Studien
				zur Anthroposophie 
				 
				Michael
				Muschalle 
				 
				 
				
  
     
  
				Ende
				
				
  
     
  
				vorwärts
				
				
  
     
  
				Inhalt
				
				
  
     
  
				Gesamtinhalt
				
				
  
     
  
				Home
								 
				 
				Michael
				Muschalle 
				 
				Über
				den Zusammenhang von Freiheitsfrage und Erkenntnisfrage
								 
				Ein
				Beitrag zum Verständnis des intuitiven
				Denkens in Steiners Philosophie
				der Freiheit 
				 
				Stand
				29. 04. 13. / 27.
				12. 23 
				Am
				27. 12. 23 wurden
				lediglich einige
				Links aktualisiert. Auch solche der Anmerkung
				3), die inzwischen nur
				noch über das Internetarchiv von webarchive.org erreichbar
				sind. 
				 
				* 
				 
				"Ein
				erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein. " 
				 
				Rudolf
				Steiner, Die
				Natur und unsere Ideale,
				(1886) GA 30,
				Dornach 1989, S. 239 
				 
				* 
				 
				I.
								 
				Erkennen
				und Freiheit gehören für Steiner zusammen.
				Freiheitsphilosophie wurzelt in der Erkenntnistheorie. 
				 
				Der
				Philosoph Peter Bieri schreibt in seinem Buch Das Handwerk der
				Freiheit (München/Wien 2001, S. 397) "In dem Maße, in
				dem die Aneignung des Willens auf Artikulation und Verstehen
				beruht, handelt es sich um einen Erkenntnisprozeß. Wachsende
				Erkenntnis bedeutet wachsende Freiheit. So gesehen ist
				Selbsterkenntnis ein Maß für Willensfreiheit. Dieser
				Zusammenhang gibt uns eine erste Lesart der intuitiven Idee, daß
				ein freier Wille ein Wille ist, mit dem ich mich
				>indentifizieren< kann: Es ist ein Wille, den ich mir
				zurechnen kann, weil ich ihn in seinen Konturen erkannt und
				weil ich verstanden habe, wie er in die Geschichte und die
				gegenwärtige Struktur des Wünschens eingebettet ist, die
				mich zu dieser bestimmten Person machen." 
				 
				Eine der
				Auffassung Bieris sehr verwandt klingende Überzeugung drückt
				Steiner gegen Ende des ersten Kapitels der Philosophie der
				Freiheit (GA - 4, Dornach 1978, S. 23) aus, wenn er sagt:
				"Daß eine Handlung nicht frei sein kann, von der der
				Täter nicht weiß, warum er sie vollbringt, ist ganz
				selbstverständlich. Wie verhält es sich aber mit einer solchen,
				von deren Gründen gewußt wird?" 
				 
				In beiden Fällen
				geht es darum, sich der Gründe seines Handelns bewußt zu
				werden. Von Freiheit kann nicht die Rede sein, wenn ich nicht
				weiß, was mich umtreibt. Ich muß Kenntnis haben von den Motiven
				meines Handelns, um ernsthaft von freien Handlungen reden zu
				können. Und das kann, wie Bieri in seinem Buch ausführlich
				darlegt, eine ziemlich verwickelte Angelegenheit sein, weil
				sich diese Motive nicht so ohne weiteres zeigen, sondern sich oft
				hinter Masken verbergen oder zunächst ganz und gar unsichtbar
				bleiben. Auf jeden Fall aber gilt: Ohne den Willen zur
				Selbsterkenntnis, ohne die Erkenntnis der Handlungsmotive keine
				Freiheit. 
				 
				Es wäre reizvoll
				diese Gegenüberstellung erheblich auszuweiten. Ich will mich
				hier auf einen einzelnen Punkt beschränken und demonstrieren,
				daß Steiner mit seinen Gedanken in mancher Hinsicht doch
				konsequenter ist als Peter Bieri. Deswegen konsequenter, weil er
				in einem viel umfassenderen Sinne als Bieri die
				Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage verknüpft und die
				Untersuchung auch auf das Erkennen selbst ausdehnt. Dahingehend,
				sich zu fragen, was Denken und Erkenntnis überhaupt ist, und ob
				denn das denkende Erkennen selbst auch frei, oder von woher auch
				immer determiniert sei. 
				 
				Steiner führt
				den eben zitierten Gedanken (S. 23 f) mit den Worten fort: "Das
				führt uns auf die Frage: welches ist der Ursprung und die
				Bedeutung des Denkens? Denn ohne die Erkenntnis der denkenden
				Betätigung der Seele ist ein Begriff des Wissens von etwas, also
				auch von einer Handlung nicht möglich. Wenn wir erkennen,
				was Denken im allgemeinen bedeutet, dann wird es auch leicht
				sein, klar darüber zu werden, was für eine Rolle das Denken
				beim menschlichen Handeln spielt. «Das Denken macht die Seele,
				womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste», sagt Hegel mit
				Recht, und deshalb wird das Denken auch dem menschlichen Handeln
				sein eigentümliches Gepräge geben." 
				 
				Bei Steiner führt
				die Freiheitsfrage durch die ihr eigene Sachstruktur mit
				Notwendigkeit auf die Erkenntnisfrage. Und zwar in einem
				dreifachen Sinn. Einmal will im Grundsatz geklärt sein, was wir
				überhaupt tun, wenn wir denken und erkennen. Zweitens geht sie
				darauf, welche Rolle das Denken und Erkennen ganz speziell in
				unserem Handeln spielt. Und drittens schließlich, - Steiner
				sagt das an dieser Stelle nicht ganz so explizit, aber es ist
				fast die entscheidende Frage seiner ganzen Freiheitsphilosophie -
				geht sie darauf: Ist dieses denkende Erkennen selbst frei oder
				nicht? Man muß, um bei Steiner die Bedeutung dieser dritten
				Frage zu ermessen, sich die Zusätze zur Neuauflage von 1918
				ansehen. Dort wird ausdrücklich hervorgehoben, daß es die
				Freiheit des intuitiven Denkens ist, auf die sich
				jede Freiheit des Handelns stützt. Auf S. 253 f der Philosophie
				der Freiheit führt Steiner diese Sachlage vor Augen. Und das
				intuitive Denken wiederum ist ist ein solches, das
				vorrangig bei Erkenntnisvorgängen zur Geltung kommt. Es ist -
				wie Steiner auf S. 254 sagt - das Denken, durch das "eine
				jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt
				wird." 
				 
				Schon im
				Sendschreiben von 1886 Die Natur und unsere Ideale (GA 30,
				Dornach 1989, S. 237 ff) betont Rudolf Steiner diesen engen
				Zusammenhang zwischen Erkenntnisfähigkeit und Freiheit.
				"Oh, wir sollten doch endlich zugeben, daß ein Wesen, das
				sich selbst erkennt, nicht unfrei sein kann!", heißt es da.
				(S. 238.) Und weiter: "Indem wir die ewige Gesetzlichkeit
				der Natur erforschen, lösen wir jene Substanz aus ihr los, die
				ihren Äußerungen zugrunde liegt. Wir sehen das Gewebe der
				Gesetze über den Dingen walten, und das bewirkt die
				Notwendigkeit. Wir besitzen in unserem Erkennen die Macht, die
				Gesetzlichkeit der Naturdinge aus ihnen loszulösen und
				sollten dennoch die willenlosen Sklaven dieser Gesetze sein?
				Die Naturdinge sind unfrei, weil sie die Gesetze nicht erkennen,
				weil sie, ohne von ihnen zu wissen, durch sie beherrscht werden.
				Wer sollte sie uns aufdrängen, da wir sie geistig durchdringen?
				Ein erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein." 
				 
				Wenige Jahre
				später wird dieser Gesichtspunkt aus einer
				erkenntnistheoretischen Perspektive erneut aufgegriffen und
				vertieft. Den Hinweis, beim denkenden Erkennen handele es sich um
				einen Akt der Freiheit, gibt Steiner jetzt in seinem
				Vorspiel zur Philosophie der Freiheit, der Schrift
				Wahrheit und Wissenschaft. (Rudolf Steiner, Wahrheit
				und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit.
				GA-03, Dornach 1980.) Auf S. 11 dieser Schrift schreibt er, das
				Ergebnis seiner Analyse vorwegnehmend: "Das Resultat
				dieser Untersuchungen ist, daß die Wahrheit nicht, wie man
				gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem
				Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das
				überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst
				hervorbrächten." Weiter (S. 12) führt er aus: "Für
				die Gesetze unseres Handelns, für unsere sittlichen Ideale
				hat diese Anschauung die wichtige Konsequenz, daß auch diese
				nicht als das Abbild von etwas außer uns Befindlichem angesehen
				werden können, sondern als ein nur in uns Vorhandenes. Eine
				Macht, als deren Gebote wir unsere Sittengesetzte ansehen müßten,
				ist damit ebenfalls abgewiesen. Einen «kategorischen
				Imperativ», gleichsam eine Stimme aus dem Jenseits, die uns
				vorschriebe, was wir zu tun oder zu lassen haben, kennen wir
				nicht. Unsere sittlichen Ideale sind unser eigenes freies
				Erzeugnis. Wir haben nur auszuführen, was wir uns selbst als
				Norm unseres Handelns vorschreiben. [...] Die Anschauung von
				der Wahrheit als Freiheitstat begründet somit auch eine
				Sittenlehre, deren Grundlage die vollkommen freie Persönlichkeit
				ist." 
				 
				Gegen Ende von
				Wahrheit und Wissenschaft (S. 83 f) greift Steiner diesen
				Gedankengang noch einmal auf im Zusammenhang mit einer Erörterung
				der Philosophie Fichtes, und führt aus: "Der Umstand, daß
				das Ich durch Freiheit sich in Tätigkeit versetzen kann, macht
				es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die
				Kategorie des Erkennens zu realisieren, während in der
				übrigen Welt die Kategorien sich durch objektive Notwendigkeit
				mit dem ihnen korrespondierenden Gegebenen verknüpft erweisen.
				[...] Das Wesen der freien Selbstbestimmung zu untersuchen wird
				die Aufgabe einer auf unsere Erkenntnistheorie gestützten Ethik
				und Metaphysik sein. Diese werden auch die Frage zu erörtern
				haben, ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu
				realisieren vermag. [...] Daß die Realisierung des Erkennens
				durch Freiheit geschieht, geht aber aus den oben gemachten
				Anmerkungen bereits klar hervor. Denn wenn das unmittelbar
				Gegebene und die dazugehörige Form des Denkens durch das Ich im
				Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so kann die Vereinigung
				der sonst immer getrennt im Bewußtsein verbleibenden zwei
				Elemente der Wirklichkeit nur durch einen Akt der Freiheit
				geschehen." 
				 
				Was Rudolf
				Steiner hier ankündigt, "das Wesen der freien
				Selbstbestimmung zu untersuchen" und zugleich der Frage
				nachzugehen, "ob das Ich auch noch andere Ideen außer der
				Erkenntnis zu realisieren vermag", das findet statt in der
				Folgeschrift Die Philosophie der Freiheit, auf die in
				ihrem Vorspiel Wahrheit und Wissenschaft wiederholt
				hingedeutet wird. Und entsprechend weist Steiner seinen Leser
				dort (S. 254) auch darauf hin, daß der zweite Teil dieses Buches
				" ... seine naturgemäße Stütze in dem ersten" finde.
				"Dieser stellt das intuitive Denken als erlebte innere
				Geistbetätigung des Menschen hin. Diese Wesenheit des
				Denkens erlebend verstehen, kommt aber der Erkenntnis
				von der Freiheit des intuitiven Denkens gleich."
								 
				In der
				Philosophie der Freiheit geht es folglich, wenn man beide
				Schriften aufeinander bezieht, sowohl darum näher zu
				untersuchen, wie die Verwirklichung der Idee des Erkennens sich
				vollzieht und worauf sich dieser Akt der Freiheit im einzelnen
				gründet - was Steiners Bemerkung in der Philosophie der
				Freiheit zufolge im ersten Teil des Buches verhandelt wird.
				Und sich ferner zu fragen: " ... ob das Ich auch noch andere
				Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag."
				Letzterem ist der zweite Teil der Schrift gewidmet. Beiden
				Fragestellungen wird nachgegangen, wie Steiner 1917 an anderer
				Stelle ausdrücklich betont, "durch rein philosophische
				Forschung". Mit den "Denkmitteln" und der
				"Methodik allein", "die man gewöhnt ist, in
				philosophischen Arbeiten zu finden." (Die
				Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die
				zeitgenössische Erkenntnistheorie.
				Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35, 1984, S. 319). 
				 
				Die Idee des
				Erkennens wird, so können wir festhalten, durch einen Akt der
				Freiheit realisiert. Bezogen auf die Philosophie der Freiheit:
				Das intuitive respektive erkennende Denken
				verwirklicht oder vollzieht im Erkennen diesen Akt der
				Freiheit. Und nur weil es dieses vermag, also selbst frei ist,
				ist auch Freiheit des Handelns denkbar und möglich. Der
				Auffassung eines freien oder freiheitsfähigen menschlichen
				Individuums liegt demnach fundierend zugrunde die Einsicht vom
				Erkennen als einer Freiheitstat des Menschen. Der Umstand, daß
				Steiner dieses erkennende Denken später in der Zweitauflage der
				Philosophie der Freiheit, - und auch dort nur an wenigen
				Stellen - , ein intuitives Denken nennt, hat viel zur
				allgemeinen Verwirrung bei seinen Rezipienten beigetragen. Ich
				meine aber, daß die Sachlage verständlich sein sollte,
				wenn man die Materialien hinreichend berücksichtigt. Wenn
				also Steiner in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit
				(S. 254) betont, das freie Handeln gründe in der Freiheit des
				intuitiven Denken, dann gibt es unter Berücksichtigung
				seiner dortigen Bemerkungen zu diesem intuitiven Denken
				und unter Einbeziehung dessen, was er in den vorausdeutend
				programmatischen Hinweisen in Wahrheit und Wissenschaft
				zum Erkennen als Freiheitstat ausführt, mehr als Anlaß
				genug, vom intuitiven Denken als einem erkennenden
				Denken zu sprechen. Denn die Philosophie der Freiheit
				versteht sich als Programm, das in ihrem Vorspiel
				angekündigt wird. 
				 
				I
				I. 
				 
				Probleme
				mit dem intuitiven Denken 
				 
				Vielen
				Lesern der Philosophie der Freiheit wird es wahrscheinlich
				ähnlich gehen wie mir am Beginn meiner Studien vor rund 25
				Jahren: Wenn vom intuitiven Denken die Rede ist, dann
				assoziieren sie damit eher Ungewöhnliches, Besonderes -
				Ausnahmesituationen des Denkens. Falls sie philosophisch
				vorgeprägt sind, dann werden sie sich vielleicht an Kants
				Unterscheidung diskursiv - intuitiv in der Kritik der
				Urteilskraft erinnern, wo der intuitive Verstand
				(intellectus archetypus) nur als schiere, spekulative
				Möglichkeit genannt wird. Eine für Kant rein theoretische Größe
				ohne praktische Bedeutung und ohne tatsächliche Realität im
				Bewußtsein. Und als Anthroposophen, die mit Steiners Werk etwas
				vertraut sind, werden sie sich an die Intuition
				genannte höchste Form der höheren Erkenntnis erinnern.
				Ebenfalls für den normalen Sterblichen eine rein theoretische,
				für ihn im Augenblick kaum zu erreichende Größe, die ihm
				allenfalls Zukunftsmöglichkeiten andeutet, aber ohne
				faktische Relevanz für sein tatsächliches Bewußtsein jetzt
				ist. Was sich um Ausdrücke wie intellectus archetypus,
				anschauende Urteilskraft oder eben auch die hohe Stufe
				der Intuition rankt, das sind häufig die
				Verstehenshintergründe, wenn jemand auf einen Ausdruck stößt
				wie intuitives Denken. Man tut gut daran
				Assoziationen dieser Art beim Studium der Philosophie der
				Freiheit vorerst einmal beiseite zu schieben, sonst befindet
				man sich allzu leicht auf dem Holzweg. In der
				Philosophiegeschichte oder auch in der Anthroposophie
				verankerte Begrifflichkeiten sind manchmal hilfreich und
				unentbehrlich für das Verständnis der Philosophie der
				Freiheit. Doch sie können auch gehörig hinters Licht
				führen, wenn man sie übereilt und ohne eingehende textimmanente
				Prüfung auf den sachlichen Kontext dieser Schrift überträgt.
				Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Es gibt natürlich
				eine direkte Verbindung zwischen Steiners Intuitionsbegriff hier
				und dort. Aber es ist für das Erschließen der Philosophie
				der Freiheit - zumal für das anfängliche - mitunter sehr
				entlastend, sich an das zu halten, was er in der Vorrede von
				1918 sagt, daß nämlich niemand auf seine spätere
				Geistesforschung hinschielen muß, um den Inhalt dieses
				Buches annehmbar zu finden. 
				 
				Kaum
				anthroposophische Forschung zum intuitiven Denken.
				Folge: Mythen und
				Legenden darüber. 
				 
				
				Von anthroposophischen Autoren werden bisweilen regelrechte
				Mythen bezüglich des intuitiven Denkens konstruiert -
				(ein aktuelles Beispiel dazu aus der Zeitschrift Die Drei,
				2/2008, S. 56 ist im Internet abrufbar unter
				http://www.diedrei.org/Heft_2_08/09%20Forum%20Anthroposophie%202-08.pdf)
				- was sicherlich im wesentlichen eine Folge des Umstandes
				ist, daß Steiner sich in der Philosophie der Freiheit
				über das intuitive Denken nur sehr wenig explizit
				erläuternd äußert. Es gibt keine erschöpfenden
				unmittelbaren Erklärungen zu diesem Ausdruck. Der Terminus
				intuitives Denken taucht überhaupt nur in den
				späteren Zusätzen der Zweitauflage dieses Buches auf. Und
				auch hier - soweit ich sehe - nur im zweiten Teil des
				Buches, wo die grundsätzlichen Fragen des Denkens längst
				abgehandelt sind. In der Erstauflage von 1894 dagegen ist er
				nicht explizit vorhanden, aber das intuitive Denken der
				Sache nach. Denn im ersten Teil, wo dieser Ausdruck zwar fehlt,
				soll gleichwohl schon die Rede davon sein. Denn: "Dieser
				[erste Teil, MM] stellt das intuitive Denken als erlebte innere
				Geistbetätigung des Menschen hin. " (S. 254) Man muß
				demnach unterstellen, daß dort, wo im ersten Teil vom Denken
				die Rede ist, und zwar schon 1894, Steiner das intuitive
				Denken meint. Das deckt sich mit der hier von mir vertretenen
				Auffassung vom intuitiven Denken als einem erkennenden,
				denn um dieses geht es ja dort. Anthroposophische Autoren
				verweisen mit Vorliebe auf Steiners spätere Zusätze zur
				Philosophie der Freiheit, wenn sie eine Differenz zwischen
				dem intuitiven und dem sogenannten normalen Denken (was
				immer das sein mag) anhand dieser Schrift festzustellen glauben.
				Daß Steiner in dieser Schrift (siehe oben) ausdrücklich
				darauf hinweist, daß im gesamten ersten Teil schon von diesem
				intuitiven Denken, und folglich auch im dritten Kapitel schon die
				Rede ist, das kommt ihnnen gar nicht in den Sinn. So sehr sind
				sie befangenen in einer apriorischen und ungeprüften
				Vorwegannahme dahingehend, das intuitive Element komme im
				gewöhnlichen erkennenden Denken des Menschern grundsätzlich
				nicht vor. 
				 
				Wie dem auch sei:
				Für den Interpreten ist das eine ziemlich vertrackte Situation.
				Schließlich - man kann es nicht oft genug wiederholen - gründet
				in der Freiheit des intuitiven Denkens die Freiheit des
				Handelns. Weiß man aber nicht, was dieses intuitive
				Denken denn nun für Steiner ist, dann hat man nicht die Spur
				einer Aussicht zu begreifen, worin bei ihm die Freiheit des
				Handelns wirklich gründet. Mit allen Folgen, die das wiederum
				für weiteres philosophisches Arbeiten mit diesem Buche hat. Es
				ist, als habe Steiner in der Zweitauflage auf den letzten Seiten
				dieser Schrift dem Verständnis einen regelrechten Riegel
				vorgeschoben. Das ist eine sehr sperrige, Mythenbildung geradezu
				herausfordernde Faktenlage und macht die Dringlichkeit offenbar,
				eine Klärung dieses Begriffs anhand des Textes voranzutreiben.
				Gerade wegen der kargen Erläuterungen, die Steiner dazu gibt,
				scheint es mir daher wichtig, wirklich auch alle ausdrücklichen
				Bemerkungen, die er dazu macht, in die Interpretation
				einzubeziehen. Dazu gehört nun einmal, daß er es vorrangig
				als erkennendes Denken qualifiziert, dahingehend, daß
				durch das intuitive Denken "eine jegliche Wahrnehmung
				in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird", wie er
				im zweiten Zusatz von 1918 auf S. 255 ausführt. Und als ein in
				im Sinne dieser Erläuterung gekennzeichnetes erkennendes Denken
				wird es von jedem Denker ausgeübt, der sich erkennend betätigt,
				ganz gleichgültig, ob dieser seinem eigenen Denken schon
				Erkenntnisinteresse entgegengbracht hat oder nicht. 
				 
				Diese Sachlage,
				daß das intuitive Denken in jedem
				Erkenntnisvorgang des normalen Bewußtseins wirksam ist, wird von
				anthroposophischen Autoren vielfach übersehen oder
				ignoriert. Stattdessen erhält es einen ganz eigentümlichen
				Status, in dem Sinne daß es auf jeden Fall nicht im normalen,
				naiven Denkbewußtsein anzutreffen sei. 
				 
				Einen
				derartigen Mythos etwa konstruiert Marcelo da Veiga Greuel in
				seinem Buch Wirklichkeit und Freiheit, Dornach 1990, S. 46
				f, wenn er dort sagt: "Das intuitive, durch die
				Selbstreflexion entdeckte Denken, ist also nicht die Form des
				Denkens, welche im naiven Bewußtsein vorkommt. Hier gilt
				vielmehr durchgängige Diskursivität, d.h. ein sich in
				zeitlicher Schrittfolge vollziehendes und an die Wahrnehmung der
				Sinne gebundenes Denken, das sich seines tätigen Ursprungs nicht
				bewußt wird." 
				 
				Diese These wird
				quellenkritisch durch nichts weiter belegt als den Hinweis
				darauf, daß es, "eine Wahrnehmung" sei, "in der
				der Wahrnehmende selbst tätig ist, und" ebenso " ...
				eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird",
				wie Steiner auf S. 256 in einer allerdings etwas anderen Absicht
				anmerkt. Was der Autor hier nicht berücksichtigt, ist, daß
				Steiner an dieser Stelle nicht generell charakterisierend vom
				intuitiven Denken spricht, sondern in einem engeren Sinne
				vom intuitiv erlebten Denken. (Was der Autor übrigens
				auch noch irreführend zitiert.) Und nur darauf, auf
				dieses intuitiv erlebte Denken trifft die Kennzeichnung
				zu, daß es "eine Wahrnehmung" sei, "in der der
				Wahrnehmende selbst tätig ist, und" ebenso " ... eine
				Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird". Denn in
				diesem Fall nimmt der Denker aktiv-tätig den
				ideell-begrifflichen Gehalt seines Denkens wahr - dies entspricht
				einer von Steiner durchgängig im philosophischen Schrifttum
				vorgetragenen Ansicht vom Denken als Auffassungs- oder
				Wahrnehmungsorgan für Begriffe und Ideen. Und er nimmt seine
				eigene aktuelle denkerische Aktivität wahr. 
				 
				Das
				(begrifflicher Inhalt und denkerische Aktivität) sind zwei
				verschiedene Wahrnehmungen, die häufig verwechselt oder
				gleichgesetzt werden, aber nicht verwechselt werden dürfen. Eine
				derartige Verwechselung bzw Gleichsetzung findet sich etwa im
				Kommentarteil des im übrigen sehr zu empfehlenden Buches von
				Renatus Ziegler, Intuition und Ich-Erfahrung, Stuttgart,
				2006, S. 418. Ziegler paraphrasiert dort diesen Passus des
				zweiten Zusatzes von 1918 aus dem Kapitel Die
				Konsequenzen des Monismus mit tätigem Wahrnehmen und
				wahrnehmendem Tätigsein, wobei zwischen diesen
				seinen beiden Kennzeichnungen von der Sachaussage her für mich
				kein Unterschied zu erkennen ist. Tätiges Wahrnehmen und
				wahrnehmendes Tätigsein besagt in meinen Augen jeweils
				dasselbe: ein aktives Wahrnehmen. Während auf der anderen Seite
				die von Steiner ausdrücklich hervorgehobene Wahrnehmung
				der Selbstbetätigung in Zieglers Kommentierung vollständig
				untergeht. Doch darum geht es ja gerade hier: Nicht nur ist die
				ideelle Wahrnehmung Folge einer Aktivität, sondern diese
				wahrnehmende Aktivität ihrerseits wird ebenfalls vollbewußt
				wahrgenommen und als Aktivität auch erlebt. Sie bleibt nicht
				etwa vorbewußt, bewußtseinsunterschwellig oder gar völlig
				unbewußt wie manche glauben. Es müßte also bei Ziegler
				korrekterweise heißen: tätiges Wahrnehmen und
				wahrgenommenes Tätigsein oder besser Wahrnehmen des
				Tätigseins. (Vielleicht handelt es sich hier nur um einen
				sprachlichen Lapsus in Zieglers Kommentierungen. Im Hauptteil
				seiner Arbeit, der allerdings nicht mehr explizit an den
				Text der Schrift angebunden wird, trifft er diese Unterscheidung
				sehr wohl.) Die Wahrnehmung des begrifflichen Inhalts (als
				Resultat des tätigen Wahrnehmens oder wahrnehmenden
				Tätigseins) findet bei jedem begrifflichen Denkvorgang statt.
				Die Wahrnehmung der Selbstbetätigung (wahrgenommenes
				Tätigsein/Wahrnehmen des Tätigseins) aber nur, wenn der
				Denker seine erlebende Aufmerksamkeit bewußt auch auf die
				eigene denkerische Aktivität hinorientiert. Sonst wird sie
				einfach übersehen, weil sie weiter nicht interessiert und somit
				unter der Schwelle des Bewußtseins bleibt. 
				 
				Der Ausdruck
				intuitiv erlebtes Denken trifft also nur auf ein Denken
				zu, in dem beide Wahrnehmungsformen (Inhalt und Tätigkeit)
				wirklich vorliegen. Damit kennzeichnet er etwas, das Steiner
				im Zusatz von 1918 zum 3. Kapitel (S. 55) einfordert, wenn er
				dort sagt: "... es kommt darauf an, daß nichts gewollt
				wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem «Ich» nicht restlos
				als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint",
				und ist somit ein terminus technicus für erlebtes
				gegenwärtiges Denken. (Man beachte: für erlebtes,
				nicht für beobachtetes gegenwärtiges Denken. Das aber
				selbstverständlich auch als Erkenntnismittel in der Beobachtung
				des Denkens zu finden ist, weil ja dann die Erfahrungen oder
				Erlebnisse des Denkens selbst einer denkenden Betrachtung
				unterworfen werden.) 
				 
				Es ist übrigens,
				soweit ich sehe, der einzige Versuch da Veiga Greuels - um wieder
				auf diesen zurückzukommen - sich am expliziten Steinerschen
				Sprachgebrauch intuitives Denken etwas zu orientieren.
				Wohlgemerkt am Ausdruck intuitives Denken und nicht nur an
				dem der Intuition, den er obendrein weitgehend links
				liegen läßt, ohne sich Steiners Ausführungen dazu näher
				anzusehen. Und bis auf dieses eine, irreführende und nicht
				weiter aufgeschlossene Zitat verliert er kein Wort mehr darüber,
				was Steiner höchstselbst in der Schrift ausdrücklich zum
				Begriff intuitives Denken sagt. Und so hält der Leser
				dann am Ende ein Buch in der Hand. Eine wissenschaftliche Arbeit,
				die ihm versichert, das intuitive Denken komme im naiven
				Bewußtsein nicht vor. Deren Autor unter anderem Steiners
				Freiheitsverständnis auf die Spur kommen möchte. Der dem Leser
				nichts näheres über Steiners Intuitionsbegriff berichtet, und
				noch viel weniger über den im Sachzusammenhang entscheidenden
				Steinerschen Sprachgebrauch das intuitive Denken
				betreffend. Man fragt sich: Warum tut er das nicht? - Warum führt
				er einen Begriff vom intuitiven Denken vor, der Steiners
				eigene direkte Äußerungen dazu nahezu komplett ignoriert? Dem
				jede seriöse Untersuchungsgrundlage für die fragliche
				Behauptung fehlt! Die Folgen treten dann auch zu Tage. Denn: Daß
				das naive Bewußtsein, das sich "seines tätigen
				Ursprungs nicht bewußt" ist, nur in der Lage sein sollte,
				diskursiv und an die Sinne gebunden zu denken, dünkt mir
				abenteuerlich. Warum sollte das der Fall sein? Es würde
				doch bedeuten, daß dieses Bewußtsein solange nicht imstande
				wäre, reinen, sinnlichkeitsfreien - etwa mathematischen
				oder philosophischen - Gedanken nachzugehen, solange es sich
				seines tätigen Ursprungs nicht bewußt ist. Das ist denn doch zu
				weit hergeholt. Ein derartiges Junktim läßt sich aus der
				Philosophie der Freiheit nun wirklich nicht ablesen. 
				 
				Der Umstand, daß
				der Autor diese disparaten Sachverhalte (Wissen um die Tätigkeit
				des Denkens und Befähigung zum reinen Denken - Wer sich des
				tätigen Ursprungs seines Denkens nicht bewußt ist kann nur an
				die Sinne gebunden denken) derart sachwidrig verquickt, geht zu
				erheblichen Teilen auf eine fehlende Textanalyse zurück. Aber
				die ganze Passage offenbart darüber hinaus auch ein
				derartiges gedankliches, hier nicht analysierbares
				Durcheinander, daß die Vermutung nahe liegt, ob dahinter nicht
				ein fundamentales und weit reichendes Mißverstehen dieser
				Schrift steht, das nicht originär auf eigenem Boden gewachsen
				ist, sondern mittelbare Folge ist einer bestimmten
				philosophischen Schulenbildung innerhalb der Anthroposophie, die
				nicht hinreichend unterscheidet zwischen dem Beobachten
				und dem Erleben des aktuellen Denkens. (Siehe hierzu auch
				die Ausführungen an anderer Stelle
				auf dieser Homepage.) 
				 
				(Noch weit ärger,
				dies sei kurz angemerkt, ist die Sachlage bei Florin Lowndes, der
				sich in seinem Buch Das Erwecken des Herzdenkens,
				Stuttgart 1998, auf S. 20 ff in eine völlig haltlose
				Phantastik über das intuitive Denken versteigt. Und zwar
				ohne auch nur den Schimmer einer Begründung für seine
				Auffassung an der Philosophie der Freiheit selbst zu
				liefern. Bei ihm wird es gar als "überlogisches"
				Denken etikettiert, mit dessen Hilfe allein der "rein
				geisteswissenschaftliche" - sprich: esoterische - Charakter
				des Buches zugänglich sei. Das somit also weit jenseits dessen
				liegt, wozu das normale Denkbewußtsein in der Lage ist. Woher er
				seine Weisheiten hat und warum er das glaubt, das erklärt der
				Autor dem Leser erst gar nicht. Dafür deckt er ihn aber mit
				einer wahren Flut esoterischen Beiwerks und zusammengewürfelter
				Vortragszitate ein, die den Unwissenden beeindrucken mögen,
				faktisch aber doch nur bluffen und Sachkenntnis lediglich
				vortäuschen. Ein wahrhaft dokumentationswürdiges Beispiel für
				mangelnde Sorgfalt, Paralogik des Denkens und
				Pseudowissenschaftlichkeit innerhalb der anthroposophischen
				Bewegung, wenn sich ihre Autoren mit der Philosophie der
				Freiheit und speziell mit dem intuitiven Denken
				befassen. Und ein besonders symptomatisches Beispiel für den
				Zustand dieser Bewegung, da Lowndes auf der Umschlagseite von
				seinem Verlag Freies Geistesleben gleich mit drei
				umfangreichen Bänden zum Thema angekündigt wird. Vom Schaden,
				der damit im Erkenntnisleben des Lesers und für dessen
				weitere Entwicklung angerichtet wird will ich erst gar nicht
				reden. Mir scheint es bezeichnend für die wissenschaftliche
				Gesinnung, wenn Autoren wie Lowndes von bekannteren
				anthroposophischen Verlagen mit großem Aufwand ins Publikum
				gepreßt werden, während andere Autoren wie etwa Lorenzo
				Ravagli, die wirklich etwas Substantielles zu sagen haben, eigene
				Verlage gründen müssen, damit sie überhaupt Gehör finden.
				Irgendwo auf dieser Linie anthroposophischer Pseudowissenschaft
				liegt auch, was das Dornacher Vorstandsmitglied Sergej Prokofieff
				seinem Leser über die Philosophie der Freiheit und das
				intuitive Denken auftischt: Fachlich substanzlos, dafür
				umso mehr aufgeschäumt mit reichlich Esoterik und
				suggestiv-dämagogischem Steinerkult. Näheres dazu siehe hier.) 
								 
				Es macht
				allerdings für den Interpreten einen maßgeblichen Unterschied
				aus, ob ein philosophischer Autor vom intuitiven Denken
				spricht, oder vom intuitiv erlebten Denken. Beachtet man
				diese Differenz nicht, dann kommt man zu allen möglich
				irreführenden Auffassungen, die zwangsläufig Folgen haben
				für das Verständnis der Philosophie der Freiheit insgesamt.
				(Ich sage das ganz im Bewußtsein eigener leidvoller Erfahrungen
				mit diesem Begriff.) 
				 
