Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Über den Zusammen­hang von Freiheitsfrage und Erkenntnisfrage

Ein Beitrag zum Verständnis des intuitiven Denkens in Steiners Philoso­phie der Freiheit

Stand 29. 04. 13. / 27. 12. 23

Am 27. 12. 23 wurden lediglich einige Links aktualisiert. Auch solche der Anmerkung 3), die inzwischen nur noch über das Internetarchiv von webarchive.org er­reichbar sind.

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"Ein erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein. "

Rudolf Steiner, Die Natur und unsere Ideale, (1886) GA 30, Dornach 1989, S. 239

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I.

Erkennen und Freiheit gehören für Steiner zusammen. Frei­heitsphilosophie wurzelt in der Erkenntnistheorie.

Der Philosoph Peter Bieri schreibt in seinem Buch Das Handwerk der Freiheit (München/Wien 2001, S. 397) "In dem Maße, in dem die Aneig­nung des Willens auf Artikulation und Verstehen beruht, handelt es sich um einen Erkenntnisprozeß. Wachsende Erkenntnis bedeutet wachsende Freiheit. So gesehen ist Selbsterkenntnis ein Maß für Willensfreiheit. Die­ser Zusammenhang gibt uns eine erste Lesart der intuitiven Idee, daß ein freier Wille ein Wille ist, mit dem ich mich >indentifizieren< kann: Es ist ein Wille, den ich mir zurechnen kann, weil ich ihn in seinen Konturen er­kannt und weil ich verstanden habe, wie er in die Geschichte und die ge­genwärtige Struktur des Wünschens eingebettet ist, die mich zu dieser be­stimmten Person machen."

Eine der Auffassung Bieris sehr verwandt klingende Überzeugung drückt Steiner gegen Ende des ersten Kapitels der Philosophie der Freiheit (GA - 4, Dornach 1978, S. 23) aus, wenn er sagt: "Daß eine Handlung nicht frei sein kann, von der der Täter nicht weiß, warum er sie vollbringt, ist ganz selbstverständlich. Wie verhält es sich aber mit einer solchen, von deren Gründen gewußt wird?"

In beiden Fällen geht es darum, sich der Gründe seines Handelns bewußt zu werden. Von Freiheit kann nicht die Rede sein, wenn ich nicht weiß, was mich umtreibt. Ich muß Kenntnis haben von den Motiven meines Handelns, um ernsthaft von freien Handlungen reden zu können. Und das kann, wie Bieri in seinem Buch ausführlich darlegt, eine ziemlich verwi­ckelte Angelegenheit sein, weil sich diese Motive nicht so ohne weiteres zeigen, sondern sich oft hinter Masken verbergen oder zunächst ganz und gar unsichtbar bleiben. Auf jeden Fall aber gilt: Ohne den Willen zur Selbsterkenntnis, ohne die Erkenntnis der Handlungsmotive keine Frei­heit.

Es wäre reizvoll diese Gegenüberstellung erheblich auszuweiten. Ich will mich hier auf einen einzelnen Punkt beschränken und demonstrieren, daß Steiner mit seinen Gedanken in mancher Hinsicht doch konsequenter ist als Peter Bieri. Deswegen konsequenter, weil er in einem viel umfassen­deren Sinne als Bieri die Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage verknüpft und die Untersuchung auch auf das Erkennen selbst ausdehnt. Dahinge­hend, sich zu fragen, was Denken und Erkenntnis überhaupt ist, und ob denn das denkende Erkennen selbst auch frei, oder von woher auch im­mer determiniert sei.

Steiner führt den eben zitierten Gedanken (S. 23 f) mit den Worten fort: "Das führt uns auf die Frage: welches ist der Ursprung und die Bedeutung des Denkens? Denn ohne die Erkenntnis der denkenden Betätigung der Seele ist ein Begriff des Wissens von etwas, also auch von einer Hand­lung nicht möglich. Wenn wir erkennen, was Denken im allgemeinen be­deutet, dann wird es auch leicht sein, klar darüber zu werden, was für eine Rolle das Denken beim menschlichen Handeln spielt. «Das Denken macht die Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste», sagt Hegel mit Recht, und deshalb wird das Denken auch dem menschlichen Handeln sein eigentümliches Gepräge geben."

Bei Steiner führt die Freiheitsfrage durch die ihr eigene Sachstruktur mit Notwendigkeit auf die Erkenntnisfrage. Und zwar in einem dreifachen Sinn. Einmal will im Grundsatz geklärt sein, was wir überhaupt tun, wenn wir denken und erkennen. Zweitens geht sie darauf, welche Rolle das Denken und Erkennen ganz speziell in unserem Handeln spielt. Und drit­tens schließlich, - Steiner sagt das an dieser Stelle nicht ganz so explizit, aber es ist fast die entscheidende Frage seiner ganzen Freiheitsphilosophie - geht sie darauf: Ist dieses denkende Erkennen selbst frei oder nicht? Man muß, um bei Steiner die Bedeutung dieser dritten Frage zu ermessen, sich die Zusätze zur Neuauflage von 1918 ansehen. Dort wird ausdrück­lich hervorgehoben, daß es die Freiheit des intuitiven Denkens ist, auf die sich jede Freiheit des Handelns stützt. Auf S. 253 f der Philosophie der Freiheit führt Steiner diese Sachlage vor Augen. Und das intuitive Den­ken wiederum ist ist ein solches, das vorrangig bei Erkenntnisvorgängen zur Geltung kommt. Es ist - wie Steiner auf S. 254 sagt - das Denken, durch das "eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird."

Schon im Sendschreiben von 1886 Die Natur und unsere Ideale (GA 30, Dornach 1989, S. 237 ff) betont Rudolf Steiner diesen engen Zusammen­hang zwischen Erkenntnisfähigkeit und Freiheit. "Oh, wir sollten doch endlich zugeben, daß ein Wesen, das sich selbst erkennt, nicht unfrei sein kann!", heißt es da. (S. 238.) Und weiter: "Indem wir die ewige Gesetz­lichkeit der Natur erforschen, lösen wir jene Substanz aus ihr los, die ihren Äußerungen zugrunde liegt. Wir sehen das Gewebe der Gesetze über den Dingen walten, und das bewirkt die Notwendigkeit. Wir besitzen in unserem Erkennen die Macht, die Gesetzlichkeit der Naturdinge aus ih­nen loszulösen und sollten dennoch die willenlosen Sklaven dieser Geset­ze sein? Die Naturdinge sind unfrei, weil sie die Gesetze nicht erkennen, weil sie, ohne von ihnen zu wissen, durch sie beherrscht werden. Wer sollte sie uns aufdrängen, da wir sie geistig durchdringen? Ein erkennen­des Wesen kann nicht unfrei sein."

Wenige Jahre später wird dieser Gesichtspunkt aus einer erkenntnistheo­retischen Perspektive erneut aufgegriffen und vertieft. Den Hinweis, beim denkenden Erkennen handele es sich um einen Akt der Freiheit, gibt Stei­ner jetzt in seinem Vorspiel zur Philosophie der Freiheit, der Schrift Wahrheit und Wissenschaft. (Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit. GA-03, Dornach 1980.) Auf S. 11 dieser Schrift schreibt er, das Ergebnis seiner Analyse vorwegneh­mend: "Das Resultat dieser Untersuchungen ist, daß die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das über­haupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten." Wei­ter (S. 12) führt er aus: "Für die Gesetze unseres Handelns, für unsere sitt­lichen Ideale hat diese Anschauung die wichtige Konsequenz, daß auch diese nicht als das Abbild von etwas außer uns Befindlichem angesehen werden können, sondern als ein nur in uns Vorhandenes. Eine Macht, als deren Gebote wir unsere Sittengesetzte ansehen müßten, ist damit eben­falls abgewiesen. Einen «kategorischen Imperativ», gleichsam eine Stim­me aus dem Jenseits, die uns vorschriebe, was wir zu tun oder zu lassen haben, kennen wir nicht. Unsere sittlichen Ideale sind unser eigenes freies Erzeugnis. Wir haben nur auszuführen, was wir uns selbst als Norm unse­res Handelns vorschreiben. [...] Die Anschauung von der Wahrheit als Freiheitstat begründet somit auch eine Sittenlehre, deren Grundlage die vollkommen freie Persönlichkeit ist."

Gegen Ende von Wahrheit und Wissenschaft (S. 83 f) greift Steiner diesen Gedankengang noch einmal auf im Zusammenhang mit einer Erörterung der Philosophie Fichtes, und führt aus: "Der Umstand, daß das Ich durch Freiheit sich in Tätigkeit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Erkennens zu realisie­ren, während in der übrigen Welt die Kategorien sich durch objektive Notwendigkeit mit dem ihnen korrespondierenden Gegebenen verknüpft erweisen. [...] Das Wesen der freien Selbstbestimmung zu untersuchen wird die Aufgabe einer auf unsere Erkenntnistheorie gestützten Ethik und Metaphysik sein. Diese werden auch die Frage zu erörtern haben, ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag. [...] Daß die Realisierung des Erkennens durch Freiheit geschieht, geht aber aus den oben gemachten Anmerkungen bereits klar hervor. Denn wenn das unmittelbar Gegebene und die dazugehörige Form des Denkens durch das Ich im Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so kann die Vereini­gung der sonst immer getrennt im Bewußtsein verbleibenden zwei Ele­mente der Wirklichkeit nur durch einen Akt der Freiheit geschehen."

Was Rudolf Steiner hier ankündigt, "das Wesen der freien Selbstbestim­mung zu untersuchen" und zugleich der Frage nachzugehen, "ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag", das findet statt in der Folgeschrift Die Philosophie der Freiheit, auf die in ihrem Vorspiel Wahrheit und Wissenschaft wiederholt hingedeutet wird. Und entsprechend weist Steiner seinen Leser dort (S. 254) auch darauf hin, daß der zweite Teil dieses Buches " ... seine naturgemäße Stütze in dem ersten" finde. "Dieser stellt das intuitive Denken als erlebte innere Geistbetätigung des Menschen hin. Diese Wesenheit des Denkens erle­bend verstehen, kommt aber der Erkenntnis von der Freiheit des intuiti­ven Denkens gleich."

In der Philosophie der Freiheit geht es folglich, wenn man beide Schrif­ten aufeinander bezieht, sowohl darum näher zu untersuchen, wie die Verwirklichung der Idee des Erkennens sich vollzieht und worauf sich dieser Akt der Freiheit im einzelnen gründet - was Steiners Bemerkung in der Philosophie der Freiheit zufolge im ersten Teil des Buches verhandelt wird. Und sich ferner zu fragen: " ... ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag." Letzterem ist der zweite Teil der Schrift gewidmet. Beiden Fragestellungen wird nachgegangen, wie Steiner 1917 an anderer Stelle ausdrücklich betont, "durch rein philoso­phische Forschung". Mit den "Denkmitteln" und der "Methodik allein", "die man gewöhnt ist, in philosophischen Arbeiten zu finden." (Die Geis­teswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnis­theorie. Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35, 1984, S. 319).

Die Idee des Erkennens wird, so können wir festhalten, durch einen Akt der Freiheit realisiert. Bezogen auf die Philosophie der Freiheit: Das in­tuitive respektive erkennende Denken verwirklicht oder vollzieht im Er­kennen diesen Akt der Freiheit. Und nur weil es dieses vermag, also selbst frei ist, ist auch Freiheit des Handelns denkbar und möglich. Der Auffassung eines freien oder freiheitsfähigen menschlichen Individuums liegt demnach fundierend zugrunde die Einsicht vom Erkennen als einer Freiheitstat des Menschen. Der Umstand, daß Steiner dieses erkennende Denken später in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit, - und auch dort nur an wenigen Stellen - , ein intuitives Denken nennt, hat viel zur allgemeinen Verwirrung bei seinen Rezipienten beigetragen. Ich mei­ne aber, daß die Sachlage verständlich sein sollte, wenn man die Materia­lien hinreichend berücksichtigt. Wenn also Steiner in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit (S. 254) betont, das freie Handeln gründe in der Freiheit des intuitiven Denken, dann gibt es unter Berücksichtigung seiner dortigen Bemerkungen zu diesem intuitiven Denken und unter Ein­beziehung dessen, was er in den vorausdeutend programmatischen Hin­weisen in Wahrheit und Wissenschaft zum Erkennen als Freiheitstat aus­führt, mehr als Anlaß genug, vom intuitiven Denken als einem erkennen­den Denken zu sprechen. Denn die Philosophie der Freiheit versteht sich als Programm, das in ihrem Vorspiel angekündigt wird.

I I.

Probleme mit dem intuitiven Denken

Vielen Lesern der Philosophie der Freiheit wird es wahrscheinlich ähn­lich gehen wie mir am Beginn meiner Studien vor rund 25 Jahren: Wenn vom intuitiven Denken die Rede ist, dann assoziieren sie damit eher Un­gewöhnliches, Besonderes - Ausnahmesituationen des Denkens. Falls sie philosophisch vorgeprägt sind, dann werden sie sich vielleicht an Kants Unterscheidung diskursiv - intuitiv in der Kritik der Urteilskraft erinnern, wo der intuitive Verstand (intellectus archetypus) nur als schiere, spekula­tive Möglichkeit genannt wird. Eine für Kant rein theoretische Größe ohne praktische Bedeutung und ohne tatsächliche Realität im Bewußtsein. Und als Anthroposophen, die mit Steiners Werk etwas vertraut sind, wer­den sie sich an die Intuition genannte höchste Form der höheren Erkennt­nis erinnern. Ebenfalls für den normalen Sterblichen eine rein theoreti­sche, für ihn im Augenblick kaum zu erreichende Größe, die ihm allen­falls Zukunftsmöglichkeiten andeutet, aber ohne faktische Relevanz für sein tatsächliches Bewußtsein jetzt ist. Was sich um Ausdrücke wie intel­lectus archetypus, anschauende Urteilskraft oder eben auch die hohe Stu­fe der Intuition rankt, das sind häufig die Verstehenshintergründe, wenn jemand auf einen Ausdruck stößt wie intuitives Denken. Man tut gut dar­an Assoziationen dieser Art beim Studium der Philosophie der Freiheit vorerst einmal beiseite zu schieben, sonst befindet man sich allzu leicht auf dem Holzweg. In der Philosophiegeschichte oder auch in der Anthro­posophie verankerte Begrifflichkeiten sind manchmal hilfreich und unent­behrlich für das Verständnis der Philosophie der Freiheit. Doch sie kön­nen auch gehörig hinters Licht führen, wenn man sie übereilt und ohne eingehende textimmanente Prüfung auf den sachlichen Kontext dieser Schrift überträgt. Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Es gibt na­türlich eine direkte Verbindung zwischen Steiners Intuitionsbegriff hier und dort. Aber es ist für das Erschließen der Philosophie der Freiheit - zumal für das anfängliche - mitunter sehr entlastend, sich an das zu hal­ten, was er in der Vorrede von 1918 sagt, daß nämlich niemand auf seine spätere Geistesforschung hinschielen muß, um den Inhalt dieses Buches annehmbar zu finden.

Kaum anthroposophische Forschung zum intuitiven Denken. Folge: Mythen und Legenden darüber.

