Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 07.01.02)

Kapitel 6.2

Peter Schneider

Kommen wir zu Peter Schneider. Dieser trifft zwar die an sich fruchtbare Unterscheidung zwischen dem Denk-Erleben und dem Denk-Beobachten, aber diese Unterscheidung bleibt heuristisch für die Klärung der Steinerschen Begrifflichkeit folgenlos, da sich Schneider mit den fundamentalen Steinerschen Ausführungen im dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit" nicht befaßt. Obwohl er das Thema Denk-Beobachtung vergleichsweise breit behandelt und zur Frage einer Beobachtung des aktuellen Denkens wiederholt explizit Stellung bezieht, läßt er Steiner mit seinen einschlägigen Gedanken - weder mit den affirmativen noch mit den einschränkenden - gar nicht erst zu Wort kommen. Schneider kommt zwar das unbestreitbare Verdienst zu, wenigstens einen Blick über den engeren Horizont der Anthroposophie hinauszuwerfen und dabei immerhin die Fragestellungen der Denkpsychologie ansatzweise zu berücksichtigen, 41 aber von einer Aufhellung des Steinerschen Begriffes von "Denk-Beobachtung" im Rahmen seiner Schrift kann nicht die Rede sein, weil Steiners ebenso grundlegende wie problematische Ausführungen ganz beiseite gelassen werden. 42

Schneider spricht im Rahmen seiner Arbeit immer wieder von "Denk-Anschauung" und eine enge Beziehung zwischen "Denk-Anschauung" und "Denk-Beobachtung" wird gesehen, aber mit dem Vermeiden einer grundlegenden Klärung wird auch dieser Begriff und das Verhältnis der Begriffe zueinander nicht deutlicher. "Obwohl Goethe eine anschauende Urteilskraft, ..., bei der Wahrnehmung und Idee unmittelbar zu einer Einheit vereinigt werden, sein eigen nennen konnte, so hat er diese doch auf die letzte und höchste Metamorphose der Welterscheinungen, die Idee aller Ideen, die eben nur in der Anschauung des reinen Denkens möglich wird, nicht angewendet." schreibt Schneider. 43 Und weiter: "Dies ist der Punkt, wo Steiner die Konsequenzen zieht; denn aus der Goetheschen Betrachtungsart hätte sich diese zunächst höchste Einsicht im gewöhnlichen Bewußtsein notwendig ergeben müssen. Steiner sieht nun in erster Linie das Hindernis dafür, daß Goethe diese nicht vollziehen konnte, darin, daß er einerseits sein Denken nicht auf sich selbst gerichtet, andererseits vor allem nicht die Unterscheidung gemacht hat zwischen Denken über das Denken und Anschauen des Denkens. Aber gerade diese Unterscheidung als einer Polarität der Erscheinung des Denkens im Bewußtsein ist von außerordentlicher Bedeutung, wenn eine qualitative Steigerung der Erkenntnisfähigkeiten angestrebt werden soll."

