Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 20.01.03)

Kapitel 6.3

Wilfried Gabriel

Auch bei Wilfried Gabriel können wir gegenüber Steiners Argumentation nur Halbherzigkeit feststellen und am Ende stehen wir bezüglich Steiners Begriff der "Denk-Beobachtung" mit leeren Händen da. Und weil auch Gabriel Steiners Beründungen der Unbeobachtbarkeit gar nicht erst beachtet, läuft seine Interpretation in eine völlige Mißdeutung und Verzerrung der Steinerschen Gedankengänge aus.

Gabriel spricht nicht expressis verbis von einer Beobachtungsaporie sondern von einer "ernsthaften Schwierigkeit" angesichts der Frage, "wie der Denkvorgang Gegenstand der Beobachtung werden kann, da er als Inhalt offensichtlich erst dann gegeben ist, wenn er als Vorgang bereits vergangen ist?"55 Wenn ich Wilfried Gabriel recht verstehe, zielt er hier auf eine Unterscheidung zwischen der Beobachtung von Denkakt und Denkinhalt,56 worauf seine vorangehende Aussage auf S. 171 schließen läßt. Dort kommt er in unmittelbarem, interpretierendem Bezug auf den Wortlaut Steiners (GA-4, S. 42) zu folgender Konklusion: "Die erste entscheidende Beobachtung des Denkens ist also die: »es ist das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens.« Dem Denkenden sind zwar seine Inhalte bewußt, aber nicht seine konkreten Denkakte. Ein Denkakt ist durch das Hervorbringen eines bestimmten Denkinhalts gekennzeichnet." Seine "Schwierigkeit" besteht demnach darin, daß uns beim Denken zwar ein Denkinhalt gegeben ist, nicht aber mit diesem zugleich der konkrete Denkakt. Wir achten sozusagen nur auf die inhaltliche Seite des Denkens und nicht auf die prozessuale. Wenn wir also diesen Denkakt selbst beobachten wollen, dann müssen wir unsere Aufmerksamkeit mehr auf das Akterleben im engeren Sinne und nicht so sehr auf die Inhalte des Denkens richten. Inhalt unseres Denkens wird der Akt des Denkens normalerweise erst im Nachhinein, weil wir unser Denken während des Denkens nicht darauf richten.

Augenfällig scheint mir, daß Gabriel sich hier an einer Fehlinterpretation Herbert Witzenmanns orientiert. Dafür sprechen drei Indizien: Einmal sein expliziter Literaturverweis auf Witzenmanns "grundsätzliche Analyse" unseres Problems in dessen Strukturphänomenologie. (Siehe dazu Anmerkung 22) Ferner rein sprachlich schon die von ihm gebrauchte Wendung "ernsthafte Schwierigkeit", die direkt an Witzenmanns Ausdrucksweise anknüpft - Witzenmann spricht im selben Sachzusammenhang in seiner Strukturphänomenologie (Dornach 1983, S. 25) von einer "entscheidenden Schwierigkeit". Und drittens schließlich weist Gabriels problembezogene Unterscheidung von Denkakt und Denkinhalt darauf hin, für die wir ebenfalls bei Witzenmann die entsprechende Parallele finden: Wenn der Autor schreibt: "Dem Denkenden sind zwar seine Inhalte bewußt, aber nicht seine konkreten Denkakte", so könnte das direkt aus Witzenmanns Aufsatz Intuition und Beobachtung entnommen sein. (Näheres zu diesem Aufsatz Witzenmanns und dem Problem der Denkaktbewußtheit siehe hier)

Was Wilfried Gabriel hier allerdings entgeht, ist, daß Steiner - bezogen auf das Problem der Unbeobachtbarkeit - eine solche Akt-Inhalt-Unterscheidung gar nicht vornimmt, und eine solche auch nicht mittelbar in seine Ausführungen hineingedacht werden kann. Ferner vernachlässigt er Steiners Ansicht, daß wir den aktuellen Denkakt grundsätzlich nicht beobachten können, und deswegen schlägt auch er schließlich einen Lösungsweg ein, der dieses Beobachtungsverdikt umgeht, mit Steiners Auffassung also nicht verträglich ist.