				Um es
				zusammenzufassen: Die von Marcelo da Veiga Greuel vertretene
				Auffassung, das intuitive Denken komme im normalen
				(naiven) Bewußtsein nicht vor, scheint mir unplausibel. Und
				schon gar nicht, so meine ich, läßt sich seine Ansicht mit der
				von ihm angeführten Textstelle belegen. Vielmehr gilt: Das
				intuitive Denken ist nicht etwa das erst "durch
				Selbstreflexion entdeckte Denken", wie es bei da Veiga
				Greuel heißt, sondern, das entdeckende, erkennende
				Denken. Und als solches kann es sich eben auch selbst entdecken,
				erkennen, und vor allem: seinen intuitiven und darauf
				basierend seinen Freiheitscharakter entdecken und erkennen.
				Worauf Steiner ja eigens hinweist, wenn er (S. 255) jene Methode,
				die ihm in der Philosophie der Freiheit gleichermaßen zur
				Erhellung der Freiheitsfrage wie der näheren Beleuchtung des
				Denkens dient, selbst auch als intuitives Denken
				bezeichnet, und andernorts als ein Verfahren, das man gewöhnlich
				in philosophischen Arbeiten angewendet findet. Wer sich damit dem
				intuitiven Denken erlebend und verstehend
				zuwendet, der erkennt den Freiheitscharakter des
				intuitiven Denkens (S. 254). Was sich nicht zuletzt doch
				auch mit der Tatsache der Wesensgleichheit von
				beobachtendem und beobachtetem Denken deckt, wie sie im drittem
				Kapitel der Philosophie der Freiheit betont wird. Insofern
				ist auch die von da Veiga Greuel oben getroffene, jedoch von
				Steiner weder hier noch sonst im Buche gebrauchte
				Unterscheidung diskursiv-intuitiv nicht eben hilfreich im
				fraglichen Zusammenhang, sondern führt auf Abwege. Denn es
				geht ums Erkennen. Und jede Erkenntnis, ob sinnlich oder
				übersinnlich, ob im naiven oder kritischen Bewußtsein, operiert
				nach Steiner mit Intuitionen, also intuitiv, sonst wäre es keine
				Erkenntnis. Die Unterscheidung diskursiv-intuitiv, wie sie für
				Immanuel Kants Erkenntnisbegriff charakteristisch ist,
				dahingehend, daß dem Menschen ohnehin nur ein
				sinnlichkeitsgebundenes diskursives und kein intuitives (auf
				das Sinnlichkeitsfreie, Übersinnliche bezogene)
				Erkenntnisvermögen zugestanden wird, - siehe dazu etwa den § 77
				seiner Kritik der Urteilskraft -, kommt bei Steiner
				schlichtweg nicht vor. Für Steiner, und da liegt eine der
				basalen Differenzen zu Kant überhaupt, ist die intuitive,
				übersinnliche oder sinnlichkeitsfreie Wahrnehmung
				konstitutiv für den Erkenntnisbegriff. Das heißt: in jeder
				Erkenntnis ist bereits dieses intuitive, übersinnliche
				respektive sinnlichkeitsfreie Element enthalten. (Weiteres
				dazu siehe auch hier) 
				 
				* 
				 
				Versuch
				eines Verständnisansatzes 
				 
				Auf fünf
				wesentliche Fakten ist nach meiner Einschätzung bei dem Bemühen
				um eine begriffliche Klärung des intuitiven Denkens das
				Augenmerk besonders zu richten: 
				 
				1) Das intuitive
				Denken wird von Steiner als diejenige Methode gekennzeichnet,
				die diesem Buche als Forschungsverfahren zugrunde liegt. Und die,
				wie oben gezeigt wurde, nach Steiner explizit dieselbe ist, "die
				man gewöhnt ist, in philosophischen Arbeiten zu finden."
				Sie liegt also nicht nur der Philosophie der Freiheit
				zugrunde, sondern philosophischen Untersuchungen ganz
				allgemein. 
				 
				2) Für den
				Erkenntnistheoretiker Steiner ist notwendigerweise vor der
				Beantwortung der Freiheitsfrage die Erkenntnisfrage zu klären.
				"Denn ohne die Erkenntnis der denkenden Betätigung der
				Seele ist ein Begriff des Wissens von etwas, also auch von einer
				Handlung nicht möglich. Wenn wir erkennen, was Denken im
				allgemeinen bedeutet, dann wird es auch leicht sein, klar darüber
				zu werden, was für eine Rolle das Denken beim menschlichen
				Handeln spielt", um Steiners Argumentation von S. 23 der
				Philosophie der Freiheit noch einmal aufzugreifen.
				Deswegen hängt aus logisch-systematischen Gründen die
				Freiheitsfrage von der Erkenntnisfrage ab und kann nur
				dieser nachfolgend gelöst werden. Und man sieht auch, es geht in
				der Argumentation Steiners nicht darum irgend welche
				Spezialformen des Denkens erforschen, sondern zu klären, "was
				Denken im allgemeinen bedeutet." Das wird im ersten Teil der
				Philosophie der Freiheit - und da geht es ja vielfach
				um diese Frage - auch in geradezu augenfälliger Weise
				sichtbar. Da bleibt für mystifizierende Überhöhungen des
				dort untersuchten Denkens überhaupt kein Raum, und auch kein
				Raum, ihm von vornherein irgend welche Eigenschaften anzuheften,
				die fern abliegen von dem, was es gewöhnlich unter normalen
				Verhältnissen tut. 
				 
				3) Steiners
				entsprechende Hinweise auf den generellen
				Freiheitscharakter des Erkennens in der Schrift Wahrheit und
				Wissenschaft (s.o.) und die dortigen Vorausdeutungen auf die
				Philosophie der Freiheit, ferner 
				 
				4) der Umstand,
				daß er das intuitive Denken in seiner knappen
				Kennzeichnung auf S. 255 der Philosophie der Freiheit
				ebenfalls in einem generalisierenden Sinn mit der
				Erkenntnistätigkeit verknüpft, wenn er sagt: durch das
				intuitive Denken wird »eine jegliche Wahrnehmung in die
				Wirklichkeit erkennend hineingestellt«, - man beachte: eine
				jegliche Wahrnehmung und nicht etwa nur geistig-ideelle
				respektive auf sinnlichkeitsfreiem Denken beruhende - und
				schließlich 
				 
				5) die Tatsache,
				daß er (ebd., S. 253 f) in diesem intuitiven Denken
				Freiheit überhaupt begründet sieht, was angesichts der
				unter 2) genannten Sachlage logisch konsequent ist und sich auch
				mit seinen Ausführungen in Wahrheit und Wissenschaft
				bezüglich des Freiheitscharakters jedes Erkennens deckt,
				verweisen unverkennbar darauf: Man wird auf jeden Fall seinen
				Erkenntnisbegriff einbeziehen müssen, wenn es um die
				begriffliche Klärung des intuitiven Denkens als
				Grundlage jeder freien Handlung geht. 
				 
				Und hier wiederum
				scheint mir bemerkenswert, daß gleichsam am philosophischen
				Quellort dieses Begriffs, jener Passage, in der Steiner in der
				Philosophie der Freiheit (S. 95) den Intuitionsbegriff
				einführt, in keiner Weise von irgendwelchen Sonderformen des
				Denkens die Rede ist, sondern von einem Denken, das sich an
				ganz konkreten sinnlichen Gegenständen entzündet. Von
				einer Schnecke und einem Löwen ist dort (S. 95)
				die Rede, mit denen sich das Denken erkennend befaßt. "Diese
				Tätigkeit des Denkens", heißt es, "ist eine
				inhaltvolle. Denn nur durch einen ganz bestimmten konkreten
				Inhalt kann ich wissen, warum die Schnecke auf einer niedrigeren
				Organisationsstufe steht als der Löwe. Der bloße Anblick,
				die Wahrnehmung gibt mir keinen Inhalt, der mich über die
				Vollkommenheit der Organisation belehren könnte." Und
				jetzt folgt die Passage mit der Einführung des
				Intuitionsbegriffs: "Diesen Inhalt bringt das Denken der
				Wahrnehmung aus der Begriffs- und Ideenwelt des Menschen
				entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen
				gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern. Die Form, in
				der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuition
				bezeichnen. Sie ist für das Denken, was die Beobachtung für
				die Wahrnehmung ist. Intuition und Beobachtung sind
				die Quellen unserer Erkenntnis." In der Schrift Von
				Seelenrätseln erläutert er diesen Abschnitt noch
				einmal näher und führt dort aus: "Ich sage also hier:
				Intuition wolle ich als Ausdruck für die Form gebrauchen,
				in der die im Gedankeninhalt verankerte geistige Wirklichkeit
				zunächst in der menschlichen Seele auftritt, bevor diese
				erkannt hat, daß in dieser gedanklichen Innenerfahrung die in
				der Wahrnehmung noch nicht gegebene Seite der Wirklichkeit
				enthalten ist. Deshalb sage ich: Intuition ist «für das Denken,
				was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist»." Und weiter:
				"Mir gilt eben Intuition nicht «bloß» als die «Form, in
				der ein Gedankeninhalt zunächst hervortritt», sondern als die
				Offenbarung eines Geistig-Wirklichen, wie die Wahrnehmung als
				diejenige des Stofflich Wirklichen." (GA-21, Dornach 1976,
				S. 61) 
				 
				Nur nebenbei
				gesagt steckt in dieser letzten Formulierung Steiners ein
				wesentliches Verständnismittel, die beiden scheinbar
				verschiedenen Varianten seines Intuitionsbegriffes
				(erkenntnistheoretische und esoterische Variante) sachlich
				aufeinander zu beziehen. Gerade durch Steiners Gebrauch des
				Intuitionsbegriffs in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen
				tun sich viele Leser außerordentlich schwer, den Charakter des
				intuitiven Denkens realistisch einzuschätzen, weil
				sie zunächst an die höhere Form der Intuition denken, die
				im Zusammenhang mit dem anthroposophischen Schulungsweg von
				Steiner erörtert wird. Was in der Kürze dazu gesagt werden kann
				ist, daß es sich hier nicht um zwei dem Wesen nach verschiedene
				Formen der Intuition handelt, sondern daß sie nur dem Grade oder
				der Qualität nach voneinander verschieden sind. Wenn auch in
				dieser Hinsicht in Abhängigkeit vom Schulungsfortschritt ganz
				erheblich. Aber in beiden Fällen geht es um die
				"Offenbarung eines Geistig-Wirklichen". Das eine Mal
				auf der Ebene des normalen, das andere Mal auf der des besonders
				geschulten Bewußtseins. Und schon in jedem gewöhnlichen
				Erkenntnisvorgang hat man es mit einem "Geistig-Wirklichen"
				zu tun, das durch Intuition - einer der zwei genannten
				Erkenntnisquellen - gegeben wird. Eben das wird durch
				Steiners Erläuterung in der Schrift Von Seelenrätseln
				noch einmal ausdrücklich unterstrichen. Insofern ist es
				auch folgerichtig, wenn Steiner in der Vorrede von 1918 zur
				Philosophie der Freiheit (S. 9) darauf hinweist, daß er
				in diesem Buche hat zeigen wollen, " ... wie eine
				unbefangene Betrachtung, die sich bloß über die beiden
				gekennzeichneten für alles Erkennen grundlegenden Fragen
				erstreckt, zu der Anschauung führt, daß der Mensch in einer
				wahrhaftigen Geistwelt drinnen lebt." 
				 
				Man kann es ja
				manchmal nicht drastisch genug sagen: Aber wenn ich darüber
				nachdenke, was eine vor mir liegende Konservendose von einem
				Baumwollsocken unterscheidet, dann liegen dieser erkennenden
				Unterscheidung Intuitionen zugrunde, denn - um
				Steiners Gedankengang von eben aufzugreifen - "nur durch
				einen ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen," daß
				ein Baumwollsocken aus textilem Material gefertigt ist, das
				organischen, pflanzlichen Ursprungs ist und eine Konservendose
				aus Metall. "Der bloße Anblick, die Wahrnehmung gibt mir
				keinen Inhalt", der mich über die materielle Beschaffenheit
				und Herkunft dieser Gegenstände "belehren könnte" .
				"Diesen Inhalt bringt das Denken der Wahrnehmung aus der
				Begriffs- und Ideenwelt des Menschen entgegen. Im Gegensatz zum
				Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben ist, erscheint
				der Gedankeninhalt im Innern." Die Form, in welcher der
				Gedankeninhalt bei dieser Unterscheidung zunächst
				auftritt, nennt Steiner Intuition. Der erkennenden
				Unterscheidung von Konservendose und Baumwollsocken liegt demnach
				zugrunde ein Gedankeninhalt, der die Offenbarung eines
				Geistig-Wirklichen ist, wie die Wahrnehmung dieser beiden
				Gegenstände diejenige des Stofflich Wirklichen. Das
				heißt: Die Erkenntnis eines ganz normalen sinnlichen
				Gegenstandes geschieht im Rückgriff auf eine geistige
				Wirklichkeit, die im begrifflichen Inhalt verankert ist, den
				das Denken in der Intuition findet. 
				 
				Mit Blick auf die
				oben unter Punkt 1) - 5) genannte Faktenlage läßt sich dazu
				sagen: Das von Steiner angeführte Beispiel skizziert
				paradigmatisch die Struktur des intuitiven Denkens, indem
				er hier im Grundsätzlichen darlegt, wie eine Wahrnehmung
				- in diesem Fall eine sinnliche - in die Wirklichkeit erkennend
				hineingestellt wird. Wobei das Auftreten der Intuition noch
				nicht die eigentliche Erkenntnis ist, sondern, wie er sagt,
				lediglich deren Voraussetzung auf der ideellen Seite. Das ist
				übrigens ein Punkt, der besondere Beachtung verdient, und auch
				von mir in den hier veröffentlichten Arbeiten nicht immer
				adaequat behandelt wird. Deswegen noch einmal der Hinweis:
				Die Intuition allein ist noch nicht die Erkenntnis, sondern
				es muß neben der Wahrnehmung noch etwas nur vom Ich Ausgehendes
				hinzukommen, was den eigentlichen Erkenntnisakt - die Synthese
				zwischen intuitiv und wahrnehmlich Gegebenem - vollzieht. Erst in
				der sachgemäßen Verbindung der von zwei Seiten gegebenen
				Wirklichkeitsteile durch das Ich liegt die Erkenntnis
				selbst. Auf S. 146 der Philosophie der Freiheit spricht er
				diesbezüglich von einer "denkenden Durchsetzung der
				Wahrnehmung". Diese Vereinigung des intuitiv (durch
				Intuition) Gegebenen mit dem durch die Wahrnehmung Gegebenen
				ist ein Akt der Freiheit, um noch einmal Steiners Bemerkung aus
				Wahrheit und Wissenschaft (s.o., S. 84) aufzunehmen: "Denn
				wenn das unmittelbar Gegebene und die dazugehörige Form des
				Denkens durch das Ich im Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so
				kann die Vereinigung der sonst immer getrennt im Bewußtsein
				verbleibenden zwei Elemente der Wirklichkeit nur durch einen Akt
				der Freiheit geschehen." Dieser Freiheitsakt findet
				folglich in jedem Erkenntnisprozeß statt. Ein Denken, das
				intuitiv (auf der Basis von Intuitionen) diesen
				Erkenntnis- und Freiheitsakt vollzieht, nennt Steiner in der
				Philosophie der Freiheit ein intuitives Denken.
				Durch dieses Denken wird "eine jegliche Wahrnehmung in
				die Wirklichkeit erkennend hineingestellt". 
				 
				Dieses Paradigma
				gilt nun generell für den Erkenntnisprozeß, mit der Variante,
				daß die mit ideellem Gehalt zu verbindenden Wahrnehmungsteile
				nicht nur sinnliche sein müssen, sondern beispielsweise selbst
				auch ideelle sein können. In diesem Fall hat man es etwa
				mit reinem Denken zu tun, wie es die philosophisch
				gedankliche Entfaltung der Philosophie der Freiheit selbst
				über weite Strecken hin demonstriert. Das im einzelnen unter
				Einbeziehung von Steiners in der Schrift (S. 133) erweitertem
				Wahrnehmungsbegriff - "Man wird aus dem schon Vorangehenden,
				aber noch mehr aus dem später Ausgeführten ersehen, daß hier
				alles sinnlich und geistig an den Menschen Herantretende als
				Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten
				Begriff erfaßt ist." - darzulegen würde hier zu weit
				führen. So viel soll nur resümierend gesagt sein: Weil im
				Erkenntnisvorgang immer - auf welchen Wahrnehmungstyp er
				nun auch bezogen sein mag - vom Denken intuitiv der
				ideelle Gehalt geschöpft, und die Wahrnehmung mit dem
				intuitiv Gegebenen denkend durchsetzt wird,
				deswegen ergibt es einen guten Sinn, wenn Steiner (S. 255)
				hervorhebt, daß durch das intuitive Denken "eine
				jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend
				hineingestellt" werde. Das deckt sich vollständig mit dem,
				was er bei Einführung des Intuitionsbegriffs zu der
				Angelegenheit sagt. Da ist nichts Mystisch-Nebulöses, nichts
				Abgehobenes, nichts Rätselhaftes drin, sondern nur eben
				das, was er über den Erkenntnisvorgang ohnehin schon bis
				dahin im philosophischen Schrifttum geäußert hat und auch in
				der Philosophie der Freiheit schreibt. Denn die Sache
				liegt für Steiner so, "daß alle in meiner «Philosophie
				der Freiheit» vorgebrachten Grundanschauungen bereits in meinen
				früheren Schriften ausgesprochen und in dem genannten Buche nur
				in einer zusammenfassenden und sich mit den
				philosophisch-erkenntnistheoretischen Ansichten vom Ende des
				neunzehnten Jahrhunderts auseinandersetzenden Art vorgetragen
				sind." (GA-21, Dornach 1976, S. 59) Der Ausdruck intuitives
				Denken benennt also nichts wirklich Neues gegenüber
				diesem älteren Schrifttum, sondern was dort gesagt wird,
				findet sich auch in der Philosophie der Freiheit. Das
				heißt: das intuitive Denken ist tätig sowohl bei der
				Erkenntnis der gegenständlichen Welt, der seelischen und
				auch der geistig-ideellen Welt; in letzterem Fall zum Beispiel
				bei philosophischen Fragestellungen, wie sie die Abfassung
				einer Schrift nach Art der Philosophie der Freiheit
				aufwirft. Aber auch bei geistigen Erfahrungen, die über das, was
				auf der Ebene der Philosophie der Freiheit anzusiedeln
				ist, weit hinausreichen, worauf Steiner in den späteren
				Anmerkungen zu seinen Grundlinien... ausdrücklich
				hinweist. (Siehe Grundlinien einer Erkenntnistheorie der
				Goetheschen Weltanschauung, GA-2, Dornach 1979, S. 137 f) Es
				ist als erkennendes Denken ein Denken, das in Geistig-Wirkliches
				tätig-empfangend hineinreicht, um Steiners Erläuterung aus der
				Schrift Von Seelenrätseln (siehe oben) aufzugreifen. 
				 
				Intuitives
				Denken versus reines oder sinnlichkeitsfreies Denken 
				 
				Für
				Mystifikationen des intuitiven Denkens, so scheint mir,
				gibt es in der Philosophie der Freiheit keinen Anlaß,
				keine Materialgrundlage und auch keine theoretischen Spielräume.
				Will man sich vorsichtig an dem orientieren, was Steiner
				vortragsweise 1918 über das intuitive Denken sagt, indem
				er es dort als sinnlichkeitsfreies Denken charakterisiert,
				so hat man damit im Prinzip ganz gut die Sachlage getroffen.
				(Siehe GA-67, Dornach 1962, S. 352; Vortr. Berlin 20. April 1918.
				Siehe ebendort auch S. 336 ff im selben Vortrag wesentliches zur
				Frage der in der Philosophie der Freiheit
				vorausgesetzten Bewußtseinsverfassung.) Dies sagt zwar noch
				nicht alles, aber immerhin wesentliches über das intuitive
				Denken aus; einen Begriff, der ja nicht ohne Grund von Steiner in
				der Zweitauflage neu eingeführt wird, und nicht an seiner
				statt der des sinnlichkeitsfreien bzw. reinen
				Denkens, der seinerseits mehrfach in der Schrift erscheint.
				Deswegen spreche ich von vorsichtiger Orientierung. Denn
				für das Verständnis dieses Buches sind nicht Steiners
				Vorträge zuständig, sondern das, was in der Schrift selbst
				steht. Das soll sagen: Die Differenzierung ist bewußt von
				Steiner so gesetzt, und entspringt nicht seiner zufälligen
				Verfasserlaune oder lediglich stilistischen Erfordernissen.
				Die beiden Begriffe sind also nicht völlig
				deckungsgleich, selbst wenn Steiner gelegentlich auch in
				Aufsatzform die Bedeutungsvariante sinnlichkeitsfreies
				Denken zu favorisieren scheint. (Siehe in diesem Sinne
				verschiedene Stellen in GA-34,
				Dornach 1987; S. 126; S. 494; S. 495) Das reine Denken
				ist zwar stets ein intuitives Denken, aber nicht jedes
				intuitive Denken ist ein reines Denken im engeren
				Sinne. Eine Differenz ist vorhanden und vor allem: sie ist nicht
				mehr vernachlässigbar wenn es darum geht, den Freiheitsgrad
				der Erkenntnis im allgemeinen zu beurteilen. Man käme sonst
				unter Umständen in die Verlegenheit, für den Fall der
				sinnlichen Erkenntnis entweder ohne Handhabe dazustehen oder gar
				der nicht mit dem Begriff des reinen Denkens im
				engeren Sinne zu umfassenden sinnlich-gegenständlichen
				Erkenntnis Unfreiheit zu attestieren und Freiheit nur jener
				durch das reine Denken. Mehr als kurios wäre das, wenn
				just jener exemplarische Fall von erkennender Betätigung, anhand
				dessen Steiner den Intuitionsbegriff in der Philosophie der
				Freiheit einführt, mit dem Begriff des intuitiven
				Denkens selbst gar nicht erreichbar und die Wahrheit ausgerechnet
				hier gar keine Freiheitstat wäre! Für denjenigen also,
				der nach der Freiheit des Erkennens überhaupt fragt, ist es
				daher nicht mehr harmlos, wie er mit dem Begriff des intuitiven
				Denkens verfährt. Er muß schon genauer hinsehen - genauer,
				als Steiner in Vorträgen und Aufsätzen hin und wieder selbst.
				(Wie der Leser bemerkt haben wird, setze ich hier
				sinnlichkeitsfreies und reines Denken gleich.
				Das wäre im Einzelfall vielleicht noch einmal genauer zu
				hinterfragen. Auf die Gesamtaussage hier, das intuitive
				Denken betreffend, hätte eine weitere Differenzierung dort
				allerdings keinen Einfluß. ) 
				 
				Wo aber liegt der
				Unterschied? - Der Begriff des intuitiven Denkens setzt
				einerseits (schon sprachlich) exakt am Moment der Intuition,
				das heißt an der Geistigkeit des Erkennens selbst an, wie sie in
				der Schrift eingeführt wird. Und er verfügt andererseits über
				eine größere Weite und Anschmiegsamkeit, als der des
				engeren sinnlichkeitsfreien oder reinen Denkens,
				indem er das mit umgreift, was auch bei der Erkenntnis der
				gegenständlichen Welt an Geistigkeit vorhanden ist. Und
				nicht nur das: Er reicht sowohl nach unten, zur sinnlichen
				Erkenntnis, als auch nach oben, zur rein geistigen Erkenntnis,
				über den Bedeutungsradius des sinnlichkeitsfreien
				oder reinen Denkens hinaus, und korrespondiert
				infolgedessen auch mit der eben angedeuteten Erweiterung des
				Wahrnehmungsbegriffes in der Zweitauflage, wonach "alles
				sinnlich und geistig an den Menschen Herantretende als
				Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten
				Begriff erfaßt ist". Der Begriff des intuitiven
				Denkens ist folglich auf jede Erkenntnis anwendbar. In
				dieser Universalität gleicht er ganz und gar dem
				Erkenntnisbegriff Steiners. Und das scheint mir auch einsehbar
				konsequent. Denn wenn Wahrheit und Erkenntnis von Steiner als
				Freiheitstat begriffen wird, als Grundlage von Freiheit überhaupt
				aber das intuitive Denken gilt, dann muß freilich das
				intuitive Denken in jeder dieser Wahrheits- und
				Freiheitstaten vorhanden sein und ihnen diese Basis geben,
				sonst hätten sie diesen Charakter nicht. Deswegen muß der
				Begriff des intuitiven Denkens nach unten zum
				Sinnlichen und nach oben zum Geistigen mindestens ebenso weit
				reichen wie der Erkenntnisbegriff selbst. Insofern ist auch die
				Geistigkeit dieses Denkens bereits bei einer sinnlichen
				Erkenntnis erlebbar. Und die sinnliche Erkenntnis wegen
				ihrer intuitiven Wesenheit ein Akt der Freiheit. Wenn
				Steiner also in der Philosophie der Freiheit betont,
				durch das intuitive Denken werde "eine jegliche
				Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt",
				dann heißt das auf die sinnliche Erkenntnis bezogen soviel wie:
				Schon die Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmungswelt enthält
				stets die entscheidenden Elemente des sinnlichkeitsfreien
				oder reinen Denkens in sich - nämlich das intuitive,
				begriffliche, geistige Element, das nicht aus der sinnlichen
				Wahrnehmung stammt, in jeder Erkenntnis zu finden ist, die
				Verbindung zur geistigen Wirklichkeit herstellt, und dadurch
				den freiheitlichen Charakter dieses Erkennens garantiert. Was
				sich nahtlos fügt zu einer Bemerkung an anderer Stelle, daß
				nach seinem Verständnis ein "jedes Erkennen die
				Gesetzmäßigkeit des reinen Denkens zur Voraussetzung hat".
				(Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die
				zeitgenössische Erkenntnistheorie.
				Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35,
				Dornach 1984, S. 321) In jedem Erkenntnisprozeß ist also
				reines oder sinnlichkeitsfreies Denken vorhanden. Er ist
				überhaupt nur Erkenntnisprozeß, soweit und insofern in ihm
				reines Denken vorhanden ist. Und eben das bringt Steiner ja an
				der zitierten Stelle zum Ausdruck, wenn er seinen
				Intuitionsbegriff anhand einer Erkenntnis von Schnecke und
				Löwe einführend erläutert und in diesem Zusammenhang von den
				zwei Quellen der Erkenntnis spricht. "Mein Begriff
				eines Löwen" sagt er auf S. 107 der Philosophie der
				Freiheit, "ist nicht aus meinen Wahrnehmungen von
				Löwen gebildet. Wohl aber ist meine Vorstellung vom Löwen an
				der Wahrnehmung gebildet." Der Begriff einer Sache stammt
				aus der Quelle der Intuition, die zur Wahrnehmung etwas
				hinzufügt, aber nichts aus ihr herauszieht. In den Begriff geht
				von der sinnlichen Wahrnehmung nichts ein, wohl aber in die
				Vorstellung. Das intuitive Denken ist, wenn man sich an
				Steiners oben erwähnte Erläuterung zum Intuitionsbegriff in der
				Schrift Von Seelenrätseln hält, ein Denken, dem
				sich auf den unterschiedlichsten Seinsebenen Geistig-Wirkliches
				offenbahrt. Kurz und prägnant kann man es als eines
				bezeichnen, das sich nach intuitiv gegebenen reinen begrifflichen
				Inhalten richtet. Und als ein Denken, das sich nach begrifflichen
				Inhalten richtet, ist es essentieller Bestandteil einer jeden
				Erkenntnis. Das wird von Steiner nicht nur in der Philosophie
				der Freiheit klar und unmißverständlich gesagt. 
				 
				Deswegen läßt
				sich vor dem Hintergrund des in der Philosophie der Freiheit
				Gesagten auch nicht in Abgrenzung zu anderen Formen des
				erkennenden Denkens von einem eigentlichen intuitiven
				Denken sprechen, wie es ein von mir sehr geschätzter kritischer
				Leser unlängst tat. Denn der Begriff intuitives Denken
				ist Sammel- oder Oberbegriff für erkennendes Denken überhaupt,
				der nur Binnendifferenzierungen erlaubt - etwa in Richtung reines
				Denken. Aber keine Bewegungsräume mehr bietet in Richtung auf
				ein noch eigentlicheres intuitives Denken. Man kann
				allerdings von einem eigentlichen reinen
				Denken sprechen, wenn man ein intuitives Denken
				meint, daß sich - etwa bei philosophischen oder mathematischen
				Fagestellungen - ausschließlich mit sinnlichkeitsfreien
				Begriffen erkennend auseinandersetzt. Wo also auch auf der
				Wahrnehmungsseite nichts Sinnliches, sondern nur
				Geistig-Ideelles gegeben ist. Erkenntnis besteht für
				Steiner immer in der Synthese von Wahrnehmung (gleich
				welcher Art, ob sinnlich oder ideell-geistig) und Begriff,
				schließt also per definitionem immer begriffliches, reines
				Denken ein. (Siehe Grundlinien ... a.a.O., S. 137 f) Eine
				Erkenntnis ohne dieses intuitive, begriffliche Denken
				wäre für Steiner gar keine, nicht vorstellbar - ein Unding. Die
				erkenntnistheoretisch, freiheitsphilosophisch und
				bewußtseinsphänomenologisch herausragendste Eigenschaft
				des intuitiven Denkens liegt darin, neben allen übrigen
				Daseinsbereichen sich auch selbst erkennen und erklären zu
				können. Aber es ändert im letzten und entscheidenden Fall - der
				Beobachtungs des Denkens selbst - nicht die Art seiner Funktion,
				sondern nur den Inhalt oder Objektbereich mit dem es sich
				erkennend befaßt, indem es - intuitiv erlebend - ganz bei
				sich bleibt. ("Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ
				derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet.") Man
				könnte doch allenfalls in bezug auf diese
				Selbsterklärungsleistung des intuitiven Denkens noch von
				einem eigentlichen intuitiven Denken sprechen. Dafür
				aber bietet die Philosophie der Freiheit keinerlei Anhalt.
				Denn hierfür verwendet Steiner wahlweise die Ausdrücke
				Beobachtung, Betrachung, Anschauung des
				Denkens oder auch Denken über das Denken. Tätigkeiten,
				die vom intuitiven Denken vollzogen werden. Man kann also
				nur nach Objektbereichen oder Wahrnehmungstypen weiter
				spezifizieren, an denen sich das intuitive Denken
				erkennend betätigt. Je nachdem, ob es sich mit dem sinnlichen,
				seelischen oder geistig-ideellen Bereich erkennend befaßt. Zum
				eigentlichen intuitiven Denken gehören indessen
				sämtliche Erscheinungsformen, in denen es aufzutreten vermag. So
				wie zur eigentlichen Währung Frankreichs sämtliche
				Erscheinungsformen dieser Währung gehören - also auch
				Zwei-Cent-Münzen und nicht nur Zwanzig-Euro-Scheine. 
				 
				Davon abgesehen:
				Auch das reine oder sinnlichkeitsfreie Denken im
				engeren Sinne und für sich genommen birgt keinen Anlaß für
				Mystifikationen. Die Befähigung dazu, der ausschließliche
				intuitive Umgang mit reinen Begriffen und Ideen ist unter
				den gegenwärtigen kulturellen Bedingungen ein durchaus
				normales menschliches Vermögen, wenn auch nicht überall gleich
				ausgeprägt. - Es ist bereits ein Vermögen des naiven
				Bewußtseins. (Siehe hierzu etwa: Renatus Ziegler, Reines
				Denken und reine Begriffe: Einwände und Widerlegungen, in
				Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 2004, S. 71
				ff.) Und dieses setzt in keiner Weise ein Wissen um den tätigen
				Ursprung des Denkens voraus, sonst müßte der reine Denker
				apriori ein Beobachter respektive Erkenner des Denkens sein. Man
				sollte dann die Beobachter des Denkens mit Vorrang bei den
				Mathematikern suchen, was so natürlich Unsinn ist. In der
				ungebührlichen Vermengung dieser beiden Sachebenen bei da
				Veiga Greuel, so meine ich, steckt unter Umständen weit mehr als
				nur ein persönliches Mißverständnis des Autors, sondern
				möglicherweise ein ernstes Verständnisproblem einer
				spezifischen philosophischen Schule innerhalb der Anthroposophie.
								 
				Nebenbei gesagt:
				Dieses Entdecken und philosophische Begründen des
				Freiheitscharakters des erkennenden Denkens gleichermaßen wie
				der darauf sich stützenden Freiheit des Handelns, hat
				Steiner eigenen Worten zufolge ganz persönlich als ein
				außerordentlich mühevolles Geschäft erlebt. Dermaßen
				mühevoll, daß er, wie er am 4. November 1894 an die
				Schriftstellerin Rosa Mayreder schreibt, vor lauter
				Schwierigkeiten gar nicht daran denken konnte, seinen Lesern
				einen Verständnisweg zur Lösung der Freiheitsfrage zu ebnen,
				sondern vorrangig und nahezu ausschließlich sich selbst. Und
				dabei auch noch manche Hürde gewaltsam überspringen mußte:
				"Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich versucht,
				die geeigneten Wege sogleich für andere zu suchen. Ich bin
				meinen gegangen, so gut ich konnte; hinterher habe
				ich diesen Weg beschrieben. ... Willkürlich, ganz
				individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch
				Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise
				durchgearbeitet. Wenn man ans Ziel kommt, weiß man erst,
				daß daß man da ist." (Siehe,
				GA-39, Dornach 1987, Brief Nr. 402) Das ist nicht höflich
				zurückhaltendes Understatement eines brillianten
				philosophischen Kopfes, sondern durchaus im Wortsinne zu nehmen
				und kennzeichnet eine rezeptionsgeschichtliche Sachlage, an
				der seine philosophischen Schüler bis heute hart zu beißen
				haben. Es rückt auch von dieser konkreten,
				forschungspraktischen Seite den erkennenden und entdeckenden
				Charakter der von ihm dabei verwendeten und später intuitives
				Denken genannten Methode in ein deutliches Licht. 
				 
				Weil für Steiner
				jedes Erkennen auf den oben genannten intuitiven Teil
				zurückgreift - unabhängig davon, ob dem Denker diese Tatsache
				bewußt ist oder nicht - kann das intuitive als
				erkennendes Denken auch von jedem naiven Denker ausgeübt werden,
				und wird auch von jedem erkennenden Denker ausgeübt. Und nicht
				erst dann, wenn dieser bereits ein Wissen um den tätigen
				Ursprung des Denkens hat. Das scheint mir auch eine
				Notwendigkeit. Nicht nur weil entdeckendes und entdecktes -
				respektive beobachtendes und beobachtetes - Denken
				wesensgleich sind. Sondern auch, weil erst nach der
				Entdeckung um bestimmte Sachverhalte des Denkens gewußt
				wird. Wer aber sollte darüber prüfend und abwägend befinden,
				ob eine Einsicht bezüglich des Denkens zutreffend ist oder
				nicht, wenn nicht das entdeckende Denken selbst? Ursprünglich
				entdeckt werden aber kann das Denken nur von einem Denken,
				das noch nichts von sich weiß. Also: Auch dieses
				selbstentdeckende Denken ist ein intuitives - erkennendes.
				Also ist zu sagen: Das intuitive Denken muß nicht
				notwendigerweise auch intuitiv erlebt werden. Und
				zwar wird es dann nicht intuitiv erlebt, wenn der
				Denker seine erlebende Aufmerksamkeit nicht eigens auf den
				Aktivitätsaspekt dieses Denken hin orientiert. Oder auch dann,
				wenn er selbst das Denken noch nicht für sich entdeckt hat, und
				für diesen Bereich seiner inneren Aktivität noch nicht
				sensibilisiert ist. Dann vollzieht er zwar im Erkennen das
				intuitive Denken, aber es fällt in seinem besonderen
				Tätigkeitscharakter aus seinem Erlebnishorizont heraus, weil er
				diesem keine gesonderte Aufmerksamkeit schenkt - was ja in den
				meisten Fällen, während wir uns erkennend betätigen,
				zweifellos der Fall ist; wenn wir zwar um Eigenarten des Denkens
				wissen, aber gleichwohl situativ bedingt nicht darauf achten.
				(Letzteres gilt auch für den Vorgang des reinen Denkens,
				wenn wir etwa von der Fragestellung derart absorbiert sind,
				daß wir unserer Tätigkeit keine Aufmerksamkeit zuwenden,
				sondern nur dem Inhalt des Denkens.) In diesem Fall hat der
				Denker nur die Resultate seines Denkens (den ideell
				wahrgenommenen begrifflichen Gehalt) im Bewußtsein, aber nicht
				den intuitiven Vorgang des Denkens selbst. Das heißt: die
				Wahrnehmung der Selbstbetätigung - eines der von Steiner
				angeführten beiden Kennzeichen für ein intuitiv erlebtes
				Denken - hat in diesem Fall nicht stattgefunden, wohl aber ein
				intuitives Denken. Das intuitive Erleben
				ist allerdings dann unverzichtbar, wenn es um die Erkenntnis
				des eigenen Denkens geht, vor allem, aber nicht nur,
				hinsichtlich des Aktivitätsaspektes dieses Denkens. Und
				erst hier könnte man davon sprechen, daß der naive
				Bewußtseinsstandpunkt gegenüber dem eigenen Denken
				verlassen und einem kritischen - sprich: faktisch erkennenden
				- gewichen ist. Man könnte präzisierend sagen: das intuitive
				Erleben des Denkens ist eine methodische Voraussetzung
				für eine Erkenntnis des Denkens, die sich nicht nur der
				bloß formalen, logischen Seite des Denkens widmet (etwa im
				Rahmen einer erkenntnistheoretischen Erörterung),
				sondern der faktischen, bewußtseinsphänomenologischen,
				erkenntnispsychologischen - und auch seiner rein geistigen Seite.
								 