Von anthroposophischen Autoren werden bisweilen regelrechte Mythen bezüglich des intuitiven Denkens konstruiert - (ein aktuelles Beispiel dazu aus der Zeitschrift Die Drei, 2/2008, S. 56 ist im Internet abrufbar unter http://www.diedrei.org/Heft_2_08/09%20Forum%20Anthroposo­phie%202-08.pdf) - was sicherlich im wesentlichen eine Folge des Um­standes ist, daß Steiner sich in der Philosophie der Freiheit über das intui­tive Denken nur sehr wenig explizit erläuternd äußert. Es gibt keine erschöp­fenden unmittelbaren Erklärungen zu diesem Ausdruck. Der Ter­minus in­tuitives Denken taucht überhaupt nur in den späteren Zusätzen der Zweit­auflage dieses Buches auf. Und auch hier - soweit ich sehe - nur im zwei­ten Teil des Buches, wo die grundsätzlichen Fragen des Denkens längst abgehandelt sind. In der Erstauflage von 1894 dagegen ist er nicht explizit vorhanden, aber das intuitive Denken der Sache nach. Denn im ersten Teil, wo dieser Ausdruck zwar fehlt, soll gleichwohl schon die Rede davon sein. Denn: "Dieser [erste Teil, MM] stellt das intuitive Denken als erlebte innere Geistbetätigung des Menschen hin. " (S. 254) Man muß demnach unterstellen, daß dort, wo im ersten Teil vom Denken die Rede ist, und zwar schon 1894, Steiner das intuitive Denken meint. Das deckt sich mit der hier von mir vertretenen Auffassung vom intuitiven Denken als einem erkennenden, denn um dieses geht es ja dort. Anthroposophi­sche Autoren verweisen mit Vorliebe auf Steiners spätere Zusätze zur Philosophie der Freiheit, wenn sie eine Differenz zwischen dem intuitiven und dem sogenannten normalen Denken (was immer das sein mag) anhand dieser Schrift festzustellen glauben. Daß Steiner in die­ser Schrift (siehe oben) ausdrücklich darauf hinweist, daß im gesamten ersten Teil schon von diesem intuitiven Denken, und folglich auch im dritten Kapitel schon die Rede ist, das kommt ihnnen gar nicht in den Sinn. So sehr sind sie befangenen in einer apriorischen und ungeprüften Vorwegannahme dahingehend, das intuitive Element komme im gewöhn­lichen erkennenden Denken des Menschern grundsätzlich nicht vor.

Wie dem auch sei: Für den Interpreten ist das eine ziemlich vertrackte Si­tuation. Schließlich - man kann es nicht oft genug wiederholen - gründet in der Freiheit des intuitiven Denkens die Freiheit des Handelns. Weiß man aber nicht, was dieses intuitive Denken denn nun für Steiner ist, dann hat man nicht die Spur einer Aussicht zu begreifen, worin bei ihm die Freiheit des Handelns wirklich gründet. Mit allen Folgen, die das wieder­um für weiteres philosophisches Arbeiten mit diesem Buche hat. Es ist, als habe Steiner in der Zweitauflage auf den letzten Seiten dieser Schrift dem Verständnis einen regelrechten Riegel vorgeschoben. Das ist eine sehr sperrige, Mythenbildung geradezu herausfordernde Faktenlage und macht die Dringlichkeit offenbar, eine Klärung dieses Begriffs anhand des Textes voranzutreiben. Gerade wegen der kargen Erläuterungen, die Steiner dazu gibt, scheint es mir daher wichtig, wirklich auch alle ausdrü­cklichen Bemerkungen, die er dazu macht, in die Interpretation einzube­ziehen. Dazu gehört nun einmal, daß er es vorrangig als erkennendes Denken qualifiziert, dahingehend, daß durch das intuitive Denken "eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird", wie er im zweiten Zusatz von 1918 auf S. 255 ausführt. Und als ein in im Sinne dieser Erläuterung gekennzeichnetes erkennendes Denken wird es von jedem Denker ausgeübt, der sich erkennend betätigt, ganz gleichgültig, ob dieser seinem eigenen Denken schon Erkenntnisinteresse entgegengbracht hat oder nicht.

Diese Sachlage, daß das intuitive Denken in jedem Erkenntnisvorgang des normalen Bewußtseins wirksam ist, wird von anthroposophischen Auto­ren vielfach übersehen oder ignoriert. Stattdessen erhält es einen ganz ei­gentümlichen Status, in dem Sinne daß es auf jeden Fall nicht im norma­len, naiven Denkbewußtsein anzutreffen sei.

Einen derartigen Mythos etwa konstruiert Marcelo da Veiga Greuel in seinem Buch Wirklichkeit und Freiheit, Dornach 1990, S. 46 f, wenn er dort sagt: "Das intuitive, durch die Selbstreflexion entdeckte Denken, ist also nicht die Form des Denkens, welche im naiven Bewußtsein vor­kommt. Hier gilt vielmehr durchgängige Diskursivität, d.h. ein sich in zeitlicher Schrittfolge vollziehendes und an die Wahrnehmung der Sinne gebundenes Denken, das sich seines tätigen Ursprungs nicht bewußt wird."

Diese These wird quellenkritisch durch nichts weiter belegt als den Hin­weis darauf, daß es, "eine Wahrnehmung" sei, "in der der Wahrnehmende selbst tätig ist, und" ebenso " ... eine Selbstbetätigung, die zugleich wahr­genommen wird", wie Steiner auf S. 256 in einer allerdings etwas anderen Absicht anmerkt. Was der Autor hier nicht berücksichtigt, ist, daß Steiner an dieser Stelle nicht generell charakterisierend vom intuitiven Denken spricht, sondern in einem engeren Sinne vom intuitiv erlebten Denken. (Was der Autor übrigens auch noch irreführend zitiert.) Und nur darauf, auf dieses intuitiv erlebte Denken trifft die Kennzeichnung zu, daß es "eine Wahrnehmung" sei, "in der der Wahrnehmende selbst tätig ist, und" ebenso " ... eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird". Denn in diesem Fall nimmt der Denker aktiv-tätig den ideell-begrifflichen Gehalt seines Denkens wahr - dies entspricht einer von Steiner durchgän­gig im philosophischen Schrifttum vorgetragenen Ansicht vom Denken als Auffassungs- oder Wahrnehmungsorgan für Begriffe und Ideen. Und er nimmt seine eigene aktuelle denkerische Aktivität wahr.

Das (begrifflicher Inhalt und denkerische Aktivität) sind zwei verschiede­ne Wahrnehmungen, die häufig verwechselt oder gleichgesetzt werden, aber nicht verwechselt werden dürfen. Eine derartige Verwechselung bzw Gleichsetzung findet sich etwa im Kommentarteil des im übrigen sehr zu empfehlenden Buches von Renatus Ziegler, Intuition und Ich-Erfahrung, Stuttgart, 2006, S. 418. Ziegler paraphrasiert dort diesen Passus des zwei­ten Zusatzes von 1918 aus dem Kapitel Die Konsequenzen des Monismus mit tätigem Wahrnehmen und wahrnehmendem Tätigsein, wobei zwi­schen diesen seinen beiden Kennzeichnungen von der Sachaussage her für mich kein Unterschied zu erkennen ist. Tätiges Wahrnehmen und wahrnehmendes Tätigsein besagt in meinen Augen jeweils dasselbe: ein aktives Wahrnehmen. Während auf der anderen Seite die von Steiner aus­drücklich hervorgehobene Wahrnehmung der Selbstbetätigung in Zieglers Kommentierung vollständig untergeht. Doch darum geht es ja gerade hier: Nicht nur ist die ideelle Wahrnehmung Folge einer Aktivität, son­dern diese wahrnehmende Aktivität ihrerseits wird ebenfalls vollbewußt wahrgenommen und als Aktivität auch erlebt. Sie bleibt nicht etwa vorbe­wußt, bewußtseinsunterschwellig oder gar völlig unbewußt wie manche glauben. Es müßte also bei Ziegler korrekterweise heißen: tätiges Wahr­nehmen und wahrgenommenes Tätigsein oder besser Wahrnehmen des Tätigseins. (Vielleicht handelt es sich hier nur um einen sprachlichen Lapsus in Zieglers Kommentierungen. Im Hauptteil seiner Arbeit, der al­lerdings nicht mehr explizit an den Text der Schrift angebunden wird, trifft er diese Unterscheidung sehr wohl.) Die Wahrnehmung des begriff­lichen Inhalts (als Resultat des tätigen Wahrnehmens oder wahrnehmen­den Tätigseins) findet bei jedem begrifflichen Denkvorgang statt. Die Wahrnehmung der Selbstbetätigung (wahrgenommenes Tätigsein/Wahr­nehmen des Tätigseins) aber nur, wenn der Denker seine erlebende Auf­merksamkeit bewußt auch auf die eigene denkerische Aktivität hinorien­tiert. Sonst wird sie einfach übersehen, weil sie weiter nicht interessiert und somit unter der Schwelle des Bewußtseins bleibt.

Der Ausdruck intuitiv erlebtes Denken trifft also nur auf ein Denken zu, in dem beide Wahrnehmungsformen (Inhalt und Tätigkeit) wirklich vor­liegen. Damit kennzeichnet er etwas, das Steiner im Zusatz von 1918 zum 3. Kapitel (S. 55) einfordert, wenn er dort sagt: "... es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem «Ich» nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint", und ist somit ein terminus technicus für erlebtes gegenwärtiges Denken. (Man beachte: für erlebtes, nicht für beobachtetes gegenwärtiges Denken. Das aber selbstverständlich auch als Erkenntnismittel in der Beobachtung des Denkens zu finden ist, weil ja dann die Erfahrungen oder Erlebnisse des Denkens selbst einer denkenden Betrachtung unterworfen werden.)

Es ist übrigens, soweit ich sehe, der einzige Versuch da Veiga Greuels - um wieder auf diesen zurückzukommen - sich am expliziten Steinerschen Sprachgebrauch intuitives Denken etwas zu orientieren. Wohlgemerkt am Ausdruck intuitives Denken und nicht nur an dem der Intuition, den er obendrein weitgehend links liegen läßt, ohne sich Steiners Ausführungen dazu näher anzusehen. Und bis auf dieses eine, irreführende und nicht weiter aufgeschlossene Zitat verliert er kein Wort mehr darüber, was Stei­ner höchstselbst in der Schrift ausdrücklich zum Begriff intuitives Denken sagt. Und so hält der Leser dann am Ende ein Buch in der Hand. Eine wissenschaftliche Arbeit, die ihm versichert, das intuitive Denken komme im naiven Bewußtsein nicht vor. Deren Autor unter anderem Steiners Freiheitsverständnis auf die Spur kommen möchte. Der dem Leser nichts näheres über Steiners Intuitionsbegriff berichtet, und noch viel weniger über den im Sachzusammenhang entscheidenden Steinerschen Sprachge­brauch das intuitive Denken betreffend. Man fragt sich: Warum tut er das nicht? - Warum führt er einen Begriff vom intuitiven Denken vor, der Steiners eigene direkte Äußerungen dazu nahezu komplett ignoriert? Dem jede seriöse Untersuchungsgrundlage für die fragliche Behauptung fehlt! Die Folgen treten dann auch zu Tage. Denn: Daß das naive Bewußtsein, das sich "seines tätigen Ursprungs nicht bewußt" ist, nur in der Lage sein sollte, diskursiv und an die Sinne gebunden zu denken, dünkt mir aben­teuerlich. Warum sollte das der Fall sein? Es würde doch bedeuten, daß dieses Bewußtsein solange nicht imstande wäre, reinen, sinnlichkeitsfrei­en - etwa mathematischen oder philosophischen - Gedanken nachzuge­hen, solange es sich seines tätigen Ursprungs nicht bewußt ist. Das ist denn doch zu weit hergeholt. Ein derartiges Junktim läßt sich aus der Phi­losophie der Freiheit nun wirklich nicht ablesen.

Der Umstand, daß der Autor diese disparaten Sachverhalte (Wissen um die Tätigkeit des Denkens und Befähigung zum reinen Denken - Wer sich des tätigen Ursprungs seines Denkens nicht bewußt ist kann nur an die Sinne gebunden denken) derart sachwidrig verquickt, geht zu erheblichen Teilen auf eine fehlende Textanalyse zurück. Aber die ganze Passage of­fenbart darüber hinaus auch ein derartiges gedankliches, hier nicht analy­sierbares Durcheinander, daß die Vermutung nahe liegt, ob dahinter nicht ein fundamentales und weit reichendes Mißverstehen dieser Schrift steht, das nicht originär auf eigenem Boden gewachsen ist, sondern mittelbare Folge ist einer bestimmten philosophischen Schulenbildung innerhalb der Anthroposophie, die nicht hinreichend unterscheidet zwischen dem Beob­achten und dem Erleben des aktuellen Denkens. (Siehe hierzu auch die Ausführungen an anderer Stelle auf dieser Homepage.)

(Noch weit ärger, dies sei kurz angemerkt, ist die Sachlage bei Florin Lowndes, der sich in seinem Buch Das Erwecken des Herzdenkens, Stutt­gart 1998, auf S. 20 ff in eine völlig haltlose Phantastik über das intuitive Denken versteigt. Und zwar ohne auch nur den Schimmer einer Begrün­dung für seine Auffassung an der Philosophie der Freiheit selbst zu lie­fern. Bei ihm wird es gar als "überlogisches" Denken etikettiert, mit des­sen Hilfe allein der "rein geisteswissenschaftliche" - sprich: esoterische - Charakter des Buches zugänglich sei. Das somit also weit jenseits dessen liegt, wozu das normale Denkbewußtsein in der Lage ist. Woher er seine Weisheiten hat und warum er das glaubt, das erklärt der Autor dem Leser erst gar nicht. Dafür deckt er ihn aber mit einer wahren Flut esoterischen Beiwerks und zusammengewürfelter Vortragszitate ein, die den Unwis­senden beeindrucken mögen, faktisch aber doch nur bluffen und Sach­kenntnis lediglich vortäuschen. Ein wahrhaft dokumentationswürdiges Beispiel für mangelnde Sorgfalt, Paralogik des Denkens und Pseudowis­senschaftlichkeit innerhalb der anthroposophischen Bewegung, wenn sich ihre Autoren mit der Philosophie der Freiheit und speziell mit dem intui­tiven Denken befassen. Und ein besonders symptomatisches Beispiel für den Zustand dieser Bewegung, da Lowndes auf der Umschlagseite von seinem Verlag Freies Geistesleben gleich mit drei umfangreichen Bänden zum Thema angekündigt wird. Vom Schaden, der damit im Erkenntnisle­ben des Lesers und für dessen weitere Entwicklung angerichtet wird will ich erst gar nicht reden. Mir scheint es bezeichnend für die wissenschaftli­che Gesinnung, wenn Autoren wie Lowndes von bekannteren anthroposo­phischen Verlagen mit großem Aufwand ins Publikum gepreßt werden, während andere Autoren wie etwa Lorenzo Ravagli, die wirklich etwas Substantielles zu sagen haben, eigene Verlage gründen müssen, damit sie überhaupt Gehör finden. Irgendwo auf dieser Linie anthroposophischer Pseudowissenschaft liegt auch, was das Dornacher Vorstandsmitglied Sergej Prokofieff seinem Leser über die Philosophie der Freiheit und das intuitive Denken auftischt: Fachlich substanzlos, dafür umso mehr aufge­schäumt mit reichlich Esoterik und suggestiv-dämagogischem Steinerkult. Näheres dazu siehe hier.) 