Zunächst zu seiner Unterscheidung zwischen Denkakt und Denkinhalt, die sich offenbar aus Steiners Darstellung in der "Philosophie der Freiheit" ergeben soll. Wenn wir Steiners Text genauer anschauen, dann bemerken wir, daß der Gabrielschen Akt-Inhalt-Unterscheidung eine Verwechselung zugrunde liegt zwischen einem unabhängig gegebenen gegenständlichen Objekt, über das gedacht wird, und dem selbstgegebenen (begrifflichen) Inhalt der Denktätigkeit. Wilfried Gabriel treibt also eine Art philosophischer Zauberei: er verwandelt ein von mir Unabhängiges in ein von mir Hervorgebrachtes.

Wenn Gabriel schreibt: "Die erste entscheidende Beobachtung des Denkens ist also die: »es ist das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens.« Dem Denkenden sind zwar seine Inhalte bewußt, aber nicht seine konkreten Denkakte. Ein Denkakt ist durch das Hervorbringen eines bestimmten Denkinhalts gekennzeichnet." dann ist das in der von ihm vorgenommenen Anbindung an Steiners eigene Darstellung sachlich verfehlt. Das von Wilfried Gabriel angeführte Steinerzitat wird aus seinem gedanklichen Zusammenhang gerissen und sinnentstellend zur Bestätigung oder Illustration eines Sachverhaltes verwendet, der von Steiner an dieser Stelle gar nicht gemeint ist und auch weder vorher noch nachher angesprochen wird. Das ergibt sich sofort, wenn wir den vollständigen Wortlaut wiedergeben, aus dem Gabriels Zitat entnommen ist und wenn wir uns zusätzlich die direkt nachfolgenden Sätze der "Philosophie der Freiheit" (S. 42 f) ansehen. Steiner schreibt dort: "Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, daß der Denkende das Denken vergißt, während er es ausübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet.

Die erste Beobachtung, die wir über das Denken machen, ist also die, daß es das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist."

Hier ist zwar von einem "Gegenstand des Denkens" die Rede, aber damit ist nicht der Gedankeninhalt des Denkers gemeint, sondern der unabhängig gegebene Gegenstand, über den nachgedacht wird. Der letzte Satz dieses Zitats: "Die erste Beobachtung, die wir über das Denken machen, ist also die, daß es das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist", der von Gabriel teilweise wiedergegeben wird, schließt bei Steiner eine Gedankenfolge ab, die sich mit diesem "Gegenstand" des Denkens auseinandersetzt. Wobei mit "Gegenstand" des Denkens nicht etwa der begriffliche Inhalt des Denkens gemeint ist, sondern der gegebene subjektunabhängige Gegenstand, auf den sich das Denken erst richtet. Und diesen "Gegenstand" macht Gabriel zum begrifflichen Inhalt des Denkens, wenn er schreibt: "Die erste entscheidende Beobachtung des Denkens ist also die: »es ist das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens.« Dem Denkenden sind zwar seine Inhalte bewußt, aber nicht seine konkreten Denkakte. Ein Denkakt ist durch das Hervorbringen eines bestimmten Denkinhalts gekennzeichnet." Er kommentiert und interpretiert die Steinersche Aussage in einem Sinne, der von Steiner absolut nicht gemeint ist. Das können wir noch besser erkennen, wenn wir Steiner mit gleich anschließenden Sätzen (S. 42) weiter hören: "Der Grund, warum wir das Denken im alltäglichen Geistesleben nicht beobachten, ist kein anderer als der, daß es auf unserer eigenen Tätigkeit beruht. Was ich nicht selbst hervorbringe, tritt als ein Gegenständliches in mein Beobachtungsfeld ein. Ich sehe mich ihm als einem ohne mich zustande Gekommenen gegenüber; es tritt an mich heran; ich muß es als die Voraussetzung meines Denkprozesses hinnehmen. Während ich über den Gegenstand nachdenke, bin ich mit diesem beschäftigt, mein Blick ist ihm zugewandt. Diese Beschäftigung ist eben die denkende Betrachtung. Nicht auf meine Tätigkeit, sondern auf das Objekt dieser Tätigkeit ist meine Aufmerksamkeit gerichtet. Mit anderen Worten: während ich denke, sehe ich nicht auf mein Denken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt des Denkens, das ich nicht hervorbringe."