				Man kann also
				festhalten, und hier gibt es vielleicht eine gewisse Brücke der
				Verständigung zu Marcelo da Veiga Greuels Ansicht: Wenn ich
				ernsthaft und begründet von eigenem Denken oder einer
				moralischen Intuition als Grundlage meiner freien Handlung reden
				will, dann muß ich idealerweise über das Zustandekommen
				dieses Gedankens bzw dieser moralischen Intuition im
				Einzelfall dezidiert Auskunft geben können. Und das kann ich
				letzlich ja nur, wenn ich in der Lage bin, vor mir selbst zu
				rechtfertigen, daß beidem eine echte Denkleistung
				meinerseits zugrunde liegt, und nichts anderes, wie etwa
				Eingebungen und dergleichen. Und das wiederum setzt
				verständlicherweise voraus, daß ich diesen Denkvorgang wirklich
				auch in den Einzelheiten intuitiv erlebt habe. Ihn also
				als meine eigene Erkenntnisleistung, als meine freie Schöpfung
				anerkennen kann, die auf eigener Tätigkeit basiert und nichts
				sonst. Ich muß also hier ein verläßlicher Zeuge meiner Denk-
				oder Erkenntnisleistung gewesen sein. Und das ist übrigens
				etwas, was im Prinzip jeder Mensch leisten kann, sofern er
				nur mit Aufmerksamkeit auf das Zustandekommen seiner Gedanken
				achtet, und zu unterscheiden vermag, was nur Assoziation oder
				Eingebung ist, und was eigenes Denken ist. 
				 
				Ein
				vielversprechender aber noch etwas unvollständiger Ansatz
				bei Renatus Ziegler 
				 
				Für
				interessierte Leser sei aus aktuellem Anlaß noch erwähnt: Das
				Verständnis vom intuitiven Denken wie es hier anhand
				des Quellenmaterials herausgearbeitet wurde, ist weitgehend
				deckungsgleich mit demjenigen, das Renatus Ziegler in seiner
				jüngsten Buchveröffentlichung Intuition und
				Ich-Erfahrung, Stuttgart 2006, zugrunde legt, aber
				dort nicht näher belegt. Anders gesagt: es deckt sich
				weitestgehend mit Steiners Begriff des reinen
				Denkens. Und dies läßt sich, so glaube ich wenigstens
				ansatzweise gezeigt zu haben, auch gut an den einschlägigen
				Texten Steiners nachweisen. Und zwar ganz unabhängig von Ziegler
				selbst, oder den Forschungszusammenhängen in denen er
				persönlich steht. Bei Ziegler fehlt wie gesagt ein solcher Beleg
				noch, obwohl er es sicherlich ebenfalls belegen könnte. Daß
				es dort nicht hinlänglich geschieht, dafür gibt es viele
				Gründe, die nicht allein nur beim Autor liegen. 
				 
				Für den Leser,
				vor allem wenn er mehr in akademischen Kontexten oder im Rahmen
				der Steinerforschung arbeitet, ist Zieglers Buch deswegen leider
				nur bedingt - z. B. als wertvolle und anregende Verständnishilfe
				- nutzbar zu machen, weil er in wissenschaftlichen Kontexten
				natürlich quellenkritische Nachweise benötigt, die auch
				demonstrieren können, daß er Steiner nicht lediglich eine
				subjektiv-willkürliche Lesart seiner Begrifflichkeit
				aufprojiziert. Insbesondere bei Begrifflichkeiten wie
				Beobachtung des Denkens oder intuitives
				Denken, die unhinterfragt zu so hochgradig abenteuerlichen
				Verständnisansätzen führen, wie es hier an einigen Beispielen
				gezeigt wurde, ist das notwendig. Und so ein Prüfungsnachweis
				läßt sich der inneren Konsistenz der Gedankenführung eines
				Autors allein nicht entnehmen; diese mag im übrigen noch so
				scharfsinnig sein, und der Autor gar wie im vorliegenden Fall
				Lehrbuchansprüche anmelden. 
				 
				Die Frage ist
				eben, ob sein Brückenschlag von der Untersuchung des Denkens zur
				Philosophie der Freiheit auch sachlich zu rechtfertigen
				ist. Konkret: Ist sein Verständnis etwa vom intuitiven
				Denken dasselbe, wie es Steiner in seiner Schrift meint? Das läßt
				sich nun einmal nur durch eine Untersuchung der von Steiner
				publizierten Texte und einen entsprechenden Vergleich
				herausfinden. Bezüglich dieser begrifflichen Klärung des
				intuitiven Denkens aber steht Ziegler bedauerlicherweise
				kaum anders da als etwa Prokofieff, Kirn, Lowndes oder da Veiga
				Greuel, dessen persönlicher Mythos vom intuitiven
				Denken noch heute seine Spuren in wissenschaftlichen
				Publikationen um die Waldorfpädagogik hinterläßt. (Siehe:
				Marcelo da Veiga, Diskursfähigkeit der Waldorfpädagogik und
				ihre bildungsphilosophischen Grundlagen, in: Horst Philip
				Bauer/Peter Schneider, Waldorfpädagogik. Perspektiven eines
				wissenschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M, 2006, S. 27; S. 34.)
				Bei einer Schrift, die laut Verfasser Lehrbuchcharakter hat, ist
				das eigentlich nicht hinnehmbar. Auch nicht hinnehmbar, daß ein
				so regelmäßig mißverstandener Schlüsselbegriff, an dem das
				ganze Freiheitsverständnis der Philosophie der Freiheit
				letztlich hängt, nicht einmal als terminus technicus im
				ausführlichen Sachregister dieses Lehrbuchs Erwähnung findet.
				Ich glaube für den Nutzer seiner Schrift hätte Ziegler am Ende
				mehr getan, wenn er diesen Begriff eingehender geklärt
				hätte, als um jeden Preis bei der auf nur hypothetischem Niveau
				behandelten Reinkarnationsfrage anzukommen. Seine Leser müssen
				es ihm letzten Endes vertrauensvoll abnehmen, daß er den Begriff
				des intuitiven Denkens adaequat wiedergibt. Vertrauen
				aber, um ein Wort Zieglers aus seinem Buch aufzugreifen, hat in
				Erkenntnisfragen nichts zu suchen. 
				 
				Wäre, was er
				dort vorträgt, nicht trotz dieser Schwäche so weitgehend
				kongruent zu dem, was ich selbst auf dieser Internetseite
				versuche den Lesern nahezubringen, dann würde ich mich nicht für
				dieses Buch stark machen. So kann man vielleicht ersatzweise all
				den anderen Lesern sagen, daß sie sich im großen und
				ganzen ohne weiteres auf den Gedankengang Zieglers einlassen
				können, weil er mit Steiners Schrift und dessen Verständnis vom
				intuitiven Denken, von einigen marginalen Details einmal
				abgesehen, kompatibel ist. Und sie werden außerordentlich davon
				profitieren. Bei Dingen, die weiter weg von der Philosophie
				der Freiheit liegen und mehr den Charakter von logischen
				Schlußfolgerungen oder nachgeschobenen erkenntnisphilosophischen
				Reflexionen haben, müssen sie ohnehin genauer hinsehen und
				prüfen. Denn da ist manches mit einer gewissen Vorsicht zu
				genießen. So glaube ich zum Beispiel, daß das von Ziegler auf
				S. 178 ff eingeführte Aktualitätsprinzip seinen eigenen
				Erkenntnisbegriff in große Schwierigkeiten bringt, weil
				dieses Prinzip auf das Erkennen von Denken und Erkennen nicht
				uneingeschränkt anwendbar ist. Und was der Autor etwa auf
				S. 209 f über die Erinnerung sagt, scheint mir empirisch wenig
				gesättigt und unausgegoren, teilweise gar kurios. Aber
				davon abgesehen - es ist soweit ich sehe das erste mal, daß es
				im Rahmen einer Buchveröffentlichung gelungen ist, den
				Gedankengang der Philosophie der Freiheit einigermaßen
				konsistent in etwas Geisteswissenschaftliches zu überführen
				- und zwar anhand des eigenen Erlebens und nicht nur der
				Wiedergabe anthroposophischer Steinerzitate. Ziegler macht da
				wirklich ernst mit Steiners Aufforderung vom Ende des Kapitels
				Die Konsequenzen des Monismus: "Vom lebendigen
				Ergreifen des in diesem Buche gemeinten intuitiven Denkens
				wird sich aber naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die
				geistige Wahrnehmungswelt ergeben." In dieser Hinsicht ist
				es ungeachtet der fehlenden Nachweise und mancher internen
				Schwierigkeiten sicherlich mit das Beste, was die
				anthroposophische Bewegung derzeit zu bieten hat. 
				 
				* 
				 
				In der Vorrede
				von 1918 zur Philosophie der Freiheit macht Steiner eine
				Angabe über seine Beweggründe für Veränderungen und
				Erweiterungen der Schrift im Zuge der Neuausgabe. Er nennt (S.
				10) nur zwei Anlässe dafür: "Nur längere Zusätze habe
				ich zu einer ganzen Reihe von Abschnitten gemacht. Die
				Erfahrungen, die ich über mißverständliche Auffassungen
				des von mir Gesagten gemacht habe, ließen mir solche
				ausführliche Erweiterungen nötig erscheinen. Geändert
				habe ich nur da, wo mir heute das ungeschickt gesagt schien, was
				ich vor einem Vierteljahrhundert habe sagen wollen."
				Wenn man Steiner hier sehr streng folgt, dann steht sachlich in
				der Zweitausgabe dieses Buches dasselbe wie in der Erstausgabe,
				nur um Ungeschicklichkeiten und Mißverständliches bereinigt.
				Nun finden sich seine Ausführungen über das intuitive
				oder intuitiv erlebte Denken ausschließlich in solchen
				späteren Zusätzen, die dazu dienen Ungeschicklichkeiten
				oder Mißverständliches auszuräumen. Frage: Was ist denn da so
				mißverstanden worden, daß Steiner sich genötigt sieht den
				Aspekt des erlebten gegenwärtigen Denkens mehrfach aufzugreifen
				und in geradezu definitorischer Weise zu präzisieren? Warum
				spricht er in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit
				vom intuitiv erlebten Denken? Warum wird jetzt gesagt, was
				1894 noch nicht zu lesen ist: Das intuitiv erlebte Denken
				sei eine Wahrnehmung, "in der der Wahrnehmende selbst
				tätig ist, und" auch " ... eine Selbstbetätigung, die
				zugleich wahrgenommen wird"? Obwohl im Grundsätzlichen
				doch sachlich die Zweitauflage nichts anderes enthält als
				die erste. - Eine mögliche und plausible Erklärung dafür
				finden Sie in meiner Arbeit über Walter
				Johannes Stein auf dieser Homepage. 
				 
				Für weitere
				Einzelheiten darf ich den Leser an einen anderen Aufsatz auf
				dieser Homepage verweisen. (Über
				das Zusammenfallen von
				Wahrnehmung und Begriff und intuitives Denken
				) 
				 
				* 
				 
				Warum
				die Klärung des intuitiven Denkens überhaupt notwendig ist
								 
				Vielleicht noch
				eine letzte Bemerkung zu diesem zweiten Abschnitt für Leser,
				denen der ganze Aufwand der begrifflichen Klärung um das
				intuitive Denken noch nicht recht einleuchtet.
				Einiges dazu habe ich schon im Kommentar zu dieser Arbeit
				angedeutet. Das wichtigste Argument ist sicherlich, daß man
				Steiners Freiheitsbegriff nicht verstehen kann wenn man nicht
				weiß, was das intuitive Denken ist. Eine Folge
				davon sollte man sich vor Augen führen: Ein so hehres Motto wie:
				Erziehung zur Freiheit, mit dem sich Waldorfschulen gern
				schmücken, entbehrt bis heute jeder tieferen
				Verständnisgrundlage und bleibt ohne eine solche letztlich
				hohl. 
				 
				Und diese
				Grundlage ist, nach allem was ich sehe, bislang tatsächlich
				nicht vorhanden. Nicht, daß sie Steiner nicht gegeben hätte,
				aber niemand scheint sie bislang begriffen zu haben. Exemplarisch
				kann man diese Sachlage fassen, wenn man das umfangreiche und um
				Fundierung bemühte Buch Stefan Lebers zur Hand nimmt, das
				sicherlich die Frucht eines lebenslangen Ringens um
				Verständnis auf hohem Niveau genannt werden kann: Die
				Menschenkunde der Waldorfpädagogik, Stuttgart 1993. Ins Auge
				fällt die eigentümliche Sparsamkeit, mit der Leber dem
				Steinerschen Freiheitsbegriff dort im allgemeinen und vor
				allem im einschlägigen Kapitel Anthropologie des
				Individualismus und der Freiheit (S. 23 ff) nachgeht.
				Dieses Kapitel etwa beginnt zwar mit der Bemerkung, daß
				Steiner in seiner Erkenntniswissenschaft einen "empirischen
				und keinen spekulativen Nachweis der Möglichkeit
				menschlicher Freiheit" geführt habe. Nur: wie
				dieser Nachweis wirklich aussieht, darüber gibt es bei Leber
				keinen stringenten Aufschluß, sondern nur mehr oder weniger vage
				Andeutungen. Über Gründung der Freiheit im intuitiven
				Denken schließlich - das ist ja das Entscheidende - erfährt man
				nichts, auch nicht mittelbar. So daß mit Blick auf das intuitive
				Denken der Leser verschiedener anthroposophischer Bücher
				die Wahl zwischen verschiedenen Extrempositionen hat:
				die Grundlegung der Freiheit entweder im fantastischen
				überlogischen Jenseits der Philosophie à la Lowndes oder
				Kirn zu suchen, oder in den erkenntniswissenschaftlichen
				Niederungen von Wahrnehmung und Begriff. Manchmal auch
				irgendwo dazwischen. Logisch paßt das alles wohl nicht
				recht zusammen. Und das ist schon bemerkenswert, wenn das
				anspruchsvolle Buch Lebers - Untertitel: Anthropologische
				Grundlagen der Erziehung des Kindes und Jugendlichen - kaum
				schlüssige Angaben macht über die eigene philosophische Basis
				der anthropologischen Kategorie Freiheit. Da Stefan
				Leber gewiß kein Bruder Leichtfuß war, Steiner auf der
				anderen Seite aber eine solche Begründung explizit gegeben
				hat, kann man seriöserweise nur vermuten: Leber hat das Thema
				aus strategischen Gründen so sparsam behandelt, weil auf der
				Rezeptionsebene zu vieles unklar und ungesichert ist. Für
				eine Waldorfpädagogik mit wissenschaftlichem
				Fundierungsanspruch ist das wenig befriedigend. Die
				Fragestellung sollte also dem Bund der Waldorfschulen
				mindestens drei Dissertationen wert sein, sofern man dort
				Einfluß darauf hat. 
				 
				Ein
				Wort zur desolaten Forschungskultur in der anthroposophischen
				Bewegung 
				 
				Daß sich an
				dieser Stelle eine Fragestellung auftut, die vielen sich
				wissenschaftlich um die Waldorfpädagogik Bemühenden noch
				wenig bewußt ist, läßt sich am jüngsten von Horst
				Philipp Bauer und Peter Schneider herausgegebenen
				Sammelband Waldorfpädagogik. Perspektiven eines
				wissenschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M, 2006 ablesen.
				Ein ausgezeichnetes, lesenswertes Buch, dessen kritisch
				reflektierende Positionen man im großen und ganzen nur
				unterstreichen kann. Da werden viele in der Waldorfbewegung
				offenbar werdenden Fragen und Schwierigkeiten beherzt
				aufgegriffen und benannt. Und dennoch fehlt diesem Buch aus
				meiner Sicht etwas ganz entscheidendes: Die explizite und
				pointierte Forderung nach der internen methodenbewußten
				wissenschaftlichen Aufarbeitung und Klärung der
				philosophisch-anthroposophischen Quellen dieser
				Waldorfpädagogik. 
				 
				Die Tatsache, daß
				der Rationalitätsnachweis der Steinerschen Anthroposophie
				von den eigenen vor allem wissenschaftlich orientierten und
				arbeitenden Anhängern dieser Bewegung in vielerlei Hinsicht
				noch gar nicht adaequat verstanden worden ist, und die Lösung
				manches gravierenden Problems noch in weiter Ferne zu liegen
				scheint, wird dort weitestgehend ausgeblendet. Dabei hätte
				dieser Fragestellung dort seiner faktischen Bedeutung nach,
				so glaube ich, mindestens ein eigenständiger Beitrag gewidmet
				werden müssen. Tatsächlich aber läßt sich ein solches
				Anliegen soweit ich sehe allenfalls höchst mittelbar
				beispielsweise aus den Beiträgen Peter Schneiders
				entnehmen. Und auch die von Marcelo da Veiga (S. 22) formulierte
				Aufforderung: "Die Waldorfpädagogik und die sie
				begründende anthroposophische Geisteswissenschaft müssen
				in Theorie und Praxis kritisch reflektiert, beforscht und
				gewürdigt werden ..." steht da noch sehr vereinzelt und
				blaß nur allgemein programmatisch, ohne eine nähere Beleuchtung
				dessen, was daraus an konkreten Fragestellungen und
				Forschungszielen bezüglich dieser begründenden
				Geisteswissenschaft zu entnehmen ist. Zwei vage Sätze, wenn man
				großzügig ist drei, werden über diesen Kardinalpunkt fallen
				gelassen. Weit davon entfernt Problembewußtsein in dieser
				Angelegenheit zu vermitteln oder gar zu demonstrieren. Da
				wird nicht etwa davon gesprochen, daß es beispielsweise
				bezüglich des intuitiven Denkens so vielerlei
				unterschiedliche und kaum belegte Verständnisansätze gibt, die
				untereinander nicht verträglich sind, aber auch nicht diskutiert
				werden. Oder so viele undiskutierte Versionen dessen
				existieren, was bei Steiner Beobachtung des Denkens sein soll.
				Daß manche da gar von einem Erzeugungsproblem des Denkens
				reden und man diesem Thema vielleicht einmal kritisch nachgehen
				sollte. Daß es bis heute keine verbindlichen
				Interpretationsstandards über die Philosophie der Freiheit
				gibt, und viele Autoren, selbst Mitglieder des Dornacher
				Vorstandes, darüber zu schreiben scheinen was ihnen beliebt,
				ohne sich um Belege und Nachweise zu kümmern oder irgend ein
				tiefer gehendes Verständnis zu zeigen. Daß darüber auch kaum
				öffentlich debattiert wird, weil das anscheinend nicht zum guten
				Ton in dieser Bewegung gehört, und alle offenbar irgendwie
				nebeneinander her und aneinander vorbei reden, ohne sich
				gegenseitig - von Ausnahmen abgesehen - kritisch aufzugreifen
				und zu beleuchten. 
				 
				
					
						
							Das jüngste Buch Prokofieffs zur Philosophie der Freiheit
							ist vielleicht ein krasser Fall, aber so ungewöhnlich
							für die anthroposophische Szene auch wiederum nicht: Der
							Autor verweist in seinem Anmerkungsapparat über hundert mal
							auf Rudolf Steiner, und vielleicht zehn mal auf übrige
							anthroposophische Sekundärliteratur ohne näher auf Details
							einzugehen. Kritisierte Literatur wird überhaupt nicht
							genannt, obwohl er sich über philosophische Autoren einige
							heftige Ausfälle leistet, und hält schließlich einen
							einzigen Verfasser mehr als siebzig mal für zitierwürdig:
							nämlich sich selbst. Darin liegt viel Exemplarisches:
							Man bindet andere in Büchern nicht wirklich ein, noch nicht
							einmal wenn man sie öffentlich kritisiert. Publikationen
							dieser Art haben einen unverkennbar egozentrischen und
							selektiven Charakter. Ein großer Teil der wissenschaftlich
							relevanten Fakten wird bewußt ausgeblendet,
							zurückgehalten und dem Leser vorenthalten. Es geht nicht
							darum über eine Sachlage möglichst breit und facettenreich
							problemorientiert zu unterrichten, sondern die spezifische
							Sichtweise eines Autors konzentriert, wirkungsmächtig und
							unrelativiert von anderen Auffassungen ins Publikum zu
							tragen. Ein Schelm, wer da an die Nähe zur politischen
							Propaganda denkt. [Siehe Sergej O. Prokofieff,
							«Anthroposophie und die Philosophie der Freiheit», Dornach
							2006] 
							 
							
							Renatus Ziegler vermeidet in seinem erwähnten letzten Buch
							die Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen unter
							Hinweis (S. 29) darauf, daß dann sein Buch nicht zustande
							gekommen wäre. Obwohl das von ihm behandelte Thema mehr als
							strittig ist unter den Bearbeitern von Steiners
							philosophischem Werk und genügend publizierte Auffassungen
							existieren, die mit der seinigen nicht vereinbar sind. Die von
							Ziegler vorgebrachte Begründung hätte auch Prokofieff
							vorbringen können. Es ist ein wahrer argumentativer Joker,
							der beliebig oft gezogen werden kann und jeden Kritiker zum
							Schweigen bringen muß, weil ja nichts nachvollziehbarer
							ist als das. Nur mit Wissenschaft hat das alles nichts zu tun.
							Wenn ein Autor ein Lehrbuch verfaßt zu einem teilweise
							hochproblematischen und kontrovers behandelten
							Forschungsgegenstand namens Philosophie der Freiheit,
							ohne ein Bewußtsein für die heikle Forschungslage zu
							demonstrieren oder seinem Leser gar zu vermitteln. Sich
							stattdessen mit der Bemerkung dieser Aufgabe entledigt, sein
							Buch wäre dann nicht zustande gekommen. Dort eine Serie
							strenger Erkenntnisgesetze formuliert und doch selbst,
							abgesehen von bescheidenen Textkommentierungen (näheres dazu
							siehe hier),
							keinen brauchbaren am Forschungsobjekt festgemachten
							Nachweis dafür liefert, daß er die umstrittene
							Begrifflichkeit der Philosophie der Freiheit auch
							adaequat behandelt: dann gehört das mit zu den
							wissenschaftlich-existentiellen Kuriositäten der
							anthroposophischen Bewegung. 
							 
							Prokofieff und
							Ziegler stehen sich qualitativ zwar auf der einen Seite wie
							Antipoden gegenüber, aber in dieser Art der
							wissenschaftlichen Einbindung ihres Umfeldes sind sie
							sich innerhalb gewisser Grenzen ähnlicher als man wünschen
							möchte. Daß es da noch einen betroffenen Leser gibt, der
							dezidierten Anspruch darauf hat über gewisse Dinge,
							Schwierigkeiten und Forschungsprobleme mit aufgeklärt zu
							werden, spielt offenbar in den Überlegungen der Verfasser nur
							eine untergeordnete Rolle. Und auch das scheint mir
							charakteristisch für das anthroposophische
							Publikationswesen: Da stellt man einen Haufen miteinander
							unverträglicher Literatur beziehungslos nebeneinander
							hin und halst dem ahnungslosen Leser die Verantwortung dafür
							auf, sich in diesem literarischen Konglomerat
							zurechtzufinden. Derjenige, der in der Regel ja kein
							Fachmann ist, soll jetzt darüber befinden was davon
							akzeptabel oder inakzeptabel ist. Diejenigen Autoren aber, die
							es zumindest besser wissen müßten und ihm dabei dienlich
							sein könnten, schweigen sich aus. Das kann schlechterdings
							nicht funktionieren und muß auf Dauer dazu führen, daß
							nicht das sachlich Angemessene sich durchsetzt, sondern
							was die unaufgeklärte Erwartungshaltung der meisten
							Leser bedient. 
							 
							Zu welch
							kontraproduktiven Blüten auch in eben diesem Sinne dieser
							Verzicht auf öffentliche Kritik und das damit verbundene
							Benennen von Forschungsproblemen führt, wird im erwähnten
							Buch Prokofieffs evident. Ein exemplarisches und
							folgenschweres Beispiel dafür, was passiert, wenn dann
							so ein unaufgeklärter Leser selbst zum Autor wird und seine
							eigene Unwissenheit literarisch weiter transportiert:
							Prokofieff ist so ein Ahnungsloser, der dieser Strategie zwar
							selbst folgt, aber ihr gleichzeitig auch zum Opfer fällt.
							Seine dortige (S. 34) für Sachkundige kaum zu begreifende
							Forderung nach einer Überwindung der "bloß"
							philosophisch-philologischen Zugangsweise zur Philosophie
							der Freiheit ist nicht allein, aber maßgeblich auch damit
							zu erklären, daß er sehr schlecht informiert ist über die
							außerordentlichen Schwierigkeiten eines Zugangs zu diesem
							Werk schon auf dieser "bloß" philosophischen Ebene.
							(Näheres siehe hier)
							Vergleichbares gilt für die Vorhaltungen, die er
							philosophischen Autoren gegenüber auf S. 243 erhebt. Ihm
							fehlt augenfällig die Einsicht und Übersicht über
							Forschungslage und Forschungsproblematik zur Philosophie
							der Freiheit. Nur so scheinen mir angesichts dieser
							Forschungslage derart blauäugige und wirklichkeitsfremde
							Ansprüche verständlich. Denn so kann nur ein
							Anfänger urteilen und fordern, dem jede nennenswerte
							Forschungserfahrung mit der Philosophie der Freiheit
							abgeht. Aber woher, so möchte man sich fragen, sollte er
							diese Übersicht auch haben als interdisziplinärer
							Grenzgänger? Als jemand, der in der Anthroposophie, aber
							allenfalls besuchsweise in der Erkenntnistheorie bzw. der
							Philosophie der Freiheit zu hause ist? (Man vergleiche
							dazu sein Nachwort S. 243 ff.) Wie sollte er das überschauen,
							wenn nicht einmal von jenen öffentlich etwas davon
							thematisiert wird, die sich weit besser auf diesem Sachgebiet
							auskennen als er selbst? 
							 
							Hält man sich
							die forschungspraktischen Konsequenzen aus Prokofieffs
							Forderungen in seinem Buch vor Augen, dann heißt das nichts
							anderes als: im Endeffekt führt die Enthaltsamkeit von
							problemorientierter öffentlicher Kritik hier dazu, daß
							der Dornacher Vorstand aus schierer Unwissenheit den
							forschenden Philosophen (und letztlich auch sich selbst) das
							Wasser abgräbt für essentiell wichtige Forschungsarbeit. Und
							das wird natürlich nicht nur bei einer literarischen
							Wasserabgrabung bleiben, sondern auch faktisch umgesetzt
							werden. Da sollte man sich nicht von Illusionen leiten
							lassen: Dies wird seine ganz realen und pragmatischen
							Auswirkungen auf die anthroposophisch-gesellschaftliche
							Entwicklung und die Forschung dort haben, wenn sich bei den
							Entscheidungsträgern und Multiplikatoren im Dornacher
							Vorstand Überzeugungen wie diejenigen Prokofieffs
							festsetzen. Das bitte ich all jene sich vor Augen zu führen,
							die mir gelegentlich Vorwürfe machen weil ich manchmal etwas
							sehr kritisch mit anthroposophischen Autoren umgehe, und dies
							ja so gar nicht dem anthroposophischen Positivitätsideal
							entspricht. Gerade der Fall Prokofieff zeigt, daß eine
							Bewegung, die ihre Forschungsprobleme nicht öffentlich
							thematisiert und hier für Transparenz sorgt, über kurz oder
							lang mehr davon und weit gravierendere bekommt als ihr lieb
							sein kann. Da deutet sich schon jetzt ein Szenario als real
							möglich an, wo selbst ein Buch wie dasjenige Zieglers im
							anthroposophischen Rahmen gar nicht mehr publizierbar sein
							wird. Die Tendenzen dahin sind allemal vorhanden. 
							 
							(Die
							Wirklichkeit ist manchmal schneller als ihr Vorausdeuter es
							ahnte. Inzwischen - Herbst 2008 - wird Ziegler mit seinem Buch
							ganz offen schon als Gegner Steiners und der Anthroposophie
							gehandelt. So von einer Frau Mieke Mosmuller. Und deren
							Rezensent im Europäer von Thomas Meyer, Nr. 12,
							Oktober 2008, S. 21 f, ist auch noch arglos und unbesonnen
							genug, die kritische Frage zu unterlassen, welchen Sinn es
							wohl haben kann, wenn ein Anthroposoph einen anderen, der
							ersichtlich ernsthaft um Verständnis bemüht ist, ganz
							öffentlich und in Buchform als Gegner Steiners und der
							Anthroposophie etikettiert, nur weil der bei manchen heiklen
							Sachfragen anderen Auffassungen zuneigt als er selbst. Und ob
							diese Fundamentalkategorisierung nach Gegnerschaft in
							anthroposophischen Forschungszusammenhängen wirklich
							angemessen ist, oder nicht eher Ausdruck einer gewissen
							paranoidoformen und intoleranten Psychologie, wie sie
							viele fundamentalistische Religionsströmungen auszeichnet. 
							 
							Man darf
							gespannt sein auf die nächste Eskalationsstufe solcher
							Prädikationen. Wohin diese unsägliche interne
							Gegnerschaftsattribution zu führen vermag, das lässt
							sich höchst eindrucksvoll studieren nicht nur anhand der
							Geschichte der christlichen Kirchen, sondern tagtäglich und
							weltweit in den monumental-monströsen Werken religiös
							motivierter Sprengmeister jeglicher Provenienz. Sie alle haben
							einmal klein und bescheiden angefangen. Und eine
							Bewegung, deren Anhänger schon in der Vergangenheit mitunter
							nicht immer leicht zu unterscheiden wußten zwischen dem,
							was geistgetragene Weltsicht ist und was bloß dumpfes
							Nazitum, - Beispiele siehe etwa hier
							zu Haverbeck und hier
							zu Benesch -, ist da zweifellos noch für Überraschungen
							gut. 
							 
							Wenn zwei
							seriöse Physiker sich über ein physikalisches Sachproblem
							streiten, dann werden sie versuchen ihr Problem mit
							Sachargumenten und weiterer Forschung zu lösen. Aber
							schwerlich wird deswegen der eine den anderen öffentlich als
							Feind der Physik anprangern. Bei Anthroposophen ist so
							etwas prinzipiell möglich. Da fällt das Absurde dieser
							Geisteshaltung bisweilen noch nicht einmal auf. Selbst im
							Europäer von Thomas Meyer nicht. 
							Personen wie Frau Moosmuller mit ihren
							Ansprüchen und fundamentalistischen
							Gegnerschaftsunterstellungen scheinen mir geradezu ein
							Belegexemplar zu sein für die Folgen der hier
							skizzierten wissenschaftlichen Verfassung der
							anthroposophischen Bewegung.) 
						 | 
					 
				 
				Schließlich:
				Über den verbreiteten unreflektierten, ungehemmten und
				katastrophalen Umgang mit Steiners Vorträgen wird in dem
				erwähnten Sammelband auch nichts gesagt. Obwohl alle daran
				beteiligten Autoren davon sicherlich Kenntnis haben. Bei aller
				Zustimmung zum Anliegen dieses Sammelbandes: Wo, wenn nicht dort,
				sollte dies öffentlich angesprochen werden in der Hoffnung
				dadurch etwas zu bewegen? Es gibt offensichtlich eine Art
				blinden Fleck in der wissenschaftlich-kritischen
				Selbstwahrnehmung. Vielleicht auch ein Gesetz des Schweigens -
				eine anthroposophisch-wissenschaftliche Omerta. Vielleicht hat
				auch niemand Zeit das alles zu tun, dann sollte man sich die
				Bedingungen wissenschaftlichen Forschens in dieser Bewegung
				ansehen. Eine eingehende wissenschaftssoziologische Studie
				würde vermutlich aufzeigen können, daß hier ein Gemisch von
				all dem vorliegt. 
				 
				Und darin scheint
				mir einer der wesentlichen Gründe für manche in diesem
				Sammelband angesprochene Misere zu liegen. Das Vorhandensein
				eines gewissen allgemeinen Grundkonsenses in der Einschätzung
				von Steiners Werk und dessen philosophischer Begründung darf
				nicht mit der Tatsache eines Konsenses in jeder Hinsicht
				verwechselt werden. Schaut man nämlich mehr in die Feinheiten
				der jeweiligen Überzeugungen selbst nur bei den
				philosophisch orientierten Vertretern, dann ist es mit dem
				Konsens in einigen zentralen Fragen sehr schnell vorbei. Und
				nimmt man noch die rein anthroposophischen Vertreter wie etwa
				Prokofieff hinzu, dann scheint eine Verständigung zwischen
				den Lagern nahezu ausgeschlossen, weil die Einschätzungen und
				Erwartungen des jeweils anderen kaum noch verstanden werden
				können. Dem läßt sich dauerhaft und wirksam nur entgegenwirken
				durch die Etablierung einer vergleichbaren Forschungskultur, wie
				sie meinetwegen in der Hegel- oder Kantforschung gepflegt wird.
				Das ist bezogen auf die gesamte Anthroposophie und realistisch
				betrachtet nur multiprofessionell und interdisziplinär
				umzusetzen, weil das Steinersche Werk dermaßen viele
				Fachbereiche und Forschungsfragen übergreift, die von einem
				einzelnen nicht zu überschauen sind. Weder intellektuell noch
				kräftemäßig. In diese Richtung muß wohl auf lange Sicht
				gearbeitet werden. Auf dieser Linie liegt auch eine sehr
				treffende Bemerkung Marcelo da Veigas in der Anmerkung 2 auf
				S. 21 des Sammelbandes. Das bislang noch weitgehende Fehlen einer
				reifen anthroposophischen Wissenschaftkultur, die sich ihrer
				eigenen Grundlagenprobleme bewußt ist und diese
				selbstkritisch öffentlich reflektiert und methodenbewußt
				aufarbeitet, führt hingegen auf der einen Seite gleichermaßen
				zu internen wie externen Vermittlungs- und Diskursschwierigkeiten
				und massiven Forschungsblockaden. Und auf der anderen Seite dazu,
				daß Zieglers über weite Strecken fabelhaftes Buch erscheinen
				kann, ohne daß ihm die entscheidenden Plausibilitätsnachweise
				beigefügt werden, weil offenbar niemand sieht wie notwendig und
				unerläßlich das in einer Wissenschaftskultur ist. Beides
				ist symptomatisch für eine Bewegung, die im großen und ganzen
				noch wissenschaftlich vor sich hin zu träumen scheint - das
				jedenfalls möchte man mitunter meinen. 
				 