Es macht allerdings für den Interpreten einen maßgeblichen Unterschied aus, ob ein philosophischer Autor vom intuitiven Denken spricht, oder vom intuitiv erlebten Denken. Beachtet man diese Differenz nicht, dann kommt man zu allen möglich irreführenden Auffassungen, die zwangsläu­fig Folgen haben für das Verständnis der Philosophie der Freiheit insge­samt. (Ich sage das ganz im Bewußtsein eigener leidvoller Erfahrungen mit diesem Begriff.)

Um es zusammenzufassen: Die von Marcelo da Veiga Greuel vertretene Auffassung, das intuitive Denken komme im normalen (naiven) Bewußt­sein nicht vor, scheint mir unplausibel. Und schon gar nicht, so meine ich, läßt sich seine Ansicht mit der von ihm angeführten Textstelle belegen. Vielmehr gilt: Das intuitive Denken ist nicht etwa das erst "durch Selbst­reflexion entdeckte Denken", wie es bei da Veiga Greuel heißt, sondern, das entdeckende, erkennende Denken. Und als solches kann es sich eben auch selbst entdecken, erkennen, und vor allem: seinen intuitiven und dar­auf basierend seinen Freiheitscharakter entdecken und erkennen. Worauf Steiner ja eigens hinweist, wenn er (S. 255) jene Methode, die ihm in der Philosophie der Freiheit gleichermaßen zur Erhellung der Freiheitsfrage wie der näheren Beleuchtung des Denkens dient, selbst auch als intuitives Denken bezeichnet, und andernorts als ein Verfahren, das man gewöhn­lich in philosophischen Arbeiten angewendet findet. Wer sich damit dem intuitiven Denken erlebend und verstehend zuwendet, der erkennt den Freiheitscharakter des intuitiven Denkens (S. 254). Was sich nicht zuletzt doch auch mit der Tatsache der Wesensgleichheit von beobachtendem und beobachtetem Denken deckt, wie sie im drittem Kapitel der Philosophie der Freiheit betont wird. Insofern ist auch die von da Veiga Greuel oben getroffene, jedoch von Steiner weder hier noch sonst im Buche gebrauch­te Unterscheidung diskursiv-intuitiv nicht eben hilfreich im fraglichen Zu­sammenhang, sondern führt auf Abwege. Denn es geht ums Erkennen. Und jede Erkenntnis, ob sinnlich oder übersinnlich, ob im naiven oder kritischen Bewußtsein, operiert nach Steiner mit Intuitionen, also intuitiv, sonst wäre es keine Erkenntnis. Die Unterscheidung diskursiv-intuitiv, wie sie für Immanuel Kants Erkenntnisbegriff charakteristisch ist, dahin­gehend, daß dem Menschen ohnehin nur ein sinnlichkeitsgebundenes dis­kursives und kein intuitives (auf das Sinnlichkeitsfreie, Übersinnliche be­zogene) Erkenntnisvermögen zugestanden wird, - siehe dazu etwa den § 77 seiner Kritik der Urteilskraft -, kommt bei Steiner schlichtweg nicht vor. Für Steiner, und da liegt eine der basalen Differenzen zu Kant über­haupt, ist die intuitive, übersinnliche oder sinnlichkeitsfreie Wahrneh­mung konstitutiv für den Erkenntnisbegriff. Das heißt: in jeder Erkenntnis ist bereits dieses intuitive, übersinnliche respektive sinnlichkeitsfreie Ele­ment enthalten. (Weiteres dazu siehe auch hier)

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Versuch eines Verständnisansatzes

Auf fünf wesentliche Fakten ist nach meiner Einschätzung bei dem Be­mühen um eine begriffliche Klärung des intuitiven Denkens das Augen­merk besonders zu richten:

1) Das intuitive Denken wird von Steiner als diejenige Methode gekenn­zeichnet, die diesem Buche als Forschungsverfahren zugrunde liegt. Und die, wie oben gezeigt wurde, nach Steiner explizit dieselbe ist, "die man gewöhnt ist, in philosophischen Arbeiten zu finden." Sie liegt also nicht nur der Philosophie der Freiheit zugrunde, sondern philosophischen Un­tersuchungen ganz allgemein.

2) Für den Erkenntnistheoretiker Steiner ist notwendigerweise vor der Beantwortung der Freiheitsfrage die Erkenntnisfrage zu klären. "Denn ohne die Erkenntnis der denkenden Betätigung der Seele ist ein Begriff des Wissens von etwas, also auch von einer Handlung nicht möglich. Wenn wir erkennen, was Denken im allgemeinen bedeutet, dann wird es auch leicht sein, klar darüber zu werden, was für eine Rolle das Denken beim menschlichen Handeln spielt", um Steiners Argumentation von S. 23 der Philosophie der Freiheit noch einmal aufzugreifen. Deswegen hängt aus logisch-systematischen Gründen die Freiheitsfrage von der Er­kenntnisfrage ab und kann nur dieser nachfolgend gelöst werden. Und man sieht auch, es geht in der Argumentation Steiners nicht darum irgend welche Spezialformen des Denkens erforschen, sondern zu klären, "was Denken im allgemeinen bedeutet." Das wird im ersten Teil der Philoso­phie der Freiheit - und da geht es ja vielfach um diese Frage - auch in ge­radezu augenfälliger Weise sichtbar. Da bleibt für mystifizierende Über­höhungen des dort untersuchten Denkens überhaupt kein Raum, und auch kein Raum, ihm von vornherein irgend welche Eigenschaften anzuheften, die fern abliegen von dem, was es gewöhnlich unter normalen Verhältnis­sen tut.

3) Steiners entsprechende Hinweise auf den generellen Freiheitscharakter des Erkennens in der Schrift Wahrheit und Wissenschaft (s.o.) und die dortigen Vorausdeutungen auf die Philosophie der Freiheit, ferner

4) der Umstand, daß er das intuitive Denken in seiner knappen Kenn­zeichnung auf S. 255 der Philosophie der Freiheit ebenfalls in einem ge­neralisierenden Sinn mit der Erkenntnistätigkeit verknüpft, wenn er sagt: durch das intuitive Denken wird »eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt«, - man beachte: eine jegliche Wahrnehmung und nicht etwa nur geistig-ideelle respektive auf sinnlich­keitsfreiem Denken beruhende - und schließlich

5) die Tatsache, daß er (ebd., S. 253 f) in diesem intuitiven Denken Frei­heit überhaupt begründet sieht, was angesichts der unter 2) genannten Sachlage logisch konsequent ist und sich auch mit seinen Ausführungen in Wahrheit und Wissenschaft bezüglich des Freiheitscharakters jedes Er­kennens deckt, verweisen unverkennbar darauf: Man wird auf jeden Fall seinen Erkenntnisbegriff einbeziehen müssen, wenn es um die begriffli­che Klärung des intuitiven Denkens als Grundlage jeder freien Handlung geht.

Und hier wiederum scheint mir bemerkenswert, daß gleichsam am philo­sophischen Quellort dieses Begriffs, jener Passage, in der Steiner in der Philosophie der Freiheit (S. 95) den Intuitionsbegriff einführt, in keiner Weise von irgendwelchen Sonderformen des Denkens die Rede ist, son­dern von einem Denken, das sich an ganz konkreten sinnlichen Gegen­ständen entzündet. Von einer Schnecke und einem Löwen ist dort (S. 95) die Rede, mit denen sich das Denken erkennend befaßt. "Diese Tätigkeit des Denkens", heißt es, "ist eine inhaltvolle. Denn nur durch einen ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen, warum die Schnecke auf einer niedrigeren Organisationsstufe steht als der Löwe. Der bloße An­blick, die Wahrnehmung gibt mir keinen Inhalt, der mich über die Voll­kommenheit der Organisation belehren könnte." Und jetzt folgt die Passa­ge mit der Einführung des Intuitionsbegriffs: "Diesen Inhalt bringt das Denken der Wahrnehmung aus der Begriffs- und Ideenwelt des Menschen entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern. Die Form, in der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuition bezeichnen. Sie ist für das Den­ken, was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist. Intuition und Beob­achtung sind die Quellen unserer Erkenntnis." In der Schrift Von Seelen­rätseln erläutert er diesen Abschnitt noch einmal näher und führt dort aus: "Ich sage also hier: Intuition wolle ich als Ausdruck für die Form gebrau­chen, in der die im Gedankeninhalt verankerte geistige Wirklichkeit zu­nächst in der menschlichen Seele auftritt, bevor diese erkannt hat, daß in dieser gedanklichen Innenerfahrung die in der Wahrnehmung noch nicht gegebene Seite der Wirklichkeit enthalten ist. Deshalb sage ich: Intuition ist «für das Denken, was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist»." Und weiter: "Mir gilt eben Intuition nicht «bloß» als die «Form, in der ein Gedankeninhalt zunächst hervortritt», sondern als die Offenbarung eines Geistig-Wirklichen, wie die Wahrnehmung als diejenige des Stofflich Wirklichen." (GA-21, Dornach 1976, S. 61)

Nur nebenbei gesagt steckt in dieser letzten Formulierung Steiners ein wesentliches Verständnismittel, die beiden scheinbar verschiedenen Varia­nten seines Intuitionsbegriffes (erkenntnistheoretische und esoteri­sche Variante) sachlich aufeinander zu beziehen. Gerade durch Steiners Gebrauch des Intuitionsbegriffs in erkenntnistheoretischen Zusammen­hängen tun sich viele Leser außerordentlich schwer, den Charakter des in­tuitiven Denkens realistisch einzuschätzen, weil sie zunächst an die höhe­re Form der Intuition denken, die im Zusammenhang mit dem anthropo­sophischen Schulungsweg von Steiner erörtert wird. Was in der Kürze dazu gesagt werden kann ist, daß es sich hier nicht um zwei dem Wesen nach verschiedene Formen der Intuition handelt, sondern daß sie nur dem Grade oder der Qualität nach voneinander verschieden sind. Wenn auch in dieser Hinsicht in Abhängigkeit vom Schulungsfortschritt ganz erheb­lich. Aber in beiden Fällen geht es um die "Offenbarung eines Geistig-Wirklichen". Das eine Mal auf der Ebene des normalen, das andere Mal auf der des besonders geschulten Bewußtseins. Und schon in jedem ge­wöhnlichen Erkenntnisvorgang hat man es mit einem "Geistig-Wirkli­chen" zu tun, das durch Intuition - einer der zwei genannten Erkenntnis­quellen - gegeben wird. Eben das wird durch Steiners Erläuterung in der Schrift Von Seelenrätseln noch einmal ausdrücklich unterstrichen. Inso­fern ist es auch folgerichtig, wenn Steiner in der Vorrede von 1918 zur Philosophie der Freiheit (S. 9) darauf hinweist, daß er in diesem Buche hat zeigen wollen, " ... wie eine unbefangene Betrachtung, die sich bloß über die beiden gekennzeichneten für alles Erkennen grundlegenden Fra­gen erstreckt, zu der Anschauung führt, daß der Mensch in einer wahrhaf­tigen Geistwelt drinnen lebt."

Man kann es ja manchmal nicht drastisch genug sagen: Aber wenn ich darüber nachdenke, was eine vor mir liegende Konservendose von einem Baumwollsocken unterscheidet, dann liegen dieser erkennenden Unter­scheidung Intuitionen zugrunde, denn - um Steiners Gedankengang von eben aufzugreifen - "nur durch einen ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen," daß ein Baumwollsocken aus textilem Material gefer­tigt ist, das organischen, pflanzlichen Ursprungs ist und eine Konserven­dose aus Metall. "Der bloße Anblick, die Wahrnehmung gibt mir keinen Inhalt", der mich über die materielle Beschaffenheit und Herkunft dieser Gegenstände "belehren könnte" . "Diesen Inhalt bringt das Denken der Wahrnehmung aus der Begriffs- und Ideenwelt des Menschen entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern." Die Form, in welcher der Ge­dankeninhalt bei dieser Unterscheidung zunächst auftritt, nennt Steiner Intuition. Der erkennenden Unterscheidung von Konservendose und Baumwollsocken liegt demnach zugrunde ein Gedankeninhalt, der die Offenbarung eines Geistig-Wirklichen ist, wie die Wahrnehmung dieser beiden Gegenstände diejenige des Stofflich Wirklichen. Das heißt: Die Er­kenntnis eines ganz normalen sinnlichen Gegenstandes geschieht im Rü­ckgriff auf eine geistige Wirklichkeit, die im begrifflichen Inhalt veran­kert ist, den das Denken in der Intuition findet.

Mit Blick auf die oben unter Punkt 1) - 5) genannte Faktenlage läßt sich dazu sagen: Das von Steiner angeführte Beispiel skizziert paradigmatisch die Struktur des intuitiven Denkens, indem er hier im Grundsätzlichen darlegt, wie eine Wahrnehmung - in diesem Fall eine sinnliche - in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird. Wobei das Auftreten der Intui­tion noch nicht die eigentliche Erkenntnis ist, sondern, wie er sagt, lediglich deren Voraussetzung auf der ideellen Seite. Das ist übrigens ein Punkt, der besondere Beachtung verdient, und auch von mir in den hier veröffentlichten Arbeiten nicht immer adaequat behandelt wird. Deswe­gen noch einmal der Hinweis: Die Intuition allein ist noch nicht die Er­kenntnis, sondern es muß neben der Wahrnehmung noch etwas nur vom Ich Ausgehendes hinzukommen, was den eigentlichen Erkenntnisakt - die Synthese zwischen intuitiv und wahrnehmlich Gegebenem - vollzieht. Erst in der sachgemäßen Verbindung der von zwei Seiten gegebenen Wirklichkeitsteile durch das Ich liegt die Erkenntnis selbst. Auf S. 146 der Philosophie der Freiheit spricht er diesbezüglich von einer "denken­den Durchsetzung der Wahrnehmung". Diese Vereinigung des intuitiv (durch Intuition) Gegebenen mit dem durch die Wahrnehmung Gegebe­nen ist ein Akt der Freiheit, um noch einmal Steiners Bemerkung aus Wahrheit und Wissenschaft (s.o., S. 84) aufzunehmen: "Denn wenn das unmittelbar Gegebene und die dazugehörige Form des Denkens durch das Ich im Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so kann die Vereinigung der sonst immer getrennt im Bewußtsein verbleibenden zwei Elemente der Wirklichkeit nur durch einen Akt der Freiheit geschehen." Dieser Frei­heitsakt findet folglich in jedem Erkenntnisprozeß statt. Ein Denken, das intuitiv (auf der Basis von Intuitionen) diesen Erkenntnis- und Freiheits­akt vollzieht, nennt Steiner in der Philosophie der Freiheit ein intuitives Denken. Durch dieses Denken wird "eine jegliche Wahrneh­mung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt".