Bei Steiner ist vom "Objekt" die Rede, das ich »nicht selbst« hervorbringe, und das in diesem Fall Gegenstand einer herkömmlichen Beobachtung und demgemäß die gegenständliche "Voraussetzung meines Denkprozesses" ist. Dieses Objekt tritt ohne mein Zutun als ein "Gegenständliches in mein Beobachtungsfeld ein". Wäre an dieser Stelle von den (begrifflichen oder vorstellungsförmigen) Inhalten meines Denkens die Rede, dann könnte Steiner nicht sagen, daß sie »ohne mein Zutun« in meine Beobachtungssphäre eintreten, denn diese (begrifflichen) Inhalte sind ja Resultat meines Denkens und treten überhaupt nur durch meine Aktivität in das Beobachtungsfeld ein - gerade das unterscheidet sie grundsätzlich von allen anderen, die ohne meine aktive Beteiligung gegeben sind. Und deswegen heißt es bei Steiner: "während ich denke, sehe ich nicht auf mein Denken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt des Denkens, das ich nicht hervorbringe." Was also Steiner hier als unabhängig gegebenes gegenständliches Objekt des Denkens betrachtet, das macht Wilfried Gabriel zum (begrifflichen) Inhalt des Denkens. Er verwechselt den fremdgegebenen Beobachtungsgegenstand, über den nachgedacht wird, mit dem selbstgegebenen Gedankeninhalt des Denkers.

Eine Unterscheidung zwischen Denkakt und Denkinhalt ist bei Steiner weit und breit nicht in Sicht, sondern es geht ihm allein darum, klarzumachen, daß wir unser Denken insgesamt normalerweise übersehen. Und in diesem Zusammenhang auch darum, "das Verhältnis des Denkens zu allen anderen Beobachtungsinhalten zu bestimmen", wie es auf S. 40 der "Philosophie der Freiheit" heißt. Dabei spielt die Selbstgebung des Denkens eine besondere Rolle wie seine Reflexionen insbesondere über das Fühlen ab S. 40 zeigen. Und daß mit dem beobachteten Gegenstand nicht die Gedankeninhalte des Denkers gemeint sind, ergibt sich schließlich auf S. 41 f, wenn er dort sagt: "Es gehört eben zu der eigentümlichen Natur des Denkens, daß es eine Tätigkeit ist, die bloß auf den beobachteten Gegenstand gelenkt ist und nicht auf die denkende Persönlichkeit."

Es gibt aus der von Gabriel angeführten Textumgebung demnach nicht den geringsten Anhalt dafür, bei der These von der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens eine Unterscheidung von Denkakt und Denkinhalt zu unterstellen. Wenn Steiner von den "Erfahrungen" spricht, die ich lediglich im Nachhinein zum Objekt des Denkens machen kann, dann ist damit also nichts darüber gesagt, welcher Art diese Erfahrungen sind, und hier existiert eine Fülle von Erfahrungsoptionen. Sie können sich auf den rein begrifflichen Inhalt meines Denkens beziehen, auf seine logischen Formen, auf seine symbolisch-repräsentativen Aspekte, auf die dynamisch-strukturellen Besonderheiten, auf anschauliche Gesichtspunkte, auf den zeitlichen Verlauf oder mehr auf mein Wollen oder auf das Fühlen im engeren Sinne und was da sonst noch möglich ist - und das ist ziemlich viel. Da er aber nur allgemein von unspezifizierten "Erfahrungen" spricht, ist doch davon auszugehen, daß er sie allesamt von der aktuellen Beobachtung ausschließt. Wäre es wirklich so, wie Wilfried Gabriel meint, warum sollten wir, wenn schon nicht von der Aktseite, dann aber doch wenigstens von der inhaltlichen Seite unser gegenwärtiges Denken zum Gegenstand der beobachtenden Betrachtung machen können? Der aktuell durchdachte Gedankeninhalt wäre dann doch in seinem Durchdenken nicht nur »gegeben«, sondern auch »beobachtet«, denn der Inhalt meines Denkens ist doch ebenso Gegenstand meiner "Erfahrungen" wie alle übrigen Erfahrungsbestandteile. Und sollte man wirklich annehmen, daß Steiner so amateurhaft vorgegangen sei und dies nicht bemerkt habe, wo er doch die "reine Erfahrung" des Denkens in den "Grundlinien..." zum Dreh- und Angelpunkt seiner ganzen Philosophie gemacht hat? Sollte man ihm tatsächlich zutrauen, den Beobachtungscharakter der reinen Denk-Erfahrungen regelrecht zu verschlafen, wenn er dieses unmittelbare "Erfahren" mit dem "Beobachten" gleichgesetzt hätte? Als rein theoretische Möglichkeit könnte man eine solche Arbeitshypothese ja immerhin gelten lassen, aber ich denke, vorab sollten andere Überlegungen den Vorzug haben.

