Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


Ende zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home

Michael Muschalle

Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit. Eine Einführung

(Stand 23.08.02)

Kapitel 3

Über Verständnisprobleme im Umgang mit der Philosophie der Freiheit

Bevor wir uns weiter mit dem Inhalt der Philosophie der Freiheit befassen, möchte ich vorab einige grundsätzliche Anmerkungen machen zu den Schwierigkeiten, die sich beim Studium dieser Schrift ergeben können. Insbesondere über die Gründe dieser Schwierigkeiten.

Von anthroposophischen Autoren wird mitunter die Ansicht vertreten, zum Verständnis der Philosophie der Freiheit reiche der gesunde Menschenverstand nicht her. Der Leser benötige dazu als Voraussetzung ein entwickeltes Geistorgan. 2 Diese Auffassung wäre gelinde gesagt grober Unfug! - wenn man darunter verstehen sollte, es sei eine spezielle esoterische Geistesschulung die Zugangsbedingung für dieses Buch. Der Vorzug der Philosophie der Freiheit liegt vielmehr darin, sich überhaupt zunächst nur an den gesunden Menschenverstand zu richten, wie es von einem rein philosophischen Werk erwartet werden kann. Die einzige Schulung, die der Leser braucht, ist jene, die jeder benötigt, der sich in ein anderes oder bis dahin ganz fremdes gedankliches Arbeitsfeld hineinbegibt.

In anthroposophischen Zusammenhängen ist es teilweise zu einer regelrechten Modekrankheit geworden, das Verständnis der Philosophie der Freiheit an Steiners spätere rein anthroposophische Erfahrungsberichte und Erkenntnisse zu knüpfen. Diese Praxis geht am eigentlichen Anliegen dieses Buches vorbei. Man sollte vielmehr all jenen, die sich mit ihm befassen, mit auf den Weg geben, was Steiner gegen Ende seiner Vorrede von 1918 (S. 8 f) dazu ausführt: "Was in dem Buche gesagt ist, kann auch für manchen Menschen annehmbar sein, der aus irgend welchen ihm geltenden Gründen mit meinen geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnissen nichts zu tun haben will. Demjenigen aber, der diese geisteswissenschaftlichen Ergebnisse als etwas betrachten kann, zu dem es ihn hinzieht, dem wird auch wichtig sein können, was hier versucht wurde. Es ist dies: nachzuweisen, wie eine unbefangene Betrachtung, die sich bloß über die beiden gekennzeichneten für alles Erkennen grundlegenden Fragen erstreckt, zu der Anschauung führt, daß der Mensch in einer wahrhaftigen Geistwelt drinnen lebt. In diesem Buche ist erstrebt, eine Erkenntnis des Geistgebietes vor dem Eintritte in die geistige Erfahrung zu rechtfertigen. Und diese Rechtfertigung ist so unternommen, daß man wohl nirgends bei diesen Ausführungen schon auf die später von mir geltend gemachten Erfahrungen hinzuschielen braucht, um, was hier gesagt ist, annehmbar zu finden, wenn man auf die Art dieser Ausführungen selbst eingehen kann oder mag.

So scheint mir denn dieses Buch auf der einen Seite eine von meinen eigentlich geisteswissenschaftlichen Schriften völlig abgesonderte Stellung einzunehmen; und auf der andern Seite doch auch aufs allerengste mit ihnen verbunden zu sein."

Steiners Empfehlung scheint mir hier mit aller Schärfe und Unverblümtheit eines deutlich zu machen: Wer die Auffassung vertritt, daß zum Verständnis der Philosophie der Freiheit ein normales Denken nicht ausreicht, und der Rückgriff auf das esoterische Werk zu diesem Zweck unerläßlich ist, unterstellt damit implizit, daß Steiners eigene Aussagen, den Zugang zu dieser Schrift betreffend, nicht ganz ernst zu nehmen sind. Was aber wäre dann überhaupt von ihm noch ernst zu nehmen? Warum sollte ein Autor, der sich schon auf der philosophisch-exoterischen Ebene derart verworren äußert, daß man seine eigenen Verständnishinweise dazu besser links liegen läßt, auf einer anderen Ebene, wo ihm so gut wie niemand mehr zu folgen vermag, etwa sinnvollere Dinge sagen?