Goethe verfügte also über eine anschauende Urteilskraft, aber er hat sie nicht auf das reine Denken gerichtet. Und zwar deswegen nicht, weil er nie über das Denken gedacht hat und ferner, weil er nicht unterschieden hat zwischen dem Denken über das Denken und der Anschauung des Denkens. Was ist nun für Schneider der Unterschied zwischen "Denken über das Denken" und "Denk-Anschauung"? "Denken über das Denken", sagt er, "kann einerseits ein Nachdenken über irgendwelche vorher gedachten Gedanken bedeuten, andererseits ein solches über den Gedanken des Denkens." 44 Was Peter Schneider hier mit dem ersten Fall, dem "Nachdenken über irgendwelche vorher gedachten Gedanken" meint, ist mir nicht begreiflich. Denn ich denke ja nicht über das Denken, indem ich irgendwelchen Gedanken nachgehe, wenn diese keinen weiteren inhaltlichen Bezug zum Denken als Denkgegenstand haben. Das Nachdenken über "irgendwelche Gedanken" muß demnach in einem heuristischen Zusammenhang mit der Betrachtung des Denkens stehen - etwa dergestalt, daß sie das Denken exemplifizieren und als paradigmatische Beipiele für Denken überhaupt herangezogen werden, wie es Steiner mit seinem Billard-Beispiel vorexerziert. 45 Um über das Denken zu denken ist doch sicherlich erforderlich, daß das Denken Thema oder Inhalt meines Denkens ist. Das heißt: das Denken muß über sich selbst nachdenken. Und hier, meine ich, gibt es zwei Fälle. Den einen nennt Peter Schneider selbst: das ist das Nachdenken über den Gedanken des Denkens. Wir könnten auch sagen: über den Begriff des Denkens. Und der zweite Fall - diesen nennt Schneider nicht, aber Steiner nennt ihn und schränkt dort sogar die Beobachtung darauf ein 46 - ist das Denken über die Erfahrung des Denkens oder der Denktätigkeit. Wir müssen also auseinanderhalten das Denken über einen Begriff oder eine Theorie des Denkens und das Denken über die empirische Erfahrung des Denkens.

Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Fällen scheint mir außerordentlich wichtig, denn die Verschiedenheit dieser zwei Arten des Denkens über das Denken ist nicht geringer als die Differenz zwischen einem Nachdenken über eine bloße Theorie des Lichtes und einem solchen über die unmittelbaren empirischen Beobachtungen des Lichtes. Im einen Fall denken wir nämlich - in der Steinerschen Ausdrucksweise gesprochen - nur über die "halbe Wirklichkeit" eines Begriffes nach und im anderen Fall stellen wir uns mit dem Denken direkt den Erfahrungstatsachen selbst gegenüber.

Schneider schreibt nun (S. 88) weiter: "Wesentlich ist bei diesen beiden Formen, daß das reflektierende Denken als tätiges eben im Aktualzustand sich befindet ... und der entsprechende Gegenstand der Reflexion - in diesem Fall das Denken als Gedanke oder andere Gedanken - nicht mehr selbst im Aktualzustand sich befindet, sondern Faktum geworden ist, sobald es also »vergegenständlicht« auftritt. Aus dieser Differenz in bezug auf das Denken selbst als Beobachtungsgegenstand und Beobachtungselement ergab sich immer wieder das Problem einer Möglichkeit eines solchen Erfassens des Denkens, wie es im Aktualzustand sich befindet." Wie wir sehen, geht es hier um das Problem einer Beobachtung des Denkens im Aktualzustand. Hier wäre nun in Fortführung unseres obigen Einwandes die Frage anzubringen, was denn mit der Erfahrung des Denkens selbst ist, die ja auch nicht mehr im Aktualzustand sich befindet, wenn wir über sie reflektieren, sondern lediglich erinnert werden kann? Schneider läßt diese Denk-Erfahrung als möglichen Inhalt des Denkens ganz unerwähnt. Und ferner wäre zu fragen, was es mit dem von Schneider gemeinten "Erfassen des Denkens im Aktualzustand" auf sich hat. Was ist konkret unter diesem "Erfassen" zu verstehen? - Hier läßt uns unser Autor allein, denn abgesehen von einem entsprechenden Zusatz, daß das aktuelle Denken eben angeschaut werde und der nachfolgenden Ergänzung durch ein ebenso unklares Steinerzitat, wird zur weiteren Klärung der "Anschauung" oder der "Beobachtung" des Denkens nichts Nennenswertes mehr getan. Und Steiner selbst rekurriert in dem von Schneider angeführten Zitat wiederum auf den problematischen Begriff der "Beobachtung", - sagt in diesem Zusammenhang gar, man müsse das "Beobachten des Denkens richtig verstehen", um zur Einsicht seiner unmittelbaren "Anschaubarkeit" zu gelangen.

