinien ...". Sie folgt zunächst ganz der ersten: Steiner hält seinen Zeitgenossen implizit logische Widersprüchlichkeit vor, weil sie die Abbildbarkeit einer erkenntnisjenseitigen Wirklichkeit debattieren, denn weder läßt sich über so eine Wirklichkeit logisch sinnvoll diskutieren noch über ihre mögliche Abbildbarkeit. Sie wissen also nicht genau, was sie im Erkennen tun, denn sonst könnten sie diese Diskussion nicht führen - Das heißt, sie haben keinen klaren Begriff vom Erkennen und als Folge dieser Unklarheit zerbrechen sie sich den Kopf über die Abbildbarkeit einer erkenntnisjenseitigen Wirklichkeit, die sie doch selbst im Erkennen erst geschaffen haben. Aber diese erkenntnisjenseitige Wirklichkeit - das ist Steiners Auffassung - kann durch das Erkennen unmöglich gefunden werden, weil sie eben im Erkennen erst geschaffen wird.

In Steiners Vorhaltungen gegenüber den philosophischen Zeitgenossen steckt insbesondere der Tadel, daß diese sich nicht darüber im klaren sind, daß die von ihnen gesuchte erkenntnisjenseitige Wirklichkeit als Erkenntnisgegenstand vom produktiven Anteil des Erkennens gar nicht zu befreien ist. Sie verfügen demnach über einen unzureichenden Begriff des Erkennens, der ihnen diesen Sachverhalt nicht transparent machen kann. Welche Wirklichkeitsauffassung ich auch vertreten mag, sie ist notwendig ein Resultat meiner Erkenntnisbemühungen. Wenn ich also etwas abbilden wollte, was jenseits meines Erkennens liegt, dann kann ich mich drehen und wenden wie ich will, ich würde doch letztendlich nur mein eigenes Erkenntnisprodukt d.h. ein Erkenntnisdiesseitiges abbilden wollen.

Die gesuchte erkenntnisjenseitige Wirklichkeit - und das ist der weitere eingeschlossene Gehalt der Steinerschen Kritik - ist nämlich ein ganz ausschließliches Produkt des menschlichen Erkenntnisvermögens und zwar nicht nur im epistemischen Sinne sondern auch - mit Einschränkungen gesagt - im ontologischen. Mit Einschränkungen deswegen versehen, weil es sie faktisch gar nicht gibt und nicht geben kann - sie ist ein theoretisches oder metaphysisches Gespenst. Wenn wir von der gewöhnlichen Wirklichkeit sagen können, sie sei uns in zwei Hälften vorgegeben, einer wahrnehmlichen und einer ideellen, die wir im Erkenntnisprozeß vereinigen, so ist uns die gemeinte erkenntnisjenseitige Welt niemals vorgegeben und sie kann es auch gar nicht sein, denn sie ist reine erkenntnistheoretische Fiktion.

Wenn wir die so gesuchte erkenntnisjenseitige Wirklichkeit eine »erkenntnisheterogene« nennen, etwa im Sinne der Kantschen Dinge an sich, die dem Erkennen als absolut unzugänglich betrachtet werden, dann können wir im Sinne der Steinerschen Auffassung sagen: Diese »erkenntnisheterogene« Wirklichkeit ist ein ausschließliches Produkt des Erkennens, dem nichts in der Wirklichkeit entspricht. Als theoretisches Konstrukt oder als Fiktion erzeugt der Mensch den Begriff einer Wirklichkeit, die gänzlich außerhalb seiner Erkenntnis liegt und die er entweder abbilden können soll oder auch nicht. Dieses Projekt »erkenntnisjenseitige Wirklichkeit« liegt bei genauer Betrachtung am Endpunkt einer ausgedehnten epistemologischen, metaphysischen und einzelwissenschaftlichen Auseinandersetzung um das Verhältnis von Sein und Erkenntnis. Die Vorstellung dieser erkenntnisjenseitigen Wirklichkeit - so könnte man vielleicht heute sagen - ist im allerhöchsten Maße theoriebeladen, ein ausschließliches Produkt menschlichen Denkens. Und die Gedankenwege zu dieser Konstruktion sind dermaßen zu einem paralogischen Geflecht verfilzt und verknotet, daß ihr Widersinn kaum noch zu erkennen ist. Von dieser theoretischen Erfindung, die der Mensch gleichsam aus sich herausgesetzt hat, erscheint es nun wenig sinnvoll, sie zum Original zu erklären, dessen Abbildbarkeit zu diskutieren wäre, weil hinter diesem Vorhaben jene Selbsttäuschung steckt, die im Vergessen des eigenen Erkentnisanteiles begründet ist. Das theoretisch postulierte »erkenntnisheterogene« Original enthält das gesamte Inventar des philosophisch-naturwissenschaftlichen Denkens, das zu seiner Entstehung geführt hat, so wie jedes naturwissenschaftliche Erkenntnisobjekt all die Theorien enthält, die zu seiner Entdeckung und Einordnung in den Wirklichkeitszusammenhang geführt haben. In diesem Sinne wird sie im Erkennen erst geschaffen. Die erkenntnisjenseitige Wirklichkeit ist nicht minder erkenntnisbefrachtet wie ein Elektronenmikroskop. Anders gesagt: ich komme aus dem Erkennen gar nicht heraus wenn ich zu einer Wirklichkeit jenseits aller Erkenntnis vorstoßen will. Die »erkenntnisfreie« Wirklichkeit ist als philosophischer Topos das Resultat hochkomplexer Überlegungen und Erkenntnisbemühungen. Sie ist eine reine philosophische Schöpfung.