Wilfried Gabriel ist einer Lösung des Problems der Denk-Beobachtung einmal sogar recht nahe, aber er verschließt sich dieser Klärung, weil er Steiners Argumente nicht ernst nimmt. Er schreibt auf S. 172: "Zuletzt entpuppt sich die Beobachtung des Denkens selbst als Denken." Anstatt sich nun zu fragen, was es heißt, sein Denken denkend zu betrachten, und entsprechend darauf zu kommen, daß eine denkende Betrachtung des aktuellen Denkens zu einer Verdoppelung des Denkens führen müßte, womit er eine Erklärung für Steiners Spaltungsargument hätte, schränkt er dieses Denken sofort wieder ein: "Allerdings nicht als gewöhnliches Nach-Denken, sondern als erstes Anheben der Aufmerksamkeit:..."(S. 172) Wie Gabriel auf diese Einschränkung des Denkens kommt, ist mir unerfindlich. Jedenfalls finden wir auch in der Textumgebung der "Philosophie der Freiheit" keinen Anhalt dafür.

Ich meine, auch Wilfried Gabriel blockiert sich den Weg zu einer Lösung des Beobachtungsproblems, weil er sich mit Steiners Spaltungsargument nicht auseinandersetzen mag. Irgendwie scheint dieses Argument mit dem Makel des Dubiosen und Anrüchigen behaftet zu sein, so daß man ihm tunlichst aus dem Wege geht. Wilfried Gabriel spricht zwar immer wieder vom "Ausnahmezustand" und die wesentlichsten Fragen seiner Untersuchung haben mit der Beobachtung des Denkens zu tun - aber gerade diejenige Passage, in der Steiner die Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens im Ausnahmezustand auf die sprachlich direkteste und markanteste Form bringt und die auch das Spaltungsargument enthält, läßt er bezeichnenderweise fort.

Auf seinem eigenen Lösungsweg übersieht Gabriel zudem einerseits das Zwingende und die Ausschließlichkeit der Steinerschen Argumentation betreffend die Synchronbeobachtung des Denkens und zum anderen den Umstand, daß das unmittelbare Wissen um die eigenen Denkvorgänge von Steiner in einem Kausalnexus gesehen wird mit der Unmöglichkeit einer Simultanbeobachtung des Denkens. Wilfried Gabriel schreibt: "Die gekennzeichnete Schwierigkeit [wie kann der Denkvorgang Gegenstand der Beobachtung werden, da er als Inhalt offensichtlich erst dann gegeben ist, wenn er als Vorgang bereits vergangen ist? MM] läßt sich - zunächst prinzipiell - durch folgende Überlegungen Steiners beheben: »Der Grund, der es uns unmöglich macht, das Denken in seinem jeweiligen gegenwärtigen Verlauf zu beobachten, ist der gleiche wie der, der es uns unmittelbarer und intimer erkennen läßt, als jeden anderen Prozeß der Welt. Eben weil wir es selbst hervorbringen, kennen wir das Charakteristische seines Verlaufs, die Art, wie sich das dabei in Betracht kommende Geschehen vollzieht. Was in den übrigen Beobachtungssphären nur auf mittelbare Weise gefunden werden kann: der sachlich entsprechende Zusammenhang und das Verhältnis der einzelnen Gegenstände, das wissen wir beim Denken auf ganz unmittelbare Weise.«"57 Diese Überlegung aus dem dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit" dient, wie wir bei Steiner lesen können, unter anderem auch zur weiteren Fundierung und Erläuterung der Tatsache, daß das gegenwärtige Denken gerade »nicht« zu beobachten ist, weil die Unbeobachtbarkeit eine von zwei Folgen der Selbstgebung des Denkens ist. Ihre zweite Folge ist das unmittelbare Wissen um die inhaltlichen Bezüge der Denktätigkeit. Was also von Steiner als erweitertes Argument »gegen« die Simultanbeobachtung des Denkens vorgebracht wird, das widmet Gabriel in ein Argument »für« diese Simultanbeobachtung um, indem er weiter schreibt: "Es geht also in dem Ausnahmezustand darum, sich ein Erlebnis des Denkens zu verschaffen. Genauer: ein Erlebnis des eigenen Denkvorganges. Dies kann zunächst dadurch geschehen, daß der Beobachter auf den Verlauf der eigenen Denkbewegungen aufmerksam wird und sich dabei bewußt ist, daß er diesen Verlauf selbst hervorgebracht hat. Dabei stellt er fest, daß alles, was (im nachhinein) als Struktur gegeben erscheint, nichts Fremdes, sondern Selbst-Gegebenes ist. Da die Beobachtung des Denkens selbst wiederum eine vom Denken geführte, eine »denkende Beobachtung« ist, kann in einer Intensivierung des Ausnahmezustandes der Beobachter nicht nur auf die Bewegung bereits vollzogener Denkbewegungen aufmerksam werden, sondern das Anheben und die Suchbewegungen der eigenen Aufmerksamkeit selbst mitverfolgen. Damit hebt sich aber die Beobachtung »als Form des Gegenüberstehens« auf und wird tatsächlich zur Selbst-Beobachtung des Denkens." 58