Dieses Paradigma gilt nun generell für den Erkenntnisprozeß, mit der Va­riante, daß die mit ideellem Gehalt zu verbindenden Wahrnehmungsteile nicht nur sinnliche sein müssen, sondern beispielsweise selbst auch ideel­le sein können. In diesem Fall hat man es etwa mit reinem Denken zu tun, wie es die philosophisch gedankliche Entfaltung der Philosophie der Freiheit selbst über weite Strecken hin demonstriert. Das im einzelnen unter Einbeziehung von Steiners in der Schrift (S. 133) erweitertem Wahrnehmungsbegriff - "Man wird aus dem schon Vorangehenden, aber noch mehr aus dem später Ausgeführten ersehen, daß hier alles sinnlich und geistig an den Menschen Herantretende als Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten Begriff erfaßt ist." - darzulegen würde hier zu weit führen. So viel soll nur resümierend gesagt sein: Weil im Erkenntnisvorgang immer - auf welchen Wahrnehmungstyp er nun auch bezogen sein mag - vom Denken intuitiv der ideelle Gehalt ge­schöpft, und die Wahrnehmung mit dem intuitiv Gegebenen denkend durchsetzt wird, deswegen ergibt es einen guten Sinn, wenn Steiner (S. 255) hervorhebt, daß durch das intuitive Denken "eine jegliche Wahrneh­mung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt" werde. Das deckt sich vollständig mit dem, was er bei Einführung des Intuitionsbegriffs zu der Angelegenheit sagt. Da ist nichts Mystisch-Nebulöses, nichts Abgehobe­nes, nichts Rätselhaftes drin, sondern nur eben das, was er über den Er­kenntnisvorgang ohnehin schon bis dahin im philosophischen Schrifttum geäußert hat und auch in der Philosophie der Freiheit schreibt. Denn die Sache liegt für Steiner so, "daß alle in meiner «Philosophie der Freiheit» vorgebrachten Grundanschauungen bereits in meinen früheren Schriften ausgesprochen und in dem genannten Buche nur in einer zusammenfas­senden und sich mit den philosophisch-erkenntnistheoretischen Ansichten vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts auseinandersetzenden Art vorge­tragen sind." (GA-21, Dornach 1976, S. 59) Der Ausdruck intuitives Den­ken benennt also nichts wirklich Neues gegenüber diesem älteren Schrift­tum, sondern was dort gesagt wird, findet sich auch in der Philosophie der Freiheit. Das heißt: das intuitive Denken ist tätig sowohl bei der Er­kenntnis der gegenständlichen Welt, der seelischen und auch der geistig-ideellen Welt; in letzterem Fall zum Beispiel bei philosophischen Frage­stellungen, wie sie die Abfassung einer Schrift nach Art der Philosophie der Freiheit aufwirft. Aber auch bei geistigen Erfahrungen, die über das, was auf der Ebene der Philosophie der Freiheit anzusiedeln ist, weit hin­ausreichen, worauf Steiner in den späteren Anmerkungen zu seinen Grundlinien... ausdrücklich hinweist. (Siehe Grundlinien einer Erkennt­nistheorie der Goetheschen Weltanschauung, GA-2, Dornach 1979, S. 137 f) Es ist als erkennendes Denken ein Denken, das in Geistig-Wirkli­ches tätig-empfangend hineinreicht, um Steiners Erläuterung aus der Schrift Von Seelenrätseln (siehe oben) aufzugreifen.

Intuitives Denken versus reines oder sinnlichkeitsfreies Denken

Für Mystifikationen des intuitiven Denkens, so scheint mir, gibt es in der Philosophie der Freiheit keinen Anlaß, keine Materialgrundlage und auch keine theoretischen Spielräume. Will man sich vorsichtig an dem orientie­ren, was Steiner vortragsweise 1918 über das intuitive Denken sagt, in­dem er es dort als sinnlichkeitsfreies Denken charakterisiert, so hat man damit im Prinzip ganz gut die Sachlage getroffen. (Siehe GA-67, Dornach 1962, S. 352; Vortr. Berlin 20. April 1918. Siehe ebendort auch S. 336 ff im selben Vortrag wesentliches zur Frage der in der Philosophie der Frei­heit vorausgesetzten Bewußtseinsverfassung.) Dies sagt zwar noch nicht alles, aber immerhin wesentliches über das intuitive Denken aus; einen Begriff, der ja nicht ohne Grund von Steiner in der Zweitauflage neu ein­geführt wird, und nicht an seiner statt der des sinnlichkeitsfreien bzw. rei­nen Denkens, der seinerseits mehrfach in der Schrift erscheint. Deswegen spreche ich von vorsichtiger Orientierung. Denn für das Verständnis die­ses Buches sind nicht Steiners Vorträge zuständig, sondern das, was in der Schrift selbst steht. Das soll sagen: Die Differenzierung ist bewußt von Steiner so gesetzt, und entspringt nicht seiner zufälligen Verfasser­laune oder lediglich stilistischen Erfordernissen. Die beiden Begriffe sind also nicht völlig deckungsgleich, selbst wenn Steiner gelegentlich auch in Aufsatzform die Bedeutungsvariante sinnlichkeitsfreies Denken zu favori­sieren scheint. (Siehe in diesem Sinne verschiedene Stellen in GA-34, Dornach 1987; S. 126; S. 494; S. 495) Das reine Denken ist zwar stets ein intuitives Denken, aber nicht jedes intuitive Denken ist ein reines Denken im engeren Sinne. Eine Differenz ist vorhanden und vor allem: sie ist nicht mehr vernachlässigbar wenn es darum geht, den Freiheitsgrad der Erkenntnis im allgemeinen zu beurteilen. Man käme sonst unter Umstän­den in die Verlegenheit, für den Fall der sinnlichen Erkenntnis entweder ohne Handhabe dazustehen oder gar der nicht mit dem Begriff des reinen Denkens im engeren Sinne zu umfassenden sinnlich-gegenständlichen Er­kenntnis Unfreiheit zu attestieren und Freiheit nur jener durch das reine Denken. Mehr als kurios wäre das, wenn just jener exemplarische Fall von erkennender Betätigung, anhand dessen Steiner den Intuitionsbegriff in der Philosophie der Freiheit einführt, mit dem Begriff des intuitiven Denkens selbst gar nicht erreichbar und die Wahrheit ausgerechnet hier gar keine Freiheitstat wäre! Für denjenigen also, der nach der Freiheit des Erkennens überhaupt fragt, ist es daher nicht mehr harmlos, wie er mit dem Begriff des intuitiven Denkens verfährt. Er muß schon genauer hin­sehen - genauer, als Steiner in Vorträgen und Aufsätzen hin und wieder selbst. (Wie der Leser bemerkt haben wird, setze ich hier sinnlichkeits­freies und reines Denken gleich. Das wäre im Einzelfall vielleicht noch einmal genauer zu hinterfragen. Auf die Gesamtaussage hier, das intuitive Denken betreffend, hätte eine weitere Differenzierung dort allerdings kei­nen Einfluß. )

Wo aber liegt der Unterschied? - Der Begriff des intuitiven Denkens setzt einerseits (schon sprachlich) exakt am Moment der Intuition, das heißt an der Geistigkeit des Erkennens selbst an, wie sie in der Schrift eingeführt wird. Und er verfügt andererseits über eine größere Weite und An­schmiegsamkeit, als der des engeren sinnlichkeitsfreien oder reinen Den­kens, indem er das mit umgreift, was auch bei der Erkenntnis der gegen­ständlichen Welt an Geistigkeit vorhanden ist. Und nicht nur das: Er reicht sowohl nach unten, zur sinnlichen Erkenntnis, als auch nach oben, zur rein geistigen Erkenntnis, über den Bedeutungsradius des sinnlich­keitsfreien oder reinen Denkens hinaus, und korrespondiert infolgedessen auch mit der eben angedeuteten Erweiterung des Wahrnehmungsbegriffes in der Zweitauflage, wonach "alles sinnlich und geistig an den Menschen Herantretende als Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten Begriff erfaßt ist". Der Begriff des intuitiven Denkens ist folglich auf jede Erkenntnis anwendbar. In dieser Universalität gleicht er ganz und gar dem Erkenntnisbegriff Steiners. Und das scheint mir auch einsehbar konsequent. Denn wenn Wahrheit und Erkenntnis von Steiner als Freiheitstat begriffen wird, als Grundlage von Freiheit überhaupt aber das intuitive Denken gilt, dann muß freilich das intuitive Denken in jeder dieser Wahrheits- und Freiheitstaten vorhanden sein und ihnen diese Ba­sis geben, sonst hätten sie diesen Charakter nicht. Deswegen muß der Be­griff des intuitiven Denkens nach unten zum Sinnlichen und nach oben zum Geistigen mindestens ebenso weit reichen wie der Erkenntnisbegriff selbst. Insofern ist auch die Geistigkeit dieses Denkens bereits bei einer sinnlichen Erkenntnis erlebbar. Und die sinnliche Erkenntnis wegen ihrer intuitiven Wesenheit ein Akt der Freiheit. Wenn Steiner also in der Philo­sophie der Freiheit betont, durch das intuitive Denken werde "eine jegli­che Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt", dann heißt das auf die sinnliche Erkenntnis bezogen soviel wie: Schon die Er­kenntnis der sinnlichen Wahrnehmungswelt enthält stets die entscheiden­den Elemente des sinnlichkeitsfreien oder reinen Denkens in sich - näm­lich das intuitive, begriffliche, geistige Element, das nicht aus der sinnli­chen Wahrnehmung stammt, in jeder Erkenntnis zu finden ist, die Verbin­dung zur geistigen Wirklichkeit herstellt, und dadurch den freiheitlichen Charakter dieses Erkennens garantiert. Was sich nahtlos fügt zu einer Be­merkung an anderer Stelle, daß nach seinem Verständnis ein "jedes Er­kennen die Gesetzmäßigkeit des reinen Denkens zur Voraussetzung hat". (Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Er­kenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35, Dornach 1984, S. 321) In jedem Erkenntnisprozeß ist also reines oder sinnlichkeitsfreies Denken vorhanden. Er ist überhaupt nur Erkenntnisprozeß, soweit und in­sofern in ihm reines Denken vorhanden ist. Und eben das bringt Steiner ja an der zitierten Stelle zum Ausdruck, wenn er seinen Intuitionsbegriff an­hand einer Erkenntnis von Schnecke und Löwe einführend erläutert und in diesem Zusammenhang von den zwei Quellen der Erkenntnis spricht. "Mein Begriff eines Löwen" sagt er auf S. 107 der Philosophie der Frei­heit, "ist nicht aus meinen Wahrnehmungen von Löwen gebildet. Wohl aber ist meine Vorstellung vom Löwen an der Wahrnehmung gebildet." Der Begriff einer Sache stammt aus der Quelle der Intuition, die zur Wahrnehmung etwas hinzufügt, aber nichts aus ihr herauszieht. In den Begriff geht von der sinnlichen Wahrnehmung nichts ein, wohl aber in die Vorstellung. Das intuitive Denken ist, wenn man sich an Steiners oben erwähnte Erläuterung zum Intuitionsbegriff in der Schrift Von Seelenrät­seln hält, ein Denken, dem sich auf den unterschiedlichsten Seinsebenen Geistig-Wirkliches offenbahrt. Kurz und prägnant kann man es als eines bezeichnen, das sich nach intuitiv gegebenen reinen begrifflichen Inhalten richtet. Und als ein Denken, das sich nach begrifflichen Inhalten richtet, ist es essentieller Bestandteil einer jeden Erkenntnis. Das wird von Steiner nicht nur in der Philosophie der Freiheit klar und unmißverständlich ge­sagt.

Deswegen läßt sich vor dem Hintergrund des in der Philosophie der Frei­heit Gesagten auch nicht in Abgrenzung zu anderen Formen des erken­nenden Denkens von einem eigentlichen intuitiven Denken sprechen, wie es ein von mir sehr geschätzter kritischer Leser unlängst tat. Denn der Be­griff intuitives Denken ist Sammel- oder Oberbegriff für erkennendes Denken überhaupt, der nur Binnendifferenzierungen erlaubt - etwa in Richtung reines Denken. Aber keine Bewegungsräume mehr bietet in Richtung auf ein noch eigentlicheres intuitives Denken. Man kann aller­dings von einem eigentlichen reinen Denken sprechen, wenn man ein in­tuitives Denken meint, daß sich - etwa bei philosophischen oder mathe­matischen Fagestellungen - ausschließlich mit sinnlichkeits­freien Begrif­fen erkennend auseinandersetzt. Wo also auch auf der Wahrnehmungsseit­e nichts Sinnliches, sondern nur Geistig-Ideelles gege­ben ist. Erkenntnis besteht für Steiner immer in der Synthese von Wahrneh­mung (gleich welcher Art, ob sinnlich oder ideell-geistig) und Begriff, schließt also per definitionem immer begriffliches, reines Denken ein. (Siehe Grundlinien ... a.a.O., S. 137 f) Eine Erkenntnis ohne dieses intui­tive, begriffliche Denken wäre für Steiner gar keine, nicht vorstellbar - ein Unding. Die erkenntnistheoretisch, freiheitsphilosophisch und be­wußtseinsphänomenologisch herausragendste Eigenschaft des intuitiven Denkens liegt darin, neben allen übrigen Daseinsbereichen sich auch selbst erkennen und erklären zu können. Aber es ändert im letzten und entscheidenden Fall - der Beobachtungs des Denkens selbst - nicht die Art seiner Funktion, sondern nur den Inhalt oder Objektbereich mit dem es sich erkennend befaßt, indem es - intuitiv erlebend - ganz bei sich bleibt. ("Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet.") Man könnte doch allenfalls in bezug auf diese Selbsterklärungsleistung des intuitiven Denkens noch von einem eigentli­chen intuitiven Denken sprechen. Dafür aber bietet die Philosophie der Freiheit keinerlei Anhalt. Denn hierfür verwendet Steiner wahlweise die Ausdrücke Beobachtung, Betrachung, Anschauung des Denkens oder auch Denken über das Denken. Tätigkeiten, die vom intuitiven Denken vollzogen werden. Man kann also nur nach Objektbereichen oder Wahr­nehmungstypen weiter spezifizieren, an denen sich das intuitive Denken erkennend betätigt. Je nachdem, ob es sich mit dem sinnlichen, seelischen oder geistig-ideellen Bereich erkennend befaßt. Zum eigentlichen intuiti­ven Denken gehören indessen sämtliche Erscheinungsformen, in denen es aufzutreten vermag. So wie zur eigentlichen Währung Frankreichs sämtli­che Erscheinungsformen dieser Währung gehören - also auch Zwei-Cent-Münzen und nicht nur Zwanzig-Euro-Scheine.

Davon abgesehen: Auch das reine oder sinnlichkeitsfreie Denken im en­geren Sinne und für sich genommen birgt keinen Anlaß für Mystifikatio­nen. Die Befähigung dazu, der ausschließliche intuitive Umgang mit rei­nen Begriffen und Ideen ist unter den gegenwärtigen kulturellen Bedin­gungen ein durchaus normales menschliches Vermögen, wenn auch nicht überall gleich ausgeprägt. - Es ist bereits ein Vermögen des naiven Be­wußtseins. (Siehe hierzu etwa: Renatus Ziegler, Reines Denken und reine Begriffe: Einwände und Widerlegungen, in Jahrbuch für anthroposophi­sche Kritik, 2004, S. 71 ff.) Und dieses setzt in keiner Weise ein Wissen um den tätigen Ursprung des Denkens voraus, sonst müßte der reine Den­ker apriori ein Beobachter respektive Erkenner des Denkens sein. Man sollte dann die Beobachter des Denkens mit Vorrang bei den Mathemati­kern suchen, was so natürlich Unsinn ist. In der ungebührlichen Vermen­gung dieser beiden Sachebenen bei da Veiga Greuel, so meine ich, steckt unter Umständen weit mehr als nur ein persönliches Mißverständnis des Autors, sondern möglicherweise ein ernstes Verständnisproblem einer spezifischen philosophischen Schule innerhalb der Anthroposophie.