Schneider schreibt (S. 88): "Es wurde schon darauf hingewiesen, daß, wer die Möglichkeit und Wirklichkeit desselben ablehnt [des Erfassens des Denkens, wie es im Aktualzustand sich befindet, MM], eine Gegenüberstellung der beiden Formzustände des Denkens gar nicht vornehmen dürfte, da der eine eben nicht erfaßbar sein soll. Falls ein Mensch überhaupt denkt..., so ist er sich unmittelbar der eigenen Tätigkeit oder des Aktualzustandes bewußt und ebenso, daß diese Tätigkeit eben Denktätigkeit und nicht z.B. Schreibtätigkeit ist. Diese Erfahrung weist deshalb darauf hin, daß das Denken im Formzustand der Aktualisierung eben zwar nicht bloß gedacht, jedoch bewußt angeschaut werden kann. Da aber das Organ des Anschauens und das angeschaute Denken eine einheitliche Wesenheit sind, so ist dieser Zustand ein anschauendes Denken und ein denkendes Anschauen..."

Das Denken über das Denken ist nach Schneider ein Denken über irgendwelche Gedanken oder den Begriff des Denkens und das "Anschauen" des Denkens scheint seine aktuelle Erfahrung zu sein. Aber ist die aktuelle Erfahrung auch ein Beobachten im Steinerschen Sinne? Und ist das, was Schneider ein "Anschauen" nennt ein »aktuelles« Beobachten? Ist es ein "Anschauen" des »Denkens«, oder ist es eine "Anschauung" der gedanklichen Inhalte im Sinne von "intellektueller Anschauung" aus "Wahrheit und Wissenschaft" (GA-3, 1980, S. 60)? Und können wir den Ausdruck "Anschauung" in diesem Zusammenhang überhaupt durchsichtig machen und auf die Beobachtung des Denkens anwenden, wenn wir uns mit dem Ausdruck "Denk-Beobachtung" nicht weiter plagen?

Zunächst einmal findet sich im Zusammenhang mit Steiners Spaltungsargument der Hinweis, daß ich mir beim Denken nicht "zusehen" kann. Sollte Steiner damit das "Zusehen" mit leiblichen Augen gemeint haben? - Offensichtlich handelt es sich hier doch eher um ein "Zusehen" oder "Zuschauen" mit den Augen des Geistes. Ferner betont Steiner in dem von Schneider zitierten Zusatz von 1918 auch: "Ein richtiges Verständnis dieser Beobachtung kommt zu der Einsicht, daß das Denken als eine in sich beschlossene Wesenheit unmittelbar angeschaut werden kann. Wer nötig findet, zur Erklärung des Denkens als solchem etwas anderes herbeizuziehen, wie etwa physische Gehirnvorgänge, oder hinter dem beobachteten bewußten Denken liegende unbewußte geistige Vorgänge, der verkennt, was ihm die unbefangene Beobachtung des Denkens gibt." 47 Der Begriff der "Anschauung des Denkens" lebt also davon, daß wir das "Beobachten" des Denkens überhaupt "richtig verstanden" haben, und dazu müßte man sich doch erst einmal mit Steiners Begriff der "Denk-Beobachtung" näher beschäftigen. Vielleicht hat ja der Ausdruck "unmittelbares Anschauen" des Denkens gar keinen zeitlichen Gehalt, dergestalt, daß wir das aktuelle Denken simultan anschauen, sondern bezieht sich auf Mittel und Methode, mit dem das Denken angeschaut wird, und das würde dann heißen: es wird ohne Zwischenschaltung eines denkfremden Mittels angeschaut, nämlich ausschließlich durch das Denken selbst und nicht etwa durch ein hirnphysiologisches oder hypothetisch-spekulatives Verfahren, wie Steiners abschlägiger Hinweis in diese Richtung zeigt. Für diese These spricht einiges. Wir hätten damit eine auffällige sachliche Parallele zur "Beobachtung" oder "Betrachtung" des Denkens, wobei die Ausdrücke "Beobachtung" und "Betrachtung" des Denkens von Steiner gleichsinnig verwendet werden (siehe unten). Da die simultane Beobachtung bzw. Betrachtung des Denkens von Steiner ausgeschlossen wird, wäre eine "unmittelbare Beobachtung" bzw. "Betrachtung" 48 auch nicht im zeitlichen Sinne zu nehmen, sondern im methodischen. Der Ausdruck "unmittelbare Beobachtung des Denkens" bedeutet demnach nicht "gleichzeitige Beobachtung des gegenwärtigen Denkens" sondern "Beobachten oder Betrachten der unmittelbaren Erfahrung des Denkens durch das Denken" und durch kein anderes Mittel oder Verfahren hirnphysiologischer oder sonstiger Art. Wäre es nicht naheliegend, zwischen den Ausdrücken "Betrachten" und "Anschauen" des Denkens mehr als nur einen analogen Sprachgebrauch zu sehen? Könnte es nicht sein, daß, wenn wir das Denken denkend betrachten, wir es auch anschauen? (Näheres hierzu siehe in Kapitel 9.1)  