				
					
						
							Wohin diese beklagenswerte anthroposophische Forschungskultur
							führt, das läßt sich unmittelbar studieren in der
							ursprünglich zur Dissertation vorgesehenen Arbeit von Jonael
							Schickler, Metaphysik als Christologie. Eine Odysse des Ich
							von Kant und Hegel zu Steiner. Aus dem Englischen übersetzt,
							herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter von
							Rukteschell, Würzburg 2004. (Inzwischen in deutscher
							Sprache nicht mehr erhältlich. Die englische Ausgabe lautet
							Metaphysics as Christology. An Odyssey of the
							Self from Kant and Hegel to Steiner. Ashgate New
							Critical Thinking in Religion, Theology and Biblical
							Studies Series, Aldershot: Ashgate, 2005) [Mein
							herzlicher Dank geht an G. D. für Literaturhinweise] 
							 
							Dieser in
							philosophischen Dingen begabte junge Mann konnte sein Projekt
							nicht mehr definitiv zum Abschluß bringen, da er
							tragischerweise 25-jährig unmittelbar vor dem Einreichen
							seiner Dissertation in England bei einem Zugunglück im Mai
							2002 ums Leben kam. 
							 
							Die Tragik
							dieses kurzen Lebens wiegt insofern doppelt, als Schickler
							offensichtlich nie in seinen jungen Jahren einen sachlich
							verwertbaren Hinweis darauf erhalten hat, daß der
							entscheidende Aspekt dessen, was er philosophisch sucht, von
							seinem Kern her in der Philosophie der Freiheit und in
							den übrigen Steinerschen Frühschriften längst enthalten
							ist. Was seinen sichtlich beeindruckten, wohlmeinenden und
							offensichtlich nicht anthroposophisch geprägten Rezensenten
							Martin Wendte zu der resignierend kritischen Feststellung
							veranlaßt: "The key issue is this: Schickler himself
							states that today’s mankind is unable to perceive the
							etheric body, and that the clairvoyance of Steiner and other
							mystics is necessary to do so. Could this not be a hint that a
							problem has been reached here which, at this side of the
							eschaton, cannot be solved? Schickler is right in stating the
							problem he states—but perhaps under the conditions of fallen
							human beings, we simply cannot solve it and must learn to live
							with the rest of ontological scepticism inherent to a Kantian
							position. " (Siehe diese Renzension im Internet
							unter
							http://www.arsdisputandi.org/publish/articles/000268/article.pdf
							) 
							 
							Der Rezensent
							fühlt sich bei aller Bewunderung für Schicklers Scharfsinn
							und Kenntnisreichtum Kant und Hegel betreffend gleichsam vom
							Verfasser allein gelassen, weil Schickler ausschließlich auf
							Steiners höhere übersinnliche Fähigkeiten und die
							darauf basierenden Forschungsergebnisse verweisen zu
							können glaubt. 
							 
							Daß die
							übersinnliche Schlüsselfähigkeit und geistige Basisgröße,
							auf die es philosophisch vorrangig ankommt, nämlich das
							reine, sinnlichkeitsfreie oder intuitive
							Denken in der Philosophie der Freiheit ausdrücklich
							thematisiert wird, und dessen Charakter als geistiges
							Wahrnehmungsorgan und individuelle Erscheinungsform
							des Wesens der Welt ganz explizit auch in anderen
							Frühschriften (Siehe etwa GA-02, Dornach 1979, S. 79)
							Steiners hervorgehoben wird, diesem Gedanken scheint der junge
							Mann nie begegnet zu sein. Und entsprechend findet sich auch
							kein Hinweis darauf in seiner Schrift. Kaum mehr als vage
							Andeutung oder Ahnungen (etwa S. 165), teilweise schlicht
							unzutreffende enthält sein Buch in dieser Richtung. Wie man
							überhaupt darüber staunt, daß ein Buch mit diesem
							anspruchvollen Titel und wertvollen Gedankengängen über Kant
							und Hegel, sich schließlich und endlich damit begnügt bei
							rund 180 Seiten Gesamtumfang Steiner selbst auf den
							Seiten 151 ff kaum mehr als grob überschlägig 15-20 Seiten
							zu widmen. Angesichts der Verständnisschwierigkeiten,
							mit denen sich die Steinerforschung seit vielen Jahrzehnten
							plagt, ist das verzweifelt wenig. Und im Literaturverzeichnis
							(S. 185 f) findet sich nicht einmal die von Steiner selbst als
							grundlegend bezeichnete Schrift Wahrheit und
							Wissenschaft (GA-03) vermerkt. Jene Schrift übrigens, die
							laut Vorrede Steiners ausdrücklich einen Beitrag leisten
							wollte zur Überwindung des ungesunden Kant-Glaubens seiner
							Zeit. Für jemanden, der Steiner professionell
							philosophisch mit Kant vergleicht, sollte es schon einen
							forschenden Blick wert sein, was Steiner da möglicherweise zu
							dieser Überwindung beizutragen gedenkt. Ebensowenig
							finden sich erwähnt die Einleitungen in Goethes
							naturwissenschaftliche Schriften (GA-01) oder die
							Schrift Goethes Weltanschauung (GA-06). 
							 
							So
							ausgestattet läßt Schickler entsprechend wenig Neigung
							erkennen in die Details Steinerscher Grundschriften
							einzusteigen. Und was er dann schließlich über Steiners
							philosophische Frühschriften schreibt kann man auch nicht
							eben als Ausdruck einer überbordenden philosophischen
							Wertschätzung bezeichnen. Die hat ihm offensichtlich niemand
							nahe gebracht. Die geringschätzigen Bemerkungen, die er
							ganz beiläufig über Steiners Erkenntnistheorie fallen läßt
							- z. B. S. 167 ff, - sind ihm noch nicht einmal eine sachliche
							Begründung wert. 
							 
							So herrscht
							eine geradezu verblüffende Asymmetrie zwischen der profunden
							Werkkenntnis und Liebe zum Detail, die er bei seinen
							Untersuchungen von Kant und mehr noch Hegels walten läßt,
							und der um Größenordnungen darunterliegenden Neigung,
							sich mit Steiners philosophischen Schriften zu befassen.
							Hätte man nicht die Versicherung des Herausgebers, diese
							Arbeit sei faktisch zur Abgabe bereit gelegen, man würde
							sie glatt für ein Fragment halten, das auf seinen Abschluß
							erst noch wartet. Man fühlt sich regelrecht in eine
							philosophische Podiumsdiskussion versetzt, wo der
							Hauptakteur (Steiner), der angeblich die Probleme der beiden
							anderen (Kant und Hegel) lösen kann, gar nicht eingeladen
							wurde. An seiner statt verliest dann der Moderator in ein paar
							dürren Statements das, was er für die philosophische Meinung
							Steiners hält, während er sich tatsächlich auf dessen
							eigene Gedankenbildung gar nicht erst groß eingelassen hat.
							Der Part über die Frühschriften Steiners ist gemessen
							an der Gründlichkeit mit der er Kant und Hegel behandelt mit
							Abstand der schwächste der Arbeit, und steht in einem so
							auffallenden Mißverhältnis dazu, daß man die Anmutung hat,
							er sei überhaupt erst vor kurzem zum ersten mal damit in
							Berührung gekommen, nachdem er die Vorarbeiten zu Kant
							und Hegel weitgehend hinter sich hatte. Was zumindest die
							Unvollständigkeit seiner Literaturangaben dieses
							philosophische Werk Steiners betreffend erklären würde. 
							 
							Er rauscht, da
							er vorrangig auf Steiners späteres esoterisches Werk
							hinorientiert ist, flüchtig hindurch, läßt wichtige
							Teile unbeachtet und an den entscheidenden Einzelheiten hetzt
							er achtlos vorüber. Nur eine davon ist die alles
							überragende Entdeckung Steiners aus den Grundlinien ...
							(GA -02, Dornach 1979, S.79): Jene vom Denken als Wesen der
							Welt, und vom menschlichen Denken als einzelner Erscheingsform
							dieses Wesens. Eine Entdeckung ausdrücklich als Resultat
							philosophisch-erkenntnistheoretischer Untersuchung
							vermerkt, die sich ihrer Bedeutung und ihrem
							Fundamentalcharakter nach nur vergleichen läßt mit der
							staunenden Entdeckung des kleinen Kindes, daß es
							überhaupt eine Welt gibt. Hier ist im Prinzip in einem
							Vorentwurf alles schon enthalten, was später dann zur weit
							feiner ausziselierten esoterischen Weltbeschreibung Steiners
							wird. Sogar der Methode nach, wie Steiner oft genug betont,
							selbst wenn sie hier philosophischer Natur ist (vergleiche
							etwa hier). Erkenntnistheorie ist
							hier nur ein anderer, der spezifischen philosophischen
							Problemlage Rechnung tragender Ausdruck für Geistesforschung.
							Es ist eine hellseherische Methode, die im Grundsatz
							jeder denkende Mensch ohne weiteres anzuwenden in der Lage
							ist. Auch der Rezensent Martin Wendte, der sich so sehr
							darüber beklagt, daß er nun einmal kein Hellseher sei. Er
							ist es im Prinzip längst - er weiß es nur noch nicht. Der
							Verfasser des von ihm rezensierten Buches weiß es
							unglücklicherweise auch nicht. Und warum er es nicht
							weiß, das ist eine der großen Fragen, die hinter diesem
							tragisch unvollendeten Leben steht. Sie geht die ganze
							anthroposophische Bewegung etwas an. 
							 
							Dieser
							Entdeckung vom Denken als Weltwesen ordnet sich letztlich
							alles unter. Auch Steiners Hinweis aus der Philosophie der
							Freiheit (Kap. IV) dahingehend, das Denken sei jenseits
							von Subjekt und Objekt, ist nur eine selbstverständliche
							Konsequenz aus dieser grundlegenden Entdeckung. Ebenso
							wie sein methodischer Hinweis vom Ende der Philosophie
							der Freiheit, vom lebendigen Ergreifen des intuitiven
							Denkens werde sich der weitere Eintritt in die geistige
							Wahrnehmungswelt von selbst ergeben, auch nur eine Konsequenz
							der Tatsache ist, daß das übersinnliche Wesen der Welt
							auch auf übersinnlichem Wege und keinem anderen gefunden
							wird. Und demgemäß natürlich auch die weitere
							Hineinarbeitung in dieses Weltwesen organisch an diese
							philosophisch-hellseherische Methode der Frühschriften
							anknüpft. Dieser Hinweis Steiners über die Geistnatur
							des Denkens und den Charakter der Philosophie der Freiheit
							als geisteswissenschaftliches Forschungsresultat hätte
							sachlich gesehen auch schon in den Grundlinien ...
							stehen können. Und wer die Materie etwas überschaut, der
							könnte beispielsweise entsprechend klare Hinweise im Kapitel
							18. der Grundlinien ..., Psychologisches Erkennen
							ausfindig machen. (Siehe auch die entsprechenden
							diesbezüglichen Anmerkungen Steiners dazu zur Neuauflage
							von 1924 der Grundlinien ... .) Der weitere Weg in
							die geistige Welt ist letzten Endes ein methodisch
							verfeinerter und geregelter Weg in dasjenige, was in den
							Grundlinien ... über das Denken als Wesen der Welt
							bereits aufgezeigt wird. 
							 
							Was in
							diesem Weltwesen dann alles enthalten ist und wohinein es sich
							weiter differenziert, das gilt es dann ebenso fortschreitend
							aufzuklären, wie ein Kind erst nach der Entdeckung der
							Welt als solcher weitere Einzelheiten dieser Welt nach
							und nach bemerken wird. Und nicht gleich schon von Anfang an
							weiß, daß da auch Sonne, Mond und Tiefseekraken warten, die
							noch gefunden werden wollen. Insofern ist auch Schicklers
							Bemerkung von S. 167 wenig zielführend, Steiner behandele in
							der Philosophie der Freiheit nicht wie aus der
							Erkenntnistheorie Ontologie werden könne. Abgesehen
							davon, daß er es schon in den Grundlinien ... behandelt
							hat, wiederholt sich das ganze noch einmal in der Philosophie
							der Freiheit im Hinweis vom Denken als einem sich selbst
							tragenden Wesensweben, um nur ein Beispiel von manchen
							möglichen zu nennen. Und angesichts der ausgesprochen
							empiristischen und nicht etwa nur formalen Orientierung
							der Steinerschen Erkenntniswissenschaft - letzteres hält
							Steiner seinen philosophischen Zeitgenossen häufiger vor -
							ist es mir ohnehin schleierhaft, wie jemand überhaupt auf so
							einen Gedanken wie Schickler verfallen kann. Auch dies nur ein
							beredtes Zeichen dafür, wie wenig er sich darum bemüht hat,
							die Steinersche Philosophie aufzuschließen. 
							 
							Das meiste von
							dem, was Schickler über Steiners Frühschriften schreibt,
							wirkt dagegen bloß altklug und lieblos nur so hingesetzt wie
							von jemandem, der einen grandiosen Überblick über die
							Details hat und sich darum nicht mehr scheren muß. Nur trifft
							das eben in diesem Fall nicht zu. Was spätestens dann
							offensichtlich wird, wenn man in diese Details und die Art
							seiner handwerklichen Auseinandersetzung damit selbst
							hineingeht. Er hat, so scheint es, nicht wirklich Interesse
							daran. Und in anderem wiederum meint man geradezu
							authentisch einen hinlänglich bekannten Ton mancher
							Anthroposophen herauszuhören, die ohnehin Steiners
							philosophischen Bemühungen nicht allzuviel abgewinnen
							können, weil sie das spätere
							Anthroposophisch-Geisteswissenschaftliche für allemal
							wertvoller halten als diese vorläufige Philosophie
							Steiners, die man tunlichst überwinden sollte. Wo notwendige
							Klärungsarbeit im ungünstigsten Fall auch noch als
							anthroposophischer Intellektualismus gebrandmarkt wird,
							der am wesentlichen vorbeigeht. Bei Schickler - er scheint ja
							aus diesem geistigen Milieu zu kommen - mutet dies, obgleich
							er darin zurückhaltender ist und nur eine deutliche
							Tendenz dahin erkennen läßt (siehe etwa S. 168) insofern
							eigentümlich aufgesetzt an, weil der junge Mann das, so
							hoffnungslos ungenügend wie er durch seine Übersicht über
							die Einzelheiten der Steinerschen Philosophie
							qualifiziert erscheint, natürlich realistischerweise gar
							nicht beurteilen kann. Weil er noch nicht einmal mit diesen
							philosophischen Detailfragen der Frühschriften Steiners
							zurecht kommt. Weil er sie - dieser Eindruck drängt sich
							auf - in ihrem Eigencharakter auch gar nicht wahrnehmen
							will. 
							 
							Der junge Mann
							muß, das kann man hier nur vermutungsweise konstatieren,
							auf die philosophischen Grundlagen der Anthroposophie, die
							Wesenhaftigkeit des Geistigen und das sogenannte
							Hellsehen bezogen furchtbar schlechte anthroposophische Lehrer
							und Ratgeber gehabt haben. Und niemand von denen, die er
							hatte, hat ihm offenbar einen ernstzunehmenden und
							produktiven Hinweis darauf geben können, was das intuitive
							Denken ist und welche außerordentliche Bedeutung es für
							den philosophischen und gleichermaßen empirischen
							Zugang zur Anthroposophie und für das Verständnis des
							Geistigen hat. So bleibt ihm, abgesehen von der vagen
							Andeutung (S. 165) Steiners Phänomenologie des Denkens in der
							Philosophie der Freiheit lege einen Grund "für
							das Verstehen des Hellsehens, das daraus erwächst",
							weiter nichts übrig als auf Steiners spektakuläre
							Hellsichtigkeit zu verweisen, anstatt seinen Leser darüber
							aufzuklären, daß dieser ja längst schon Anteil an dieser
							Hellsichtigkeit und damit Zugang zum Geistigen hat, insofern
							er nämlich in der Lage ist, das reine Denken auszuüben. 
							 
							Denn den
							Philosophen, und das ist ja bei aller Anerkennung auch
							Wendtes Problem mit diesem Buch, interessiert vor allem
							der Übergang vom sogenannten normalen zum hellseherischen
							Bewußtsein. Dasjenige, was ihm selbst unmittelbar davon
							erreichbar ist. Denn das ist ihm auch am leichtesten einer
							Überprüfung zugänglich. Und ihn interessiert warum und mit
							welchen Gründen Steiner das dem hellseherischen Bewußtsein
							zuschlägt. (Näheres siehe hier)
							Kurz gesagt: Ihn interessiert was dieses hellseherische
							Bewußtsein grundsätzlich genommen überhaupt ist!
							Darüber aber bekommt er keine Auskunft. Er hätte sie
							zumindest mit dem Verweis auf die Geistnatur des intuitiven
							oder reinen Denkens bekommen können, wie ihn Steiner in
							der Philosophie der Freiheit gibt. Oder mit dem Hinweis
							auf den Charakter des reinen Denkens als intellektuelle
							Anschauung, wie er es in der Schrift Wahrheit und
							Wissenschaft vermerkt. Für jemanden, der sich wie
							Schickler mit Kant auseinandersetzt ganz gewiß kein
							unerheblicher Fingerzeig. Aber letztere grundlegende Schrift
							findet sich wie gesagt nicht einmal in seinem
							Literaturverzeichnis. Und nicht zuletzt hätte so ein
							Hinweis gegeben werden können via Steiners Bemerkung aus der
							Schrift Goethes Weltanschauung, der Beobachter des
							Denkens schaue die wirkende Idee unmittelbar selbst an.
							Da wäre sogar ein möglicher philosophischer Anknüpfungspunkt
							zum Ätherischen gegeben. Auch diese Schrift wie gesagt
							nicht in Schicklers Literaturliste aufgeführt. Diese
							Aufzählung konkreter Steinerscher Hinweise läßt sich um
							etliche Stationen erweitern. 
							 
							Daß diese
							Phänomenologie des Denkens in der Philosophie der Freiheit
							nicht nur den Grund legt für das Verstehen des Hellsehens,
							das daraus erwächst, sondern daß dieses dort behandelte
							Denken ganz explizit von Steiner schon dem Hellsehen
							zugerechnet wird und ein essentieller Bestandteil davon
							ist; wie die Schrift überhaupt dem Selbstverständnis
							Steiners nach schon das Resultat eines philosophisch
							geprägten Hellsehens ist, darüber verliert Schickler keine
							weitere Bemerkung. Und - so wie die Dinge in der
							Steinerforschung bislang liegen - konnte er das vermutlich
							auch nicht. Die zentrale Größe dieses Buches, so scheint es
							mir, hat er gar nicht ernsthaft erfaßt. 
							 
							Mit anderen
							Worten: Er beruft sich im Hinblick auf sein christologisches
							Anliegen auf Steiners hellseherisches Vermögen, das er
							selbst, und zwar allen diesbezüglichen und expliziten
							philosophischen Angaben Steiners zum Trotz, nicht einmal im
							Ansatz versteht. Daß dies für seinen philosophischen
							Rezensenten Wendte unbefriedigend sein muß läßt sich
							nachvollziehen. Schickler läßt ihn an der
							entscheidenden Stelle buchstäblich im Regen stehen. Ob dem
							letzteren mit einer dahingehenden aufklärenden
							Erläuterung Schicklers ernstlich weitergeholfen wäre, so daß
							er es auch hätte akzeptieren können, mag dahingestellt
							bleiben. Auf jeden Fall aber kommt, wer
							philosophisch-empirischen Zugang zum Geistigen und zur
							Christologie Steiners sucht, am intuitiven Denken und dessen
							Verständnis nicht vorbei. 
							 
							Mit den
							schlechten anthroposophischen Ratgebern meine ich sowohl
							einzelne Lehrerpersönlichkeiten, als auch den
							anthroposophischen Forschungskontext im allgemeinen, so
							wie er oben kritisch skizziert wurde. Wovon ich mich selbst
							übrigens nicht ausnehme. (Man müßte hier den
							soziokulturellen und nichtwissenschaftlichen
							bildungsbiographischen Kontext, auch den informellen
							bildungsbiographischen Kontext eigentlich mit
							einbeziehen.) 
							 
							Es ist
							unrealistisch zu glauben, ein junger Mann von anfang 20 mit
							großer philosophischer Begabung sei imstande, alles das,
							was anthroposophische Forschung im Verlauf vieler
							Jahrzehnte versäumt und vernachlässigt hat, in vier
							oder fünf Jahren im Alleingang zu bewältigen. Daß das nicht
							klappt, dafür kann man die jungen Menschen nicht
							verantwortlich machen. Die jungen Leute, auch wenn sie noch so
							talentiert sein mögen, ob Doktorranden oder Diplomanden,
							müssen geradezu mit einer gewissen
							Zwangsläufigkeit an den anthroposophischen Fragen scheitern,
							wenn ihnen nicht entsprechend ernsthaft von anderer Seite
							zugearbeitet wird. Oder um das ganze wenigstens perspektivisch
							noch einmal ins Positive zu wenden, so kann man sich
							angesichts Schicklers Leistung dort die Frage stellen:
							Was wäre einem talentierten jungen Menschen möglich, wenn
							die philosophisch-anthroposophische Grundlagenforschung einen
							ähnlich hohen Reifegrad hätte wie die Kant- oder
							Hegelforschung? So daß er nicht nur scharfsinnige und
							weitreichende Fragen stellen kann, sondern ihm das
							Forschungsumfeld auch die (theoretischen, praktischen und
							menschenkundlichen) Mittel an die Hand gibt, sie in
							realistischen Zeiträumen und mit vertretbarem Aufwand
							einzulösen. Daß dies für den anthroposophischen Bereich
							noch eine ganz andere Herausforderung darstellt als es
							etwa für Kant oder Hegel gilt ist klar. Aber wo, wenn nicht
							dort, sollte diese Zukunftsaufgabe überhaupt realisiert
							werden? 
							 
							Schickler sagt
							auf S. 22, seine Ausführungen über Steiner seien "mehr
							als alles andere eine Einführung". Das erklärt in
							mancher Hinsicht die Kürze und Flüchtigkeit seiner
							unmittelbar auf Steiner gewendeten Gedankengänge. Es
							zeigt aber auch, daß seine hoch angesetzte Programmatik aus
							dem Vorwort von S. 7 spätestens bei den philosophischen
							Aspekten Steiners ins Stocken geraten ist und gar nicht
							mehr eingelöst werden konnte, sondern vorsichtig ausgedrückt:
							im besten Sinne Vision bleiben mußte. Er verheddert sich wie
							so viele andere vor ihm schon in Steiners philosophischen
							Schriften und findet, abgesehen von einigen guten
							grundsätzlichen Gedankengängen den Faden zur
							Anthroposophie nicht, so daß er ihn fruchtbringend weiter
							freilegen könnte. Diese Methode, daß jeder für sich das Rad
							immer wieder neu zu erfinden sucht und mehr oder weniger
							ratlos in Steiners Philosophie herumzustochert, bis er mit
							etwas Glück den einen oder anderen brauchbaren Brocken
							aufgelesen hat, ist ineffizient und muß am Ende zu
							unbefriedigenden Resultaten führen. (Soweit ich sehe zitiert
							er keinen einzigen anthroposophischen Autoren im Kontext
							der Steinerschen Frühschriften und gibt nur ein paar
							Literaturhinweise auf Witzenmann, der aber auch nicht
							aufgegriffen wird.) 
							 
							Daß Jonael
							Schickler beachtliches philosophisches Talent hatte zeigt
							seine Behandlung von Kant und Hegel. Dort sind aber auch
							die Bedingungen entsprechend, denn dort steht eine lange
							Tradition der Forschung zur Verfügung, die Hilfe und
							Orientierung geben kann. Während in der Anthroposophie
							bislang noch eine Kakophonie von Meinungen herrscht, die
							vielfach nicht einmal nachvollziehbar belegt sind. Auch ein
							großes Talent muß am Ende vertrocknen, wenn die
							Bedingungen für seine Entfaltung nicht stimmen. 
							Einige
							zusätzliche Quellen: Rudolf Steiner vortragsweise über das
							reine Denken als Hellsehen. 
							 
							Siehe
							GA-146, Vortr. Helsingfors , 29. Mai 1913, S. 33 ff: 
							 
							"Auf
							logisches Denken, auf Denken in Abstraktionen weist
							gewissermaßen als auf etwas Neues hin, was jetzt erst in
							die Menschheit eintreten soll, Krishna den Arjuna hin. Aber
							dieses Denken, das der Mensch so entwickelt, dieses Denken,
							das nimmt man zwar heute als etwas ganz Natürliches,
							aber man hat die schiefesten, unnatürlichsten Ansichten über
							dieses Denken. Und gerade die westländischen Philosophen
							haben über dieses Denken die allerschiefsten Anschauungen,
							denn man hält gewöhnlich dieses Denken für eine bloße
							Photographie der äußeren sinnlichen Wirklichkeit, man
							glaubt, die Begriffe, Ideen entstehen im Menschen, dieses
							ganze innere Denken überhaupt entstehe im Menschen von der
							physischen Außenwelt herein." (S. 33f) [...] " Hier
							komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der ganz und gar
							wichtig ist gerade für diejenigen, die mit der eigenen Seele
							eine okkulte Entwickelung durchmachen wollen. ... So ist es
							nämlich, wenn auch nicht mit dem Goldmachen, so ist es mit
							dem Hellsehen. Kein Mensch könnte eigentlich zu wirklichem
							Hellsehen kommen, wenn er nicht zunächst ein Winziges an
							Hellsehen in der Seele hätte. Wenn es wahr wäre, was ein
							allgemeiner Glaube ist, daß die Menschen, wie sie sind,
							nicht hellsichtig seien, dann könnten sie überhaupt nicht
							hellsichtig werden. Denn wie der Alchimist meint, daß man
							etwas Gold haben muß, um viele Mengen Goldes hervorzuzaubern,
							so muß man unbedingt etwas hellsehend schon sein, damit man
							dieses Hellsehen immer weiter und weiter bis ins Unbegrenzte
							hinein ausbilden kann." [...] "Es gibt wirklich
							keinen unter Ihnen, der nicht - wenn er sich dessen auch nicht
							bewußt ist - diesen Ausgangspunkt hätte. Sie haben ihn alle.
							Keiner von Ihnen ist in der Not, weil Sie alle ein gewisses
							Quantum Hellsehen haben. Und was ist dieses Quantum? Das ist
							dasjenige, was gewöhnlich gar nicht als Hellsehen geschätzt
							wird." [...] "Niemand könnte abstrakt denken,
							wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig
							wäre, denn in den gewöhnlichen Gedanken und Ideen ist die
							Perle der Hellsichtigkeit von allem Anfang an. Diese Gedanken
							und Ideen entstehen genau durch denselben Prozeß der
							Seele, durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist
							ungeheuer wichtig, daß man zunächst verstehen lernt,
							daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz alltägliches
							eigentlich ist: man muß nur die übersinnliche Natur der
							Begriffe und Ideen erfassen. Man muß sich klar sein, daß aus
							den übersinnlichen Welten die Begriffe und Ideen zu uns
							kommen, dann erst sieht man recht. Wenn ich Ihnen erzähle von
							Geistern der höheren Hierarchien, von den Seraphim, Cherubim,
							von den Thronen herunter bis zu den Archangeloi und Angeloi,
							so sind das Wesenheiten, die aus geistigen, höheren Welten zu
							der Menschenseele sprechen müssen. Aus eben diesen Welten
							kommen der Seele die Ideen und Begriffe, sie kommen geradezu
							in die Seele aus höheren Welten herein und nicht aus der
							Sinnenwelt." [...] "Es wurde als ein großes Wort
							eines großen Aufklärers gehalten, das dieser gesagt hat im
							18. Jahrhundert: Mensch, erkühne dich, deiner Vernunft dich
							zu bedienen. - Heute muß ein größeres Wort in die
							Seelen klingen, das heißt: Mensch erkühne dich, deine
							Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums
							anzusprechen. - Das, was ich jetzt ausgesprochen habe, habe
							ich schon vor vielen Jahren ausgesprochen, ausgesprochen in
							aller Öffentlichkeit, nämlich in meinen Büchern <<Wahrheit
							und Wissenschaft>> und <<Philosophie der
							Freiheit>>, wo ich gezeigt habe, daß die menschlichen
							Ideen aus übersinnlichem, geistigen Erkennen kommen. Man hat
							es dazumal nicht verstanden; das ist ja auch kein Wunder, denn
							diejenigen, die es hätten verstehen sollen, die gehörten,
							nun ja, halt zu den Hühnern" (34 ff) 
							Siehe GA
							255b, Vortr. Stuttgart, 25. Mai 1923, S. 295 ff: 
							"Und nun, was mir vor allen Dingen die
							Möglichkeit bot, eine solche Brücke zu finden, das war
							zunächst nicht das Hinschauen auf innere, subjektive
							Schauungen; das war mir vom Anfange an klar geworden. Sollten
							subjektive Schauungen noch so überzeugend, noch so intensiv
							vor der Seele auftreten, man hat keine Berechtigung, sie
							irgendwie, durch ihr subjektives Auftreten veranlaßt, zur
							objektiven Geltung zu bringen, wenn man nicht in der Lage ist,
							aus dem naturwissenschaftlich Sicheren heraus die Brücke
							hinüber zu geistigen Welt zu schlagen." (S. 298) [...]
							"Wer nun meine <<Philosophie der Freiheit>>
							durchliest, wird finden, wie diese Wege zur Ergründung
							der Natur des menschlichen Denkens gesucht worden sind. Und
							für mich stellte es sich heraus, daß nur derjenige das
							menschliche Denken richtig verstehen könne, welcher in den
							höchsten Äußerungen dieses Denkens etwas sieht, das sich
							unabhängig von unserer Körperlichkeit, von unserer
							leiblichen Organisation vollzieht. Und ich glaube, es gelang
							mir nachzuweisen, daß die Vorgänge des reinen Denkens
							im Menschen sich unabhängig von den leiblichen Vorgängen
							vollziehen. ... Und ich glaube, daß sich mir durch diese
							<<Philosophie der Freiheit>> nichts Geringeres
							ergeben hat als die übersinnliche Natur des reinen Denkens.
							Und hatte man diese übersinnliche Natur des menschlichen
							Denkens erkannt, dann war damit der Beweis geliefert, daß der
							Mensch im gewöhnlichsten Alltagsleben, wenn er sich nur
							erhebt zum wirklichen Denken, durch das er durch nichts
							anderes als durch die Motive des Denkens selbst bestimmt
							wird, daß er dann ein übersinnliches Element in diesem
							Denken vor sich hat." (S. 299 f) [...] " Wer
							dasjenige, was ich als Forschungsmethode meiner
							anthroposophischen Geisteswissenschaft zugrunde lege,
							Hellsehen nennt, der muß auch schon das gewöhnliche
							reine Denken, das durchaus aus dem Alltagsleben heraufströmt
							in das menschliche Bewußtsein, das hineinströmt in das
							menschliche Handeln, Hellsehen nennen. Ich selber sehe
							qualitativ keinen Unterschied zwischen dem reinen Denken und
							demjenigen, was ich als Hellsehen bezeichne. ... Dann
							aber, wenn man den Vorgang kennt, durch den man zu solchem
							reinen Denken kommt, kann durch das, was wahre tiefergehende
							Philosophie gibt, etwas ausgebildet werden, was ich dann in
							der verschiedensten Weise als Erkenntnismethode für die
							höheren Welten dargestellt habe in meinem Buch << Wie
							erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> und in
							meiner <<Geheimwissenschaft>>. Geradeso, wie aus
							den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen Seele
							zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine
							besondere Schulung braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang
							weiter ausbildet, zu dem kommen, was ich in dem genannten Buch
							und im zweiten Teil meiner <<Geheimwissenschaft>>
							die Stufen der höheren Erkenntnis - also Imagination,
							Inspiration, Intuition - genannt habe. Was sich im reinen
							Denken äußert, das wird uns Menschen einfach eigen
							dadurch, daß wir geboren sind; es ist uns in unserem
							jetzigen Stadium der Menschheitsentwicklung vererbt."
							(S. 300 f) 
						 | 
					 
				 
				Und um ein
				weiteres Argument betreff Klärung des intuitiven Denkens
				anzuführen, so gilt: Nur auf der Grundlage dieses Verstehens
				sind echte, fundierte Brückenschläge möglich zu anderen
				philosophischen Ansätzen. Und zwar in erkenntnistheoretischer,
				freiheitsphilosophischer und mehr bewußtseinsphänomenologischer,
				ja sogar in physikalisch-naturphilosophischer Richtung.
				Nicht nur um argumentativ die eigene Auffassung verteidigen
				zu können, sondern auch und vor allem um Verwandtschaften
				zu erkennen und eventuell gemeinsam weiterführende
				Fragestellungen zu formulieren, ist ein solches Verständnis
				unerläßlich. Bei Lichte besehen ist das Thema intuitives
				Denken eines der spannendsten, aussichtsreichsten,
				ergiebigsten, vielschichtigsten und zukunftsfähigsten überhaupt
				für eine Dissertation mit anthroposophischem Hintergrund und
				gibt genügend Stoff her für mindestens sieben von einander
				unabhängige wissenschaftliche Arbeiten dieser Art. -
				Tatsächlich sogar weit mehr, weil man es in jede Richtung nahezu
				unbegrenzt weiter entfalten kann. Das liegt einfach mit daran,
				weil sich im intuitiven Denken alles mit essentiellen
				Fragestellungen trifft: Erkenntnistheorie, Anthroposophie,
				Freiheitsphilosophie, Psychologie, Bewußtseinsphänomenologie,
				Naturphilosophie, Medizin, Biologie, Physik und im engeren
				Sinne Quantenphysik, und letztlich auch die Theologie. 
				 
				Nichtanthroposophische
				Forschung zum intuitiven Denken 
				 
				Was die
				Erkenntnis des Denkens im engeren Sinne angeht, so gilt: Das
				intuitive Denken ist ja zunächst eine Eigenschaft oder
				ein Vermögen des ganz normalen erkennenden Bewußtseins. Was die
				Frage einer Bewußtseinsphänomenologie des intuitiven
				Denken betrifft, so liegt hier - abgesehen von seinen
				epistemologischen Betrachtungen, die ja ausschließlich
				Grundsatzuntersuchungen darstellen - nur sehr wenig Material von
				Steiner selbst vor, das diesen normalbewußten Bereich
				abdeckt. Das gesamte bewußtseinsphänomenologische Areal
				zwischen Epistemologie und höherer Erkenntnis im
				eigentlichen Sinne ist von ihm nahezu völlig unbearbeitet. 
				 