Nebenbei gesagt: Dieses Entdecken und philosophische Begründen des Freiheitscharakters des erkennenden Denkens gleichermaßen wie der dar­auf sich stützenden Freiheit des Handelns, hat Steiner eigenen Worten zu­folge ganz persönlich als ein außerordentlich mühevolles Geschäft erlebt. Dermaßen mühevoll, daß er, wie er am 4. November 1894 an die Schrift­stellerin Rosa Mayreder schreibt, vor lauter Schwierigkeiten gar nicht daran denken konnte, seinen Lesern einen Verständnisweg zur Lösung der Freiheitsfrage zu ebnen, sondern vorrangig und nahezu ausschließlich sich selbst. Und dabei auch noch manche Hürde gewaltsam überspringen mußte: "Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich versucht, die geeig­neten Wege sogleich für andere zu suchen. Ich bin meinen gegan­gen, so gut ich konnte; hinterher habe ich diesen Weg beschrieben. ... Willkürlich, ganz individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise durchge­arbeitet. Wenn man ans Ziel kommt, weiß man erst, daß daß man da ist." (Siehe, GA-39, Dornach 1987, Brief Nr. 402) Das ist nicht höflich zu­rückhaltendes Understatement eines brillianten philosophischen Kopfes, sondern durchaus im Wortsinne zu nehmen und kennzeichnet eine rezep­tionsgeschichtliche Sachlage, an der seine philosophischen Schüler bis heute hart zu beißen haben. Es rückt auch von dieser konkreten, for­schungspraktischen Seite den erkennenden und entdeckenden Charakter der von ihm dabei verwendeten und später intuitives Denken genannten Methode in ein deutliches Licht.

Weil für Steiner jedes Erkennen auf den oben genannten intuitiven Teil zurückgreift - unabhängig davon, ob dem Denker diese Tatsache bewußt ist oder nicht - kann das intuitive als erkennendes Denken auch von jedem naiven Denker ausgeübt werden, und wird auch von jedem erkennenden Denker ausgeübt. Und nicht erst dann, wenn dieser bereits ein Wissen um den tätigen Ursprung des Denkens hat. Das scheint mir auch eine Not­wendigkeit. Nicht nur weil entdeckendes und entdecktes - respektive beob­achtendes und beobachtetes - Denken wesensgleich sind. Sondern auch, weil erst nach der Entdeckung um bestimmte Sachverhalte des Den­kens gewußt wird. Wer aber sollte darüber prüfend und abwägend befin­den, ob eine Einsicht bezüglich des Denkens zutreffend ist oder nicht, wenn nicht das entdeckende Denken selbst? Ursprünglich entdeckt wer­den aber kann das Denken nur von einem Denken, das noch nichts von sich weiß. Also: Auch dieses selbstentdeckende Denken ist ein intuitives - erkennendes. Also ist zu sagen: Das intuitive Denken muß nicht notwen­digerweise auch intuitiv erlebt werden. Und zwar wird es dann nicht intui­tiv erlebt, wenn der Denker seine erlebende Aufmerksamkeit nicht eigens auf den Aktivitätsaspekt dieses Denken hin orientiert. Oder auch dann, wenn er selbst das Denken noch nicht für sich entdeckt hat, und für diesen Bereich seiner inneren Aktivität noch nicht sensibilisiert ist. Dann vollzieht er zwar im Erkennen das intuitive Denken, aber es fällt in sei­nem besonderen Tätigkeitscharakter aus seinem Erlebnishorizont heraus, weil er diesem keine gesonderte Aufmerksamkeit schenkt - was ja in den meisten Fällen, während wir uns erkennend betätigen, zweifellos der Fall ist; wenn wir zwar um Eigenarten des Denkens wissen, aber gleichwohl situativ bedingt nicht darauf achten. (Letzteres gilt auch für den Vorgang des reinen Denkens, wenn wir etwa von der Fragestellung derart absor­biert sind, daß wir unserer Tätigkeit keine Aufmerksamkeit zuwenden, sondern nur dem Inhalt des Denkens.) In diesem Fall hat der Denker nur die Resultate seines Denkens (den ideell wahrgenommenen begrifflichen Gehalt) im Bewußtsein, aber nicht den intuitiven Vorgang des Denkens selbst. Das heißt: die Wahrnehmung der Selbstbetätigung - eines der von Steiner angeführten beiden Kennzeichen für ein intuitiv erlebtes Denken - hat in diesem Fall nicht stattgefunden, wohl aber ein intuitives Denken. Das in­tuitive Erleben ist allerdings dann unverzichtbar, wenn es um die Er­kenntnis des eigenen Denkens geht, vor allem, aber nicht nur, hinsicht­lich des Aktivitätsaspektes dieses Denkens. Und erst hier könnte man davon sprechen, daß der naive Bewußtseinsstandpunkt gegenüber dem ei­genen Denken verlassen und einem kritischen - sprich: faktisch erkennend­en - gewichen ist. Man könnte präzisierend sagen: das intuitive Erle­ben des Denkens ist eine methodische Voraussetzung für eine Er­kenntnis des Denkens, die sich nicht nur der bloß formalen, logischen Sei­te des Denkens widmet (etwa im Rahmen einer erkenntnistheoreti­schen Erörte­rung), sondern der faktischen, bewußtseinsphänomenologi­schen, erkenntnispsychologischen - und auch seiner rein geistigen Seite.

Man kann also festhalten, und hier gibt es vielleicht eine gewisse Brücke der Verständigung zu Marcelo da Veiga Greuels Ansicht: Wenn ich ernst­haft und begründet von eigenem Denken oder einer moralischen Intuition als Grundlage meiner freien Handlung reden will, dann muß ich idealer­weise über das Zustandekommen dieses Gedankens bzw dieser morali­schen Intuition im Einzelfall dezidiert Auskunft geben können. Und das kann ich letzlich ja nur, wenn ich in der Lage bin, vor mir selbst zu recht­fertigen, daß beidem eine echte Denkleistung meinerseits zugrunde liegt, und nichts anderes, wie etwa Eingebungen und dergleichen. Und das wie­derum setzt verständlicherweise voraus, daß ich diesen Denkvorgang wirklich auch in den Einzelheiten intuitiv erlebt habe. Ihn also als meine eigene Erkenntnisleistung, als meine freie Schöpfung anerkennen kann, die auf eigener Tätigkeit basiert und nichts sonst. Ich muß also hier ein verläßlicher Zeuge meiner Denk- oder Erkenntnisleistung gewesen sein. Und das ist übrigens etwas, was im Prinzip jeder Mensch leisten kann, so­fern er nur mit Aufmerksamkeit auf das Zustandekommen seiner Gedan­ken achtet, und zu unterscheiden vermag, was nur Assoziation oder Ein­gebung ist, und was eigenes Denken ist.

Ein vielversprechender aber noch etwas unvollständiger An­satz bei Renatus Ziegler

Für interessierte Leser sei aus aktuellem Anlaß noch erwähnt: Das Ver­ständnis vom intuitiven Denken wie es hier anhand des Quellenmate­rials herausgearbeitet wurde, ist weitgehend deckungsgleich mit demjeni­gen, das Renatus Ziegler in seiner jüngsten Buchveröffentlichung Intuiti­on und Ich-Erfahrung, Stuttgart 2006, zugrunde legt, aber dort nicht nä­her belegt. Anders gesagt: es deckt sich weitestgehend mit Steiners Be­griff des reinen Denkens. Und dies läßt sich, so glaube ich wenigstens ansatz­weise gezeigt zu haben, auch gut an den einschlägigen Texten Steiners nachweisen. Und zwar ganz unabhängig von Ziegler selbst, oder den For­schungszusammenhängen in denen er persönlich steht. Bei Ziegler fehlt wie gesagt ein solcher Beleg noch, obwohl er es sicherlich ebenfalls bele­gen könnte. Daß es dort nicht hinlänglich geschieht, dafür gibt es viele Gründe, die nicht allein nur beim Autor liegen.

Für den Leser, vor allem wenn er mehr in akademischen Kontexten oder im Rahmen der Steinerforschung arbeitet, ist Zieglers Buch deswegen lei­der nur bedingt - z. B. als wertvolle und anregende Verständnishilfe - nutzbar zu machen, weil er in wissenschaftlichen Kontexten natürlich quellenkritische Nachweise benötigt, die auch demonstrieren können, daß er Steiner nicht lediglich eine subjektiv-willkürliche Lesart seiner Begriff­lichkeit aufprojiziert. Insbesondere bei Begrifflichkeiten wie Beobach­tung des Denkens oder intuitives Denken, die unhinterfragt zu so hochgra­dig abenteuerlichen Verständnisansätzen führen, wie es hier an einigen Beispielen gezeigt wurde, ist das notwendig. Und so ein Prüfungsnach­weis läßt sich der inneren Konsistenz der Gedankenführung eines Autors allein nicht entnehmen; diese mag im übrigen noch so scharfsinnig sein, und der Autor gar wie im vorliegenden Fall Lehrbuchansprüche anmel­den.

Die Frage ist eben, ob sein Brückenschlag von der Untersuchung des Denkens zur Philosophie der Freiheit auch sachlich zu rechtfertigen ist. Konkret: Ist sein Verständnis etwa vom intuitiven Denken dasselbe, wie es Steiner in seiner Schrift meint? Das läßt sich nun einmal nur durch eine Untersuchung der von Steiner publizierten Texte und einen entsprechen­den Vergleich herausfinden. Bezüglich dieser begrifflichen Klärung des intuitiven Denkens aber steht Ziegler bedauerlicherweise kaum anders da als etwa Prokofieff, Kirn, Lowndes oder da Veiga Greuel, dessen persön­licher Mythos vom intuitiven Denken noch heute seine Spuren in wissen­schaftlichen Publikationen um die Waldorfpädagogik hinterläßt. (Siehe: Marcelo da Veiga, Diskursfähigkeit der Waldorfpädagogik und ihre bil­dungsphilosophischen Grundlagen, in: Horst Philip Bauer/Peter Schnei­der, Waldorfpädagogik. Perspektiven eines wissenschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M, 2006, S. 27; S. 34.) Bei einer Schrift, die laut Verfasser Lehrbuchcharakter hat, ist das eigentlich nicht hinnehmbar. Auch nicht hinnehmbar, daß ein so regelmäßig mißverstandener Schlüsselbegriff, an dem das ganze Freiheitsverständnis der Philosophie der Freiheit letztlich hängt, nicht einmal als terminus technicus im ausführlichen Sachregister dieses Lehrbuchs Erwähnung findet. Ich glaube für den Nutzer seiner Schrift hätte Ziegler am Ende mehr getan, wenn er diesen Begriff einge­hender geklärt hätte, als um jeden Preis bei der auf nur hypothetischem Niveau behandelten Reinkarnationsfrage anzukommen. Seine Leser müs­sen es ihm letzten Endes vertrauensvoll abnehmen, daß er den Begriff des intuitiven Denkens adaequat wiedergibt. Vertrauen aber, um ein Wort Zieglers aus seinem Buch aufzugreifen, hat in Erkenntnisfragen nichts zu suchen.

Wäre, was er dort vorträgt, nicht trotz dieser Schwäche so weitgehend kongruent zu dem, was ich selbst auf dieser Internetseite versuche den Lesern nahezubringen, dann würde ich mich nicht für dieses Buch stark machen. So kann man vielleicht ersatzweise all den anderen Lesern sa­gen, daß sie sich im großen und ganzen ohne weiteres auf den Gedanken­gang Zieglers einlassen können, weil er mit Steiners Schrift und dessen Verständnis vom intuitiven Denken, von einigen marginalen Details ein­mal abgesehen, kompatibel ist. Und sie werden außerordentlich davon profitieren. Bei Dingen, die weiter weg von der Philosophie der Freiheit liegen und mehr den Charakter von logischen Schlußfolgerungen oder nachgeschobenen erkenntnisphilosophischen Reflexionen haben, müssen sie ohnehin genauer hinsehen und prüfen. Denn da ist manches mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. So glaube ich zum Beispiel, daß das von Ziegler auf S. 178 ff eingeführte Aktualitätsprinzip seinen eigenen Er­kenntnisbegriff in große Schwierigkeiten bringt, weil dieses Prinzip auf das Erkennen von Denken und Erkennen nicht uneingeschränkt anwend­bar ist. Und was der Autor etwa auf S. 209 f über die Erinnerung sagt, scheint mir empirisch wenig gesättigt und unausgegoren, teilweise gar ku­rios. Aber davon abgesehen - es ist soweit ich sehe das erste mal, daß es im Rahmen einer Buchveröffentlichung gelungen ist, den Gedankengang der Philosophie der Freiheit einigermaßen konsistent in etwas Geistes­wissenschaftliches zu überführen - und zwar anhand des eigenen Erlebens und nicht nur der Wiedergabe anthroposophischer Steinerzitate. Ziegler macht da wirklich ernst mit Steiners Aufforderung vom Ende des Kapitels Die Konsequenzen des Monismus: "Vom lebendigen Ergreifen des in die­sem Buche gemeinten intuitiven Denkens wird sich aber naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die geistige Wahrnehmungswelt ergeben." In dieser Hinsicht ist es ungeachtet der fehlenden Nachweise und mancher internen Schwierigkeiten sicherlich mit das Beste, was die anthroposophi­sche Bewegung derzeit zu bieten hat.

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In der Vorrede von 1918 zur Philosophie der Freiheit macht Steiner eine Angabe über seine Beweggründe für Veränderungen und Erweiterungen der Schrift im Zuge der Neuausgabe. Er nennt (S. 10) nur zwei Anlässe dafür: "Nur längere Zusätze habe ich zu einer ganzen Reihe von Ab­schnitten gemacht. Die Erfahrungen, die ich über mißverständliche Auf­fassungen des von mir Gesagten gemacht habe, ließen mir solche ausführ­liche Erweiterungen nötig erscheinen. Geändert habe ich nur da, wo mir heute das ungeschickt gesagt schien, was ich vor einem Vierteljahrhun­dert habe sagen wollen." Wenn man Steiner hier sehr streng folgt, dann steht sachlich in der Zweitausgabe dieses Buches dasselbe wie in der Erstausgabe, nur um Ungeschicklichkeiten und Mißverständliches berei­nigt. Nun finden sich seine Ausführungen über das intuitive oder intuitiv erlebte Denken ausschließlich in solchen späteren Zusätzen, die dazu die­nen Ungeschicklichkeiten oder Mißverständliches auszuräumen. Frage: Was ist denn da so mißverstanden worden, daß Steiner sich genötigt sieht den Aspekt des erlebten gegenwärtigen Denkens mehrfach aufzugreifen und in geradezu definitorischer Weise zu präzisieren? Warum spricht er in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit vom intuitiv erlebten Denken? Warum wird jetzt gesagt, was 1894 noch nicht zu lesen ist: Das intuitiv erlebte Denken sei eine Wahrnehmung, "in der der Wahrnehmen­de selbst tätig ist, und" auch " ... eine Selbstbetätigung, die zugleich wahr­genommen wird"? Obwohl im Grundsätzlichen doch sachlich die Zweit­auflage nichts anderes enthält als die erste. - Eine mögliche und plausible Erklärung dafür finden Sie in meiner Arbeit über Walter Johannes Stein auf dieser Homepage.