Peter Schneider rekurriert auf S. 38 auf Steiners Begriff der "intellektuellen Anschauung" aus "Wahrheit und Wissenschaft" (GA-3, S. 60), und das scheint ihn zu der Auffassung zu führen, die intellektuelle Anschauung sei das gleiche wie ein aktuelles Beobachten und damit "Anschauen" des Denkens. Mein Eindruck ist indessen, daß Schneider hier einem etwas unglücklichen homonymen Gebrauch des Ausdrucks "Anschauung" durch Steiner erliegt, und die "intellektuelle Anschauung" mit der "Anschauung des Denkens" verwechselt.49 Man muß zunächst festhalten, daß sich bei Steiner der Ausdruck "intellektuelle Anschauung" lediglich auf das "Gegebensein" von reinen Begriffen und Ideen bezieht. 50 Hier ist also nicht von einer "intellektuellen Anschauung" des »faktischen Denkens« die Rede, sondern von einer intellektuellen Anschauung reiner Begriffe und Ideen - also von Inhalten oder Gegenständen des Denkens. Man könnte diesen Ausdruck demnach allenfalls anwenden auf das Gegebensein eines »Begriffs« des Denkens, über den wir ja auch reflektieren können. Dieser wäre uns dann, wenn wir über ihn allein und nicht über die faktische Erfahrung des Denkens denken, als reiner Begriff in der Form der intellektuellen Anschauung gegeben. Ob sich der Ausdruck dagegen auch auf die Beobachtung des Denkens anwenden läßt, ist damit keineswegs gesagt, und ist nach meiner Ansicht auch von Steiner nicht gemeint. Auf jeden Fall sind die intellektuelle Anschauung reiner Begriffe und Ideen und das Beobachten des Denkens verschiedene Sachverhalte. Und das heißt dann: nicht das Denken ist uns aktuell als intellektuelle Anschauung gegeben, sondern Begriffe und Ideen sind uns »im aktuellen Denken« in der Form der intellektuellen Anschauung gegeben. Schneider läßt diese Fragestellung zwangsläufig aus, weil das Denken über die faktische Erfahrung des Denkens in seinen Überlegungen kein Gewicht hat - er geht ja auf diesen Aspekt gar nicht erst ein. Wenn man natürlich unter der Beobachtung des Denkens in erster Linie ein Denken über den Begriff des Denkens versteht, dann ist es einleuchtend, daß man dem Begriff der intellektuellen Anschauung ein besonderes Interesse entgegenbringt. Auf diesem Wege kommt man aber lediglich zu einer Begriffsmetaphysik des Denkens und nicht zu einer Erfahrungswissenschaft des Denkens. Die Beobachtung des Denkens hat es aber nicht primär mit dem Begriff (in Steiners Augen einer "halben Wirklichkeit") des Denkens zu tun - dieser soll ja erst auf dem Wege seines Erkennens gewonnen werden - sondern wesentlich mit der Erfahrung des Denkens.