				Allerdings gibt
				es von Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln (GA-21,
				1976, S. 170 f), die einiges in dieser Beziehung enthält, den
				ausdrücklich geäußerten Wunsch, in einem psychologischen
				Laboratorium arbeiten zu können, um zu zeigen, wie das
				gewöhnliche Bewußtsein bereits zum Schauen veranlagt ist. Das
				heißt, er zielt hier exakt auf dieses unbearbeitete Areal
				hin. Damit, so Steiner dort, sei es sogar möglich, "... die
				beste Grundlage [zu] schaffen zu
				anthropologisch-psychologischen Ergebnissen, die bis an die
				«Erkenntnis-Grenzorte» gehen, an denen sich Anthropologie
				mit Anthroposophie treffen muß ...". Nun sind aber all die
				Erscheinungsformen des intuitiven Denkens im normalen
				Bewußtsein bereits Ausdrucksformen dieser Veranlagung zum
				Schauen und entsprechend an diesem "Treffpunkt"
				bzw "Grenzort" anzusiedeln, wo sich Anthroposophie
				und Anthropologie Steiners Worten zufolge treffen müssen.
				Denn das reine Denken - ich habe es schon wiederholt im Rahmen
				der hier veröffentlichten Arbeiten gesagt - ist für Steiner
				bereits eine Form des schauenden Bewußtseins. (Siehe
				GA-35, Dornach 1984, S. 321 : "Meine früheren Schriften
				behandeln das reine Denken so, daß ersichtlich ist, ich zähle
				dieses durchaus zu den Verrichtungen des «schauenden
				Bewußtseins». Ich sehe in diesem reinen Denken die erste,
				noch schattenhafte Offenbarung der geistigen
				Erkenntnisstufen." ) Deswegen erfüllt die Untersuchung des
				erkennenden Normalbewußtseins einen wichtigen Zwischenschritt
				zur weiteren Erkenntnis des Denkens; sowohl was die
				Begriffsbildung bezüglich dieses intuitiven
				Denkbewußtseins und in ihm veranlagte Möglichkeiten angeht -
				und auch im Hinblick auf eine Brückenbildung zwischen
				Anthroposophie und Anthropologie. (Man sollte sich den
				Steinerschen Ausdruck "beste Grundlage" wahrlich
				auf der Zunge zergehen lassen.) 
				Es ist daher gut
				zu wissen, daß es in den auf dieser Homepage immer wieder
				vorgestellten denkpsychologischen Untersuchungen Karl Bühlers um
				eine experimentelle Erhellung des normalbewußten intuitiven
				Denkens ging - oder in Steiners Ausdrucksweise: der
				"schattenhaften Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen".
				Nicht nur das, sondern es ging mehr noch um eine Untersuchung des
				intuitiv erlebten Denkens. Denn das Erleben der
				Denkaktivität, des Denkprozesses selbst, war eines der
				Hauptziele der Untersuchung. Das leuchtet unmittelbar ein, wenn
				man sich vorstellt, daß einem Untersuchungsteilnehmer (dem
				Philosophie- und Psychologieprofessor Oswald Külpe) etwa
				die Frage vorgelegt wurde, ob es möglich sei, mit dem Denken das
				Wesen des Denkens zu klären, und ihn der Versuchsleiter
				aufforderte zu berichten, was er bei der denkenden Entscheidung
				dieser Frage erlebt hat. Es ist dieselbe (Schlüssel)Frage, die
				unter anderem in der Philosophie der Freiheit im dritten
				Kapitel verhandelt wird. Külpe berichtet also über Erlebnisse,
				die er beim intuitiven Denken (in diesem Fall beim reinen,
				mehr noch: beim sich selbst erkennenden Denken) hat. Und in
				diesem Sinne ist die ganze Bühlersche Untersuchung auch mit
				anderen Teilnehmern und auch mit davon abweichenden Formen des
				intuitiven Denkens eingerichtet. - Das mag manchmal dort -
				schließlich war es eine Pioniertat der Würzburger - im
				einzelnen noch unbeholfen und unausgereift aussehen. Aber es
				geht in diesen Untersuchungen alles in allem um das erlebte
				intuitive Denken in seinen verschiedenen normalbewußten
				Erscheinungsformen! 
				 
				Wer also
				konkretes Anschauungsmaterial und sinnvolle weiterführende
				Fragestellungen zum normalbewußten intuitiven Denken
				sucht, der wird bei Steiner nicht viel finden über das hinaus,
				was in den erkenntnistheoretischen Grundschriften und in der
				Schrift Von Seelenrätseln vorhanden ist, weil Steiner
				sich darüber kaum weiter ausgelassen hat. Er muß bei Bühler in
				den erwähnten Untersuchungen nachsehen. Dazu kann er sich weiter
				an Problemstellungen entlangarbeiten, wie sie etwa im sachlichen
				Umfeld von Hönigswald oder Palágyi, aufgeworfen
				wurden. (Siehe: Richard Hönigswald, Prinzipienfragen der
				Denkpsychologie, Berlin 1913. Siehe auch: Melchior
				Palágyi, Der Streit der Psychologisten und Formalisten in
				der modernen Logik, Leipzig 1902.) Das dann vom
				Anthroposophischen her zu beleuchten und zu problematisieren
				entspräche einer Arbeit, wie sie an dem von Steiner
				genannten Treffpunkt von Anthroposophie und Anthropologie
				stattfinden könnte. Nur muß man eben wissen, daß es bei
				besagten Forschern überhaupt um das intuitive Denken
				geht. Diese bedeutsame Tatsache, daß andere,
				nichtanthroposophische Forscher längst dabei sind oder waren das
				intuitive Denken näher zu untersuchen, aber fällt aus
				dem anthroposophischen Explorationsraster völlig heraus, wenn
				man hier keine Vorstellung davon hat, was das intuitive
				Denken ist und ihm nur exotisch-esoterische Eigenschaften
				anheftet - man möchte besser sagen: andichtet. Dann ist
				man unfähig Brücken dieser Art zu bauen und weitergehende
				interdisziplinäre Forschung zu treiben, weil man keine Ahnung
				hat, wonach man überhaupt suchen soll und logischerweise auch
				nicht wo man interdisziplinär in anderen
				Forschungsbezirken hinsehen soll. Das heißt: Die Unklarheit
				über das intuitive Denken führt direkt zur
				wissenschaftlichen Blindheit und Orientierungslosigkeit in dieser
				wichtigen Frage. Genau so, wie sie zur (nicht nur)
				interdisziplinären Lähmung in bezug auf die Freiheitsfrage
				führt. Und genau das kennzeichnet in Bezug auf das intuitive
				Denken die gegenwärtige Lage der anthropsophischen
				Bewegung. Vor lauter Wirrwarr, so mein gelegentlicher Eindruck,
				weiß man weder was, noch wo man nachschauen soll!
				Statt sinnvollen Fragestellungen nachzugehen produziert man
				oft genug literarische Geisterbilder und jagt Chimären nach. 
				 
				III.
								 
				Ein
				kurzer Blick auf Peter Bieri und Karl Popper 
				 
				Einmal
				ganz unabhängig von Steiner bemerkt: Es gibt einen mehr als
				guten Grund, nach der Freiheit des eigenen Denkens und
				Erkennens zu fragen. Das wird uns deutlich werden, wenn wir
				uns Bieris Auffassung ansehen, die dieser Frage aus dem Wege
				geht, und uns die Konsequenzen dieses Vermeidungsverhalten
				vor Augen führen. 
				 
				Auch bei Bieri
				führt die Freiheitsfrage zunächst zu Erkenntnisfragen, im
				engeren Sinne zur Frage der Selbsterkenntnis und Klärung der
				eigenen Handlungsmotive. Doch dann finden wir bei ihm (S. 409 f)
				einen eigentümlichen Abbruch des Untersuchungsverfahrens,
				der gewaltsam und sachlich wenig schlüssig erscheint. Bieri
				schreibt dort: "Es gibt in jedem Moment, wo ich nach der
				Freiheit meines Willens frage, ein Stück inneres Terrain, das
				nicht Thema dieser Frage sein kann. Und das ist kein
				bedauerliches Defizit, kein beklagenswerter blinder Fleck,
				sondern eine Voraussetzung dafür, daß die Frage nach der
				Freiheit überhaupt in Gang kommen und einen Sinn haben kann.
				Während ich artikulierend, verstehend und bewertend damit
				beschäftigt bin, meinen Willen zu modellieren, stellt sich die
				Frage nach der Freiheit dieser Beschäftigung nicht. Und das ist
				nicht deshalb so, weil ich, engagiert in der Beschäftigung,
				einfach keine Zeit hätte, sie zu stellen. Es ergäbe keinen
				Sinn, sie zu stellen, denn die aneignende Beschäftigung
				bildet den Rahmen für das Stellen jeder solchen
				Frage." 
				 
				Nennen
				wir die "aneignende Beschäftigung" mit den Motiven des
				eigenen Handelns ein Erkennen dieser Motive,
				beziehungsweise mit Peter Bieri "Selbsterkenntnis", so
				lautet das Urteil Bieris: Die Frage nach der Freiheit der
				erkennenden Beschäftigung mit den eigenen Handlungsmotiven
				ergibt keinen Sinn! Sein Hinweis, daß es sich ja um eine
				Rahmenbildung handele, die es erst möglich mache, die
				Freiheitsfrage zu stellen, und daher die Freiheitsfrage darauf
				nicht anwendbar sei, scheint mir argumentativ wenig
				überzeugend. Und zwar deswegen, weil es keinen vernünftigen
				Grund gibt, das eigene Erkennen von der Freiheitsfrage
				auszunehmen. Ganz im Gegenteil: Sollte sich nämlich
				herausstellen, daß dieses Erkennen selbst schon durchgängig
				kausal determiniert ist, was ja der Physikalist aus triftigem
				Anlaß behauptet. - Etwa dahingehend, daß sämtliche mentalen
				Vorgänge einschließlich Erkenntnisprozeß ausnahmslos
				durch hirnorganische Prozesse bestimmt, nur Epiphänomene der
				Hirnphysiologie sind, denn wäre dies nicht so, dann müßte man
				ja das ganze physikalische Weltbild in Frage stellen. 1)
				- Dann würde uns die Erkenntnis der eigenen Handlungsmotive
				nicht ein Haar breit in Richtung Freiheit voranbringen, weil sich
				diese Erkenntnis selbst mit Naturnotwendigkeit vollziehen muß.
				Ob wir unsere Motive nun kennen oder auch nicht, das alles
				spielte nicht die geringste Rolle, weil, was wir tun, ob
				erkennend oder handelnd, im Grunde nicht getan wird,
				sondern sich vollzieht, gemäß dem Gesetz der Kausalität.
				Nicht wir sind die Täter, sondern die Chemie unseres Gehirns,
				die Vorgänge des Stoffwechsels und die physikalischen
				Verhältnisse unserer Umgebung. Erkenntnisgeleitete
				Steuerung oder Veränderung von Handlungen verdanken diese ihre
				scheinbare Steuerung dann ebensowenig unserem Erkennen,
				sondern vollziehen sich in Wirklichkeit mit derselben
				Naturnotwendigkeit, wie unser Erkennen selbst. Der Steuermann
				sitzt nicht am Steuer sondern hinter einer wirkungslosen
				Spielzeugattrappe wie der Bub im Kinder-Spielmobil, der sich
				an der Illusion freut die Richtung vorzugeben, während die
				Mutter ihn schiebt wohin es ihr beliebt. Das derart
				entstandene Freiheitsbewußtsein wäre lediglich ein
				Scheingebilde. Wir gaukeln uns nur eine Art von Freiheit vor und
				lügen uns etwas in die Tasche. 
				 
				Weil
				wir im Erkennen erst einen Rahmen bilden, in dem die
				Freiheitsfrage gestellt wird, deswegen ist das Erkennen
				nicht etwa von der Freiheitsfrage auszunehmen, sondern mit
				absolutem Vorrang auf seine Freiheit hin zu prüfen. Denn wenn
				das Erkennen selbst schon durchgängig kausal determiniert sein
				sollte, dann können wir das Stellen jeder weiteren
				Freiheitsfrage getrost vergessen. 2) 
				 
				Die Frage
				(physiologischer) Determinismus oder Freiheit im
				Erkenntnisvorgang ist also alles andere als eine sinnlose
				Frage. Sie ist ein, wenn nicht sogar der Dreh- und
				Angelpunkt des ganzen Freiheitsproblems. Karl Popper sah in
				dieser Beziehung etwas genauer hin als Bieri. Der Determinismus,
				schreibt Popper (Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis,
				Hamburg 1984, S. 232 ff) schließt logisch begründete Einsicht
				aus, weil sich der Erkenntnisvorgang dann selbst mit
				Notwendigkeit vollzieht. Und weil das so ist, gibt es für ihn
				auch keine Argumente, weder für ihn, noch gegen ihn. Für den
				Determinismus gibt es überhaupt keine Argumente mehr: "Denn
				nach dem Determinismus vertritt jemand irgendwelche Theorien -
				etwa den Determinismus - wegen seiner bestimmten physikalischen
				Struktur (etwa der seines Gehirns). Wir täuschen uns also (und
				sind dazu physikalisch vorherbestimmt), wenn wir glauben, es gäbe
				so etwas wie Argumente oder Gründe, die uns dazu bringen, den
				Determinismus zu akzeptieren. Oder mit anderen Worten, der
				physikalische Determinismus ist eine Theorie, über die man, wenn
				sie wahr ist, nicht argumentieren kann, denn sie muß alle unsere
				Reaktionen, auch das, was uns als auf Argumente gegründete
				Überzeugung erscheint, auf rein physikalische Bedingungen
				zurückführen. Rein physikalische Bedingungen, zu denen unsere
				physikalische Umgebung gehört, veranlassen uns, zu sagen
				oder zu akzeptieren, was immer wir sagen oder akzeptieren;
				... Doch das bedeutet: Wenn wir glauben, wir hätten eine Theorie
				wie den Determinismus wegen der logischen Kraft bestimmter
				Argumente angenommen, dann täuschen wir uns gemäß der Theorie
				des physikalischen Determinismus; oder genauer: Wir befinden uns
				in einem physikalischen Zustand, der uns dazu bestimmt, uns
				zu täuschen." (Siehe hierzu auch Popper/Eccles, Das Ich
				und sein Gehirn, München 1982, S. 105; S. 641, Anm 3) 
				 
				Eben dieser
				Täuschung unterliegt bei Gültigkeit des Determinismus der
				Erkenner seiner Handlungsmotive, wenn er annimmt, er habe sich
				durch sachliche bzw logische Gründe vom Vorhandensein bestimmter
				Handlungsmotive überzeugt. Falls der Determinismus Recht
				hat, dann befindet er sich lediglich in einem physikalischen
				Zustand, der ihn glauben macht, er habe so etwas wie logische
				Gründe oder überzeugende Belege für seine Einsicht. Es ist
				nicht die logische Kraft von Argumenten, sondern
				die kausale Kraft seiner Hirnchemie, die ihm dies
				vorgaukelt. Verhält sich unser Selbsterkenner jetzt wie Peter
				Bieri und erklärt die Frage nach der Freiheit des Erkennens zur
				sinnlosen Frage, dann wird er folglich niemals herausfinden, ob
				er der Freiheit durch die sogenannte Selbsterkenntnis tatsächlich
				näher kommt oder nicht. Es könnte durchaus sein, daß der
				Determinismus Unrecht hat und uns die Selbsterkenntnis der
				Freiheit schrittweise näher bringt. Aber Bieri wird es nie mit
				Bestimmtheit behaupten können, sondern allenfalls eine
				nicht begründete Glaubensüberzeugung hegen. 
				 
				Es kann, wenn man
				Poppers Argumentation folgt, in Wirklichkeit in einem
				komplett kausal-deterministisch bestimmten Bewußtsein nichts
				dergleichen geben wie logische Beweise, Plausibilisierungen,
				sachliche Begründungen, und im echten Sinne wirksame
				Erörterungen über das Für und Wider einer Auffassung. Das
				alles sind nur Vorspiegelungen oder Täuschungen seitens
				Vorgängen, die tatsächlich streng nach kausaler
				Gesetzmäßigkeit verlaufen und keinen Raum mehr lassen für
				logisch verankerte Reflexionen aller Art. Von der anderen
				Seite gesehen: Läßt man logisch begründete und
				orientierte Bewußtseinsvorgänge zu - und das tut letztlich jede
				seriöse Wissenschaft - dann muß man implizit dem Bewußtsein
				- speziell dem Denkbewußtsein - einen Grad an Freiheit und
				Unabhängigkeit gegenüber den kausalen Vorgängen des
				Organismus einräumen. 
				 
				
					
						
							Übrigens gilt dieses Poppersche Argument spiegelbildlich auch
							gegenüber der geistigen Welt. Popper selbst hat hier nur
							die physikalisch-materielle Welt vor Augen. Man könnte
							infolgedessen zu der irrigen Auffassung gelangen,
							gegenüber der geistigen Welt stelle sich die Freiheitsfrage
							nicht, weil der Mensch als geistiges Wesen per se frei sei.
							Ein strenger Spiritualist könnte demgegenüber die Ansicht
							vertreten, daß der Mensch von geistigen Mächten in allem was
							er tut und denkt abhängig und gesteuert sei. Er sähe
							nur eben die Silberfäden nicht, an denen er wie eine
							Marionette von Geistwesen gelenkt und manipuliert werde. In
							Wirklichkeit aber sei der Mensch der geistigen Welt
							vollkommen ausgeliefert und von dieser Seite alles andere als
							frei. Er sei zwar nicht physisch determiniert, weil es
							die physische Welt in Wirklichkeit ja gar nicht gibt. Nichts
							desto trotz sei er durchgängig der Macht und Willkür Gottes
							oder etwaiger anderer bedeutender Geistwesen unterstellt.
							Man könnte dies einen fatalistischen Spiritualismus,einen
							spirituellen Fatalismus, oder vielleicht besser: einen
							spirituellen Determinismus nennen. (So könnte etwa ein
							Anthroposoph die Überzeugung vertreten, der Mensch sei zwar
							in seinem Erkennen nicht physiologisch-physikalisch
							determiniert, wohl aber karmisch. Und in allen seinen
							Gedankenoperationen zeige sich nichts weiter als die Abfolge
							und Wirksamkeit unentrinnbarer karmischer Notwendigkeit.
							) 
							 
							* 
							Übrigens hat
							Steiner schon in der Vorrede zur Zweitausgabe von 1918 die
							Problematik so weit und allgemein gefasst, dass in der
							Philosophie der Freiheit nicht etwa nur an Freiheit
							gegenüber den kausalen Naturmächten gedacht ist,
							sondern auch gegenüber geistigen Mächten. So lautet
							seine zweite der dort behandelten Wurzelfragen: "Die
							andere Frage ist die: Darf sich der Mensch als wollendes Wesen
							die Freiheit zuschreiben, oder ist diese Freiheit eine bloße
							Illusion, die in ihm entsteht, weil er die Fäden der
							Notwendigkeit nicht durchschaut, an denen sein Wollen ebenso
							hängt wie ein Naturgeschehen?" (PdF.,a.a.O., S. 7) Es
							geht hier, wie zu erkennen ist, nicht nur um Freiheit
							gegenüber einer wie immer gearteten Naturkausalität
							respektive -notwendigkeit. Sondern um Freiheit im Gegensatz zu
							Notwendigkeit überhaupt. Der entscheidende Passus lautet: "
							... wie ein Naturgeschehen?" Es geht um Determination
							jedweder Art: Das an den Fäden der Notwendigkeit hängende
							Naturgeschehen ist hier lediglich als Vergleichspunkt und
							exemplarisches Beispiel gemeint für etwas an den Fäden der
							Notwendigkeit Hängendes. Im Prinzip aber könnte es sich
							ebensogut um geistige oder seelische Notwendigkeiten handeln,
							an denen das Wollen hängen kann. Der von Steiner verwendete
							Begriff der Notwendigkeit ist in diese Richtung völlig
							offen. Steiner macht hier keine Einschränkung, in welchem
							Sinne Notwendigkeit hier zu sehen ist. Naturhafte,
							seelische und eben auch geistige Notwendigkeit sind
							gleichermassen darunter zu fassen. 
							 
							Ich erwähne
							diesen letzteren Sachverhalt hier vor allem im Hinblick auf
							Hartmut Traubs Buch Philosophie und Anthroposophie,
							Stuttgart 2011. Speziell im Hinblick auf die dort (S 268 ff)
							geäusserten erheblichen Bedenken Traubs an Steiners
							Spinozakritik von S 17 ff der Philosophie der Freiheit. 
							Es sticht ja
							in der von Steiner zitierten Briefpassage Spinozas ins Auge,
							dass diese gewissermassen beginnt mit einer Vergesellschaftung
							der Begriffe von Freiheit und Notwendigkeit.
							So zitiert Steiner Spinoza eingangs: "«Ich nenne
							nämlich die Sache frei, die aus der bloßen Notwendigkeit
							ihrer Natur besteht und handelt, und gezwungen nenne ich die,
							welche von etwas anderem zum Dasein und Wirken in genauer und
							fester Weise bestimmt wird. So besteht zum Beispiel Gott,
							obgleich notwendig, doch frei, weil er nur aus der
							Notwendigkeit seiner Natur allein besteht. Ebenso erkennt Gott
							sich selbst und alles andere frei, weil es aus der
							Notwendigkeit seiner Natur allein folgt, daß er alles
							erkennt. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in ein
							freies Beschließen, sondern in eine freie Notwendigkeit
							setze.» An dieser eigentümlichen Gemengelage von Freiheit
							und Notwendigkeit ändert sich auch in Spinozas Ethik
							nichts, die Traub in seiner Kritik als Referenz anführt.
							Und eine solche Position - das lässt sich hier zunächst nur
							allgemein und ungeschützt sagen, müsste aber eingehender
							belegt und demonstriert werden - ist für Steiner völlig
							unvertretbar. Dass Spinoza, wie Traub mit Recht zeigt,
							natürlich auch von den einsehbaren Vernunftgründen des
							menschlichen Handelns spricht, und damit die Freiheit auch mit
							der menschlichen Erkenntnistätigkeit verknüpft, ändert
							an dieser grundsätzlich widersprüchlichen Sachlage
							nichts. Denn eine Frage wäre ja in Anlehnung an Popper
							oben zu stellen: folgt die menschliche Erkenntnistätigkeit im
							Sinne Spinozas nicht a priori wieder nur einer unsichtbaren
							(geistigen) Notwendigkeit? Im Sinne Poppers wäre das
							eigentlich nicht denkbar. Und ich meine im Sinne Steiners auch
							nicht. Und eine andere Frage ist die: Was versteht eigentlich
							Spinoza unter einsehbaren Gründen und
							Erkenntnistätigkeit? Aus der nominellen Verwandtschaft
							sprachlicher Formulierungen im Sinne Traubs auf die
							Verwandtschaft der Erkenntnisbegriffe bei Steiner und Spinoza
							zu folgern, scheint mir etwas reichlich kurz gegriffen. Bei
							Steiner geht die Kernfrage der Freiheitsphilosophie nun
							gerade darauf, was der Ursprung und die Bedeutung des Denkens
							ist (s. o.). Ein ernsthafter Vergleich mit Spinoza müsste
							sich dann der Aufgabe zuwenden, ob dieser sich eine
							vergleichbare Kernfrage stellt wie Steiner, und wie er sie
							einlöst. Bei Traub ist, so weit ich sehe, darüber nichts zu
							erfahren. (Interessierte Leser, die selbst einen solchen
							Vergleich anstellen wollen, darf ich zu diesem Zweck an
							Spinozas Ethik verweisen. Siehe dort etwa in Teil II
							(Von der Natur und dem Ursprung des Geistes) den
							Lehrsatz 40 ff. Dazu können sie sich parallel die
							Frage vorlegen, warum Rudolf Steiner in Kapitel III der
							PdF so viel Wert legt auf die Beobachtung des Denkens,
							respektive auf die Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung
							des Denkens in Kap I, und was ihn methodisch in dieser
							Beziehung von Spinoza unterscheidet. Wie zum Beispiel erkennt
							Spinoza das Erkennen in der Ethik, Teil II,
							Lehrsatz 43; siehe auch Teil III, Lehrsatz 58, und welche
							Ansicht äussert Rudolf Steiner in dieser methodischen Frage
							des Erkennens der Erkenntnis?) 
							Schliesslich
							auch: Ist eine auf der Grundlage moralischer Phantasie und
							moralischer Intuitionen vollzogene Handlung, die ich
							vollziehe, weil ich sie liebe (Steiner), deckungsgleich mit
							einer aus einsichtigen Gründen vollzogenen Handlung, die ich
							vollbringe, weil ich gar nicht anders kann (Spinoza)? Ob ein
							gewolltes Handeln aus einsichtigen Gründen nach
							Spinoza überhaupt möglich ist, das wird unten ebenfalls
							etwas zu betrachten sein. 
							Siehe zu
							Spinozas Ethik auch folgenden Link:
							http://gutenberg.spiegel.de/buch/5217/1 
							Ein
							Überblicksartikel zu Spinoza:
							http://www.kunstinfrankfurt.de/BaruchDeSpinozaLayout.html#oben 
							Es ist auch
							keineswegs so, wie Traub auf S. 271 f Steiner unterstellt,
							nämlich dieser habe sich in seiner Spinozakritik "nahezu
							ausschliesslich" auf die von Spinoza erwähnte
							illusionäre Freiheit bezogen. Das ist durchaus nicht der
							Fall - man muss es nur sehen (wollen). Und man sollte vor
							allen Dingen nicht Quantität (Textumfang des Steinerschen
							Zitats) mit Qualität (ihrem argumentativem Gehalt)
							verwechseln. Denn in dem von Steiner wiedergegebenen Brief
							Spinozas ist, wie Traub selbst erwähnt, sogar eine Definition
							dessen vorhanden, was Spinoza unter Freiheit versteht.
							Und zwar nicht nur, wie Traub schreibt, eine exemplarische,
							erläuternde Definition der Freiheit anhand der Wesenheit
							Gottes, sondern durchaus eine generelle Definition unabhängig
							von dieser Gotteswesenheit. Und exakt mit dieser lässt
							Steiner sein Spinozazitat auch beginnen mit den Worten
							Spinozas: "Ich nenne nämlich die Sache frei, die aus der
							blossen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt."
							(Nicht nur in dem von Steiner zitierten Brief, sondern auch in
							Spinozas Ethik findet sich eine vergleichbare
							Formulierung an ausgesprochen prominenter Stelle, nämlich
							gleich zu Beginn des Buches in der Definition 7. Siehe dazu
							Spinozas Ethik in der lateinisch-deutschen
							Studienausgabe des Felix Meiner Verlages, Hamburg 2010, dritte
							verbesserte Auflage; S. 7 ) Exemplifiziert anhand der
							Wesenheit Gottes wird dies von Spinoza erst im von Steiner
							ebenfalls zitierten Folgesatz des Briefes: "So besteht
							zum Beispiel Gott, obgleich notwendig, doch frei, weil er nur
							aus der Notwendigkeit seiner Natur allein besteht. Ebenso
							erkennt Gott sich selbst und alles andere frei, weil es aus
							der Notwendigkeit seiner Natur allein folgt, daß er alles
							erkennt. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in ein
							freies Beschließen, sondern in eine freie Notwendigkeit
							setze." Steiner ist da ersichtlich präziser in der
							Textauffassung als sein Interpret Traub. Und es ist gewiss
							nicht ohne Grund, dass Steiner mit eben dieser allgemeinen
							Definition Spinozas beginnt und damit den qualitativ
							gewichtigsten Anteil von dessen Gedankengang des Briefes
							an erster Stelle aufgreift. Er hätte ihn auch weglassen
							können und wäre anders vorgegangen, wenn er sich nur am
							Aspekt der illusionären Freiheit Spinozas hätte aufhalten
							wollen. Er hat also ein deutliches Bewusstsein für die
							Gewichtung und Wertigkeit der Argumente.
							"Argumentationsstrategisch", um ein häufiger
							verwendetes Wort Traubs aufzunehmen, ein durchaus vernünftiges
							Unterfangen. (Davon abgesehen wäre es wenig realitätsnah
							anzunehmen, dass der Herausgeber von Goethes
							naturwissenschaftlichen Schriften - Steiner - so wenig über
							das Verhältnis Goethes zu seinem mannigfachen philosophischen
							Inspirator Spinoza aufgeklärt ist und Spinozas Philosophie
							so ungenügend kennt, dass er den Fehler begeht bei Spinoza
							die illusionäre Freiheit mit der echten zu verwechseln.
							Siehe dazu Steiners zahlreiche Erläuterungen zu Spinoza
							in Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, GA-1,
							Dornach 1987) 
							Also wird man
							mit guten Gründen unterstellen können, dass Steiner sich in
							seinem abschliessenden Resüme dann ebenso auf diese
							Definition der einleitenden Sätze mit bezieht, und nicht etwa
							irrtümlich nur auf dasjenige, was bei Spinoza unter
							illusionärer Freiheit firmiert, wie Traub behauptet. Für
							Traubs Vermutung besteht gar kein Anlass. Denn warum sollte
							Steiner Spinozas Definition von Freiheit in seiner
							abschliessenden kritischen Beurteilung ausser Acht lassen,
							wenn er sie eigens an erster Stelle anführt?
							Interpretatorisch plausibel ist diese Vermutung einer
							Vernachlässigung oder eines Übersehens des
							schwerwiegendsten Argumentes durch Steiner nicht. Und
							dass er es mit einbezieht ist bei Steiner auch ersichtlich,
							wenn er nach dem Ende des Zitats (S. 18 f) ganz sachgemäss
							kritisiert: "So notwendig, wie der Stein auf einen Anstoß
							hin eine bestimmte Bewegung ausführt, ebenso notwendig
							soll der Mensch eine Handlung ausführen, wenn er durch
							irgendeinen Grund dazu getrieben wird." Wohlgemerkt:
							"durch irgendeinen Grund ... getrieben". Das können
							bei Beachtung der Vollständigkeit des Steinerschen Zitats
							eben auch Vernunftgründe sein, die im Sinne Spinozas
							notwendig zu Handlungen treiben. Womit Steiner bis in
							die sprachliche Wendung hinein einen massgeblichen Kern der
							spinozistischen Freiheitsphilosophie aufgenommen hat,
							nämlich dessen Trieb- und Affektlehre, die bei all dem eine
							fundamentale Rolle spielt. Wobei man als heutiger
							Zeitgenosse eigentlich nur staunt, auf welch sonderbarem
							bewusstseinsphänomenologischen Boden Spinoza seine
							Urteils- und Entscheidungspsychologie in diesem Kontext
							entwickelt. 
							 
							Auf diesen
							zentralen Punkt jedenfalls - dem aus einer mangelhaften
							Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens
							folgenden geistigen Determinismus Spinozas mit einhergehendem
							Ich-Verlust - scheint Steiner doch sein Augenmerk vor
							allen anderen Dingen zu richten. Siehe dazu Spinozas Ethik,
							Teil I, Von Gott; ferner im Teil III. die
							weitläufigen Anmerkungen zum Lehrsatz 2. Dort werden
							unter anderem auch die Beispiele aus Steiners zitierter
							Briefstelle angeführt. Und in ihren freiheitsphilosophischen
							Konsequenzen sind sie dort noch weitaus prägnanter und
							aussagefähiger als die Formulierungen in Steiners Zitat.
							Angesichts des beträchtlichen argumentativen Aufwandes von
							Seiten Spinozas kann man sie wohl als eine empirische
							Schlüsselpassage in seiner Philosophie betrachten. Man
							vergleiche mit Spinozas dortigen Ausführungen einmal Steiners
							Kapitel III der Philosophie der Freiheit. Man wird dann
							besser verstehen können, warum die Frage nach dem
							Ursprung und der Bedeutung des Denkens für Steiner eine
							so grosse Rolle spielt. Und warum es sehr sinnvoll ist, die
							von Spinoza vorgelegten bewusstseinsphänomenologischen
							Beispiele zu prüfen. Was daran ist realistisch, und was
							blosse, zum Teil doch sehr abwegige Hypothese, Vermutung oder
							wirklichkeitsfremde theoretische oder metaphysische
							Konstruktion? 
							 
							Ich denke,
							dass diese der Erfahrung entlehnten Argumente Spinozas sehr
							viel zum Verständnis von seinem Determinismus beitragen
							können, weil sie im Kontext der Frage stehen, ob und wie weit
							der denkende Geist überhaupt in der Lage ist, auf den
							physischen Leib Einfluss zu nehmen und ihn zu Handlungen oder
							Bewegungen zu veranlassen. Und wie Beschlüsse zustande
							kommen und zu bewerten sind. (Letztere Frage ist für Rudolf
							Steiner die Kernthematik seiner Philosophie der Freiheit)
							Siehe zum Thema Beschlüsse die beiden Schlußsätze Spinozas
							in den genannten Anmerkungen zu Lehrsatz 2. im
							Teil III der Ethik: "Die erwähnten Entscheidungen
							des Geistes [zu Handlungen, MM] entstehen im Geist mithin mit
							derselben Notwendigkeit, wie die Ideen von wirklich
							existierenden Dingen. Wer also glaubt, er rede oder
							schweige oder tue sonst etwas aus einer freien
							Entscheidung des Geistes, der träumt mit offenen Augen."
							Hier geht es, das muss man hinzufügen, nicht um illusionäre
							Freiheit, sondern die getroffenen Aussagen sind ganz
							grundsätzlicher Natur und gelten für sämtliche
							Handlungen respektive Entscheidungen. Zwar spricht Spinoza
							hier auch von geträumten oder eingebildeten Entscheidungen,
							doch diese stellt er gewissermassen auf eine Stufe mit den
							wachbewussten, weil das Nebeneinanderbestehen verschiedener
							Entscheidungsbewusstheiten auf einen Widerspruch führen
							müsste, wenn man die eine akzeptiert, die andere aber nicht.
							Da dies aber nicht sein könne werden sie allesamt in das
							Gebiet der Notwendigkeiten verwiesen. Die unterschiedlichen
							Qualitäten von geträumten und wachen Entscheidungen
							scheinen ihm argumentativ, und das ist wirklich bemerkenswert,
							irrelevant. Die Ethik Spinozas ist nicht gerade reich
							an bewusstseinsbezogenen empirischen Belegen. Umso
							aufschlussreicher ist es zu beobachten, wie er mit dem
							Wenigen verfährt, was er an bewusstseinsphänomenologischen
							Grundtatsachen überhaupt beibringt. 
							Deswegen noch
							einmal das Zitat ausführlicher: "Wenn wir aber träumen,
							daß wir sprechen, glauben wir auf Grund eines freien
							Entschlusses des Geistes zu sprechen, und dennoch sprechen wir
							nicht, oder wenn wir sprechen, so geschieht es auf Grund einer
							willkürlichen Bewegung des Körpers. Uns träumt ferner, daß
							wir manches den Menschen verhehlen, und zwar nach demselben
							Beschlusse des Geistes, nach welchem wir wachend
							verschweigen, was wir wissen. Uns träumt endlich, daß wir
							manches nach dem Beschlusse des Geistes tun, was wir
							wachend nicht wagen, und deshalb möchte ich wohl wissen,
							ob es im Geiste zwei Gattungen von Beschlüssen gebe,
							nämlich phantastische und freie? Wenn wir nicht so weit im
							Unsinn gehen wollen, muß man notwendig zugeben, daß dieser
							Beschluß des Geistes, den man für frei hält, sich von der
							Vorstellung selbst oder Erinnerung nicht unterscheidet
							und nichts anderes ist als jene Bejahung, welche die Idee,
							sofern sie Idee ist, notwendig in sich schließt (siehe
							Lehrsatz 49, T. 2). Folglich entstehen diese Beschlüsse des
							Geistes nach derselben Notwendigkeit im Geiste wie die Ideen
							der wirklich daseienden Dinge. Wer also glaubt, daß er aus
							freiem Beschlusse des Geistes spreche oder schweige, oder
							sonst etwas tue, träumt mit offenen Augen." 
							 