Für weitere Einzelheiten darf ich den Leser an einen anderen Aufsatz auf dieser Homepage verweisen. (Über das Zusammenfallen von Wahrneh­mung und Begriff und intuitives Denken )

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Warum die Klärung des intuitiven Denkens überhaupt notwen­dig ist

Vielleicht noch eine letzte Bemerkung zu diesem zweiten Abschnitt für Leser, denen der ganze Aufwand der begrifflichen Klärung um das intui­tive Denken noch nicht recht einleuchtet. Einiges dazu habe ich schon im Kommentar zu dieser Arbeit angedeutet. Das wichtigste Argument ist si­cherlich, daß man Steiners Freiheitsbegriff nicht verstehen kann wenn man nicht weiß, was das intuitive Denken ist. Eine Folge davon sollte man sich vor Augen führen: Ein so hehres Motto wie: Erziehung zur Freiheit, mit dem sich Waldorfschulen gern schmücken, entbehrt bis heu­te jeder tieferen Verständnisgrundlage und bleibt ohne eine solche letzt­lich hohl.

Und diese Grundlage ist, nach allem was ich sehe, bislang tatsächlich nicht vorhanden. Nicht, daß sie Steiner nicht gegeben hätte, aber niemand scheint sie bislang begriffen zu haben. Exemplarisch kann man diese Sachlage fassen, wenn man das umfangreiche und um Fundierung be­mühte Buch Stefan Lebers zur Hand nimmt, das sicherlich die Frucht ei­nes lebenslangen Ringens um Verständnis auf hohem Niveau genannt werden kann: Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik, Stuttgart 1993. Ins Auge fällt die eigentümliche Sparsamkeit, mit der Leber dem Steiner­schen Freiheitsbegriff dort im allgemeinen und vor allem im ein­schlägigen Kapitel Anthropologie des Individualismus und der Frei­heit (S. 23 ff) nachgeht. Dieses Kapitel etwa beginnt zwar mit der Bemer­kung, daß Steiner in seiner Erkenntniswissenschaft einen "empirischen und kei­nen spekulativen Nachweis der Möglichkeit menschlicher Frei­heit" ge­führt habe. Nur: wie dieser Nachweis wirklich aussieht, darüber gibt es bei Leber keinen stringenten Aufschluß, sondern nur mehr oder weniger vage Andeutungen. Über Gründung der Freiheit im intuitiven Denken schließlich - das ist ja das Entscheidende - erfährt man nichts, auch nicht mittelbar. So daß mit Blick auf das intuitive Denken der Leser verschiede­ner anthroposophischer Bücher die Wahl zwischen verschiede­nen Ex­trempositionen hat: die Grundlegung der Freiheit entweder im fantastis­chen überlogischen Jenseits der Philosophie à la Lowndes oder Kirn zu suchen, oder in den erkenntniswissenschaftlichen Niederungen von Wahr­nehmung und Begriff. Manchmal auch irgendwo dazwischen. Lo­gisch paßt das alles wohl nicht recht zusammen. Und das ist schon bemerkensw­ert, wenn das anspruchsvolle Buch Lebers - Untertitel: An­thropologische Grundlagen der Erziehung des Kindes und Jugendlichen - kaum schlüssige Angaben macht über die eigene philosophische Basis der an­thropologischen Kategorie Freiheit. Da Stefan Leber gewiß kein Bru­der Leichtfuß war, Steiner auf der anderen Seite aber eine solche Begrün­dung explizit gegeben hat, kann man seriöserweise nur vermuten: Leber hat das Thema aus strategischen Gründen so sparsam behandelt, weil auf der Re­zeptionsebene zu vieles unklar und ungesichert ist. Für eine Wal­dorfpädagogik mit wissenschaftlichem Fundierungsanspruch ist das we­nig befrie­digend. Die Fragestellung sollte also dem Bund der Waldorf­schulen min­destens drei Dissertationen wert sein, sofern man dort Einfluß darauf hat.

Ein Wort zur desolaten Forschungskultur in der anthroposo­phischen Bewegung

Daß sich an dieser Stelle eine Fragestellung auftut, die vielen sich wissen­schaftlich um die Waldorfpädagogik Bemühenden noch wenig be­wußt ist, läßt sich am jüngsten von Horst Philipp Bauer und Peter Schnei­der her­ausgegebenen Sammelband Waldorfpädagogik. Perspektiven eines wis­senschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M, 2006 ablesen. Ein ausgezeichnet­es, lesenswertes Buch, dessen kritisch reflektierende Positionen man im großen und ganzen nur unterstreichen kann. Da werden viele in der Wal­dorfbewegung offenbar werdenden Fragen und Schwierigkeiten be­herzt aufgegriffen und benannt. Und dennoch fehlt diesem Buch aus mei­ner Sicht etwas ganz entscheidendes: Die explizite und pointierte Forde­rung nach der internen methodenbewußten wissenschaftlichen Aufarbei­tung und Klärung der philosophisch-anthroposophischen Quellen dieser Wal­dorfpädagogik.

Die Tatsache, daß der Rationalitätsnachweis der Steinerschen Anthropo­sophie von den eigenen vor allem wissenschaftlich orientierten und arbei­tenden Anhängern dieser Bewegung in vielerlei Hinsicht noch gar nicht adaequat verstanden worden ist, und die Lösung manches gravierenden Problems noch in weiter Ferne zu liegen scheint, wird dort weitestgehend ausgeblendet. Dabei hätte dieser Fragestellung dort seiner faktischen Be­deutung nach, so glaube ich, mindestens ein eigenständiger Beitrag ge­widmet werden müssen. Tatsächlich aber läßt sich ein solches Anliegen soweit ich sehe allenfalls höchst mittelbar beispielsweise aus den Beiträ­gen Peter Schneiders entnehmen. Und auch die von Marcelo da Veiga (S. 22) formulierte Aufforderung: "Die Waldorfpädagogik und die sie be­gründende anthroposophische Geisteswissenschaft müssen in Theorie und Praxis kritisch reflektiert, beforscht und gewürdigt werden ..." steht da noch sehr vereinzelt und blaß nur allgemein programmatisch, ohne eine nähere Beleuchtung dessen, was daraus an konkreten Fragestellungen und Forschungszielen bezüglich dieser begründenden Geisteswissenschaft zu entnehmen ist. Zwei vage Sätze, wenn man großzügig ist drei, werden über diesen Kardinalpunkt fallen gelassen. Weit davon entfernt Problem­bewußtsein in dieser Angelegenheit zu vermitteln oder gar zu demonstrie­ren. Da wird nicht etwa davon gesprochen, daß es beispielsweise bezüg­lich des intuitiven Denkens so vielerlei unterschiedliche und kaum belegte Verständnisansätze gibt, die untereinander nicht verträglich sind, aber auch nicht diskutiert werden. Oder so viele undiskutierte Versionen des­sen existieren, was bei Steiner Beobachtung des Denkens sein soll. Daß manche da gar von einem Erzeugungsproblem des Denkens reden und man diesem Thema vielleicht einmal kritisch nachgehen sollte. Daß es bis heute keine verbindlichen Interpretationsstandards über die Philosophie der Freiheit gibt, und viele Autoren, selbst Mitglieder des Dornacher Vorstandes, darüber zu schreiben scheinen was ihnen beliebt, ohne sich um Belege und Nachweise zu kümmern oder irgend ein tiefer gehendes Verständnis zu zeigen. Daß darüber auch kaum öffentlich debattiert wird, weil das anscheinend nicht zum guten Ton in dieser Bewegung gehört, und alle offenbar irgendwie nebeneinander her und aneinander vorbei re­den, ohne sich gegenseitig - von Ausnahmen abgesehen - kritisch aufzu­greifen und zu beleuchten.

Das jüngste Buch Prokofieffs zur Philosophie der Freiheit ist vielleicht ein krasser Fall, aber so ungewöhnlich für die anthroposophische Szene auch wiederum nicht: Der Autor verweist in seinem Anmerkungsapparat über hundert mal auf Rudolf Steiner, und vielleicht zehn mal auf übrige anthroposophische Sekundärliteratur ohne näher auf Details einzugehen. Kritisierte Literatur wird überhaupt nicht genannt, obwohl er sich über philosophische Autoren einige heftige Ausfälle leistet, und hält schließ­lich einen einzigen Verfasser mehr als siebzig mal für zitierwürdig: näm­lich sich selbst. Darin liegt viel Exemplarisches: Man bindet andere in Büchern nicht wirklich ein, noch nicht einmal wenn man sie öffentlich kritisiert. Publikationen dieser Art haben einen unverkennbar egozentri­schen und selektiven Charakter. Ein großer Teil der wissenschaftlich re­levanten Fakten wird bewußt ausgeblendet, zurückgehalten und dem Le­ser vorenthalten. Es geht nicht darum über eine Sachlage möglichst breit und facettenreich problemorientiert zu unterrichten, sondern die spezifi­sche Sichtweise eines Autors konzentriert, wirkungsmächtig und unrela­tiviert von anderen Auffassungen ins Publikum zu tragen. Ein Schelm, wer da an die Nähe zur politischen Propaganda denkt. [Siehe Sergej O. Prokofieff, «Anthroposophie und die Philosophie der Freiheit», Dornach 2006]

Renatus Ziegler vermeidet in seinem erwähnten letzten Buch die Ausein­andersetzung mit anderen Auffassungen unter Hinweis (S. 29) darauf, daß dann sein Buch nicht zustande gekommen wäre. Obwohl das von ihm behandelte Thema mehr als strittig ist unter den Bearbeitern von Steiners philosophischem Werk und genügend publizierte Auffassungen existieren, die mit der seinigen nicht vereinbar sind. Die von Ziegler vor­gebrachte Begründung hätte auch Prokofieff vorbringen können. Es ist ein wahrer argumentativer Joker, der beliebig oft gezogen werden kann und jeden Kritiker zum Schweigen bringen muß, weil ja nichts nachvoll­ziehbarer ist als das. Nur mit Wissenschaft hat das alles nichts zu tun. Wenn ein Autor ein Lehrbuch verfaßt zu einem teilweise hochproblema­tischen und kontrovers behandelten Forschungsgegenstand namens Phi­losophie der Freiheit, ohne ein Bewußtsein für die heikle Forschungslage zu demonstrieren oder seinem Leser gar zu vermitteln. Sich stattdessen mit der Bemerkung dieser Aufgabe entledigt, sein Buch wäre dann nicht zustande gekommen. Dort eine Serie strenger Erkenntnisgesetze formu­liert und doch selbst, abgesehen von bescheidenen Textkommentierungen (näheres dazu siehe hier), keinen brauchbaren am Forschungsobjekt fest­gemachten Nachweis dafür liefert, daß er die umstrittene Begrifflichkeit der Philosophie der Freiheit auch adaequat behandelt: dann gehört das mit zu den wissenschaftlich-existentiellen Kuriositäten der anthroposo­phischen Bewegung.

Prokofieff und Ziegler stehen sich qualitativ zwar auf der einen Seite wie Antipoden gegenüber, aber in dieser Art der wissenschaftlichen Einbin­dung ihres Umfeldes sind sie sich innerhalb gewisser Grenzen ähnlicher als man wünschen möchte. Daß es da noch einen betroffenen Leser gibt, der dezidierten Anspruch darauf hat über gewisse Dinge, Schwierigkeiten und Forschungsprobleme mit aufgeklärt zu werden, spielt offenbar in den Überlegungen der Verfasser nur eine untergeordnete Rolle. Und auch das scheint mir charakteristisch für das anthroposophische Publikationswe­sen: Da stellt man einen Haufen miteinander unverträglicher Literatur be­ziehungslos nebeneinander hin und halst dem ahnungslosen Leser die Verantwortung dafür auf, sich in diesem literarischen Konglomerat zu­rechtzufinden. Derjenige, der in der Regel ja kein Fachmann ist, soll jetzt darüber befinden was davon akzeptabel oder inakzeptabel ist. Diejenigen Autoren aber, die es zumindest besser wissen müßten und ihm dabei dien­lich sein könnten, schweigen sich aus. Das kann schlechterdings nicht funktionieren und muß auf Dauer dazu führen, daß nicht das sach­lich Angemessene sich durchsetzt, sondern was die unaufgeklärte Erwar­tungshaltung der meisten Leser bedient.

Zu welch kontraproduktiven Blüten auch in eben diesem Sinne dieser Verzicht auf öffentliche Kritik und das damit verbundene Benennen von Forschungsproblemen führt, wird im erwähnten Buch Prokofieffs evi­dent. Ein exemplarisches und folgenschweres Beispiel dafür, was pas­siert, wenn dann so ein unaufgeklärter Leser selbst zum Autor wird und seine eigene Unwissenheit literarisch weiter transportiert: Prokofieff ist so ein Ahnungsloser, der dieser Strategie zwar selbst folgt, aber ihr gleichzeitig auch zum Opfer fällt. Seine dortige (S. 34) für Sachkundige kaum zu begreifende Forderung nach einer Überwindung der "bloß" phi­losophisch-philologischen Zugangsweise zur Philosophie der Freiheit ist nicht allein, aber maßgeblich auch damit zu erklären, daß er sehr schlecht informiert ist über die außerordentlichen Schwierigkeiten eines Zugangs zu diesem Werk schon auf dieser "bloß" philosophischen Ebene. (Nähe­res siehe hier) Vergleichbares gilt für die Vorhaltungen, die er philoso­phischen Autoren gegenüber auf S. 243 erhebt. Ihm fehlt augenfällig die Einsicht und Übersicht über Forschungslage und Forschungsproblematik zur Philosophie der Freiheit. Nur so scheinen mir angesichts dieser For­schungslage derart blauäugige und wirklichkeitsfremde Ansprüche ver­ständlich. Denn so kann nur ein Anfänger urteilen und fordern, dem jede nennenswerte Forschungserfahrung mit der Philosophie der Freiheit ab­geht. Aber woher, so möchte man sich fragen, sollte er diese Übersicht auch haben als interdisziplinärer Grenzgänger? Als jemand, der in der Anthroposophie, aber allenfalls besuchsweise in der Erkenntnistheorie bzw. der Philosophie der Freiheit zu hause ist? (Man vergleiche dazu sein Nachwort S. 243 ff.) Wie sollte er das überschauen, wenn nicht ein­mal von jenen öffentlich etwas davon thematisiert wird, die sich weit besser auf diesem Sachgebiet auskennen als er selbst?