Wohl auch, weil ihm entgeht, daß man nicht nur über den Begriff des Denkens denken kann, sondern auch über die empirischen Erfahrungen des Denkens, unterläuft ihm bei der Diskussion nichtanthroposophischer Literatur ein folgenschwerer und geradezu bezeichnender Lapsus: Schneider nimmt nicht nur Steiners eigene Position nicht wahr, sondern bezieht implizit auch noch Stellung gegen sie und übersieht schließlich und endlich auch die bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen psychologischer und Steinerscher Sichtweise unseres Problems. So schreibt Schneider, seine Kritik gegen Dörner einleitend: "In bezug auf die Reflexion wird - besonders, wenn es um das Bedenken des Denkens geht - immer wieder eingewendet, daß das der Reflexion vorliegende Erkennen (Denken) ein anderes, nämlich ein »vergangenes« sei und darum das gegenwärtig tätige gar nicht durch dasselbe erfaßt werden, ja daß man es überhaupt nicht erkennen könne. In der Denkpsychologie ist diese Auffassung vorherrschend." 51 Wohlgemerkt, es geht uns hier bislang um die Beobachtung des aktuellen Denkens und noch nicht um die grundsätzliche Frage seiner Erkennbarkeit. In dieser Frage argumentiert Schneider nicht nur gegen den Psychologen Dörner und die "vorherrschende Auffassung der Denkpsychologie", sondern indirekt gegen Steiner gleich mit, wenn er am Ende des Dörnerschen Zitats auf S. 68 konstatiert: "Wer diesen Standpunkt einnimmt, kann gar nicht von zwei verschiedenen Formzuständen ein und desselben Wesens sprechen, da er ja einen der beiden gerade erkennen zu können bestreitet."

Schneider bildet hier ein Junktim zwischen der Beobachtbarkeit des aktuellen Denkens und seiner Erkennbarkeit, ohne zu prüfen, ob eine solche Koppelung zulässig ist. Möglicherweise haben aber die beiden Fragen direkt gar nichts miteinander zu tun und das Denken ist erkennbar, obwohl es aktuell nicht zu beobachten ist. Wir werden in dieser Arbeit ein ganz entgegengesetztes Junktim bilden: die aktuelle Unbeobachtbarkeit des Denkens garantiert dessen Erkennbarkeit, weil das Denken infolge dieses Umstandes in seiner unmittelbaren Erfahrungsform theoretisch nicht befrachtet werden kann. Wir werden auch das an späterer Stelle ausführlicher betrachten. Aus der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens muß also nicht zwangsläufig seine Unerkennbarkeit folgen.

Wenn nun Schneider der Ansicht ist, mit dem Bestreiten der Beobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens sei die Unerkennbarkeit des Denkens gleich implizit mitbehauptet, dann ist sein Vorwurf auch gegen Steiner selbst gerichtet. Schneider bemerkt nicht, daß er sich an dieser Stelle gegen Steiners eigene Auffassung wendet, der uns ja nichts anderes sagt, als daß das beobachtete Denken immer ein anderes, vergangenes sei, und infolgedessen fällt ihm auch nicht auf, daß er sich hier auch noch den Weg verbaut, eine mögliche grundlegende Übereinstimmungn zwischen Psychologie und Anthroposophie wahrzunehmen.