							Wie
							wachbewusste Entscheidungen zustande kommen, welchen Anteil
							ein selbstbewusstes Ich daran möglicherweise hat, und wie
							sich qualitativ ein Traum vom wachen Bewusstsein abhebt - das
							alles interessiert hier nicht. Spinoza räumt den
							augenfälligen Unterschied zwischen geträumten und wachen
							Entscheidungen rigoros beiseite, setzt Traumphantasien mit
							wachbewussten Beschlüssen qualitativ gleich und siedelt sie
							epistemologisch und freiheitsphilosophisch auf dem selben
							Niveau an. Ganz offensichtlich ist er, aus welchen
							Gründen auch immer, hier nicht in der Lage die gewaltige
							Differenz zwischen geträumten und wachbewussten
							Entscheidungen zu bemerken, zu bewerten und adaequat in
							seine Theorie der Entscheidungsbildung einzubringen. Die
							Annahme, dass es tatsächlich zwei verschiedene "Gattungen
							von Beschlüssen" geben könne, nämlich "phantastische"
							(geträumte) und "freie" (wachbewusste), zwischen
							denen genetisch gesehen Welten liegen, hält er stattdessen
							für "Unsinn". 
							 
							Vorausgesetzt
							die Übersetzung aus dem Lateinischen ist hier angemessen,
							dann erscheint der ganze Argumentationsgang mehr als seltsam.
							Um nicht zu sagen so hochgradig abenteuerlich, dass die
							nächstgelegen Frage eigentlich nur lauten kann: Was hindert
							ihn nur daran, die auf der Hand liegende Verschiedenheit von
							wachen und geträumten Beschlüssen zu sehen? Und
							möglicherweise zu erkennen, dass geträumte Beschlüsse eben
							nur scheinbare sind und keine wirklichen, weil ihnen
							eigentlich alles fehlt, was sie in irgend einem seriösen Sinn
							als "Beschlüsse" ausweisen könnte - nämlich
							Wachheit des Bewusstseins, gedankliche Kontrolle und das mehr
							oder weniger sorgfältige Abwägen von Gründen und
							Gegengründen. - Es fehlt ihnen generell gesagt die
							Zurechnungsfähigkeit des Beschliessenden. Der "Geist"
							hat eben im Traum nichts "beschlossen", weil
							derjenige, der hätte beschliessen können - die Person oder
							das Ich des Träumers - geistig abwesend war. Infolgedessen
							ist es einigermassen verwegen zu glauben, geträumte und
							wache Beschlüsse seien vergleichbar, oder gar dieselben,
							nach denen einmal dies, und einmal das Gegenteil davon
							beschlossen werde. Der Träumer erlebt nur ohnmächtig
							seine eigendynamischen Traumbilder und weiss nicht, dass er
							träumt. Während der Wache sehr wohl weiss, dass er wach ist,
							das Geschehen beeinflussen kann und die Beschlussbildung in
							der Hand hat. Er weiss auch dass und wann er geträumt hat,
							während der Träumende nicht weiss wann er wach war und wie
							sich das anfühlt. Deswegen ist es auch wenig wahrscheinlich,
							dass der Träumer wirklich glaubt "aus einem
							freien Beschlusse des Geistes zu sprechen". 
							 
							Was Spinoza
							den entscheidenden Hinweis auf verschiedene Gattungen
							hätte geben können, nämlich eine Untersuchung der
							Bewusstseinsqualitäten und Genese von phantastischen und
							freien Beschlüssen, das fegt er buchstäblich mit der
							folgenschweren Bewertung "Unsinn" vom Tisch.
							Vielleicht hätte ihn, wenn er noch weiter in diesem "Unsinn"
							gegangen wäre, eine nähere Untersuchung von wachen
							Beschlüssen zu der Entdeckung geführt, dass diese auch
							nicht von einheitlicher Art sind, und er wäre auf eine dritte
							Gattung gestossen - nämlich innerhalb der wachen Beschlüsse
							auf die potentiell freien. Da nun die Entscheidungsbildung im
							Wachbewusstsein die Voraussetzung für ein angenommenes
							entscheidungsgeleitetes freies Handeln bildet, leuchtet
							es ein, dass für Spinoza derjenige mit offenen Augen träumen
							muss, der da glaubt, seine wachen Entscheidungen als freie
							Beschlüsse zu fassen, da sich seine wachbewussten
							Entscheidungen grundsätzlich ja nicht von den geträumten
							unterscheiden. Ich betone noch einmal: Das Gesagte gilt
							in Spinozas Augen für sämtliche Entscheidungen. Seien sie
							aus Vernunftgründen oder anderen erfolgt. Oder wie sein
							Fazit lautet: "Folglich entstehen diese (geträumten
							wie wachen, MM) Beschlüsse des Geistes nach derselben
							Notwendigkeit im Geiste wie die Ideen der wirklich
							daseienden Dinge." Die Beschlüsse des Geistes - und zwar
							wache wie geträumte - entstehen "nach derselben
							Notwendigkeit". Das heisst: die Beschlussfindung und
							-bildung ist generell und vollständig determiniert, und
							nichts davon ist in des Menschen freies Vermögen gelegt.
							Entscheidungen und Beschlüsse überkommen den Menschen
							und werden nicht aktiv gefasst beziehungsweise
							herbeigeführt. Das Ich des Menschen beschliesst
							nichts, sondern ist allenfalls Zuschauer eines
							Beschlussvorganges, der sich mit naturgesetzlicher
							Notwendigkeit in ihm vollzieht. (Interessant ist es zu sehen,
							dass die in der Steinerschen Briefstelle zitierten Beispiele
							Spinozas bei letzterem wie auch hier mehrfach
							wiederkehren und durchaus auch eine exemplarische
							Bedeutung innerhalb dessen Freiheitsdiskussion haben. Denn
							Spinozas Argumentation im Lehrsatz 2 richtet sich gegen
							diese dort exemplifizierte naive Freiheitsgläubigkeit.
							Dann ist es schon erhellend seiner hierzu entfalteten
							empirischen Beweisführung zu folgen. Es ist ein
							offenkundiger und weitgehend empirieferner philosophischer
							Rationalismus, den er hier entfaltet, aber keine
							empiriegeleitete Philosophie) 
							 
							Thematisch
							anders gelagert, aber argumentativ eingebettet in die
							umfangreichen Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im Teil III der
							Ethik ist die Frage, wie eigentlich das bewusste Denken mit
							dem Körper interagiert. Zu dieser Frage äussert sich
							Spinoza, und zwar besonders eindeutig, schon in dem
							vorangestellten kurzen, aber folgenreichen einleitenden
							Lehrsatz 2: "Der Körper kann den Geist nicht zum
							Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu Bewegung
							und Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn es noch etwas
							anderes gibt.)" 
							 
							Was eigentlich
							die biologische oder sonstige Grundlage für
							entscheidungsgeleitetes Handeln ist, ist streng genommen
							bis heute fast so unverstanden wie zu Spinozas Zeit und
							nach wie vor umstritten, aber im allgemeinen wird die
							gewollte Interaktion zwischen Denken und Körper als Faktum
							akzeptiert. Die Akzeptanz besteht inhaltlich in der Annahme,
							der Mensch sei für seine Taten verantwortlich, weil er sie
							von der Vernunft her organisieren, steuern und bewerten kann.
							Das heisst, man nimmt an, seine bewussten leiblichen
							Äusserungen seien dem Einfluss seiner Vernuft und seines
							Urteilsvermögens prinzipiell unterstellt. Worauf diese
							Interaktion zwischen Denken und Handeln im
							physiologischen oder sonstigen Sinne genau beruht und wie
							sie verläuft ist wie gesagt bis heute nicht ernstlich
							geklärt, aber sie wird auf jeden Fall aus Evidenzgründen
							unterstellt und vorausgesetzt. Es ist einfach evident,
							das wir willentlich und gedankengesteuert zur Arbeit gehen,
							Englisch lernen oder dem Bedürftigen einen kleinen
							Geldbetrag schenken. Auch wenn die genaue Wechselwirkung
							zwischen Denken und Leibesäusserung wissenschaftlich noch im
							Dunkeln liegt. Für Spinoza indessen ist es laut Lehrsatz 2
							prinzipiell gar nicht möglich, dass vom Denken her irgend ein
							handlungsbestimmender Einfluss auf den Körper ausgeht,
							weil laut nachfolgendem Beweis zu Lehrsatz
							2 Körper nur durch andere Körper, aber nicht durch Gedanken
							bewegt werden können: " ... die Bewegung und Ruhe des
							Körpers muß durch einen anderen Körper entstehen, welcher
							auch zur Bewegung oder Ruhe durch einen anderen bestimmt
							worden ist...". 
							 
							In den
							Anmerkungen zum Lehrsatz 2 wird dies, unter stetigem
							Hinweis auf das Nichtwissen in diesen Dingen, teils mit recht
							modern und naturwissenschaftlich anmutenden empirischen
							Belegen und Fragestellungen flankiert, die demonstrieren
							sollen, dass menschliche Entscheidungen auf Aktionen des
							Körpers ohne Einfluss sind. Darunter auch
							bewusstseinsphänomenologische: Auf Erinnern und
							Vergessen habe der Mensch keinen Einfluss. - Was zu
							prüfen wäre und nachweislich nicht der Fall ist, wie jeder
							ernsthafte Selbstversuch zeigt. Dass es einen
							unbeeinflussbaren Erinnerungs- und Vergessensautomatismus gibt
							kann nur behaupten, wer diesen Dingen nie gezielt im
							Selbstbeobachtungsexperiment nachgegangen ist. Die
							unbeeinflussbare Erinnerung indessen ist für Spinoza ein ganz
							ernst zu nehmendes und schwerwiegendes
							bewusstseinsphänomenologisches Argument, um wache
							Beschlüsse mit geträumten gleichzusetzen. Siehe seinen
							resümierenden Gedankengang oben. Die Vorgänge des
							Bewusstseins ereignen sich eben, und wir können sie
							nur hinnehmen! (Hier wird vorausgesetzt, dass Spinoza damals
							in seinem Bewusstsein vergleichbar ebenso organisiert war wie
							wir. Die Möglichkeit, dass er seine Einflusslosigkeit auf
							Erinnern und Vergessen tatsächlich auch so erlebt hat, wie er
							sie beschreibt, und auch seine Beschlussbildung vielleicht
							den oben skizzierten traumartigen Charakter hatte, besteht
							grundsätzlich auch noch. Dann wäre sein Bewusstsein vor
							rund 400 Jahren qualitativ in einigem doch sehr anders
							organisiert, als das gegenwärtig normalerweise der Fall ist.
							Dieser interessanten Frage nach einem möglichen
							historischen Bewusstseinswandel kann hier leider nicht
							nachgegangen werden.) 
							 
							Erstaunlicherweise
							aber findet sich bei Spinoza auch der generelle Hinweis
							darauf, dass der Körper allein eben zu vielem fähig sei.
							Sogar kulturelle Grossleistungen wie Kirchbau und
							Kunstwerke hätten danach ihren Ursprung nicht in denkerischen
							Entscheidungen und Entwürfen, sondern vernunftunabhängig in
							den wahren Wunderleistungen des menschlichen Leibes. Und zwar
							führt Spinoza das unter anderem aus im argumentativen
							Rückgriff auf Schlafwandler, die gelegentlich bemerkenswerte
							Dinge tun, worüber sie im wachen Zustand sehr verblüfft
							sind. Genialische Tatsachen zeigen sich eben in der gesamten
							Natur, auch dort, wo vom Denken keine Spur zu finden ist, weil
							die Natur so weise eingerichtet ist. Warum sollten sie
							beim Menschen nicht durch die ebenfalls genialische aber
							ausschliesslich organische Funktion des menschlichen Leibes
							zustande kommen? Es ist nach Spinozas Auffassung ersichtlich
							realistischer anzunehmen, dass Kirchbauten und Tempel nach
							demselben Prinzip entstehen wie die intelligenten Bauten
							von Termiten, Spinnengewebe und Vogelfedern: Aus einer
							universellen Naturvernunft heraus und nicht aus einer
							individuellen menschlichen. Es besteht weder ein notwendiger
							Anlass vernunftvoll erscheinende menschliche Taten mit dem
							menschlichen Denken faktisch in Verbindung zu bringen, noch
							ist dies möglich. Der Glaube der Menschen, sie könnten mit
							der Vernunft auf die Bewegungen ihres Leibes Einfluss nehmen,
							sei eben naiv und anhand der Tatsachen nicht zu belegen. 
							 
							Auch dieser
							Gedankengang mutet wie im Fall der Traumbeschlüsse derart
							abenteuerlich und an den Haaren herbeigezogen an, dass man den
							Eindruck hat, Spinoza habe sich hier mit aller Gewalt zu einer
							Art kopernikanischen Strategie entschlossen. Nämlich
							gegen jede Evidenz zu argumentieren, und eine kopernikanische
							Wende in der Bewusstseins- und Handlungsauffassung rein
							rationalistisch zu inszenieren. Freilich ist der Lebens- und
							Erlebenszusammenhang im Fall der himmelsmechanischen
							Erscheinungen unmittelbar nicht vorhanden, der das Trügerische
							eines vermeintlichen Umlaufs der Sonne um die Erde leicht
							entlarven könnte. Deswegen ist es dort durchaus angemessen
							eine Beweisführung gegen die scheinbare Evidenz zu
							suchen. Während wir im Fall von Träumen, Wachen,
							Urteilsvorgängen oder von willkürlichen Bewegungen in einem
							Erlebenszusammenhang mitten drin stehen. Näher als durch die
							unmittelbare Erlebensweise können wir diesen Phänomenen
							gedanklich nicht kommen. Und näher als Urteils- und
							Denkvorgänge können uns überhaupt keine Phänomene kommen.
							Deswegen haben sich bis heute die Menschen trotz aller
							gegenteiligen Beschwörungen mancher Neurobiologen und
							aller populärwissenschaftlichen Bekehrungsversuche nicht von
							der Überzeugung abbringen lassen, dass sie es sind,
							die denken, urteilen und sprechen und nicht das Hirn. Das
							von Spinoza hier nahegelegte Bild vom Menschen gleicht
							doch eher einem Untoten, als einem menschlichen Individuum. 
							Mit dieser
							Unfähigkeit des Geistes den Körper zu Handlungen zu
							bestimmen korrespondiert eine analoge Unfähigkeit des
							Denkens, sich aktiv mit dem Geist (besser vielleicht:
							mit Gedanklichem) in Verbindung zu bringen. Infolgedessen
							ist die Wahrnehmung von Ideellem für Spinoza ebenfalls
							ein blosses Leiden, eine passive Wahrnehmung und kein aktives,
							gewolltes denkerisches Geschehen. Auch ideelle
							Wahrnehmungen - hier haben wir eine deutliche Parallele zum
							oben erörterten Prozess der Beschlussbildung -
							überkommen den Menschen und werden nicht aktiv aufgesucht
							oder herbeigeführt. (Ein modernerer Psychologe des 19. oder
							frühen 20. Jahrhunderts würde vielleicht von einem rein
							assoziativen Mechanismus sprechen.) Wir werden weiter
							unten etwas darauf zurückkommen. Ein agiles und
							selbständig handelndes oder erkennendes Ich
							jedenfalls, das muss man wohl sagen, kommt bei Spinoza
							nicht vor. Sondern nur ein betroffener Zuschauer im Stück
							der Notwendigkeiten. 
							 
							Abgesehen
							davon, dass bei Spinoza alles Geschehen ursächlich in Gott
							und nicht in der Materie gründet, und er dafür argumentativ
							sehr viel Aufwand investiert, ist er mit seinem
							Determinismus dem physikalischen strukturell nicht nur
							ziemlich ähnlich, sondern auch methodisch verwandt, wie
							seine empirischen Belegversuche oben zeigen. (Infolgedessen
							gab und gibt es nicht wenige, die ihn für einen Materialisten
							halten, der seinen Materialismus lediglich theologisch
							verhüllt habe. Einer der Gründe dafür, warum Marxisten
							in ihm gern einen Vorläufer des modernen Marxismus sehen.
							Siehe etwa
							http://www.spinoza.de/Spinoza_Vorgeschichte_Marxismus.pdf)
							Offensichtlich jedenfalls nimmt er ein an den
							Naturwissenschaften orientiertes Prüfen und Bewerten der
							empirischen Tatsachen mitunter, wenn auch auf sehr einseitige
							Weise, ernst. Doch sein Umgang mit den empirischen Tatsachen
							des Bewusstseins offenbart gerade dies: Die empirischen
							Tatsachen scheinen gegenüber der Theoriebildung allemal
							nachrangig. Sie sprechen sich nicht aus, sondern werden
							gewaltsam in ein gedankliches Schema gepresst und im Zweifel
							in grotesker Weise umgedeutet. Auch dies eine deutliche
							Parallele zum Physikalismus. Ein autonomer
							Gedankenbildner oder Entscheidungsträger für Handlungen
							findet sich infolgedessen bei beiden Formen des Determinismus
							nicht, ob sie nun von Gott oder von der Materie ihren Ausgang
							nehmen. Und am Ende bleibt, wie von Popper gegen den
							Physikalismus vorgebracht, auch dasselbe Problem wie beim
							Physikalismus: Wie kommt denn der Determinist, ob physikalisch
							oder geistig orientiert, dazu, an die Gültigkeit seiner
							Argumente zu glauben, die er für den Determinismus ins Feld
							führt? Die entscheidende Frage zielt damit auf den, der sich
							das alles ausdenkt. Er kann es ja nur glauben unter Berufung
							auf eine Instanz, die eben nicht vollständig determiniert
							sein kann - und das ist das urteilende, prüfende und
							erwägende Ich des Denkers. Damit aber hat er seinem
							Determinismus bereits den Boden entzogen. Wenn ihm das nicht
							klar ist, dann deswegen, weil er sich mit den faktischen
							Vorgängen seiner Gedanken- und Urteilsbildung nicht weiter
							auseinandersetzt und die richtigen Konsequenzen daraus
							zieht. 
							 
							Bei Spinoza
							führt das auf die Frage, woher er denn für den Teil V der
							Ethik die Überzeugung nimmt, aktiv in ein vollständig
							determiniertes Geschehen eingreifen zu können, welche
							empirischen Belege er dafür beibringt und wie plausibel
							diese sind. (Siehe dazu den Lehrsatz 1 im Teil III
							der Ethik und den nachfolgenden Lehrsatz 2. nebst
							Anhang) Denn wenn er glaubt dies aktiv tun zu können, so muss
							sich diese Aktivität schon im Prozess der
							Entscheidungsfindung oder Urteilsbildung nachweisen
							lassen. Diese aber, so scheint es doch, sind bei ihm ganz und
							gar frei von individueller Aktivität und Autonomie, sondern
							gleichen aufs Haar dem Ausgeliefertsein an etwas, das sich
							notwendig vollzieht. Deswegen seine Gleichsetzung von
							Traumbeschlüssen mit wachen. Es gibt seinen bisherigen
							empirischen Ausführungen nach gar kein Anzeichen von
							geistiger Autonomie, und die Macht des Verstandes und
							die menschliche Freiheit, von denen im V. Teil der
							Ethik die Rede ist, erscheinen im Lichte seiner oben
							erläuterten Befunde wie ein Hirngespinst. Plötzlich wird nun
							aber ohne jede Vorwarnung und vollkommen unbegründet jemand
							aus dem Hut gezaubert, der eben doch Entscheidungsträger ist
							und die Gedanken selbsttätig verbindet. Denn was er für den
							Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik an
							Initiativmöglichkeiten des Ich voraussetzt, verlangt auch ein
							aktives Ich, das bei der Beschlussbildung die Gedanken
							selbsstätig, und nicht traumartig miteinander verbindet.
							Bei Spinoza ist das ein noch etwas anonymes "Wir",
							das nun laut Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik zur
							Überraschung des Lesers etwas tun soll, wozu es laut Theorie
							der Beschlussbildung eigentlich gar nicht fähig sein dürfte:
							Nämlich in eigener Tätigkeit des Ich Gedanken trennen und
							verknüpfen, die sich angeblich nur selbst untereinander
							verknüpfen können. Ja, - Ich? - wie denn? - Ich soll in
							eigener Tätigkeit Gedanken verknüpfen? - fragt sich der
							erstaunte Leser. Diese Möglichkeit hat er doch im Teil III
							schon komplett aus der Hand gegeben. Dafür besteht folglich
							kein konzeptioneller Spielraum mehr. Denn Traumbeschlüsse
							können, wie von ihm selbst betont, Gedanken nicht aktiv
							und autonom verbinden oder trennen. Und auf Erinnern und
							Vergessen habe ich angeblich ja auch keinen Einfluss. Wie
							soll denn so etwas dann überhaupt gehen? - Der Lehrsatz 2
							im Teil V. der Ethik ist infolgedessen und
							möglicherweise bloss missverständliche philosophische
							Rhetorik, und ein aktiv verbindendes und trennendes
							"Wir" gar nicht gemeint. Dann freilich wäre die
							Macht des Verstandes nebst Freiheit ohnehin
							eine bloss traumhaft eingebildete, sprich: illusionäre. Wie
							auch immer. Auf jeden Fall aber bedarf er einer ganz anders
							gearteten Konzeption der Beschlüsse und Entscheidungsfindung,
							als sie Spinoza im Teil III der Ethik vorgelegt hat, um ihren
							dort konzeptionell veranlagten illusionären Charakter
							abzulegen. Darauf allerdings wartet der Leser vergeblich. 
							Nehmen wir
							also Hartmut Traubs Hinweis auf die von Steiner angeblich
							übersehenen Vernunftgründe Spinozas ernst, so müssten
							wir bei der Genese und der faktischen Umsetzung
							dieser Vernunftgründe Spinozas fündig werden und einen
							entscheidenden empirischen Fingerzeig auf die
							Freiheitsrelevanz von Vernunftgründen entdecken. Was aber
							finden wir dort vor? - Die wachbewussten Entscheidungen und
							Beschlüsse kommen nicht anders zustande als geträumte oder
							phantastische. Es existiert nur eine Gattung von
							Beschlüssen und der gehören sowohl wache wie geträumte
							gleichermassen an. Die mögliche Existenz einer weiteren
							"Gattung" von Beschlüssen wird mit dem
							Prädikat "Unsinn" abgelehnt. Also haben die aus
							Vernunftgründen gefassten Beschlüsse qualitativ und
							freiheitsphilosophisch keinen anderen Status als die
							geträumten. Sie kommen entsprechend mit derselben
							Notwendigkeit zustande wie auch Traumbeschlüsse zustande
							kommen. Und daraus folgt: "Wer also glaubt, daß er aus
							freiem Beschlusse des Geistes spreche oder schweige, oder
							sonst etwas tue, träumt mit offenen Augen." Das ist
							gedanklich zwar konsequent, aber vollkommen abwegig und
							meilenweit entfernt von jeder Realität. Man fragt sich, wie
							Spinoza die Freiheit des Ich im vernunftgeleiteten
							Handeln ansiedeln will, wenn er beides schon im Erkennen oder
							bei der Beschlussbildung nicht findet? Wie könnte er im Teil
							V der Ethik noch stringent darauf verfallen, wenn er sich
							empirisch im Teil III schon so gründlich darin widerlegt? 
							 
							* 
							Um es
							sinngemäss mit den Gedanken des Steiner von 1899 zu fassen:
							Erst projiziert der Mensch - Spinoza - ganz logisch auf der
							Basis seiner Definitionen ein allbeherrschendes Gotteswesen in
							die Welt hinaus, um sich hernach von diesem hinausprojizierten
							Gott durchgängig bestimmt zu denken. Nur übersieht er dabei,
							dass es ja nur die Produkte seiner eigenen Subjektivität
							waren, die er da zuallererst in seine Definitionen hineinlegt
							hat, von denen er sich jetzt, seiner Logik folgend, beherrscht
							glaubt. Er versetzt ein allmächtiges Wesen in die Welt,
							während er gleichzeitig sein Ich als Produzenten dieser
							Gedankenbildung vergisst und verliert. (Siehe Rudolf Steiner,
							Der Individualismus in der Philosophie, in: GA 30,
							Dornach 1989, S. 99-152. Zu Spinoza siehe dort S. 127 f.
							Erläuternd dazu siehe ebd, S. 148 ff.) 
							 
							Von dieser
							Einsicht, dass die Eigenschaften Gottes wie Vollkommenheit,
							Wesensnotwendigkeit etc, aus denen Spinoza mit dem Anspruch
							auf Notwendigkeit wiederum seine Handlungsmaximen zwecks
							Beherrschung der Affekte mehr oder weniger herleitet,
							ursprünglich sein eigenes gedankliches Erzeugnis sind,
							ist die Ethik Spinozas in der Tat nicht nur weit
							entfernt, sondern völlig frei. Oder wie Steiner in dem
							erwähnten Aufsatz (S.127) sagt: "Daß der Mensch das
							Bild, unter dem er sich diese Notwendigkeit
							[Wesensnotwendigkeit Gottes, MM] vorstellt, seinem eigenen
							Inhalte entnimmt, davon hat Spinoza kein Bewusstsein."
							In der Tat: Schon die Behauptung über Gottes Vollkommenheit
							ist in den Augen Spinozas eine regelrechte geistige
							Zwangshandlung, die auf dem Wege einer geistigen
							Nötigung durch Gott zustande kommt. Denn, so Spinoza, seine
							Aussagen über Gottes Vollkommenheit seien nur deswegen
							erfolgt, weil Gottes Vollkommenheit selbst ihn dazu
							"gezwungen" habe, diese Vollkommenheit zu
							behaupten. (Siehe Ethik, Teil I., Von Gott;
							Anmerkung 2 zu Lehrsatz 33) Gott ist der eigentliche Urheber
							dieser Überzeugung - nicht der Philosoph Spinoza. Denn der
							folgt lediglich Gottes Machtspruch, respektive göttlicher
							Notwendigkeit. Man könnte das bezeichnen als eine Erklärung
							im Lichte der eigenen (deterministischen) Überzeugung.
							Aber nicht im Lichte der empirischen Ereignisse, die bei der
							Bildung dieser Überzeugung tasächlich vorgegangen sind.
							Denn schon die im allgemeinen doch sorgfältig abwägende und
							kritische Gedankenführung Spinozas, die seiner Ethik
							zugrunde liegt, und worauf sie aufbaut, belegt nachprüfbar
							das völlige Gegenteil dessen, was er soeben behauptet hat:
							Sie belegt die Nicht-Existenz göttlicher Erkenntniszwänge
							und eines Determinismus, so wie er ihn versteht.
							Ironischerweise, möchte man sagen, gründet sich seine
							Ethik auf etwas, was er darin unter erstaunlicher
							Investition gedanklicher Arbeit theoretisch so gut wie
							abgeschafft hätte, falls man seine Behauptung ernst nähme -
							die menschliche Gedankenfreiheit. 
							Wenn man
							Steiner in diesem Kontext recht versteht, dann sieht er einen
							engeren Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des
							naturwissenschaftlichen Denkens mit seinem
							Kausalitätsprinzip und Spinozas nicht mehr christlichem
							Gottesverständnis, das letztlich von diesem
							naturwissenschaftlichen Kausalitätsdenken inspiriert
							ist, und ein Analogon zur Naturkausalität in Form von
							göttlicher Notwendigkeit geschaffen hat. Im Prinzip, so
							könnte man Steiners Gedanken erläutern, ist dieses Bild der
							göttlichen Notwendigkeiten mehr oder weniger dem damaligen
							naturwissenschaftlich-philosophischen Zeitgeist
							geschuldet. Doch warum sollte in einem vollkommenen Wesen
							(Gott) zugleich die Notwendigkeit vorliegen, seine
							gesamte Schöpfung bis ins Kleinste nach dem Vorbild der
							materiellen Welt oder nach Art logischer Zusammenhänge - wenn
							man will: logisch-mechanistisch, nach dem Vorbild von etwas
							Totem - auch zu determinieren? Ist ein umfassender
							Determinismus wirklich ein notwendiger Ausdruck von
							Vollkommenheit, zu dem es keine Alternativen gibt? Was
							logisch oder aus dem Zeitalter heraus scheinbar einleuchtet
							braucht faktisch längst nicht so sein. Was sich der Philosoph
							also unter der Vollkommenheit Gottes jeweils vorstellt, -
							und das gilt verständlicherweise nicht nur für Spinoza
							-, ist in vielerlei Richtung hin durchaus offen und
							entscheidungskontingent, weil historisch bedingt und insofern
							von eher zufälligen Faktoren. Er muss auf jeden Fall den
							Inhalt für diese gedanklich erschlossene Vollkommenheit aus
							sich selbst holen - und an dieser Stelle wird das Verfahren
							einigermassen windig und anfechtbar. Denn dieser Inhalt ist
							gebunden an die Grenzen und an den Horizont seiner
							menschlich beschränkten philosophischen Phantasie. Und die
							muss mit der Realität nicht unbedingt übereinstimmen.
							Steiner speziell dazu an ganz anderer Stelle: "Als man
							anfing, nach Gottesbeweisen zu suchen, war dieses Suchen
							selbst schon ein Beweis dafür, daß man den lebendigen
							Zusammenhang mit der göttlichen Welt verloren hatte. Deshalb
							kann auch kein intellektualistischer Gottesbeweis in einer
							befriedigenden Weise geführt werden." (Rudolf
							Steiner, Drei Schritte der Anthroposophie: Philosophie,
							Kosmologie, Religion. Zehn Auto-Referate zum Französischen
							Kurs am Goetheanum Dornach, 6. bis 15. September 1922, GA 25,
							Dornach, 1999, IV. Erkenntnis- und Willensübungen S. 37)
							Und Gideon Spicker zum selben Thema aus
							religonsphilosophischer Sicht: "Von einem
							willkürlich entworfenen Begriff - Idee der Vollkommenheit -
							kommt man durch bloßes Schlußverfahren nicht zu der ihm
							korrespondierenden Realität. Es ist und bleibt nur eine
							gedachte Vollkommenheit." (Gideon Spicker, Am
							Wendepunkt der christlichen Weltperiode, Stuttgart 1910,
							Nachdruck des Georg Olms Verlages, Hildesheim 1998, S. 38.
							Sowohl der ontologische Gottesbeweis, der von einer
							erschlossenen unendlichen Vollkommenheit Gottes ausgeht, als
							auch der kosmologische Gottesbeweis, der folgernd
							auf eine unbedingte Ursache alles Gewordenen führt, liefert
							nach Spicker keine Erfahrunsgegebenheit, sondern bleibt ein
							inhaltlich unbestimmtes logisches Konstrukt. Die
							eigentliche Beschaffenheit dieses erschlossenen Gottes
							bleibt in beiden Fällen völlig im Dunkeln. Und liefert
							damit, so möchte man ihn ergänzen, nahezu beliebigen Raum
							für philosophische Phantasieproduktionen. Siehe Spicker
							a.a.O., S. 27) 
							 
							Ebensogut
							vorstellbar wäre nun beispielsweise, dass dieser vollkommene
							Gott gleichsam Ebenbilder seiner selbst in die Welt entlässt,
							die seine Schöpfung auf unterschiedlichen Stufen fortführen,
							ohne dass sie seinen permanenten deterministischen Zwängen
							unterliegen. Das wäre eine Vollkommenheit mit dem immanenten
							Impuls zur fortlaufenden Schöpfung in Freiheit. Im
							christlichen Bild von den Gotteskindern kommt dies ja auf eine
							gewisse naive Weise auch zum Ausdruck. Er hätte damit seine
							Substantialität weitergeschenkt und die eigene Vollkommenheit
							gleichsam vervielfacht, indem er sie auf andere Wesen
							überträgt, die zwar in ihm wurzeln, aber nicht durchgängig
							von ihm beherrscht werden. Nur - dieser Gedanke ist der
							zeitgenössischen Kausalitätsphilosophie Spinozas eben noch
							reichlich fremd und weniger naheliegend. Der Kausalgedanke ist
							philosophisch zu seiner Zeit stark präsent und ein
							vergleichbar beeindruckender Begriff des Lebendigen noch
							nicht in Sicht. Eine spätere Philosophie des Organischen
							und Lebendigen würde neue Perspektiven eröffnen und
							sich ihren Gott vermutlich eher nach dem Idealbild einer
							göttlichen Evolution und organischen Werdens, - das ist
							im Sinne eines lebendigen, beweglichen Organismus -, und nicht
							nach dem einseitigen Muster eines lieblosen und zwanghaften
							Mechanismus der toten Materie oder einer starren Logik formen.
							Das wird im Zeitalter Kants ja auch beginnen der Fall zu
							sein, und beispielsweise bei Johann Gottlieb Fichte wird der
							Begriff Gottes sehr eng mit dem Begriff des Lebendigen und der
							Liebe verknüpft. (Siehe Fichtes Die Anweisung zum
							seligen Leben
							[http://www.zeno.org/Philosophie/M/Fichte,+Johann+Gottlieb/Die+Anweisung+zum+seligen+Leben])
														 
							Die
							Vernachlässigung des Ich bei Spinoza mag weiter auch, wie
							oben schon angedeutet, damit zu tun haben, dass Spinoza der
							Frage nicht ausführlicher nachgeht, wie eigentlich
							das Ich des Menschen im Erkennen handelt und entsprechend zu
							einer Erkenntnis des Erkennens gelangt. Bzw weil er glaubt im
							erkennenden Rückgriff auf Gott sei die Erkenntnis der
							Erkenntnis eine sich von selbst verstehende Beigabe. (Siehe
							dazu etwa dessen Ethik, Teil II, Lehrsatz 43; siehe auch
							Teil III, Lehrsatz 58) Bei Spinoza tritt das Verstehen
							infolgedessen auf als eine passive Funktion,
							das heisst: als ein blosses Leiden: "Denn wir haben
							gesagt, daß das Verstehen ein blosses Leiden ist, d. h. ein
							Gewahrwerden der Essenz und Existenz der Dinge in der Seele,
							so daß wir es also niemals sind, die etwas von dem Ding
							bejahen oder verneinen, sondern das Ding selbst ist es, das
							etwas von sich aus in uns bejaht oder verneint."
							(Spinoza, kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und
							dessen Glück, in der Ausgabe des Felix Meiner Verlages,
							Hamburg 1991, S. 88 f. 16. Kapitel § 5) Im Kontrast dazu
							Steiner, der nicht nur am vollkommenen Gegenpol, nicht von
							einem logisch als erstem und absolut gesetztem Gott seinen
							Ausgang nimmt, sondern an der empirischen Erkenntnis des
							Erkennens, die der Methode nach durchaus empirisch
							psychologische Züge hat. Beziehungsweise, wenn wir
							systematische Kollisionen der Erkenntnistheorie mit der
							Psychologie vermeiden wollen, wäre es angemessener zu sagen,
							sie habe bewusstseinsphänomenologische Züge. Und zwar im
							Sinne jenes zeitgenössischen Erkenntnistheoretikers
							Johannes Volkelt, auf den Steiner in seinen
							Frühschriften so ausführlich zurückgreift. (Zur
							bewusstseinsphänomenologischen Erkenntnistheorie
							Volkelts, auf die Steiner vor allem in den Frühschriften
							Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen
							Weltanschauung sowie Wahrheit und Wissenschaft -
							siehe die Einleitung zu Wahrheit und Wissenschaft
							- ganz ausdrücklich rekurriert vergleiche Johannes
							Volkelt, Erfahrung und Denken, Hamburg und Leipzig 1886.
							Dort vor allem die Abschnitte 1. und 2. ; S. 1 - 132 . Zum
							Verhältnis von Erkenntnistheorie zur Psychologie dort etwa S.
							43 f; S. 46 f. [ Im Internet frei erreichbar unter
							http://ia600600.us.archive.org/18/items/ErfahrungUndDenken/Johannes_Volkelt_Erfahrung_und_Denken.pdf])
														 
							Für Steiner
							kann schon die Realisierung der Idee des Erkennens, bzw das
							Erkennen als individueller Prozess des denkerischen Handelns
							weder von aussen, noch von innen aufgenötigt werden, sondern
							nur auf einen freien Entschluss des erkennenden Wesens selbst
							hin erfolgen. Ohne meinen persönlichen Entschluss zum
							Erkennen geschieht hier - und zwar jederzeit überprüfbar
							- nichts. Auch keine Erkenntnis Gottes. Spinozas wenn man so
							will: ideelle Wahrnehmung (Gewahrwerden der Essenz)
							findet sich auch bei Steiner. Aber sie wird bei ihm als
							ein durchgängig aktives Geschehen - besser vielleicht: als
							tätige Rezeption des Ideellen - eben als Resultat
							eines gewollten Denkens und nicht als ein passives
							Leiden gekennzeichnet. Auch dieses ist jederzeit einer
							Verifikation anhand der Erfahrung zugänglich. Und damit
							ist es bei Steiner noch nicht getan. Denn die Wahrnehmung
							des Ideellen bzw der Essenz allein ist in seinen Augen
							noch keine Erkenntnis, sondern lediglich dessen Voraussetzung
							auf der ideellen Seite. Das Bejahen oder Verneinen
							einer ideellen Wahrnehmung ist Sache des Urteilens und
							Prüfens, und damit vollständig als Vorgang in die Hand des
							erkennenden Menschen gelegt. Wer nicht urteilen will hat
							allenfalls fixe Ideen und nicht Erkenntnis oder Verständnis.
							Das gilt natürlich auch für Wahrnehmungen nicht-ideller
							Art. Das Ding, das sich im Sinne Spinozas aussprechen
							will, wird dies nur können, sofern der Mensch sich aktiv
							darauf einlässt. Der fehlende Hinweis Spinozas auf die
							Aktivität des Denkens und Erkennens kontrastiert übrigens
							ganz eigentümlich mit dem, was Steiner in der
							Philosophie der Freiheit dazu ausführt, weil
							dieser so eindringlich fortwährend diese Aktivität betont.
							Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als habe Spinoza für
							diese individuelle Aktivität im Denken gar keine
							Wahrnehmung. So, wie er offensichtlich auch keine
							Wahrnehmung für die Einflussnahme auf das
							Erinnerungsgeschehen (s. o.) hat. Ob dies durchgängig
							bei ihm der Fall ist, wäre eine detailliertere Untersuchung
							wert. Es würde bewusstseinsphänomenologisch zumindest
							einige seiner theoretischen Positionen erklären. 
							 