Hält man sich die forschungspraktischen Konsequenzen aus Prokofieffs Forderungen in seinem Buch vor Augen, dann heißt das nichts anderes als: im Endeffekt führt die Enthaltsamkeit von problemorientierter öf­fentlicher Kritik hier dazu, daß der Dornacher Vorstand aus schierer Un­wissenheit den forschenden Philosophen (und letztlich auch sich selbst) das Wasser abgräbt für essentiell wichtige Forschungsarbeit. Und das wird natürlich nicht nur bei einer literarischen Wasserabgrabung bleiben, sondern auch faktisch umgesetzt werden. Da sollte man sich nicht von Il­lusionen leiten lassen: Dies wird seine ganz realen und pragmatischen Auswirkungen auf die anthroposophisch-gesellschaftliche Entwicklung und die Forschung dort haben, wenn sich bei den Entscheidungsträgern und Multiplikatoren im Dornacher Vorstand Überzeugungen wie diejeni­gen Prokofieffs festsetzen. Das bitte ich all jene sich vor Augen zu füh­ren, die mir gelegentlich Vorwürfe machen weil ich manchmal etwas sehr kritisch mit anthroposophischen Autoren umgehe, und dies ja so gar nicht dem anthroposophischen Positivitätsideal entspricht. Gerade der Fall Prokofieff zeigt, daß eine Bewegung, die ihre Forschungsprobleme nicht öffentlich thematisiert und hier für Transparenz sorgt, über kurz oder lang mehr davon und weit gravierendere bekommt als ihr lieb sein kann. Da deutet sich schon jetzt ein Szenario als real möglich an, wo selbst ein Buch wie dasjenige Zieglers im anthroposophischen Rahmen gar nicht mehr publizierbar sein wird. Die Tendenzen dahin sind allemal vorhanden.

(Die Wirklichkeit ist manchmal schneller als ihr Vorausdeuter es ahnte. Inzwischen - Herbst 2008 - wird Ziegler mit seinem Buch ganz offen schon als Gegner Steiners und der Anthroposophie gehandelt. So von ei­ner Frau Mieke Mosmuller. Und deren Rezensent im Europäer von Tho­mas Meyer, Nr. 12, Oktober 2008, S. 21 f, ist auch noch arglos und unbe­sonnen genug, die kritische Frage zu unterlassen, welchen Sinn es wohl haben kann, wenn ein Anthroposoph einen anderen, der ersichtlich ernst­haft um Verständnis bemüht ist, ganz öffentlich und in Buchform als Gegner Steiners und der Anthroposophie etikettiert, nur weil der bei manchen heiklen Sachfragen anderen Auffassungen zuneigt als er selbst. Und ob diese Fundamentalkategorisierung nach Gegnerschaft in anthro­posophischen Forschungszusammenhängen wirklich angemessen ist, oder nicht eher Ausdruck einer gewissen paranoidoformen und intoleran­ten Psychologie, wie sie viele fundamentalistische Religionsströmungen auszeichnet.

Man darf gespannt sein auf die nächste Eskalationsstufe solcher Prädika­tionen. Wohin diese unsägliche interne Gegnerschaftsattribution zu füh­ren vermag, das lässt sich höchst eindrucksvoll studieren nicht nur an­hand der Geschichte der christlichen Kirchen, sondern tagtäglich und weltweit in den monumental-monströsen Werken religiös motivierter Sprengmeister jeglicher Provenienz. Sie alle haben einmal klein und be­scheiden angefangen. Und eine Bewegung, deren Anhänger schon in der Vergangenheit mitunter nicht immer leicht zu unterscheiden wußten zwi­schen dem, was geistgetragene Weltsicht ist und was bloß dumpfes Nazi­tum, - Beispiele siehe etwa hier zu Haverbeck und hier zu Benesch -, ist da zweifellos noch für Überraschungen gut.

Wenn zwei seriöse Physiker sich über ein physikalisches Sachproblem streiten, dann werden sie versuchen ihr Problem mit Sachargumenten und weiterer Forschung zu lösen. Aber schwerlich wird deswegen der eine den anderen öffentlich als Feind der Physik anprangern. Bei Anthroposo­phen ist so etwas prinzipiell möglich. Da fällt das Absurde dieser Geis­teshaltung bisweilen noch nicht einmal auf. Selbst im Europäer von Tho­mas Meyer nicht.

Personen wie Frau Moosmuller mit ihren Ansprüchen und fundamenta­listischen Gegnerschaftsunterstellungen scheinen mir geradezu ein Be­legexemplar zu sein für die Folgen der hier skizzierten wissenschaftli­chen Verfassung der anthroposophischen Bewegung.)

Schließlich: Über den verbreiteten unreflektierten, ungehemmten und ka­tastrophalen Umgang mit Steiners Vorträgen wird in dem erwähnten Sammelband auch nichts gesagt. Obwohl alle daran beteiligten Autoren davon sicherlich Kenntnis haben. Bei aller Zustimmung zum Anliegen dieses Sammelbandes: Wo, wenn nicht dort, sollte dies öffentlich ange­sprochen werden in der Hoffnung dadurch etwas zu bewegen? Es gibt of­fensichtlich eine Art blinden Fleck in der wissenschaftlich-kritischen Selbstwahrnehmung. Vielleicht auch ein Gesetz des Schweigens - eine anthroposophisch-wissenschaftliche Omerta. Vielleicht hat auch niemand Zeit das alles zu tun, dann sollte man sich die Bedingungen wissenschaft­lichen Forschens in dieser Bewegung ansehen. Eine eingehende wissen­schaftssoziologische Studie würde vermutlich aufzeigen können, daß hier ein Gemisch von all dem vorliegt.

Und darin scheint mir einer der wesentlichen Gründe für manche in die­sem Sammelband angesprochene Misere zu liegen. Das Vorhanden­sein eines gewissen allgemeinen Grundkonsenses in der Einschätzung von Steiners Werk und dessen philosophischer Begründung darf nicht mit der Tatsache eines Konsenses in jeder Hinsicht verwechselt werden. Schaut man nämlich mehr in die Feinheiten der jeweiligen Überzeugun­gen selbst nur bei den philosophisch orientierten Vertretern, dann ist es mit dem Konsens in einigen zentralen Fragen sehr schnell vorbei. Und nimmt man noch die rein anthroposophischen Vertreter wie etwa Proko­fieff hinzu, dann scheint eine Verständigung zwischen den Lagern nahezu ausgeschlossen, weil die Einschätzungen und Erwartungen des jeweils an­deren kaum noch verstanden werden können. Dem läßt sich dauerhaft und wirksam nur entgegenwirken durch die Etablierung einer vergleichbaren Forschungskultur, wie sie meinetwegen in der Hegel- oder Kantforschung gepflegt wird. Das ist bezogen auf die gesamte Anthroposophie und rea­listisch betrachtet nur multiprofessionell und interdisziplinär umzusetzen, weil das Steinersche Werk dermaßen viele Fachbereiche und Forschungs­fragen übergreift, die von einem einzelnen nicht zu überschauen sind. Weder intellektuell noch kräftemäßig. In diese Richtung muß wohl auf lange Sicht gearbeitet werden. Auf dieser Linie liegt auch eine sehr tref­fende Bemerkung Marcelo da Veigas in der Anmerkung 2 auf S. 21 des Sammelbandes. Das bislang noch weitgehende Fehlen einer reifen anthro­posophischen Wissenschaftkultur, die sich ihrer eigenen Grundlagenpro­bleme bewußt ist und diese selbstkritisch öffentlich reflektiert und metho­denbewußt aufarbeitet, führt hingegen auf der einen Seite gleichermaßen zu internen wie externen Vermittlungs- und Diskursschwierigkeiten und massiven Forschungsblockaden. Und auf der anderen Seite dazu, daß Zieglers über weite Strecken fabelhaftes Buch erscheinen kann, ohne daß ihm die entscheidenden Plausibilitätsnachweise beigefügt werden, weil offenbar niemand sieht wie notwendig und unerläßlich das in einer Wis­senschaftskultur ist. Beides ist symptomatisch für eine Bewegung, die im großen und ganzen noch wissenschaftlich vor sich hin zu träumen scheint - das jedenfalls möchte man mitunter meinen.

Wohin diese beklagenswerte anthroposophische Forschungskultur führt, das läßt sich unmittelbar studieren in der ursprünglich zur Dissertation vorgesehenen Arbeit von Jonael Schickler, Metaphysik als Christologie. Eine Odysse des Ich von Kant und Hegel zu Steiner. Aus dem Englischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter von Rukteschell, Würzburg 2004. (Inzwischen in deutscher Sprache nicht mehr erhältlich. Die englische Ausgabe lautet Metaphysics as Christolo­gy. An Odyssey of the Self from Kant and Hegel to Steiner. Ashgate New Critical Thinking in Religion, Theology and Biblical Studies Series, Al­dershot: Ashgate, 2005) [Mein herzlicher Dank geht an G. D. für Litera­turhinweise]

Dieser in philosophischen Dingen begabte junge Mann konnte sein Pro­jekt nicht mehr definitiv zum Abschluß bringen, da er tragischerweise 25-jährig unmittelbar vor dem Einreichen seiner Dissertation in England bei einem Zugunglück im Mai 2002 ums Leben kam.

Die Tragik dieses kurzen Lebens wiegt insofern doppelt, als Schickler of­fensichtlich nie in seinen jungen Jahren einen sachlich verwertbaren Hin­weis darauf erhalten hat, daß der entscheidende Aspekt dessen, was er philosophisch sucht, von seinem Kern her in der Philosophie der Freiheit und in den übrigen Steinerschen Frühschriften längst enthalten ist. Was seinen sichtlich beeindruckten, wohlmeinenden und offensichtlich nicht anthroposophisch geprägten Rezensenten Martin Wendte zu der resignie­rend kritischen Feststellung veranlaßt: "The key issue is this: Schickler himself states that today’s mankind is unable to perceive the etheric body, and that the clairvoyance of Steiner and other mystics is necessary to do so. Could this not be a hint that a problem has been reached here which, at this side of the eschaton, cannot be solved? Schickler is right in stating the problem he states—but perhaps under the conditions of fallen human beings, we simply cannot solve it and must learn to live with the rest of ontological scepticism inherent to a Kantian position. " (Siehe die­se Renzension im Internet unter http://www.arsdisputandi.org/publish/ar­ticles/000268/article.pdf )

Der Rezensent fühlt sich bei aller Bewunderung für Schicklers Scharf­sinn und Kenntnisreichtum Kant und Hegel betreffend gleichsam vom Verfasser allein gelassen, weil Schickler ausschließlich auf Steiners hö­here übersinnliche Fähigkeiten und die darauf basierenden Forschungser­gebnisse verweisen zu können glaubt.

Daß die übersinnliche Schlüsselfähigkeit und geistige Basisgröße, auf die es philosophisch vorrangig ankommt, nämlich das reine, sinnlichkeits­freie oder intuitive Denken in der Philosophie der Freiheit ausdrücklich thematisiert wird, und dessen Charakter als geistiges Wahrnehmungsor­gan und individuelle Erscheinungsform des Wesens der Welt ganz expli­zit auch in anderen Frühschriften (Siehe etwa GA-02, Dornach 1979, S. 79) Steiners hervorgehoben wird, diesem Gedanken scheint der junge Mann nie begegnet zu sein. Und entsprechend findet sich auch kein Hin­weis darauf in seiner Schrift. Kaum mehr als vage Andeutung oder Ah­nungen (etwa S. 165), teilweise schlicht unzutreffende enthält sein Buch in dieser Richtung. Wie man überhaupt darüber staunt, daß ein Buch mit diesem anspruchvollen Titel und wertvollen Gedankengängen über Kant und Hegel, sich schließlich und endlich damit begnügt bei rund 180 Sei­ten Gesamtumfang Steiner selbst auf den Seiten 151 ff kaum mehr als grob überschlägig 15-20 Seiten zu widmen. Angesichts der Verständnis­schwierigkeiten, mit denen sich die Steinerforschung seit vielen Jahr­zehnten plagt, ist das verzweifelt wenig. Und im Literaturverzeichnis (S. 185 f) findet sich nicht einmal die von Steiner selbst als grundlegend be­zeichnete Schrift Wahrheit und Wissenschaft (GA-03) vermerkt. Jene Schrift übrigens, die laut Vorrede Steiners ausdrücklich einen Beitrag leisten wollte zur Überwindung des ungesunden Kant-Glaubens seiner Zeit. Für jemanden, der Steiner professionell philosophisch mit Kant ver­gleicht, sollte es schon einen forschenden Blick wert sein, was Steiner da möglicherweise zu dieser Überwindung beizutragen gedenkt. Ebensowe­nig finden sich erwähnt die Einleitungen in Goethes naturwissenschaftli­che Schriften (GA-01) oder die Schrift Goethes Weltanschauung (GA-06).

So ausgestattet läßt Schickler entsprechend wenig Neigung erkennen in die Details Steinerscher Grundschriften einzusteigen. Und was er dann schließlich über Steiners philosophische Frühschriften schreibt kann man auch nicht eben als Ausdruck einer überbordenden philosophischen Wertschätzung bezeichnen. Die hat ihm offensichtlich niemand nahe ge­bracht. Die geringschätzigen Bemerkungen, die er ganz beiläufig über Steiners Erkenntnistheorie fallen läßt - z. B. S. 167 ff, - sind ihm noch nicht einmal eine sachliche Begründung wert.

So herrscht eine geradezu verblüffende Asymmetrie zwischen der pro­funden Werkkenntnis und Liebe zum Detail, die er bei seinen Untersu­chungen von Kant und mehr noch Hegels walten läßt, und der um Grö­ßenordnungen darunterliegenden Neigung, sich mit Steiners philosophi­schen Schriften zu befassen. Hätte man nicht die Versicherung des Her­ausgebers, diese Arbeit sei faktisch zur Abgabe bereit gelegen, man wür­de sie glatt für ein Fragment halten, das auf seinen Abschluß erst noch wartet. Man fühlt sich regelrecht in eine philosophische Podiumsdiskus­sion versetzt, wo der Hauptakteur (Steiner), der angeblich die Probleme der beiden anderen (Kant und Hegel) lösen kann, gar nicht eingeladen wurde. An seiner statt verliest dann der Moderator in ein paar dürren Statements das, was er für die philosophische Meinung Steiners hält, während er sich tatsächlich auf dessen eigene Gedankenbildung gar nicht erst groß eingelassen hat. Der Part über die Frühschriften Steiners ist ge­messen an der Gründlichkeit mit der er Kant und Hegel behandelt mit Abstand der schwächste der Arbeit, und steht in einem so auffallenden Mißverhältnis dazu, daß man die Anmutung hat, er sei überhaupt erst vor kurzem zum ersten mal damit in Berührung gekommen, nachdem er die Vorarbeiten zu Kant und Hegel weitgehend hinter sich hatte. Was zumin­dest die Unvollständigkeit seiner Literaturangaben dieses philosophische Werk Steiners betreffend erklären würde.

