Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens    

      (Stand 08.08.04) 

                                            

Zusatz 1    

Rudolf Steiner über die fundamentale Bedeutung der erlebten Aktivität des Denkens in seiner Philosophie der Freiheit      

"Solange wir bloß hinausschauen mit unseren Sinnen auf dasjenige, was wir außerhalb wahrnehmen können, haben wir keine Wirklichkeit vor uns. Wenn wir ringen, alles Wahrnehmbare mit demjenigen zu verbinden, was wir von einer ganz andern Seite aus den Weltenwurzeln in dieses Dasein hineintragen, wenn wir ringen mit dem, was zunächst in unserem Denken aufgeht, und wenn wir in unserer eigenen aktiven Erkenntnistätigkeit diese zwei Seiten der Wirklichkeit miteinander verbinden, so bringen wir zu der äußeren Wahrnehmung dasjenige hinzu, was noch fehlt von der Wirklichkeit; wir gestalten sie erst zu der Wirklichkeit. Der Erkenntnisprozeß ist dasjenige, zu dem sich der Mensch erheben muß, damit Wirklichkeit in seiner Welt enthalten sei. In seiner Welt wäre nicht Wirklichkeit, wenn er nur wahrnehmen würde, wenn er nicht ringen könnte, mit dem Wahrgenommenen zu verbinden dasjenige, was nicht die Wahrnehmung geben kann, was er aus ganz anderer Weltenecke zu der Wahrnehmung hinzubringt und was sich zunächst in seinem Denken offenbart.

Weil sich der Mensch mit seinem Erkenntnisprozeß in die Wirklichkeit so hineinstellt, daß dieser Erkenntnisprozeß selber eine Realität ist, daß also in dem Prozeß, der zum Wissen führt, die Wirklichkeit erst erzeugt wird, erst aufsteigt, deshalb konnte ich dasjenige Schriftchen, worinnen ich gerade diese Art des menschlichen Erkennens darstellen wollte, «Wahrheit und Wissenschaft» nennen. Ich gab gewissermaßen dazumal in diesem Schriftchen nach meiner Ansicht eine Art Versuch einer Verständigung des menschlichen Bewußtseins mit sich selbst. Das menschliche Bewußtsein stellt sich gewissermaßen die Frage: Wie stehst du zu der Wirklichkeit? Bist du das fünfte Rad am Wagen oder der Eckensteher, der mit seiner Erkenntnis etwas vollführt, das nichts zu tun hat mit der Wirklichkeit? Ist da draußen schon die Wirklichkeit vielleicht nur verhohlen und hast du sie durch deine Erkenntnis bloß zu suchen? Oder ist der Erkenntnisprozeß etwas, das an dem Zustandekommen der vollen Wirklichkeit beteiligt ist? - Diese Frage ließ sich nicht anders als in dem letzteren Sinne beantworten. Allerdings ist es aber notwendig, wenn man diese Antwort, die dem Agnostiker zunächst wie ein Paradoxon erscheint, in ihrer Richtigkeit durchschauen will, daß man dann die ganz besondere Natur des Denkens als ein Reales von der einen Seite wirklich erfasse und auf der andern Seite wirklich erfasse, wie die Wahrnehmung überall sich so erweist, daß sie an uns herantritt wie dasjenige, was eigentlich in sich dunkel und finster ist. Man muß sich die Empfindung von diesem Gegensatz von Denken und Wahrnehmung so vergegenwärtigen, daß man klar anschaut, wie wir in dem Denken etwas haben, worinnen wir voll wachen.

Der Wachprozeß hat ja seine Stufen, seine Grade. Wollen wir ihn erfassen in seiner ureigensten Gestalt für unser gewöhnliches Bewußtsein, so können wir das nur, indem wir uns erleben mit der vollen Aktivität der Seele im Denken. Und dann werden wir erleben, wie wir im Wahrnehmen eigentlich da sind. Haben wir es dazu gebracht, etwa in dem Sinne von Richard Wahle oder Johannes Volkelt, die Wahrnehmung in ihrer wahren Gestalt uns vor die Seele hinzustellen, und prüfen wir dann, wie die Seele lebt, indem sie nur in der Wahrnehmung lebt, dann finden wir keinen Unterschied mehr zwischen diesem Erleben der Seele und der noch ganz vom Denken undurchdrungenen Wahrnehmung in dem eigentlichen Schlafzustand. Und gerade so, wie unser tägliches Leben wechselt zwischen Wachen und Schlafen, so wechselt das webende, wellende Seelenleben fortwährend, indem es in Verkehr mit der Außenwelt tritt, zwischen dem, wohinein es sich eigentlich nur schlafen kann, der Wahrnehmung, und zwischen dem, worinnen es vollständig wacht, dem aktiven Denken.