							Offensichtlich
							geht es Steiner doch um den Begriff der Notwendigkeit,
							und darum, ob eine aus einsehbaren Gründen erfolgte Handlung
							sich mit derselben Notwendigkeit vollzieht, wie die
							mechanische Bewegung eines Steines. Deswegen zum Schluss der
							Passage sein abschliessender Gedankengang: "Und ein
							tiefgreifender Unterschied ist es doch, ob ich weiß, warum
							ich etwas tue, oder ob das nicht der Fall ist. Zunächst
							scheint das eine ganz selbstverständliche Wahrheit zu sein.
							Und doch wird von den Gegnern der Freiheit nie danach gefragt,
							ob denn ein Beweggrund meines Handelns, den ich erkenne
							und durchschaue, für mich in gleichem Sinne einen Zwang
							bedeutet, wie der organische Prozeß, der das Kind veranlaßt,
							nach Milch zu schreien." Das aber lässt sich Spinoza
							doch mit guten Gründen vorhalten, nämlich diesen Unterschied
							gar nicht recht zu erfassen, sonst könnte er nicht (s.o.) zu
							der Definition kommen, die Sache sei frei, "die aus
							der blossen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt."
							(Dass diese Verknüpfung von Notwendigkeit und Freiheit wie
							eben schon angedeutet bei Spinoza in direkter Verbindung steht
							zu Spinozas Gottesbegriff, sei hier nur der
							Vollständigkeit halber noch einmal erwähnt, kann aber an
							dieser Stelle nicht ausführlicher dargestellt werden.
							Siehe dazu etwa den oben genannten Überblicksartikel zu
							Spinoza.) Man sehe sich seine empirischen Belege oben nur an,
							um einen Eindruck davon zu bekommen, was das für Spinoza
							konkret heisst. Natürlich spricht er auch von den einsehbaren
							Gründen unseres Handelns. Aber das ist sozusagen nur der
							halbe Aspekt seiner Freiheitsphilosophie, und auch nicht der
							zentrale Punkt von Steiners Kritik. Denn Steiner geht es nicht
							nur darum, ob wir überhaupt auch aus Vernunftgründen zu
							handeln vermögen, und diese Vernunftgründe unseres
							Handelns kennen. Sondern darum, ob einsehbare Vernunftgründe
							unseres Handelns einen ähnlich determinierenden Zwang auf uns
							ausüben wie andere, uns unbewusste Ursachen des Handelns.
							Deswegen seine zentrale Frage nach dem Ursprung und der
							Bedeutung des Denkens. Denn genau das von Steiner Bemängelte
							wird von Spinoza in einen Topf geworfen. Alles - das (geistige
							und physische) Handeln aus einsehbaren Gründen und das
							Handeln aus dunklen organischen Bedürfnissen geschieht
							letztlich mit Notwendigkeit. Denn Traumbeschlüsse und wache
							kommen nach derselben Notwendigkeit zustande. Genetisch
							und qualitativ unterscheidet sich daher ein Vernunftgrund
							nicht von einem geträumten und ein Vernunftbeschluss nicht
							von einem Traumbeschluss. Ich handle in allen Fällen, ob ich
							die Gründe meines Handelns kenne oder nicht, weil ich so
							handeln muss und gar nicht anders kann. Das eine Mal
							aus Vernunftgründen und das andere Mal aus unbewussten
							organischen. Auf diesen entscheidenden Punkt, - ob ein aus
							Vernunftgründen vollzogenes Handeln vergleichbar ebenso aus
							Notwendigkeit geschieht wie ein Handeln aus unbewussten
							organischen Ursachen -, so meine ich, zielt
							berechtigterweise Steiners Kritik an Spinoza. 
							 
							Dabei haben
							wir hier den kaum weniger entscheidenden Aspekt, dass laut
							Spinozas Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik einschliesslich
							Anmerkungen das Denken ohnehin nicht in der Lage ist
							(motorische) Handlungen zu steuern, noch nicht einmal in die
							Bilanz aufgenommen. Tun muss man das freilich, denn die
							motorischen Bewegungen vollziehen sich dort ja tatsächlich
							frei vom Einfluss der individuellen Vernunft so notwendig wie
							die Bewegung eines Steines. Siehe Lehrsatz 2 im Teil
							III der Ethik: "Der Körper kann den Geist nicht
							zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu
							Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn es noch
							etwas anderes gibt.)" So gesehen ist die Frage nach einer
							durch individuelle Vernunft oder Vernunftgründe geleiteten
							körperlichen Handlung augenfällig überflüssig, da sie laut
							Lehrsatz 2, - ganz physikalistisch gedacht -,
							grundsätzlich nicht stattfinden kann. Denn menschliche
							Willensakte, so Spinoza auch an anderer Stelle, können nur
							einen äusseren verursachenden Anlass haben, von dem sie
							notwendig bewirkt worden sind. Denn es sei so, : "
							... daß dieser oder jener Willensakt des Menschen [...]
							auch eine äußere Ursache haben muß, von der er notwendig
							verursacht wird, ..." (Spinoza, Kurze Abhandlung von
							Gott, dem Menschen und dessen Glück, Meiner Ausgabe
							Hamburg 1991, Kapitel sechs, § 5, S. 45 f. Siehe ebd auch
							Kapitel sechzehn, Vom Willen, S. 86 ff.) Alles in allem
							tut man sich schwer mit der Vorstellung, dass ein geistiges
							Multi - Mängel - Wesen, das zu keiner einzigen Erinnerung
							willkürlichen Zugang hat, seine Vernunftbeschlüsse wie
							Traumbeschlüsse fasst, und von der Vernunft her keine
							körperlichen Bewegungen zu steuern vermag, dass dieses Wesen
							mit der Macht des Verstandes ausgestattet und zu irgend
							einer nennenswerten Form von Handlungsfreiheit fähig sein
							soll. Und damit dürfte auf jeden Fall die von Hartmut Traub
							angestossene Frage, welche Konsequenz eigentlich bei
							Spinoza das Wissen um die Gründe des eigenen Handelns
							hat, beantwortet sein: In körperlicher Hinsicht gar keine! Ob
							ich meine Handlungsgründe kenne oder nicht - für den
							Mechanismus meiner leiblichen Abläufe hat das keinerlei
							Bedeutung. Der ist ohnehin vom Denken her nicht zu erreichen
							und folgt vollständig seiner eigenen Betriebsamkeit. 
							Angesichts
							dieser Umstände kann man sich unter mehr menschenkundlichen
							Gesichtspunkten, und ohne seine zugrunde liegenden
							philosophisch-theologischen Basisannahmen weiter zu
							thematisieren, die Frage stellen, was Spinoza eigentlich dazu
							veranlasst, im Teil V der Ethik von der Macht
							des Verstandes zu sprechen. Worauf gründet sich diese
							Macht? Worin besteht sie? Und wie wird sie konkret ausgeübt?
							Nun sagt Spinoza im Lehrsatz 3. im Teil V. der
							Ethik (wohlgemerkt: dort geht es um die Macht des
							Verstandes): "Ein Affekt, der eine Leidenschaft
							ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir von ihm
							eine klare und deutliche Idee bilden." Das ist eine
							durchaus empirisch zugängliche Behauptung. Oder besser
							vielleicht: eine empirisch prüfbare Prognose. Wissen ist
							Macht! - so könnte man sein freiheitsphilosophisches Credo
							hier etwas verkürzend in einem geflügelten Wort
							zusammenfassen. Aufklärung befreit! Ihr Erkennen führt
							per se dazu, dass unerwünschte Affekte und Leidenschaften
							ihren Einfluss auf den Menschen verlieren. Dann wäre das
							vielleicht ein wünschenswertes Resultat von Vernunftgründen.
							Wenn es schon bei den leiblichen Handlungen damit nicht
							klappt, und sie zu nichts führen, dann aber doch vielleicht
							im Bereich des Seelenlebens. Wenigstens im Umfeld von Affekten
							und Leidenschaften könnte man ihnen eine unmittelbare
							Wirksamkeit zutrauen. 
							Eine erste
							Frage dazu, ganz pragmatisch genommen: Trifft das zu?
							Verschwinden Affekte und unerwünschte Emotionen, nur
							weil ich von ihnen deutlich weiss? Vielleicht auch weiss, dass
							es nicht unbedingt förderlich ist, ihnen freien Lauf zu
							lassen? Der Leser wird mit mir vermutlich seufzend
							einwenden: Schön wär`s! - Und Spinoza selbst scheint wohl
							auch nicht recht an die Durchschlagskraft seines Konzeptes zu
							glauben, wenn er in den ausführlichen Anmerkungen zum
							Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik beklagt, dass
							wir so oft "das Bessere sehen und dem Schlechteren
							folgen". (Die selbe Klage erhebt er übrigens auch in dem
							von Steiner in der Philosophie der Freiheit zitierten
							Brief.) Da scheint doch an dem ganzen Konzept: Aus Wissen
							folgt Macht etwas nicht zu stimmen! Augenscheinlich
							ist dieser Gedankengang zu kurz gegriffen, wenn er sich
							empirisch nicht bewährt. Es wird vermutlich etwas sehr
							Wichtiges übersehen worden sein. Aus dem Wissen allein
							folgt eben keineswegs ohne weiteres Macht. Menschenkundlich
							wäre es naiv anzunehmen, dass lediglich aus dem Wissen
							allein schon eine Befreiung von Affekten und Leidenschaften,
							Herrschaft gar über dieselben erfolgt. Blosses Wissen ohne
							den Willen und die Möglichkeit zur Anwendung
							führt ersichtlich zu nichts. Dieser philosophische Traum,
							dass eine rein intellektuelle Wissenskultur und
							Aufklärung den Menschen gewissermassen automatisch zu einer
							autonomen und von Affekten und unerwünschten Emotionen
							unbelasteten Persönlichkeit macht, der dürfte wohl
							längst ausgeträumt und von der Realität widerlegt sein. Das
							Wissen selbst ist allenfalls eine Voraussetzung dazu, in
							seiner willentlichen Anwendung so etwas wie Macht zu
							entfalten. Und das gilt auch und vor allem für den von
							Spinoza hier angesprochenen Bereich der Affekte und
							Leidenschaften. Blosses Wissen ohne den entschiedenen Willen
							und die geeignete Grundlage es umzusetzen ist eben noch
							keine Macht. Es bleibt zunächst ein impotentes
							intellektuelles Vermögen, so lange sich nicht eine
							entsprechend methodisch darauf abgestimmte Willenskultur daran
							anschliesst; in Form einer gezielten, willentlichen
							seelischen Auseinandersetzung an und mit dem erkannten
							Gegenstand - sprich: den unerwünschten Emotionen, Affekten
							und Leidenschaften. Das aber setzt ganz andere psychologische
							Grundannahmen und eine andere pragmatische Vorgehensweise
							voraus, als sie Spinoza in seiner Ethik vorlegt bzw
							vorschlägt, und wäre in dem dort vorgegebenen Rahmen
							unmöglich zu entwickeln. Schon aus theoretischen Gründen
							nicht. 
							Eine Frage,
							die sich daran anschliesst, ist: Wie verträgt sich dieser von
							uns geforderte willenshafte und gedankengesteuerte Einfluss
							aber mit Spinozas Theorie der (unmöglichen)
							Geist-Körper-Interaktion und der Bewusstseinsvorgänge und
							Entscheidungsbildung aus dem Teil III der Ethik?
							(Siehe oben) Noch im langen Vorwort zum Teil V. der
							Ethik setzt sich Spinoza etwas eingehender mit
							Descartes auseinander. Und gegen Ende dieser Besprechung sagt
							er: " ... weil es kein gemeinsames Mass zwischen dem
							Willen und der Bewegung gibt, gibt es auch kein Vergleichen
							zwischen der Macht oder den Kräften des Geistes und denen des
							Körpers; und folglich können die Kräfte des einen von denen
							des anderen überhaupt nicht bestimmt werden." (Man
							beachte neuerlich, es geht hier um um die Macht des
							Verstandes) Anders gesagt: Der menschliche Geist hat laut
							Spinoza auf den Körper und seine Handlungen keinerlei
							willentlichen Einfluss. Das kennen wir bereits. Es
							entspricht exakt dem oben schon erläuterten Lehrsatz 2
							im Teil III. der Ethik, der da lautet: "Der
							Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen, und der
							Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend
							etwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt)." Das
							heisst, eine willentliche Interaktion zwischen Denken
							(Vernunftgründen) und Körper - und das ist ja die
							Voraussetzung jedes vom Denken her initiierten Handelns -
							wird von ihm kategorisch ausgeschlossen. Und das bleibt
							wie gezeigt auch im Teil V. der Ethik so, wo er
							das eigens im Vorwort wiederholt. Wie verträgt sich das mit
							der angeblichen Macht des Verstandes, von welcher dieser Teil
							V. der Ethik ausdrücklich handelt? Die geforderte
							Grundlage (Interaktionsmöglichkeit zwischen Denken und
							Körper) Vernunfteinsichten in körperlich vollzogene
							Handlungen einfliessen zu lassen, ist per definitionem nicht
							vorhanden. Um es also noch einmal zu wiederholen: Nach vom
							Ich autonom und willentlich gefassten reinen Begriffen
							oder Gedanken (moralischen Intuitionen), wie bei Steiner,
							kann sich der Körper bzw. die Handlung laut Spinoza
							nicht richten! 
							 
							Und wie sieht
							das bei Entscheidungen, Beschlüssen, Affekten und
							Leidenschaften aus? Nun, die Entscheidungen und
							Beschlüsse - wie oben ebenfalls dargelegt - überkommen
							den Mensch mittels eines unbeeinflussbaren
							Erinnerungsautomatismus und ähnlichem. So dass die Frage
							schon sehr virulent ist, wie er unter diesen Verhältnissen
							zumindest eine Beherrschung von Affekten und Leidenschaften
							noch plausibel begründen und glaubhaft machen will, wenn
							er schon die denkerische Einflussnahme auf körperliche
							Aktionen ausschliesst. Das Eigentümliche bei Spinoza ist
							wie schon angedeutet: Vom Willen her hat der Mensch auch im
							Bewusstseinsraum keinerlei wirkliche Kontrolle und
							Einflussnahme, sondern die Dinge passieren wie sie eben
							passieren. Das heisst: eine gezielte Interaktionsmöglichkeit
							zwischen dem Denken (Vernunftgründen) und dem restlichen
							Seelenleben scheint ja auch nicht vorhanden zu sein. Er
							beschreibt sie in seinen empirischen Beispielen fast nur aus
							dem Blickwinkel der Ohnmacht heraus. Und zwar - und das
							ist interessant zu sehen - nicht nur philosophisch-theoretisch
							(deterministisch), sondern auch der
							Bewusstseinsphänomenologie, also der Erlebnislage nach. Es
							gibt keine positiven empirischen Beispiele, nicht einmal die
							simpelsten, von willentlicher Affektkontrolle,
							Emotionssteuerung und Beherrschung und sonstiger aktiver
							Einwirkung auf die Phänomene des Bewusstseins. - 
							 
							Um ein
							illustrierendes Beispiel davon zu geben, was damit gemeint
							ist: Ich fühle mich von jemandem infolge einer witzigen
							Bemerkung über mein Aussehen leicht gekränkt, unterdrücke
							dieses Gefühl aber bewusst und erfolgreich, mit der Folge,
							dass ich den Kränkenden freundschaftlich und unverkrampft
							umarme, und herzlich mitlache, ohne die Kränkung
							zurückzugeben. Ohne meinen aktiven Umgang mit der negativen
							Emotion hätte ich vielleicht reflexhaft selber damit
							begonnen, auszuteilen. So aber ist die Emotion wirklich weg,
							und das Ganze nimmt einen anderen Verlauf als ohne mein
							Eingreifen. Anzumerken ist: Mit dem Denken und der Einsicht
							allein ist es im vorliegenden Fall nicht getan. Das kann der
							Leser ja selbst einmal prüfen. Qualitativ ist dies etwas sehr
							anderes, als sich nur einen deutlichen Begriff von einer
							unerwünschten Emotion zu machen. Letzteres ist zwar
							notwendig, aber nicht hinreichend. Sondern man muss wirklich
							der Emotion aktiv etwas entgegensetzen und ihr die Wirksamkeit
							nehmen. Sonst kommt nämlich keine unverkrampfte und
							authentische Handlung dabei heraus, sondern eine
							geschauspielerte, die man in ihrer Verspanntheit und
							Gespreiztheit leicht durchschaut. Das wirkt dann etwas
							verlogen. Die Emotion der Kränkung ist dann immer noch
							lebendig und wird nur hinter einer umgänglichen Fassade
							unsichtbar gemacht. Dass dies nicht von jetzt auf gleich
							zu erreichen ist, dürfte einleuchten. Sondern es verlangt
							längere Übung und innere Auseinandersetzung. Das meinte
							ich in dem Hinweis auf die Willenskultur oben. 
							Oder ein
							anderes Beispiel - ein sehr häufiger Fall der uns geläufigen
							aktiven Suche nach Erinnerungen: Mir ist entfallen, wo in
							einem Buch ein bestimmtes Zitat steht. Also gehe ich seinen
							Inhalt noch einmal strategisch im Geiste durch, und
							versuche gedanklich den Kontext einzukreisen, wo ich es
							wiederfinden könnte. Bis ich es schliesslich entdeckt habe.
							Das lässt sich mnemotechnisch bekanntlich vielfältig
							verfeinern und einüben. Die spontane Erinnerung war zum
							Auffinden nicht in der Lage, und ohne meinen aktiven Einsatz
							wäre das Zitat erst einmal verloren gewesen. - 
							 
							Das sind alles
							keine extravaganten Beispiele von innerer Aktivität, sondern
							so etwas widerfährt uns tausendfältig tagtäglich. Doch
							nichts davon ist bei Spinoza vorhanden. Scheint nicht zu
							existieren. Er betont ausdrücklich in den Anmerkungen
							zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik, dass
							wir auf Erinnern und Vergessen keinen Einfluss haben: "Denn
							es gibt noch etwas anderes, auf das ich hier besonders
							aufmerksam machen möchte," so hebt er hervor, "dass
							wir nämlich aus einer Entscheidung des Geistes gar nichts
							verrichten können, es sei denn, wir erinnern uns daran. So
							können wir ein Wort, dessen wir uns nicht erinnern,
							nicht aussprechen. Und es steht nicht in der freien Gewalt des
							Geistes, sich eines Dinges zu erinnern oder es zu
							vergessen." So heisst es in der Ethik, (Meiner
							Ausgabe, a.a.O, Hamburg 2010, S. 235) Und es folgt auch gleich
							die weitere Konsequenz daraus: "Daher glaubt man
							nur, es stehe in der Gewalt des Geistes, über eine
							Sache, deren wir uns erinnern, aus blosser Entscheidung des
							Geistes schweigen oder reden zu können." Man möchte
							fast bedauern, dass es damals anscheinend noch keine
							Kreuzworträtsel gab. Von Spinoza ist das an der Stelle
							zunächst einmal (die Unfähigkeit aktiv zu erinnern und zu
							vergessen) bewusstseinsphänomenologisch und nicht
							theoretisch-deterministisch zu nehmen. Es ist offenbar doch
							ein Erfahrungsbeleg - hoffentlich. Sollte es nicht so
							sein, dann umso schlimmer. Die philosophische Konsequenz
							daraus im Nachfolgesatz ist allerdings und auf jeden Fall
							reine Theorie und Schlussfolgerung aus dieser vermeintlichen
							Tatsache: Weil wir auf das Erinnern und Vergessen keinen
							aktiven Einfluss (keine freie Gewalt) haben, deswegen können
							wir uns auch nicht aktiv und frei dazu entscheiden, über das
							Erinnerte zu reden oder zu schweigen. - Auch hier möchte ich
							den Leser auffordern, beides einmal an sich selbst zu
							kontrollieren, ob das so zutrifft. Spinoza scheint diesen
							Zusammenhang ja für sehr wichtig zu halten, deswegen sein
							betonter Hinweis darauf. Sie folgen also seiner
							ausdrücklichen Empfehlung, das einmal zu prüfen. Und
							glauben Sie nicht, dass Sie dazu nicht imstande sind. - Sie
							können es! Anschliessend können Sie lange darüber
							meditieren, warum philosophische Fehlurteile von grosser
							Tragweite manchmal an furchtbar banalen Dingen hängen. Und
							wie es möglich ist, dass jemand für sich in Anspruch nimmt
							das Wesen Gottes zu erkennen, aber bei ziemlich simplen Dingen
							des alltäglichen Lebens, die letztlich doch die Basis von all
							dem sind, einigermassen krauses Zeug erfolgert? 
							 
							Die Frage nach
							unsererm Vermögen zum aktiven Erinnern und Vergessen
							können wir mit einem klaren "Jein" beantworten. Wir
							besitzen es, und auch nicht - es kommt darauf an. Auf den
							Einzelfall und auf vieles andere. Erinnern und Vergessen
							sind keine absoluten und starren Grössen, die wir entweder
							beherrschen oder nicht. Sondern es sind dynamische und
							wandelbare Eigenschaften, die vom völligen (temporären)
							Unvermögen bis zu einer bedeutenden Seelenkraft reichen, und
							auf jeden Fall aber bildsam sind. Eine absolute Grenze
							lässt sich da nicht gut angeben. Wo sie jeweils liegt,
							das hängt nicht nur an der biologischen und sonstigen
							Ausstattung des Menschen, sondern auch an dem, was er daraus
							macht. Wir können unter unkontrollierten Zwangsideen und
							Ideenflucht leiden (der ungünstige Fall, den Spinoza
							anscheinend hier im Auge hat), aber auch Gedanken und
							Erinnerungen regelrecht löschen und fortschaffen, die
							wir momentan oder dauerhaft nicht haben wollen. Wir müssen
							sie nicht erleiden, sondern können sie bewusst herbeizitieren
							und aufsuchen - und sie auch wieder fortschicken. Beides
							ist möglich - unter gewissen Umständen, die durchaus
							variabel und beeinflussbar sind. Diese Grenzen zu erweitern
							und das Vermögen zu entwickeln ist uns als Fähigkeit an
							die Hand gegeben. Das ist kein esoterisches Geheimnis, sondern
							man darf das heute als selbstverständliches Allgemeinwissen
							und bekannt voraussetzen. Bücher und Journale sind voll
							von diesen Dingen. In unserer Gewalt also sind das Erinnern
							und Vergessen innerhalb gewisser und erstaunlich weit
							dehnbarer Grenzen schon. Ob das eine absolut freie Gewalt
							ist, das sei erst einmal dahingestellt. Nur: Wie will man
							herausbekommen, wo da die Möglichkeiten und Grenzen
							liegen, wenn man diese Dinge in ihrer empirischen
							Tatsächlichkeit gar nicht erst in Augenschein nimmt, und nur
							undifferenziert, eindimensional und philosophisch einäugig
							auf das hinstarrt, was der Mensch angeblich nicht kann,
							ohne sich eingehend mit dem zu beschäftigen was er
							kann? Was haben die Menschen davon, wenn sich so ein
							Philosoph hinstellt und ihnen aus seiner vorgeblichen
							Gotteserkenntnis heraus mit weitschweifender Logik erklärt,
							wie metaphysisch ohnmächtig sie sind? Während er die
							tatsächliche Macht, die sie tagtäglich erleben
							können, keines Blickes würdigt, darüber aber verwickelte
							Theorien ausheckt, die sich schon bei den einfachsten
							Dingen nicht bewähren? Und die Frage ist daher: Warum blickt
							Spinoza hier in diesen langen Anmerkungen nur auf das
							Unvermögen, wo er doch ebenso gut auf das Vermögen hätte
							hinsehen können? Ist das für den Philosophen alles ganz
							egal? War das zu seiner Zeit der Bewusstseinslage nach
							eben anders als heute bei uns? Oder nur bei ihm? War es
							vielleicht noch nicht in den Horizont der (wissenschaftlichen)
							Aufmerksamkeit geraten, so wie in unserer Zeit die
							sogenannte Umwelt plötzlich seit den 60er und 70er
							Jahren des vorigen Jahrhunderts im Horizont des Bewusstseins
							auftauchte, so, als hätte es sie vorher nie gegeben? Und bei
							manchen bis heute dort nicht angekommen ist. 
							 
							Spinoza führt
							in den erläuterten langen Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im
							Teil III der Ethik weitläufige Begründungen und
							empirische Belege dafür an, dass und warum das alles im
							Bewusstsein so eigendynamisch und unzugänglich sein
							soll. Und der Blick ist vorzugsweise auf einen Automatismus
							der Bewusstseinsvorgänge gerichtet - von den zombiehaften
							körperlichen Aktionen und Wunderleistungen, die er dort
							ebenfalls argumentativ bemüht, gar nicht erst zu reden.
							Man erinnere sich nur an seinen grandios-paradoxen Vergleich
							von geträumten und wachen Entscheidungen. Ein wirklich
							spektakulärer Fall, in dem das Ganze gipfelt, und insofern
							besonders herausfordernd und geeignet, sich darüber Gedanken
							zu machen! Heutzutage muss uns so etwas einfach grotesk
							erscheinen. Und die Frage ist schon angebracht: Warum bemerkt
							er angesichts seines philosophischen Scharfsinnes den
							gewaltigen Unterschied zwischen wachen und geträumten
							Entscheidungen nicht, sondern setzt sie gleich? Denn immerhin
							sind Entscheidungen und Beschlüsse Denkvorgänge! Träumt er
							beim Denken? - Steiners Frage nach dem Ursprung und der
							Bedeutung des Denkens bekommt angesichts solcher Verhältnisse
							noch einen ganz anderen Akzent, als man ihn gewöhnlich beim
							Studium seiner Grundschrift damit verbindet. - Und mit Blick
							auf Spinoza lässt sich weiter überlegen: Steht hinter
							seinem Unvermögen sachlich zu differenzieren bloss
							philosophische Betriebsblindheit, oder existiert dafür auch
							eine Erfahrungsbasis? Ist die ganze Ohnmacht einfach nur
							erdacht, weil sie so gut in sein Determinismuskonzept passt,
							und sind die empirischen Gegenbeispiele taktisch
							herausselektiert worden, um das philosophische Konzept nicht
							zu gefährden? Oder ist sie tatsächlich so oder ähnlich von
							ihm erlebt, und deswegen vielleicht sein Konzept des
							Determinismus von ihm erdacht worden? 
							Solche Fragen
							scheinen mir keine philosophischen Nebenschauplätze zu sein,
							die eher in eine philosophiegeschichtliche Psychologie
							gehören. Jedenfalls ist zu bemerken: Das zentrale
							Element der direkten willenshaften Einflussnahme eines
							gedankenklaren Ich auf Vorgänge des Bewusstseins
							(Denken, Erinnern, Emotionen etc) und auf Vorgänge des Leibes
							(besser: Handlungen), fällt bei Spinoza weitestgehend, - um
							nicht zu sagen: gänzlich - unter den Tisch. Was bleibt
							ist eine doch eher glaubensartige, und gar schon nach seinem
							eigenen Eingeständnis wenig realistische Überzeugung
							dahingehend, dass auf der Basis von Wissen die Leidenschaften
							quasi von selbst verschwinden. Während Steiner doch
							wesentlich auf dem Element der autonom willentlichen
							Aktivität aufbaut. Siehe etwa PdF, Kap III: ": ...
							es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem
							es sich vollzieht, vor dem "Ich" nicht restlos als
							seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint. Man
							muß sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit
							des Denkens erscheint dieses dem Beobachter als durch und
							durch gewollt." (GA-4, Dornach 1978, auch 1995, S. 55)
							Nicht, dass Steiner hier etwa behauptet der Mensch habe die
							volle Kontrolle über sämtliche leiblichen und seelischen
							Vorgänge. Keineswegs! Aber er hat zumindest eine volle
							willentliche und sachliche Kontrolle über
							die Aktivität seines Denkens und der Beschlussbildung. - Da
							wird nicht geträumt. Und von dort her ergibt sich zumindest
							insoweit eine Einflussnahme auf leibliche Handlungen, dass sie
							im beschlossenen Sinne verlaufen können. Dass diese
							willentliche Einflussnahme Steiners im Rahmen des
							anthroposophischen Übungsweges dann weiter systematisch
							und methodisch auf sämtliche Vorgänge des Seelenlebens
							(Denken, Fühlen, Wollen) vertieft und ausgeweitet wird, mit
							entsprechenden Folgen für das Erkennen und Handeln, das
							sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt, aber es soll
							davon hier nicht mehr ausführlicher die Rede sein. Jedenfalls
							wäre Vergleichbares bei Spinoza schon wegen seiner
							deterministischen und psychologischen Grundannahmen ganz
							und gar ausgeschlossen. 
							 
							Hartmut Traub
							scheint das alles nicht bekannt zu sein, obwohl sein Buch den
							Titel trägt Philosophie und Anthroposophie. Es gibt
							bei Spinoza keine ernst zu nehmende und vom Ich
							ausgehende Entwicklung zur Freiheit. So etwas wie
							autonome (Selbst)Entwicklung zu denken, oder dem Menschen
							gar eine aktive Rolle innerhalb einer irdischen oder mehr
							noch: kosmischen Evolution zuzuweisen, das scheint ihm (noch)
							völlig unmöglich zu sein. Was er dem Menschen zutraut
							ist lediglich, sich via empirisch einigermassen
							fragwürdiger, weil auf dem alleinigen Wege von Einsicht zu
							erwerbenden Affektkontrolle der gänzlich vorausbestimmten
							göttlichen Weltordnung zu fügen, und auf diese Weise
							in einer höchsten Erkenntnisstufe so etwas wie "höchste
							Zufriedenheit" zu erlangen, "die es geben kann".
							(Siehe dazu Lehrsatz 27 im Teil V. der Ethik.
							Man verwechsle dies nicht mit Steiners höchster
							Erkenntnisstufe, die methodisch ganz anders zu erwerben ist
							und zu anderen Resultaten kommt. Und auch nicht primär zu
							höchster Zufriedenheit führt, weil dies nicht ihr Anliegen
							ist. Sondern dem Menschen ungeheuer viel Verantwortung für
							sich und die Welt aufbürdet, und an sein Handeln appelliert,
							im Sinne dieser Verantwortung zu wirken. Der
							Handlungsappell vor allem steigert sich ins Unermessliche. Mit
							Zufriedenheit hat das alles bei Steiner relativ wenig
							zu tun. Vielmehr sieht der Mensch auf diesem Wege vor allem
							auch, was alles noch zu leisten ist, und wie wenig er davon
							bisher erreicht hat. Um dies zu ertragen und dem Selbstappell
							erfolgreich zu folgen benötigt er allerdings des inneren
							Gleichgewichtes wegen schon kompensatorisch eine extreme Form
							von Gedankenklarheit, Gelassenheit, Geduld, Ausdauer,
							Umsicht, Selbstkontrolle, Mut und vor allem Liebe, was zu
							erwerben ein massgeblicher Teil des Steinerschen
							Übungsweges ist, der sowohl für das Erkennen selbst
							benötigt wird, als auch für die individuellen Folgen davon.
							Natürlich geht es Steiner gleichermassen um Erkenntnis auf
							hohen Stufen. Aber sie kann in seinen Augen unmöglich
							abgelöst werden von allen übrigen Eigenschaften und
							Parametern der menschlichen Persönlichkeit. Da sie
							andernfalls Gefahr läuft sich zu vereinseitigen und ins
							Destruktive und Illusionäre abzugleiten. Vielversprechende
							und gedeihliche höhere Erkenntnis ohne diese begleitende
							Selbstentwicklung kann es bei Steiner nicht geben.) 
							 
							Unterwerfung,
							und nicht autonome Selbstentwicklung oder gar aktive Teilhabe
							an der Schöpfung lautet die Devise Spinozas. Er kann seinem
							Schicksal im günstigsten Fall einsichtsvoll zusehen und es in
							Zufriedenheit akzeptieren wie es ist. Aber er kann es
							nicht aktiv in die Hand nehmen und getalten. Und selbst
							diese vom Subjekt gebilligte Unterwerfung wäre gemäss der
							inneren Architektur von Spinozas Gedankengebäude
							prädeterminiertes Resultat der alleinigen Wirksamkeit eines
							alles verursachenden göttlichen Wesens. Da ist nichts
							drin, was originär aus dem Menschen selbst kommt. Alleinige
							Folge göttlicher Vorhersehung und Schicksalsbestimmung.
							Einzige und eigentliche Ursache von allem was geschieht und
							was gedacht wird ist letztlich doch nur einer: - der
							Allmächtige. Dies alles das Resultat eines Wesens, das
							in Steiners Augen nichts anderes sein kann als ein rein
							logisches Konstrukt eines schlussfolgernden
							philosophischen Denkens. Dessen Architekt (Spinoza) nach
							Steiners Einschätzung kein Bewusstsein davon hat, dass "der
							Mensch das Bild, unter dem er sich diese Notwendigkeit
							[Wesensnotwendigkeit Gottes, MM] vorstellt, seinem
							eigenen Inhalte entnimmt" (s. o.). - Alles zusammen
							genommen das Ergebnis einer gigantischen theoretischen
							(logisch-mechanistischen) Selbstblendung, die den
							empirisch offenbaren schöpferisch-lebendigen Eigenanteil des
							Ich an der Gedankenbildung und im Handlungsprozess
							hartnäckig übersieht, und den Menschen infolgedessen zu
							einem willenlosen Sklaven seines erdachten Gottes degradiert.
							Anstatt zu bemerken, dass in der geistigen Gestaltungs- und
							Selbstgestaltungsfähigkeit des Menschen selbst so etwas
							wie ein göttliches Element unmittelbar vorhanden ist. Dieser
							also keineswegs schicksalhaft dazu vergattert ist, lediglich
							den ohnmächtigen Lakaien und Automaten eines logisch
							postulierten allbestimmenden Herrn abzugeben. Weil er er in
							seiner schöpferischen Potenz, in seiner Entwicklungs-
							und Selbstentwicklungsfähigkeit, wenn auch keimhaft,
							selbst das freischöpferische göttliche Element in sich
							trägt. Und zwar der Anlage nach wirksam in sämtlichen
							Aspekten und Dimensionen seines geistigen, seelischen und
							materiellen Lebens. 
							 