Der logische Gang, der hier von Gabriel eingeschlagen wird, um von Steiners gegenläufig argumentierendem Zitat auf seine Lösung zu kommen, ist mir nicht klar geworden, mag aber erläuterungsfähig sein. Das, was laut Gabriel am eigenen Denkprozeß mit verfolgt wird, das "Anheben und die Suchbewegungen" des Denkens oder der Aufmerksamkeit, ist kein Beobachten, sondern ein besonders aufmerksames Erleben des eigenen Denkens. Diese Art von Erlebnissen waren übrigens auch Bestandteil der experimentell-phänomenologischen Bühlerschen Denkversuche, und sind von Bühler zum Teil sehr plastisch und anschaulich in seiner Arbeit beschrieben worden. Aber Bühler weist aus guten Gründen einträchtig mit Wilhelm Wundt den Gedanken zurück, es handele sich bei diesem aufmerksamen Erleben um ein Beobachten. Es ist Teil der unmittelbaren Denk-Erfahrung. Gerade die praktische Durchführung dessen, was Gabriel hier zum Schluß vorträgt, müßte uns zeigen, daß auch im "intensivierten" Ausnahmezustand die Beobachtung des Denkens immer nachträgliche Denkakte verlangt.

Letztendlich scheint mir wichtig hervorzuheben, daß auch Wilfried Gabriel eine Lösung anstrebt, die von Steiner grundsätzlich ausgeschlossen wird. Auch bei Gabriel richtet sich das Bemühen darauf, die Form des Gegenüberstehens und des »Danach« bei der Beobachtung des Denkens zu überwinden und am Ende doch zu seiner Simultanbeobachtung zu kommen.

Man kann ja Rudolf Steiner mit Recht oft genug eine gewisse Unklarheit vorhalten und ich selbst habe das gelegentlich recht ungeniert getan. Auch im vorliegenden Fall kann man Steiner vom Vorwurf mangelnder Ausführlichkeit und ungenügender Präzision nicht freisprechen und das entlastet seine Interpreten in mancher Hinsicht. Aber es enthebt uns als Bearbeiter dieser Schriften nicht der Aufgabe, wenigstens die Ausführungen, die er macht und die meines Erachtens auch klar und eindeutig genug sind, auf ihren Gehalt hin abzuwägen. Und wenn man sie nicht selbst klären kann, dann sollte man wenigstens den Mut aufbringen, sie als ungelöste Frage zu kennzeichnen - vielleicht klärt sie jemand anderes oder man klärt sie irgendwann gemeinsam mit anderen. Zum Forschungsprozeß gehört auch das Benennen von offenen Problemen. Das dient nicht nur der wissenschaftlichen Transparenz, sondern erleichtert es Fachkollegen in der Sache voranzukommen, wenn sie sehen, wo andere Schwierigkeiten haben. Vielleicht sind das ja auch ihre eigenen oder könnten die ihrigen werden.

Ende Kapitel 6.3            


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