Das schließt übrigens eine Betrachtung der Philosophie der Freiheit unter anthroposophischen Gesichtspunkten nicht etwa aus. Aber hier gilt es die Reihenfolge zu beachten. Man kann nicht mit der Anthroposophie die Philosophie der Freiheit aufschließen ohne diese letztere in ihrem rein philosophischen Gehalt schon hinreichend begriffen zu haben. Das wäre gerade so abwegig wie die höhere Mathematik zum Verständnisfundament der Grundrechenarten und mathematischer Grundprinzipien zu machen. In der Umkehrung dieser Logik und der Vernachlässigung seiner philosophischen Gedankengänge liegt das Elend all derer, die sich bemühen dieses Werk in erster Linie von der Anthroposophie her zugänglich zu machen und meinen den philosophischen Rest mit ein paar hingeworfenen Gemeinplätzen abfertigen zu können. Jeder Versuch einer anthroposophischen Beleuchtung muß in die Irre führen, der sich nicht auf ein gediegenes und davon unabhängiges Verständnis dieses Werkes stützt. Ein aktuelles Beispiel einer derartigen Irreführung liefert Sergej O. Prokofieff in seinem Buch Menschen mögen es hören, Stuttgart 2002. Dort werden im Kapitel 7, Die Philosophie der Freiheit und die Weihnachtstagung, auf annähernd 70 Seiten die höchsten esoterischen Geheimnisse im Zusammenhang mit dieser philosophischen Grundschrift ausgebreitet, während der Autor sich gleichzeitig durch seine konfuse, chaotische und ungeklärte Auffassung der entscheidenden Details dieses Werkes auszeichnet. 2 a Das kann natürlich zu nichts Gedeihlichem führen. Ein Leser, der die Interpretationen Prokofieffs verinnerlicht hat, vor allem was er dort über das intuitive Denken und den Ausnahmezustand sagt, wird wohl für lange Zeit davor bewahrt sein, die Philosophie der Freiheit zu begreifen. Vergleichbares gilt für das unter Anmerkung 2 erwähnte Buch von Florin Lowndes.

Natürlich gibt es - nicht nur für philosophische Laien - stellenweise sogar ganz erhebliche Probleme mit dem Verstehen dieser Schrift. Nur haben sie nichts mit einer fehlenden Geistesschulung des Lesers zu tun, sondern sie sind ganz handgreiflicher Natur. Zum einen liegt es daran, daß Steiner nach eigenen Angaben nicht viel getan hat, um anderen den Verständnisweg zu ebnen, sondern zunächst für sich selbst zu sorgen hatte. Dadurch ist ein kompaktes, hochverdichtetes Werk entstanden, das eigentlich auf mehr als zehn Bände hätte ausgelegt sein müssen, wie es die befreundete Schriftstellerin Rosa Mayreder Steiner gegenüber einmal geäußert hat. 3 Entsprechend fehlen weitgehend alle didaktischen Feinarbeiten, die den Zugang erleichtern könnten.