Bei Rudolf Steiner können wir lesen: "Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. Ich müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen. Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes." 52 Und bei dem von Schneider kritisierten Dietrich Dörner lesen wir bezüglich der Frage der Denkbeobachtung: "Wir glauben, daß die Antwort auf all diese Fragen [wie man z. B. bei der Denk-Beobachtung einem unendlichen Regreß entgeht, MM] darin liegt, daß sich das Denken nie unmittelbar selbst betrachtet, sondern nur mittelbar. Wenn man über das eigene Denken nachdenkt, so ist Objekt des Denkens nicht das Denken selbst, sondern ein Protokoll vergangener Denkabläufe. Jeder Denkablauf hinterläßt gewissermaßen eine Spur in einem geeigneten Speichermedium. Diese Spur kann zum Objekt des Denkens gemacht werden ..." 53 Gewiß wäre Dörners Behauptung über das Objekt der Denkbeobachtung erkenntniskritisch dahingehend abzuklären, ob er hier eine Wesensverschiedenheit von vergangenem und gegenwärtigem Denken unterstellt oder nur eine zeitliche wie Steiner, und ebenso klärungsbedürftig sind seine Begriffe von "mittelbarer" und "unmittelbarer" Betrachtung, die hier offenbar zeitlich und nicht methodisch zu verstehen sind. Desgleichen wäre, was er dort mit einem "Speichermedium" und "Protokoll" bezeichnet, von impliziten Vorwegannahmen vielleicht erst einmal zu befreien. Aber ungeachtet dessen, vom rein empirischen Gehalt her, ist, was er in ein technizistisches Gewand kleidet, zunächst nichts anderes als Steiner uns wissen läßt: - das Denken ist nur aus der Retrospektive zu beobachten. Was für Dörner ein "Protokoll vergangener Denkabläufe" und die "Spur in einem Speichermedium" ist, das sind bei Steiner "die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe".

Hier wäre doch zumindest noch weiter nachzusetzen und zu fragen, was Dörner unter einer "Betrachtung" des Denkens versteht, denn diesen Ausdruck verwendet auch Steiner immer wieder in seinen prekären Ausführungen und zwar bedeutungsgleich zum Begriff der "Beobachtung" 54 ebenso wie der Psychologe Bühler. Für Dörner ist die "Betrachtung" des Denkens ein "Nachdenken" über die Erfahrungen des Denkens und das ist es auch für Steiner und implizit für Bühler. Und für Steiner ist die "Betrachtung" des gegenwärtigen Denkens ebenso impraktikabel wie für Bühler oder Dörner. Das ist doch eine auffallende Übereinstimmung, die aber nicht gesehen werden kann, wenn man Steiners diesbezügliche Überlegungen diskriminiert - sei es aus mißverstandener Loyalität oder weil man die öffentliche Konfrontation mit einem möglichen Widerspruch in Steiners Aussagen einfach nur vermeiden will. Und so könnte es am Ende sein, daß sich Schneiders Offensive gegen die "vorherrschende Meinung der Denkpsychologie" als Donquichotterie entpuppt, und Steiner durch sie beschädigt wird, weil ihm jetzt von Außenstehenden eine psychologische Ahnungslosigkeit beigelegt wird, die ihm selbst gar nicht zukommt, sondern seinen Apologeten. Die Psychologen belächeln den Hinterwäldler Steiner, weil der immer noch glaubt, man könne das aktuelle Denken beobachten. Dabei glaubt Steiner das gar nicht, sondern könnte den Psychologen noch viel besser erklären als sie selbst dazu imstande sind, warum es nicht geht. So zeigt sich, daß die Nachlässigkeit gegenüber Steinerschen Argumenten und der daraus resultierende Mangel an Klarheit letztendlich auch einer Verständigung zwischen Anthroposophie und Psychologie einen Riegel vorschiebt, denn diese Verständigung kann nur über die Brücke bestehender Gemeinsamkeiten erfolgen und nicht über ihre Differenzen. Diese Gemeinsamkeiten müssen aber unsichtbar bleiben, wenn wir noch nicht einmal Steiners eigene Begründungen hinreichend beherzigen.

Und so ist am Ende die ganze Schneidersche Diskussion um Denk-Beobachtung sachlich wenig ergiebig, weil völlige Dunkelheit darüber herrscht, ob überhaupt von Steiners Begrifflichkeit die Rede ist, denn auch er bringt keinen einzigen überzeugenden Beleg bei, daß sein eigenes Verständnis von "Denk-Beobachtung" auch das Steinersche ist.

Ende Kapitel 6.2               


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