Damit zeigt sich die erkenntnisjenseitige Wirklichkeit alles andere als erkenntnisfrei sondern als echtes Kunstprodukt menschlichen Denkens. Aber das ist nicht ihr einziges Problem - sie ist daneben als erkenntnistheoretischer Begriff vollkommen absurd weil sich selbst widersprechend - gewissermaßen eine erkenntnistheoretische Schimäre. Auf diese logische Konsequenz einer erkenntnisjenseitigen Wirklichkeit deutet Eduard von Hartmann am Beispiel des Kantschen Dinges an sich hin46. Wenn wir einige Argumente Hartmanns, die eigentlich mehr bewußtseinstheoretisch ausgerichtet sind, auf das Problem des Erkenntnisheterogenen ummünzen, dann könnten wir den folgenden Gedanken formulieren: »Wenn ich versuche, etwas zu denken, was jenseits meiner Erkenntnissphäre liegt, also nicht zu meinem Erkenntnisinhalt gehören kann, so misslingt dieser Versuch so lange, als die für das zu Denkende gestellte Bedingung, ausser meiner Erkenntnissphäre liegen zu sollen, festgehalten wird; in dem Augenblicke aber, wo der Versuch zu gelingen scheint, ist eben das zu Denkende mein Erkenntnisinhalt geworden, also in meine Erkenntnissphäre eingetreten, hat also eben damit aufgehört, ein jenseits meiner Erkenntnissphäre Gelegenes zu sein. So lange ich nicht denke, so lange denke ich auch nicht ein Ding an sich; ... Ich mag nicht-denken oder denken, niemals kann es etwas Erkenntnis-Heterogenes sein, was ich auf diesem Wege erreiche. Denke ich aber etwas und bilde mir dabei ein, etwas Erkenntnis-Heterogenes zu denken, so widerspreche ich mir selbst, indem ich dadurch, dass ich es denke, beweise, dass es ein Erkenntnis-Homogenes ist.«47

Sobald ich auch nur die allergeringste Aussage über einen erkenntnisheterogenen bzw. erkenntnisjenseitigen Gegenstand mache, ist er bereits in den Horizont des Erkenntnismöglichen eingetreten und hat folglich seinen erkenntnisheterogenen Charakter verloren. Nicht einmal als Grenzbegriff ohne jede positive Bestimmung, schreibt von Hartmann, ist ein erkenntnisheterogenes Ding an sich denkbar: "Wäre nun aber das Ding an sich dem Denken völlig heterogen, und wäre sein adäquater Bewusstseinsrepräsentant ein bloss negativer Grenzbegriff des Denkens ohne jeden positiven Gehalt, dann hätte allerdings die Hypothese des Dinges an sich keinerlei Werth für die theoretische Erklärung der Welt und für das praktische Verhalten in ihr, so wäre diese Hypothese schlechthin berechtigungslos und der negative Grenzbegriff ein grundlos willkürliches Gedankenspiel mit dem Begriff des Nicht. Dies würde praktisch auf dasselbe hinauslaufen wie die absolute Undenkbarkeit der Hypothese; denn es wäre unstatthaft, ein solches willkürliches Spiel mit leeren Denkmöglichkeiten für eine Hypothese auszugeben."48