Vor dieser Tatsache steht mitunter mancher etwas ratlos, wenn er sich Steiners folgenden Hinweis vom Ende des zweiten Kapitels (S. 34 f) zu Herzen nimmt: "Ich bin darauf gefaßt, daß mancher, der bis hierher gelesen hat, meine Ausführungen nicht «dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft» gemäß findet. Ich kann dem gegenüber nur erwidern, daß ich es bisher mit keinerlei wissenschaftlichen Resultaten zu tun haben wollte, sondern mit der einfachen Beschreibung dessen, was jedermann in seinem eigenen Bewußtsein erlebt. Daß dabei auch einzelne Sätze über Versöhnungsversuche des Bewußtseins mit der Welt eingeflossen sind, hat nur den Zweck, die eigentlichen Tatsachen zu verdeutlichen. Ich habe deshalb auch keinen Wert darauf gelegt, die einzelnen Ausdrücke, wie «Ich», «Geist», «Welt», «Natur» und so weiter in der präzisen Weise zu gebrauchen, wie es in der Psychologie und Philosophie üblich ist. Das alltägliche Bewußtsein kennt die scharfen Unterschiede der Wissenschaft nicht, und um eine Aufnahme des alltäglichen Tatbestandes handelte es sich bisher bloß. Nicht wie die Wissenschaft bisher das Bewußtsein interpretiert hat, geht mich an, sondern wie sich dasselbe stündlich darlebt."

Steiners Worte scheinen darauf hinzudeuten, daß er sich um eine besonders eindeutige, verständliche, dem nicht-philosophischen Alltagsbewußtsein zugängliche Darstellungsweise bemüht habe. Das trifft in vielen Teilen sicherlich zu. Doch bleiben leider noch genügend andere, wo das nicht der Fall ist, oder es schlicht nicht ausreichte. Auch sollte bedacht sein, daß man sich von einem fachwissenschaftlichen Blickfeld aus nicht beliebig weit auf das allgemeinverständliche Niveau zu bewegen kann, ohne den vermittelten Inhalt zu korrumpieren. Jeder Lehrer kennt dieses Problem in Form der berühmten didaktischen Reduktion, die im Extremfall die Welt in den verkehrtesten Farben malt - aber scheinbar begreiflich macht. Die Vereinfachung hat also ihre Grenzen.

Von der anderen Seite: Auch unser sogenanntes Alltagsbewußtsein ist vielfach von allen möglichen Entlehnungen verschiedenster Wissenschaften durchsetzt oder von unseren Privattheorien durchzogen, so daß es die natürliche und neutrale Einstellung zu Phänomenen des Bewußtseins oder mehr noch: zu Texten über das Bewußtsein in den seltensten Fällen gibt - wenn sie denn überhaupt existiert. Wir gehen zwangsläufig immer schon mit einem bestimmten Vorverständnis an eine Sache heran, und ein Hauptteil des Lernens in neuen Arbeitsfeldern besteht darin, dieses Vorwissen zurecht zu rücken und ihm den projizierenden Charakter zu nehmen, der dafür sorgt, immer nur das wahrzunehmen, was wir ohnehin schon kennen. Sprache, auch wenn sie einfach und unmißverständlich gehalten sein will, bleibt daher oftmals für den Leser oder Zuhörer mehrdeutig und interpretationsbedürftig. Wir kennen das Dilemma: Wenn zwei dasselbe Wort gebrauchen, heißt das noch lange nicht, daß sie dann auch dasselbe meinen. Ein beträchtlicher Teil der Darstellung dient daher in philosophischen Werken oft der Klärung des Sprachgebrauchs und der Ausräumung von Mißverständnissen, die sich entweder einstellen könnten, oder - bei Neuauflagen - die schon eklatant geworden sind. Dieser Klarstellungsaufwand ist in der Philosophie der Freiheit nicht eben im Übermaß vorhanden.

Hinzu kommt, daß sich Steiner trotz seiner Bemühungen um Vereinfachung in einzelnen Kapiteln der Schrift mit seinen philosophischen Zeitgenossen auseinandersetzt, und daher auf einen facettenreichen Diskussionskontext zielt, der dem Nichtphilosophen in aller Regel nicht bekannt ist. In manchen Detailfragen oft nicht einmal den philosophisch Vorgebildeten. Hier ist indessen eine zumindest rudimentäre Kenntnis des gedanklichen Hintergrundes die unabdingbare Voraussetzung dazu, um den von Steiner behandelten Einzelheiten mit Verständnis zu folgen.