							Wer den
							aufschlussreichen, von Steiner in der Philosophie der
							Freiheit zitierten Brief Spinozas einmal studiert, und
							zwar vollständig, einschliesslich jener Passagen, die
							Steiner nicht in sein Zitat aufgenommen hat, der kann sich
							davon überzeugen, dass Spinoza nicht entfernt daran denkt,
							dem Menschen so etwas wie Entwicklungsfähigkeit zur Freiheit
							beizulegen. Sondern seine Sichtweise dort ist durch und
							durch deterministisch und fatalistisch. Statisch und starr. -
							Wenn man so will ein Determinismus der krudesten Art:
							nicht nur materiell, sondern auch spirituell. (Im Internet im
							Original, so wie er Steiner vorgelegen hat, erreichbar unter:
							[http://archive.org/details/diebriefemehrer00spingoog]
							Der von Steiner zitierte Brief Nr 62 findet sich
							auf S.
							203 ff) Dieser Brief ist, das kann man wohl sagen, ein
							auf wenige Seiten verdichtetes Konzentrat der Spinozistischen
							Freiheitslehre, und zeigt, dass Steiner doch einen recht
							präzisen Blick für das Wesentliche dieser Lehre hatte. Sonst
							hätte er diese Auswahl vermutlich nicht getroffen. Eine
							Bemerkung dazu am Rande: Dieser von Steiner zitierte Brief
							trifft Spinozas Freiheitsphilosophie so genau, dass der
							Stuttgarter Kröner-Verlag ihn 1955 in einer kürzeren
							Werkausgabe Spinozas als einziges und kennzeichnendes
							Briefbeispiel für diese Freiheitsphilosophie auszugsweise
							abdruckt. Das ist schon sehr bezeichnend. (Siehe: Spinoza, Die
							Ethik : Schriften und Briefe; Hrsg. von Friedrich Bülow.
							Stuttgart: Kröner, 1955; S. 334 ) Merijn Fagard wird sich in
							absehbarer Zeit auf dieser Website ausführlicher zu diesem
							Brief Spinozas äussern, und ich kann dem Leser jetzt schon
							eine erhellende und an Überraschungen reiche Lektüre
							garantieren. Mit der wenig tief schürfenden Feststellung
							Traubs, Spinoza lasse auch eine Erkenntnis der Ursachen des
							Handelns zu wie Steiner, ist letztlich doch nicht viel
							gewonnen. Es kommt schon noch auf ein paar andere
							wichtige Details an. Bewusstseinsphänomenologisch und auch
							auf der philosophischen Ebene, das kann man mit Fug und
							Recht behaupten, leben Steiner und Spinoza in völlig
							verschiedenen Welten, die miteinander nicht kompatibel sind.
							Und betroffen ist davon so gut wie alles, was sie zum Thema
							Erkennen und Freiheit ausführen. Angesichts
							dessen klingt Traubs Behauptung von Seite 272 seines Buches,
							Steiner renne bei Spinoza offene Türen ein, doch reichlich
							bizarr. 
							Steiners
							Spinozakritik scheint mir also ganz und gar nicht das
							"peinliche" und absehbare Ergebnis eines Versuchs
							bei Spinoza offene Türen einzurennen, wie Traub
							S. 272 mit Blick auf die von Spinoza erwähnten
							Vernunftgründe des Handelns seinem Leser erklärt. Denn
							tatsächlich ist der angeblich freie Geist Spinozas dem
							Erkenntnis- und Gottesverständnis Spinozas zufolge
							eingepfercht in ein System aus Zwangshandlungen. Der Mensch
							ist einer umfassenden (materiellen und geistigen) Natur
							vollständig ausgeliefert und kann dementsprechend von
							sich aus nichts unternehmen, was seinem Glück oder Heil
							dienlich ist: "Wir sehen also, daß der Mensch als ein
							Teil der gesamten Natur, von der er abhängt und von der er
							auch regiert wird, aus sich selbst nichts zu seinem Heil und
							Glück tun kann. " (Spinoza, kurze Abhandlung von
							Gott, dem Menschen und dessen Glück, in der Meiner
							Ausgabe, S. 93, Kap 18, § 1) Und ebendort in der
							Anmerkung 3, S. 89: "Weil es also kein Ding
							gibt, das irgendwelche Kraft hätte, sich zu erhalten oder
							etwas hervorzubringen, bleibt nichts anderes übrig, als
							zu schließen, daß Gott allein die wirkende Ursache aller
							Dinge ist und sein muß und daß alles einzelne Wollen von ihm
							bestimmt ist." Folglich kommt es nicht von ungefähr,
							wenn Spinoza das Verhältnis des Menschen zu Gott in der
							Metaphorik der Sklaverei fasst. Denn es " ... folgt
							daraus, daß wir in Wahrheit Diener, ja Sklaven Gottes sind,
							und daß es unsere grösste Vollkommenheit ist, es notwendig
							zu sein." (Ebd., S. 93, § 2) Und ebendort, S. 95, § 8:
							„Denn hierin besteht eigentlich der wahre Gottesdienst und
							unser ewig Heil und Glückseligkeit. Denn die einzige
							Vollkommenheit und der letzte Zweck eines Sklaven und eines
							Werkzeugs ist, daß sie den ihnen auferlegten Dienst gehörig
							verrichten." An anderer Stelle wiederum wird dem Leser
							berichtet, Spinoza habe erkannt, „daß die Seele nach
							bestimmten Gesetzen handelt und eine Art geistiger Automat
							ist“ (Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des
							Verstandes § 85, in der lateinisch-deutschen
							Studienausgabe des Meiner Verlages, Hamburg, 2003, S. 79.)
							Woher kommen diese Bilder von Sklaven, Werkzeugen und
							geistigen Automaten? 
							 
							Zusammengefasst:
							"Von allen übrigen uns bekannten Naturdingen
							unterscheidet sich der Mensch durch das Vermögen des
							Denkens; ...dieses macht ihn zum Menschen. Aber sowohl mit
							seinem Körper als auch mit seinem Geist ist der Mensch
							integraler Teil der Natur ... und damit deren (jeweiligen)
							Gesetzen vollständig unterworfen. Wie der Körper gehört
							auch der Verstand zur "natura naturata"; ...die
							Seele ist "sozusagen ein geistiger Automat" ... und
							mit allen ihren Äußerungen, auch den "höchsten"
							in Kunst und Wissenschaft, Religion und Philosophie, den
							Naturgesetzen, d. h. den Gesetzen ihrer Natur vollständig
							unterworfen. Kurz: auch in seinem gesamten Denken, Wollen und
							Handeln ist der Mensch notwendig und vollständig durch die
							Gesetze seiner (jeweiligen) Natur determiniert." Georg
							Geismann, Spinoza jenseits von Hobbes und Rousseau,
							in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 43,1989, S
							405 f) Dass Steiner dies kritisiert wird man ihm nicht als
							Naivität oder Verwechselung von wirklicher mit
							illusionärer Freiheit bei Spinoza vorhalten können. 
							 
							Im Kern
							wurzeln alle diese Zwangshandlungen Spinozas in der
							Wesensnotwendigkeit und Vollkommenheit eines Gottes, den
							er in der Ethik auf der Basis logischer Zwänge (nach
							geometrischer Ordnung) erschliesst. Er steht folglich in dem
							permanenten Dilemma sich entweder den Nötigungen der
							Vernunft oder den Nötigungen der Affekte zu unterwerfen.
							Und schliesslich gezwungenermassen ein höchstes Wesen (Gott)
							zu lieben, das ihn selbst weder lieben noch hassen
							kann, weil das in Gottes Natur nicht vorgesehen ist. (Siehe
							dazu Lehrsatz 17 im Teil V. der Ethik) - Als
							theoretisches Fundament in ein pädagogisches Gesamtkonzept
							implementiert zweifellos eine gute Grundlage für
							psychopathologische Entwicklungen aller Art. Oder um es
							etwas moderater in den Worten Steiners zu formulieren:
							"Und was wäre denn dieser ganze Mensch wirklich, wenn
							die Behauptung des Spinoza wahr wäre, daß alles dasjenige,
							was der Mensch tut und erlebt, so notwendig wäre, wie, wenn
							eine Billardkugel von einer anderen getroffen wird, diese
							andere, zweite, mit einer gewissen Notwendigkeit nach
							gewissen Gesetzen weiterfliegt. Wenn das so wäre, dann könnte
							der Mensch nimmermehr ertragen eine solche Weltordnung.
							Wie wenig sie zu ertragen wäre, das würden insbesondere
							diejenigen Naturen zu empfinden haben, die «alle
							Wirkenskraft und Samen» schauen!" (GA 163, Dornach 1986,
							S. 54, Vortrag Dornach 28. August 1915) 
							Mehr
							theologisch betrachtet könnte man den Eindruck gewinnen, als
							habe sich Spinoza eher an einem mitleidlosen,
							alttestamentarischen Vatergott der strengen Gesetzgebung
							und Notwendigkeiten orientiert. (Betrachtet man seinen
							logisch-mechanistischen Denkansatz, so käme man vor dem
							anthroposophischen Hintergrund unschwer auf so etwas wie eine
							ahrimanische Wesenheit, die ihn vorzugsweise inspirierte.).
							Steiner hingegen eher am christlichen Gott der (Nächsten)Liebe
							- das heisst: an der Christuswesenheit. Und eine weitergehende
							Fage, gewiss auch im Sinne Hartmut Traubs, wäre: Welchem Gott
							folgt eigentlich Goethe? Dem Christengott der Liebe oder dem
							Gott der Notwendigkeiten des Philosophen Spinoza, dem er so
							vielerlei Anregung verdankt? Und wie spiegelt sich das
							gegebenenfalls in seiner (Goethes), - und dadurch vermittelt
							-, wiederum in Steiners, vor allem dessen früher Weltsicht
							wieder? 
							Als weitere
							Studienempfehlung kann ich dem Leser hier besonders Steiners
							Die Rätsel der Philosophie, GA-18, Dornach 1985 ans
							Herz legen. Steiner setzt sich da an sehr vielen Stellen mit
							Spinoza auseinander. Zumeist in Verbindung mit der
							Besprechung anderer Philosophen. Erkennbar wird dort, was
							ich bislang schon angedeutet habe. Was Steiner an Spinozas
							Freiheitsverständnis vor allem bemängelt ist dessen
							Verquickung von Freiheit und Notwendigkeit, wie
							sie in GA 18 exemplarisch auf S. 230 f aus einer Erörterung
							Schellings hervorgeht: "Die menschliche
							Einzelpersönlichkeit lebt in dem geistigen Urwesen und durch
							dieses; dennoch ist sie im Besitze ihrer vollen Freiheit und
							Selbständigkeit. Diese Vorstellung betrachtete Schelling
							als eine der wichtigsten innerhalb seiner Weltanschauung.
							Wegen dieser Vorstellung glaubte er in seiner idealistischen
							Ideenrichtung einen Fortschritt gegenüber früheren
							Anschauungen erblicken zu dürfen: weil diese dadurch,
							daß sie das Einzelwesen im Weltengeiste gegründet sein
							ließen, es auch ganz allein durch diesen bestimmt dachten,
							ihm also Freiheit und Selbständigkeit raubten. <<Denn
							bis zur Entdeckung des Idealismus fehlt der eigentliche
							Begriff der Freiheit in allen neueren Systemen, im
							Leibnizischen so gut wie im Spinozischen; und eine Freiheit,
							wie sie viele unter uns gedacht haben, die sich noch dazu des
							lebendigsten Gefühls derselben rühmen, wonach sie nämlich
							in der bloßen Herrschaft des intelligenten Prinzips über das
							sinnliche und die Begierden besteht, eine solche Freiheit
							ließe sich nicht zur Not, sondern ganz leicht und sogar
							bestimmter auch aus dem Spinoza noch herleiten.>>" 
							 
							Für
							Leser, die mit Steiners Gedankenwelt etwas näher vertraut
							sind: Eine sehr viel weitergehende und intimere
							Betrachtung der Persönlichkeit Spinozas im Lichte der
							Weltanschauung Rudolf Steiners zeigt, dass der Philosoph
							Spinoza, so wie er oben gezeichnet worden ist, - und infolge
							dieser groben Zeichnung ist vielleicht einiges an Unbehagen,
							Ablehnung oder Irritation über diese Persönlichkeit
							hervorgerufen worden -, durchaus Überraschendes zu bieten
							hat. Denn Spinoza ist, - der Auffassung des späteren
							Steiner zufolge -, dieselbe Individualität, die sich später
							in Johann Gottlieb Fichte inkarnierte. Rudolf Steiner macht
							dies in verschiedenen Vorträgen deutlich. (Siehe etwa GA-88,
							Dornach 1999, S. 184: "Als Beispiel für eine regelmäßige
							Entwicklung einer Individualität können wir betrachten einen
							Zeitgenossen von Jesus, Philo von Alexandrien. Seine
							Individualität kam wieder als Spinoza und dann als Johann
							Gottlieb Fichte. Wir haben hier also eine durchgehende
							Individualität in drei Persönlichkeiten. Liest man Fichte
							ohne Kenntnis dieser Vorgänge, so versteht man ihn nur wenig.
							Mit dieser Kenntnis aber findet man, daß seine Worte mit
							Feuerschrift geschrieben sind. Alle diese großen Geister
							haben eine regelmäßige Entwicklung durchgemacht." Siehe
							auch GA 158, Dornach, 1993, S. 213: "Wer würde nicht
							unter scheiden können den eigentümlichen Grundton Fichtes,
							des mitteleuropäischen Philosophen, und den
							eigentümlichen Grundton Spinozas, der ja auch ein
							europäischer Philosoph war. Es ist sogar in der
							Menschheitsevolution so, daß dasjenige, was der allgemeinen
							Kultur angehört, von derselben Individualität getragen
							werden kann. Denn dieselbe Individualität ist ja Spinoza und
							Fichte, wie vielleicht schon einige unserer Freunde wissen.
							Aber Fichte ist als einzelne Persönlichkeit des 18., 19.
							Jahrhunderts ein Geist, der durchdrungen werden konnte von der
							ganzen Kraft des Christus-Impulses; Spinoza, also
							dieselbe Individualität, steht aber in der andern
							Strömung darinnen und hat nichts davon.") Und Johann
							Gottlieb Fichte wiederum war, - wie uns dies Hartmut Traub mit
							einigem Recht und oftmals sehr guten Gründen, und manchmal
							bis zum Überdruss versichert -, auch für Rudolf Steiner
							ein ganz wesentlicher Vorläufer der Anthroposophie, dem
							Steiner und die Anthroposophie viel verdanken. Unter einem
							gewissen Blickwinkel könnte man, wenn man von Steiners ganz
							individuellen Voraussetzungen einmal absieht, Fichtes Werke
							als einen der ursprünglichen philosophischen Quellorte der
							anthroposophischen Geisteswissenschaft bezeichnen. Das
							wissen wir von Steiners autobiographischen Äusserungen
							selbst. (Siehe Rudolf Steiner, Briefe I., herausgegeben
							von Edwin Froböse und Werner Teichert, Dornach 1948. Dort
							den mit Genehmigung von Marie Steiner abgedruckten
							autobiographischen Vortrag Steiners vom 4. Februar 1913
							in Berlin. S. 1 ff, insbes. S. 33 ff. [Im Internet in leicht
							überarbeiteter Form erreichbar unter
							http://www.anthroposophie.net/steiner/Lebensgang/bib_steiner_lebensabriss.htm
							Ebenso unter http://bdn-steiner.ru/cat/Beitrage/D83_84.pdf
							]) Interessant ist in diesem Zusammenhang zu sehen, mit
							welcher Energie Fichte sein Erkenntnisinteresse auf etwas
							richtet, wofür Spinoza allem Anschein nach vollkommen
							blind war: Auf die Aktivität des denkenden und
							handelnden Ich. Vermutlich hat Hartmut Traub sogar auch darin
							recht, wenn er sagt, Steiner fusse weltanschaulich weit
							mehr auf Fichte denn auf Goethe. Eine ernst zu nehmende und
							diskutable These ist das allemal. Vor allem vor dem
							Hintergrund der eben erwähnten autobiographischen Skizze
							Steiners. Und zumindest methodisch lässt sich zeigen,
							dass Fichte im Gegensatz zu Goethe eine absolut zentrale
							Figur für Steiner war. Insofern nämlich, als es
							Fichte war, der die philosophische Aufmerksamkeit so sehr auf
							die Beobachtung des Denkens - genauer: auf die Tathandlung des
							Ich beim Denken - gerichtet hat, auf der die anthroposophische
							Empirie des Geistes eigentlich aufbaut. Und daran (an
							die Beobachtung des Denkens) knüpft Steiner in der
							Anthroposophie (vor allem schon in den philosophisch
							geprägten Frühschriften) ganz explizit und eindrücklich
							methodisch an. Steiners Methode der wissenschaftlichen
							Geistesforschung ist ohne die Beobachtung des
							Denkens weder möglich noch vorstellbar. (Wobei anzumerken
							ist: Was Hartmut Traub zu diesem Thema - wissenschaftliche
							Geistesforschung - schreibt, ist im wesentlichen
							nichts als Nonsens. Er hat von diesem Aspekt der
							Anthroposophie so gut wie nichts verstanden.) Während
							Goethe demgegenüber einer bekannten Bemerkung zufolge,
							angeblich nie über das Denken gedacht hat, - einer der
							wenigen wirklich markanten Anlässe für Steiner, an
							Goethe ernsthaft Kritik zu üben. Wobei er beides moniert:
							Sowohl dessen mangelndes Erkenntnisinteresse dem Denken
							gegenüber, wie auch die daraus resultierende fehlende
							Einsicht bezüglich der Freiheit. (Siehe Goethes
							Weltanschauung, GA06, Dornach 1990, S. 84 ff).
							Jedenfalls hat Goethe niemals eine Weltanschauung darauf
							gegründet wie Fichte oder Steiner. Da war Spinoza in der
							neuen Gestalt Fichtes offensichtlich - zumindest in
							dieser Frage - weiter als Goethe. Nimmt man hinzu, dass
							Spinoza gewissermassen als eine philosophische Leitfigur
							Goethes wiederum von dieser rezeptiven Seite in
							Steiners philosophischen Gedankengängen, vor allem in seinem
							frühen Idealismus einigen prägenden Eingang gefunden hat,
							dann bekommt die Frage nach dem Verhältnis von Steiner zu
							Spinoza noch eine vollkommen andere Dimension, als sie einer
							vordergründigen rezeptionsgeschichtlichen Betrachtung
							zugänglich ist. 
							 
							* 
							Zurück zu
							Popper: Hier zeigt sich nicht nur die bemerkenswerte Kraft des
							Popperschen Argumentes, sondern auch die unglaublich enge
							Verquickung der Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage.
							Denn für die Anerkennung Gottes wie jedes anderen
							Geistwesens, dessen manipulative Existenz vom spirituellen
							Fatalisten vorausgesetzt wird, gilt das Prinzip seiner
							rationalen Begründbarkeit. Ein Gott, für dessen Existenz es
							keine Argumente gibt, ist eine leere und nichtssagende
							Hypothese. Dasselbe gilt für alle anderen Entitäten der
							geistigen Welt, von denen der Mensch möglicherweise gesteuert
							werden könnte. An diese Entitäten kann dann nur noch
							unbegründet geglaubt, aber nicht von ihnen begründet
							gewußt werden. Das begründete Wissen wiederum setzt
							die Überzeugung von der logischen Gültigkeit und
							Verbindlichkeit der Gründe des Wissens voraus und damit
							implizit den Freiheitscharakter des Erkennens. Im Sinne
							Poppers ließe sich dazu sagen: «Wenn wir glauben, wir hätten
							eine Theorie wie den geistigen Determinismus wegen der
							logischen Kraft bestimmter Argumente angenommen, dann
							täuschen wir uns gemäß der Theorie des geistigen
							Determinismus; oder genauer: Wir befinden uns in einem
							geistigen Zustand, der uns dazu bestimmt, uns zu
							täuschen.» Das heißt bei Annahme eines geistigen
							Determinismus bricht überhaupt das ganze Begründungsgebäude
							nicht minder zusammen wie bei Annahme eines physikalischen
							Determinismus. Es gibt dann weder rationale Gründe für
							noch gegen den Geist, womit zwangsläufig auch die These vom
							geistigen Determinismus nichtig wird und nur noch den Status
							einer Glaubenüberzeugung oder unbegründeten geistigen
							Ideologie einnimmt. Das heißt: im Vollzug des
							Erkenntnisprozesses kann der Mensch weder materiell noch
							geistig durchgängig determiniert sein. Wäre er es, dann
							würde er nicht erkennen, sondern hätte lediglich den
							Charakter eines subtilen Automaten, der im einen Fall
							physikalisch, im anderen Fall geistig einen Prozeß vollführen
							muß, auf den er nicht den geringsten Einfluß hat. Im
							zweiten Fall wird der Mensch zum willenlosen Subjekt, Werkzeug
							bzw Knecht des Geistes bzw der Idee. (Ein Gott, der dem
							Menschen keine Freiheit gewährt, sondern ihn bis in
							jedes kleinste Detail beherrscht, könnte von diesem gar nicht
							erkannt werden. Auch nicht in marginalen Einzelheiten seiner
							Gottesnatur.) 
							 
							Die Freiheit
							gegenüber der geistigen Welt verlangt also nicht minder nach
							einer Begründung wie die Freiheit gegenüber der materiellen
							Welt. Und in beiden Fällen wurzelt die Begründung der
							Freiheit in der Erkenntnistheorie, die nicht nur unserer
							Überzeugung von den materiellen Dingen sondern auch von
							den geistigen Dingen die Rechtfertigungsbasis liefert. 
							 
							Beide Fälle hat Rudolf Steiner mit der
							Philosophie der Freiheit im Auge. Eben auch den Aspekt
							der Freiheit von geistigen Determinationen. Schlaglichtartig
							kommt dies zum Ausdruck, wenn er dort am Ende der Schrift im
							zweiten Anhang zur Neuausgabe von 1918 schreibt: "Man muß
							sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst
							gerät man unter ihre Knechtschaft." (Die
							analoge Stelle am Ende des ersten Kapitels der Erstausgabe
							lautet weniger zurückhaltend: "Man muß sich der Idee
							als Herr gegenüberstellen, sonst gerät man unter ihre
							Knechtschaft.") Und auf S. 177 heisst es: "Wie der
							materialistische Dualist den Menschen zum Automaten macht,
							dessen Handeln nur das Ergebnis rein mechanischer
							Gesetzmäßigkeit ist, so macht ihn der spiritualistische
							Dualist (das ist derjenige, der das Absolute, das Wesen an
							sich, in einem Geistigen sieht, an dem der Mensch mit seinem
							bewußten Erleben keinen Anteil hat) zum Sklaven des Willens
							jenes Absoluten." 
						 | 
					 
				 
				Wenden wir den
				Blick kurz zurück auf die Abschnitte I und II dieser Arbeit,
				dann können wir festhalten: Popper macht hier der Sache nach die
				selben Argumente geltend wie Steiner, wenn dieser im dritten
				Kapitel der Philosophie der Freiheit (S. 44 f) sagt:
				"Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denkprozeß
				ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis der physiologischen
				Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier von dem Denken,
				insoferne es sich aus der Beobachtung unserer geistigen Tätigkeit
				ergibt. Wie ein materieller Vorgang meines Gehirns einen
				andern veranlaßt oder beeinflußt, während ich eine
				Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht.
				Was ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang in
				meinem Gehirne den Begriff des Blitz es mit dem des Donners
				verbindet, sondern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in
				ein bestimmtes Verhältnis zu bringen. Meine Beobachtung ergibt,
				daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach
				dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach
				den materiellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich
				mich." Der argumentative Kontext im engeren Sinne ist bei
				Popper die Logik. Bei Steiner ist es vordergründig die
				durch Beobachtung feststellbare Tatsache, daß sich das intuitive
				Denken in seinem Fortgang ausschließlich nach begrifflichen
				Inhalten richtet. Der Sachlage nach liegt aber die Argumentation
				in beiden Fällen auf der gleichen Ebene. Denn der von Popper ins
				Feld geführte Beweisgang: «Logische Erwägung ist
				überhaupt nur möglich wenn und weil das begriffliche Denken von
				den kausalen Vorgängen des Organismus unabhängig ist»,
				setzt voraus, daß sich das Denken nach begrifflichen Inhalten
				richten kann und nicht von den physiologischen Bedingungen seine
				Bestimmungen erhält. Das heißt, er spricht hier von
				denselben grundlegenden Tatsachen, die bei Steiner unter die
				Rubrik Intuitives Denken; Woher erhält dieses seine
				Bestimmungen?; Und in welchem Verhältnis steht es zu unserer
				leiblichen Organisation? fallen. Es ist nur konsequent und
				liegt in der Natur dieser Sache begründet, wenn Popper gemeinsam
				mit Eccles den erheblichen hirnphysiologischen Impikationen
				dieser Faktenlage nachzugehen versucht. 
				 
				(Bemerkung vom
				09.08.05: Man kann natürlich in dieser kurzen Gegenüberstellung
				nur einige wenige Aspekte berücksichtigen, die für einen
				Vergleich zwischen Steiner und Popper in der diskutierten Frage
				von Belang sind. Ich sage das extra, um den Gedankengang
				nicht zu arg zu verkürzen. Was bei Steiner unter allen
				Umständen zu berücksichtigen ist, das ist die sich selbst
				tragende und erklärende Eigenschaft des Denkens. Dafür
				gibt es bei Popper, soweit ich bislang sehe, nichts
				vergleichbares. Er hätte diesen Aspekt vermutlich an die von ihm
				nicht übermäßig hoch geschätzte Denkpsychologie
				verwiesen. Einer Wissenschaft, der er in jungen Jahren als
				Schüler Karl Bühlers noch nahe gestanden hatte. Die er aber,
				frustriert von ihrem unreifen methodischen Instrumentarium, sehr
				bald verließ, um sich den aussichtsreicheren Naturwissenschaften
				philosophisch zuzuwenden. Eine kontrastierende Abklärung
				zwischen den logischen Gedankengängen Poppers und Steiners wäre
				eigentlich ein (Teil)-Thema einer umfangreichen Arbeit - etwa
				einer Dissertation. Und als solche durchaus interessant und
				erfolgversprechend.) 
				 
				Manche
				Philosophen, die sich um das ausgehende 19. Jahrhundert mit dem
				Verhältnis von Logik und Naturkausalität befaßt haben, waren
				in dieser Hinsicht zielbewußter als etwa Peter Bieri. Karl
				Popper habe ich hier nur pars pro toto angeführt. Tatsächlich
				führt die Frage nach der Freiheit noch sehr viel tiefer in
				Erkenntnisfragen hinein bis hin zu den Grundlagen von Logik
				und Erkenntnis überhaupt. Sehr viel tiefer noch, als bei Popper
				auf den ersten Blick deutlich wird. Aber es ist ein sehr
				plastisches, sehr drastisches und folgerichtiges Beispiel, das er
				hier gibt. Die problematische Beziehung zwischen logischen
				Gründen einerseits und Kausalgründen andererseits findet
				in der Erkenntnistheorie und Logik einen regelrechten
				Kulminationspunkt. Und dort zeigt sich, daß ein durchgängiger
				physikalischer Determinismus eine rein logisch begründete
				Einsicht nicht nur ausschließt, sondern die Grundprinzipien des
				Erkennens selbst zerstört und mit ihnen - wie es Popper
				andeutet - auch die Möglichkeit für den Determinismus zu
				argumentieren, weil es dann gar keine Argumente mehr gibt. Der
				Determinist weiß es nur noch nicht, oder will es vielleicht auch
				gar nicht wissen. Anders gesagt: Der physikalische Determinismus
				des Erkennens ist mit den Grundprinzipien von Logik und
				Erkenntnis, auf die sich der Physikalist inkonsequenterweise
				selbst beruft, absolut unverträglich. Die Frage nach der
				Freiheit des Erkennens ist also - wie bereits gesagt - eine der
				Schlüsselfragen der Freiheitsphilosophie schlechthin. Und sie
				ist auch - was den Physikalisten mit Recht sehr beunruhigt - eine
				physikalische Schlüsselfrage. Denn falls es sich so verhält,
				daß unser Erkennen kein Epiphänomen der Hirnphysiologie,
				sondern unser eigenes von logischen Gründen geleitetes freies
				Tun ist, dann ist in der Tat das physikalische Weltbild der
				Gegenwart betroffen und in Frage gestellt. Denn Freiheit des
				Handelns und Erkennens schließt eine durchgängige und
				lückenlose Naturkausalität aus, und untergräbt damit eine der
				stabilsten Grundüberzeugungen der gegenwärtigen Physik:
				den Energieerhaltungssatz. 3) (Siehe
				hierzu auch Anmerkung 1) 
				 
				Anmerkungen:
								 
				1)
				Vor allem in den Kritiken an der Philosophie des Geistes von
				Popper und Eccles (Karl R. Popper, John C. Eccles, Das Ich und
				sein Gehirn, München, 1982. Ebenso John C. Eccles, Daniel
				N. Robinson, Das Wunder des Menschseins - Gehirn und Geist,
				München 1985) kommen diese Argumente und Befürchtungen
				zum Ausdruck. Siehe hierzu etwa: 
				 
				Henrik Walter,
				Neurophilosophie der Willensfreiheit, Paderborn 1998, S. 80
				f. : 
				 
				"Wie
				wechselwirken die beiden Welten [gemeint sind die physikalische
				Welt und die intelligible Welt unseres Geistes, MM] miteinander?
				Wie wirkt die zweite Welt in die erste hinein und wie werden die
				beiden Welten koordiniert? Jede Wechselwirkung verletzt den
				Energieerhaltungssatz und ist daher eine wissenschaftliche
				Anomalie." 
				 
				Ebenso S. 123:
				"Einerseits behauptet Eccles, daß der selbstbewußte Geist
				nicht den üblichen Naturgesetzen unterworfen ist, andererseits
				erklärt er, daß der selbstbewußte Geist in der Lage sei, mit
				der physikalischen Welt, d.h. dem Gehirn, in Wechselwirkung zu
				treten. Er hält also am Begriff der mentalen Verursachung fest.
				Eine Veränderung physikalischer Gegebenheiten im Gehirn
				erfordert jedoch Energie und eine mentale Verursachung, die
				in der physikalischen Welt vorher nicht vorhandene Energie
				einführte, bedeutet eine Verletzung des
				Energieerhaltungssatzes." 
				 
				Ausführlicheres
				ebendort S. 178 ff. 
				 
				Siehe auch: Mario
				Bunge, Rubén Ardila, Philosophie der Psychologie, Tübingen
				1990, S. 14: 
				 
				"An der
				Philosophie des Geistes von Popper und Eccles ist folgendes
				offensichtlich: Erstens, sie ist unausgegoren, weil ihre
				Schlüsselbegriffe - vor allem Welt, Geist und Interaktion -
				undefiniert bleiben, und sie enthält überdies keinerlei präzise
				Hypothese über den Geist und seine angebliche Interaktion mit
				dem Gehirn. Zweitens verletzt sie ein fundamentales
				physikalisches Prinzip, nämlich den Energieerhaltungssatz
				(postuliert sie doch, der immaterielle Geist könne Materie in
				Bewegung setzen). Drittens mißachtet sie eine jedweder
				experimentellen Wissenschaft stillschweigend zugrunde
				liegende Voraussetzung, daß nämlich der Geist nicht unmittelbar
				auf Materie wirken könne, ...") 
				 
				In seiner
				grundsätzlichen Struktur wird dieses Problem der Interaktion
				einer immateriellen mit der materiellen Welt erörtert bei
				Peter Bieri (Hgr.), Analytische Philosophie des Geistes,
				3. Aufl, Königsstein/Ts., 1997, S. 5 ff. Bieri schreibt dort
				etwa (S. 6): "Wenn mentale Phänomene nicht-pysische
				Phänomene sind und wenn es mentale Verursachung gibt, dann kann
				der Bereich physischer Phänomene nicht kausal geschlossen sein.
				Wenn er jedoch kausal geschlossen ist und wenn mentale Phänomene
				nicht-physische Phänomene sind, dann kann es allem Anschein
				zum Trotz keine mentale Verursachung geben. Und wenn es sie trotz
				der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt gibt, dann
				kann es nicht sein, daß mentale Phänomene nicht-physische
				Phänomene sind." 
				 
				Eine umfassende
				Übersicht über die derzeitige Forschungslage zum Thema
				mentale Verursachung aus der Sicht der analytischen Philosophie
				gibt Godehard Brüntrup, Mentale Verursachung, Stuttgart,
				Berlin, Köln, 1994. 
				 
				2)
				Ein Argument dieses Typs - daß es in einer völlig
				deterministischen Welt keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne
				geben könne bzw. "Wenn der Determinismus nun zutrifft, bin
				ich gar nicht in der Lage, wirkliche Untersuchungen oder
				Nachforschungen anzustellen; daher kann ich kein Vertrauen in die
				Wahrheit des Determinismus haben. " - empfindet der oben
				erwähnte Henrik Walter (S. 84) als ernstzunehmende
				"Herausforderung". Siehe hierzu auch obiges
				Selbstwiderlegungsargument Poppers gegen den Determinismus. 
				 
				Siehe hierzu auch
				Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn, a.a.O., S. 105 ff;
				S. 641 f, dort die Anmerkung 3. 
				 
				
				3) Zu
				diesem Thema: Physikalische Implikationen des Denkens und
				Erkennens finden Sie einen Artikel von mir in der
				Zeitschrift Die Drei, 7, Juli 2005, S. 31-39: Michael
				Muschalle, Errettung des Denkens. Roger Penroses Erkundungen des
				Bewussten und Rudolf Steiners Bewußtseinsphilosophie 
				 
				Siehe weiter dazu
				die Kritik zu diesem Aufsatz von Ernst Oldemeyer, Dualistische
				oder monistische Rettung des Denkens und der Freiheit, in Die
				Drei, 10, Oktober 2005, S. 61 ff;
				(http://www.diedrei.org/Heft%2010%2005/09%20Oldemeyer.pdf)
								 
				ebenso meine
				Antwort an Ernst Oldemeyer, Quantenphysik und Gedankenleben,
				in Die Drei 11, November 2005, S. 59 ff. Zu finden unter:
				(http://www.diedrei.org/Heft%2011%2005/09%20Muschalle-Erwiderung.pdf)
								 
				 
				
  
     
  
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