Was sich sonst in der Zeit vollzieht, wo wir die Finsternis des Schlafens durchleuchten mit der Helligkeit des Wachens, das vollzieht sich eigentlich auf einem andern Felde in jedem Augenblick, indem wir die Dunkelheit des Wahrnehmens durchdringen mit dem Lichte, das in uns lebt, indem wir im aktiven Denken da sind. Wir erhellen fortwährend die dunkle Wahrnehmung. Das ist das Lebendige, das sich abspielt zwischen dem, was in dem Eindrucke, den die Wahrnehmung auf uns macht, schläft, und demjenigen, was sich hineinwacht in dieses schlafende Leben, indem wir es mit der Aktivität des Denkens durchdringen. Es kommt einem wirklich etwas vor die Seele wie eine Art Abwechslung von Wachen und Schlafen während des gewöhnlichen Wachzustandes, wenn wir ganz lebendig uns hineinversetzen in diese Beziehung zwischen Denken - das heißt, der im Geiste erlebten Aktivität - und dem Wahrnehmen, das heißt demjenigen, das fortwährend den Geist außer sich bringt, das fortwährend den Geist so macht, daß er es nur ergreifen kann in seiner Unbewußtheit, wie er die Vorgänge während des Schlafens nur in seiner Unbewußtheit ergreifen kann. Bei dem Verfolgen eines solchen Erkenntnisweges bekommt man einen richtigen Einblick in das, was eigentlich dieser Erkenntnisprozeß ist, wie er wirklich ein realer Prozeß ist, wie er arbeitet drinnen in der Wirklichkeit, nicht in der Ecke als ein bloß formaler.

Dennoch ist es außerordentlich schwierig, auf diesem Wege rein philosophisch hinzukommen zu der Erfassung der Aktivität des Denkens, und ich kann es vollständig verstehen, daß Geister wie Richard Wahle, der sich einmal klar vor die Seele gestellt hat, wie das Wahrnehmen eigentlich nur Chaotisches vor unsere Seele hinsetzt, und wie solche Denker, die wirklich nur dasjenige vor sich haben, was Johannes Volkelt mit Recht genannt hat die einzelnen nebeneinandergesetzten Fetzen des äußeren Wahrnehmens, die das Denken erst ordnen muß - ich kann es verstehen, wie solche Denker dann, weil sie sich ganz einleben in das Wahrnehmen, nicht dazu kommen, sich auch einleben zu können in die aktive Wesenheit des Denkens, sich nicht aufschwingen können dazu, anzuerkennen, daß wir, indem wir die Aktivität des Denkens erleben, in einer Tätigkeit ganz drinnenstehen, und weil wir ganz drinnenstehen, sie mit unserem Bewußtsein völlig verbinden können. Ich kann mir gut vorstellen, wie unbegreiflich es solchen Denkern ist, wenn man ihnen aus dem vollen Erleben dieser Aktivität des Denkens die Worte entgegnet: Im Denken haben wir das Weltgeschehen selber an einem Zipfel erfaßt! -, wie ich es in meiner «Philosophie der Freiheit» ausgesprochen habe.

Daß das so der Fall ist, daß wir wirklich das Weltengeschehen im Denken an einem Zipfel erfassen, das konnte nur zunächst dargestellt werden an jenem Denken, das dem menschlichen Handeln zugrunde liegt, jenem Denken, das sich entwickelt dann, wenn wir die sittliche Welt in unseren Handlungen aus unserem reinen Denken heraus gestalten. Denn dann sind wir gezwungen, zunächst das reine Denken in der Seele zu entwickeln, also das Denken gewissermaßen in seiner Reinkultur zu haben und die Anschauung dann selber dazu zu gestalten. Da zwingen uns die Tatsachen selber, Anschauen, Wahrnehmen und Denken voneinander zu sondern, um sie im Handeln, in der sittlichen Tat miteinander zu verbinden."                                                                                                                                                                    

Aus: GA-78, 1968, S. 39 ff. Vortrag vom 30. August 1921.

(Siehe hierzu auch: Einige Bemerkungen zu Walter Johannes Stein, Karl Bühler und zur Frage der Erinnerbarkeit von Werdeprozessen des Denkens auf dieser Homepage)

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