Es gibt also mancherlei begreifliche Gründe, warum Leser Probleme mit dem Verstehen der Philosophie der Freiheit haben können. Zum Beispiel: Nicht-vertraut-sein mit dem gedanklichen Umfeld beim Leser. Komprimierte Form und mangelnde didaktische Aufbereitung des Themas durch Steiner. Eine sachliche Komplexität des philosophischen Gegenstandes, die sich nicht mühelos weiter vereinfachen ließ. Partielle, oder besser: potentielle Mehrdeutigkeit des Steinerschen Sprachgebrauchs.

Nur einer gehört mit Sicherheit nicht dazu - das Fehlen einer irgendwie gearteten esoterischen Spezialschulung.

Das Dilemma der Anthroposophen mit der Philosophie der Freiheit ist zu einem guten Teil auch hausgemacht: Das Buch ist stellenweise schwer zu verstehen. Anstatt nun immanent diese Probleme in gemeinsamer Anstrengung zu bewältigen, ist man ihnen jahrzehntelang aus dem Wege gegangen, oder man hält es sogar heute noch für überflüssig sich damit zu befassen, wie jener arglose Rezensent, der in Novalis 11, 1999 unter dem Titel Avanti Dilettanti seinem Ärger über diesbezügliche Bemühungen freien Lauf ließ unter Hinweis darauf, daß "Aufwand und Akribie solcher Exegesen ... in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn" stünden. Man muß also kaum überrascht sein, wenn gar mancher anthroposophische Zeitgenosse mit der Philosophie der Freiheit oder den erkenntnistheoretischen Grundschriften nicht zurechtkommt und ersatzweise die Flucht in mystisches Raunen antritt, wie es Ravagli (siehe Anmerkung 2) treffend bemerkt hat. Das Strickmuster dieses Verhaltens ist denkbar einfach: Erst kümmert man sich nicht um eine Angelegenheit. Dann tritt das Erstaunen darüber ein, daß man sie nicht versteht. Und schließlich greift man, weil nicht sein kann was nicht sein darf, in die Wundertüte esoterischer Geheimnisse.

Man kann allerdings, wie Frank Teichmann im unter Anmerkung 2 erwähnten Aufsatz hervorhebt, berechtigterweise der Auffassung sein, daß zum Verstehen der Philosophie der Freiheit ein Geistorgan nötig sei. Nur - über dieses Geistorgan verfügt längst jeder, der zu denken vermag. Denn dieses Geistorgan ist das Denken. Das Denken ist im Sinne Steiners das Vermögen, Begriffe und Ideen wahrzunehmen. In den Zusätzen von 1918 zur Philosophie der Freiheit nennt Steiner ein solches Denken, das den ideellen Gehalt der Wirklichkeit wahrnimmt, ein intuitives Denken. Und über dieses verfügt jeder, der sich im allgemeineren oder philosophischen Sinne erkennend betätigt. (Näheres dazu siehe hier) Insofern also die Philosophie der Freiheit den Leser dazu anleitet, die Idee der Freiheit wahrzunehmen, geht der Autor dieses Buches davon aus, daß bei seinem Leser alle Voraussetzungen vorhanden sind, auf die es dabei ankommt.

Man muß also in diese Schrift in keiner Weise irgend etwas hineingeheimnissen, nur weil es damit Verständnisschwierigkeiten gibt. Diese sind im Prinzip behebbar, und ihre Mystifikation wäre im allerhöchsten Maße kontraproduktiv, weil sie von den wirklichen Problemen, die in der Darstellung liegen, bloß ablenkt. Womit die eigentliche Klärung, die nur in einer oft mühsamen Detailarbeit liegen kann, nachhaltig verhindert wird.

Ende Kapitel 3


Top zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home