Man kann gegenüber diesem Ding an sich wie gegenüber jeder erkenntnisheterogenen Wirklichkeit zu keinerlei Bestimmung kommen, die nicht schon die geforderte Bedingung verfehlt: nämlich erkenntnisfrei zu sein. Das einzige logisch Sinnvolle, was man mit dem Begriff der erkenntnisheterogenen Wirklichkeit nach Hartmann tun kann ist, ihn nicht zu denken und zu den Akten zu legen. Überflüssig zu sagen, daß sich damit auch jegliche Erörterung einer Abbildung dieser Wirklichkeit im Erkennen erübrigt. Die erkenntnisheterogene Wirklichkeit wird als philosophischer Topos im Erkennen erst geschaffen. Und von dieser erkenntnisjenseitigen Wirklichkeit sich im Erkennen ein Abbild zu verschaffen oder ihre mögliche Abbildbarkeit auch nur zu diskutieren, ist logisch und im eigentlichen Sinne auch faktisch ausgeschlossen, denn indem man darüber diskutiert ist aus dem Erkenntnisheterogenen ein Erkenntnishomogenes, aus dem Erkenntnisjenseitigen ein Erkenntnisdiesseitiges geworden.

Ich halte wie gesagt diese Lesart des Steinerzitats inzwischen für die einzig plausible. Für die Steinerinterpretation bedeutet dies: jegliche solipsistische Deutungsmöglichkeit dieser Formulierung verschwindet, aber auch manche gedankliche Krücke, diese unzweideutig solipsistische Auslegungsmöglichkeit zu überbrücken kann beiseite gelegt werden. Steiners Auffassung hinsichtlich des Wirklichkeitsschaffens bekommt dadurch eine wesentlich eindeutigere, einheitlichere und stringentere Form. Und im Hinblick auf Herbert Witzenmann ist anzumerken, daß sich vom fraglichen Zitat zum Thema "Voraussetzungslosigkeit" natürlich eine Verbindung herstellen läßt. Die von Witzenmann unterstellte spezifische Koppelung dagegen ist im Kontext der Steinerschen Anmerkung abwegig. So abwegig wie der Wirklichkeitsbegriff, den Witzenmann daraus abzuleiten scheint. Steiner moniert in diesen Anmerkungen nicht das Voraussetzen von Wirklichkeit schlechthin, sondern lediglich das eines speziellen Verständnisses von Wirklichkeit - einer solchen nämlich die "irgendwo außer dem Erkennen" liegen soll und diesem ganz unerreichbar ist. Die von Witzenmann vertretene Verbindung zwischen Wirklichkeitsbegriff und Voraussetzungslosigkeit läßt sich lediglich konstruieren wenn man, wie bei ihm geschehen, das Zitat verändert und seinen ursprünglichen Gehalt verkehrt.

An diesem philologischen Problem kann die ganze Schwierigkeit im Umgang mit Steiners Wirklichkeitsauffassung deutlich werden und auch die Problematik des eigenen Vorverständnisses bzw. theoretischer Vor-Urteile. Kennt man nämlich den Grundgedanken der produktiven Synthese erst einmal, dann ist man allzu geneigt, die erste Lesart zu bevorzugen, weil sie damit zunächst sinnvoll erscheint, und der Text selbst sprachlich etwas dunkel und nicht ganz eindeutig ist. Das philosophisch und philologisch Spannende an der Sache ist, daß eine außerordentliche Bedeutungsverschiebung einer sehr zentralen Aussage eintritt, einzig und allein durch Einfügen oder Weglassen von zwei Buchstaben - Und deswegen rate ich dem Leser unbedingt, sich das Steinersche Originalzitat selbst anzusehen und es mit Witzenmanns Zitat oben zu vergleichen. Es macht unter Umständen einen großen Unterschied, ob in einem Zitat "Die" steht oder "Diese". Es ist philosophisch etwas sehr Ungleiches, ob die Wirklichkeit im Erkennen geschaffen wird oder ob die erkenntnisjenseitige Wirklichkeit im Erkennen geschaffen wird, wie es ebenso etwas völlig anderes ist, ob die Wirklichkeit vorausgesetzt wird oder eine erkenntnisjenseitige Wirklichkeit. Wenn er sich nur auf dieses Steinerzitat beschränkt, kann der Leser unmittelbar das Prinzip und die Folgen dessen studieren, was Thomas S. Kuhn einen »Paradigmenwechsel« genannt hat: Die Welt wird wie bei einem Gestaltwechsel buchstäblich eine andere, je nachdem, ob in einem Zitat "Die" steht oder "Diese".

Ende Kapitel 5


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