Er rauscht, da er vorrangig auf Steiners späteres esoterisches Werk hino­rientiert ist, flüchtig hindurch, läßt wichtige Teile unbeachtet und an den entscheidenden Einzelheiten hetzt er achtlos vorüber. Nur eine davon ist die alles überragende Entdeckung Steiners aus den Grundlinien ... (GA -02, Dornach 1979, S.79): Jene vom Denken als Wesen der Welt, und vom menschlichen Denken als einzelner Erscheingsform dieses Wesens. Eine Entdeckung ausdrücklich als Resultat philosophisch-erkenntnistheo­retischer Untersuchung vermerkt, die sich ihrer Bedeutung und ihrem Fundamentalcharakter nach nur vergleichen läßt mit der staunenden Ent­deckung des kleinen Kindes, daß es überhaupt eine Welt gibt. Hier ist im Prinzip in einem Vorentwurf alles schon enthalten, was später dann zur weit feiner ausziselierten esoterischen Weltbeschreibung Steiners wird. Sogar der Methode nach, wie Steiner oft genug betont, selbst wenn sie hier philosophischer Natur ist (vergleiche etwa hier). Erkenntnistheorie ist hier nur ein anderer, der spezifischen philosophischen Problemlage Rechnung tragender Ausdruck für Geistesforschung. Es ist eine hellsehe­rische Methode, die im Grundsatz jeder denkende Mensch ohne weiteres anzuwenden in der Lage ist. Auch der Rezensent Martin Wendte, der sich so sehr darüber beklagt, daß er nun einmal kein Hellseher sei. Er ist es im Prinzip längst - er weiß es nur noch nicht. Der Verfasser des von ihm re­zensierten Buches weiß es unglücklicherweise auch nicht. Und warum er es nicht weiß, das ist eine der großen Fragen, die hinter diesem tragisch unvollendeten Leben steht. Sie geht die ganze anthroposophische Bewe­gung etwas an.

Dieser Entdeckung vom Denken als Weltwesen ordnet sich letztlich alles unter. Auch Steiners Hinweis aus der Philosophie der Freiheit (Kap. IV) dahingehend, das Denken sei jenseits von Subjekt und Objekt, ist nur eine selbstverständliche Konsequenz aus dieser grundlegenden Entde­ckung. Ebenso wie sein methodischer Hinweis vom Ende der Philoso­phie der Freiheit, vom lebendigen Ergreifen des intuitiven Denkens wer­de sich der weitere Eintritt in die geistige Wahrnehmungswelt von selbst ergeben, auch nur eine Konsequenz der Tatsache ist, daß das übersinnli­che Wesen der Welt auch auf übersinnlichem Wege und kei­nem anderen gefunden wird. Und demgemäß natürlich auch die weitere Hineinarbeitung in dieses Weltwesen organisch an diese philosophisch-hellseherische Methode der Frühschriften anknüpft. Dieser Hinweis Stei­ners über die Geistnatur des Denkens und den Charakter der Philosophie der Freiheit als geisteswissenschaftliches Forschungsresultat hätte sach­lich gesehen auch schon in den Grundlinien ... stehen können. Und wer die Materie etwas überschaut, der könnte beispielsweise entsprechend klare Hinweise im Kapitel 18. der Grundlinien ..., Psychologisches Er­kennen ausfindig machen. (Siehe auch die entsprechenden diesbezügli­chen Anmerkungen Steiners dazu zur Neuauflage von 1924 der Grundli­nien ... .) Der weitere Weg in die geistige Welt ist letzten Endes ein me­thodisch verfeinerter und geregelter Weg in dasjenige, was in den Grundlinien ... über das Denken als Wesen der Welt bereits aufgezeigt wird.

Was in diesem Weltwesen dann alles enthalten ist und wohinein es sich weiter differenziert, das gilt es dann ebenso fortschreitend aufzuklären, wie ein Kind erst nach der Entdeckung der Welt als solcher weitere Ein­zelheiten dieser Welt nach und nach bemerken wird. Und nicht gleich schon von Anfang an weiß, daß da auch Sonne, Mond und Tiefseekraken warten, die noch gefunden werden wollen. Insofern ist auch Schicklers Bemerkung von S. 167 wenig zielführend, Steiner behandele in der Phi­losophie der Freiheit nicht wie aus der Erkenntnistheorie Ontologie wer­den könne. Abgesehen davon, daß er es schon in den Grundlinien ... be­handelt hat, wiederholt sich das ganze noch einmal in der Philosophie der Freiheit im Hinweis vom Denken als einem sich selbst tragenden Wesensweben, um nur ein Beispiel von manchen möglichen zu nennen. Und angesichts der ausgesprochen empiristischen und nicht etwa nur for­malen Orientierung der Steinerschen Erkenntniswissenschaft - letzteres hält Steiner seinen philosophischen Zeitgenossen häufiger vor - ist es mir ohnehin schleierhaft, wie jemand überhaupt auf so einen Gedanken wie Schickler verfallen kann. Auch dies nur ein beredtes Zeichen dafür, wie wenig er sich darum bemüht hat, die Steinersche Philosophie aufzu­schließen.

Das meiste von dem, was Schickler über Steiners Frühschriften schreibt, wirkt dagegen bloß altklug und lieblos nur so hingesetzt wie von jeman­dem, der einen grandiosen Überblick über die Details hat und sich darum nicht mehr scheren muß. Nur trifft das eben in diesem Fall nicht zu. Was spätestens dann offensichtlich wird, wenn man in diese Details und die Art seiner handwerklichen Auseinandersetzung damit selbst hineingeht. Er hat, so scheint es, nicht wirklich Interesse daran. Und in anderem wie­derum meint man geradezu authentisch einen hinlänglich bekannten Ton mancher Anthroposophen herauszuhören, die ohnehin Steiners philoso­phischen Bemühungen nicht allzuviel abgewinnen können, weil sie das spätere Anthroposophisch-Geisteswissenschaftliche für allemal wertvol­ler halten als diese vorläufige Philosophie Steiners, die man tunlichst überwinden sollte. Wo notwendige Klärungsarbeit im ungünstigsten Fall auch noch als anthroposophischer Intellektualismus gebrandmarkt wird, der am wesentlichen vorbeigeht. Bei Schickler - er scheint ja aus diesem geistigen Milieu zu kommen - mutet dies, obgleich er darin zurückhalten­der ist und nur eine deutliche Tendenz dahin erkennen läßt (siehe etwa S. 168) insofern eigentümlich aufgesetzt an, weil der junge Mann das, so hoffnungslos ungenügend wie er durch seine Übersicht über die Einzel­heiten der Steinerschen Philosophie qualifiziert erscheint, natürlich realistischerweise gar nicht beurteilen kann. Weil er noch nicht einmal mit diesen philosophischen Detailfragen der Frühschriften Steiners zu­recht kommt. Weil er sie - dieser Eindruck drängt sich auf - in ihrem Ei­gencharakter auch gar nicht wahrnehmen will.

Der junge Mann muß, das kann man hier nur vermutungsweise konstatie­ren, auf die philosophischen Grundlagen der Anthroposophie, die Wesen­haftigkeit des Geistigen und das sogenannte Hellsehen bezogen furchtbar schlechte anthroposophische Lehrer und Ratgeber gehabt haben. Und niemand von denen, die er hatte, hat ihm offenbar einen ernstzunehmen­den und produktiven Hinweis darauf geben können, was das intuitive Denken ist und welche außerordentliche Bedeutung es für den philoso­phischen und gleichermaßen empirischen Zugang zur Anthroposophie und für das Verständnis des Geistigen hat. So bleibt ihm, abgesehen von der vagen Andeutung (S. 165) Steiners Phänomenologie des Denkens in der Philosophie der Freiheit lege einen Grund "für das Verstehen des Hellsehens, das daraus erwächst", weiter nichts übrig als auf Steiners spektakuläre Hellsichtigkeit zu verweisen, anstatt seinen Leser darüber aufzuklären, daß dieser ja längst schon Anteil an dieser Hellsichtigkeit und damit Zugang zum Geistigen hat, insofern er nämlich in der Lage ist, das reine Denken auszuüben.

Denn den Philosophen, und das ist ja bei aller Anerkennung auch Wend­tes Problem mit diesem Buch, interessiert vor allem der Übergang vom sogenannten normalen zum hellseherischen Bewußtsein. Dasjenige, was ihm selbst unmittelbar davon erreichbar ist. Denn das ist ihm auch am leichtesten einer Überprüfung zugänglich. Und ihn interessiert warum und mit welchen Gründen Steiner das dem hellseherischen Bewußtsein zuschlägt. (Näheres siehe hier) Kurz gesagt: Ihn interessiert was dieses hellseherische Bewußtsein grundsätzlich genommen überhaupt ist! Dar­über aber bekommt er keine Auskunft. Er hätte sie zumindest mit dem Verweis auf die Geistnatur des intuitiven oder reinen Denkens bekom­men können, wie ihn Steiner in der Philosophie der Freiheit gibt. Oder mit dem Hinweis auf den Charakter des reinen Denkens als intellektuelle Anschauung, wie er es in der Schrift Wahrheit und Wissenschaft ver­merkt. Für jemanden, der sich wie Schickler mit Kant auseinandersetzt ganz gewiß kein unerheblicher Fingerzeig. Aber letztere grundlegende Schrift findet sich wie gesagt nicht einmal in seinem Literaturverzeich­nis. Und nicht zuletzt hätte so ein Hinweis gegeben werden können via Steiners Bemerkung aus der Schrift Goethes Weltanschauung, der Beob­achter des Denkens schaue die wirkende Idee unmittelbar selbst an. Da wäre sogar ein möglicher philosophischer Anknüpfungspunkt zum Äthe­rischen gegeben. Auch diese Schrift wie gesagt nicht in Schicklers Lite­raturliste aufgeführt. Diese Aufzählung konkreter Steinerscher Hinweise läßt sich um etliche Stationen erweitern.

Daß diese Phänomenologie des Denkens in der Philosophie der Freiheit nicht nur den Grund legt für das Verstehen des Hellsehens, das daraus er­wächst, sondern daß dieses dort behandelte Denken ganz explizit von Steiner schon dem Hellsehen zugerechnet wird und ein essentieller Be­standteil davon ist; wie die Schrift überhaupt dem Selbstverständnis Stei­ners nach schon das Resultat eines philosophisch geprägten Hellsehens ist, darüber verliert Schickler keine weitere Bemerkung. Und - so wie die Dinge in der Steinerforschung bislang liegen - konnte er das vermutlich auch nicht. Die zentrale Größe dieses Buches, so scheint es mir, hat er gar nicht ernsthaft erfaßt.

Mit anderen Worten: Er beruft sich im Hinblick auf sein christologisches Anliegen auf Steiners hellseherisches Vermögen, das er selbst, und zwar allen diesbezüglichen und expliziten philosophischen Angaben Steiners zum Trotz, nicht einmal im Ansatz versteht. Daß dies für seinen philoso­phischen Rezensenten Wendte unbefriedigend sein muß läßt sich nach­vollziehen. Schickler läßt ihn an der entscheidenden Stelle buchstäblich im Regen stehen. Ob dem letzteren mit einer dahingehenden aufklären­den Erläuterung Schicklers ernstlich weitergeholfen wäre, so daß er es auch hätte akzeptieren können, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall aber kommt, wer philosophisch-empirischen Zugang zum Geistigen und zur Christologie Steiners sucht, am intuitiven Denken und dessen Ver­ständnis nicht vorbei.

Mit den schlechten anthroposophischen Ratgebern meine ich sowohl ein­zelne Lehrerpersönlichkeiten, als auch den anthroposophischen For­schungskontext im allgemeinen, so wie er oben kritisch skizziert wurde. Wovon ich mich selbst übrigens nicht ausnehme. (Man müßte hier den soziokulturellen und nichtwissenschaftlichen bildungsbiographischen Kontext, auch den informellen bildungsbiographischen Kontext eigent­lich mit einbeziehen.)

Es ist unrealistisch zu glauben, ein junger Mann von anfang 20 mit gro­ßer philosophischer Begabung sei imstande, alles das, was anthroposo­phische Forschung im Verlauf vieler Jahrzehnte versäumt und vernach­lässigt hat, in vier oder fünf Jahren im Alleingang zu bewältigen. Daß das nicht klappt, dafür kann man die jungen Menschen nicht verantwortlich machen. Die jungen Leute, auch wenn sie noch so talentiert sein mögen, ob Doktorranden oder Diplomanden, müssen geradezu mit einer gewis­sen Zwangsläufigkeit an den anthroposophischen Fragen scheitern, wenn ihnen nicht entsprechend ernsthaft von anderer Seite zugearbeitet wird. Oder um das ganze wenigstens perspektivisch noch einmal ins Positive zu wenden, so kann man sich angesichts Schicklers Leistung dort die Frage stellen: Was wäre einem talentierten jungen Menschen möglich, wenn die philosophisch-anthroposophische Grundlagenforschung einen ähnlich hohen Reifegrad hätte wie die Kant- oder Hegelforschung? So daß er nicht nur scharfsinnige und weitreichende Fragen stellen kann, sondern ihm das Forschungsumfeld auch die (theoretischen, praktischen und menschenkundlichen) Mittel an die Hand gibt, sie in realistischen Zeiträumen und mit vertretbarem Aufwand einzulösen. Daß dies für den anthroposophischen Bereich noch eine ganz andere Herausforderung dar­stellt als es etwa für Kant oder Hegel gilt ist klar. Aber wo, wenn nicht dort, sollte diese Zukunftsaufgabe überhaupt realisiert werden?

Schickler sagt auf S. 22, seine Ausführungen über Steiner seien "mehr als alles andere eine Einführung". Das erklärt in mancher Hinsicht die Kürze und Flüchtigkeit seiner unmittelbar auf Steiner gewendeten Gedanken­gänge. Es zeigt aber auch, daß seine hoch angesetzte Programmatik aus dem Vorwort von S. 7 spätestens bei den philosophischen Aspekten Stei­ners ins Stocken geraten ist und gar nicht mehr eingelöst werden konnte, sondern vorsichtig ausgedrückt: im besten Sinne Vision bleiben mußte. Er verheddert sich wie so viele andere vor ihm schon in Steiners philoso­phischen Schriften und findet, abgesehen von einigen guten grundsätzli­chen Gedankengängen den Faden zur Anthroposophie nicht, so daß er ihn fruchtbringend weiter freilegen könnte. Diese Methode, daß jeder für sich das Rad immer wieder neu zu erfinden sucht und mehr oder weniger ratlos in Steiners Philosophie herumzustochert, bis er mit etwas Glück den einen oder anderen brauchbaren Brocken aufgelesen hat, ist ineffizi­ent und muß am Ende zu unbefriedigenden Resultaten führen. (Soweit ich sehe zitiert er keinen einzigen anthroposophischen Autoren im Kon­text der Steinerschen Frühschriften und gibt nur ein paar Literaturhinwei­se auf Witzenmann, der aber auch nicht aufgegriffen wird.)

Daß Jonael Schickler beachtliches philosophisches Talent hatte zeigt sei­ne Behandlung von Kant und Hegel. Dort sind aber auch die Bedingun­gen entsprechend, denn dort steht eine lange Tradition der Forschung zur Verfügung, die Hilfe und Orientierung geben kann. Während in der An­throposophie bislang noch eine Kakophonie von Meinungen herrscht, die vielfach nicht einmal nachvollziehbar belegt sind. Auch ein großes Ta­lent muß am Ende vertrocknen, wenn die Bedingungen für seine Entfal­tung nicht stimmen.

Einige zusätzliche Quellen: Rudolf Steiner vortragsweise über das reine Denken als Hellsehen.

Siehe GA-146, Vortr. Helsingfors , 29. Mai 1913, S. 33 ff:

"Auf logisches Denken, auf Denken in Abstraktionen weist gewisserma­ßen als auf etwas Neues hin, was jetzt erst in die Menschheit eintreten soll, Krishna den Arjuna hin. Aber dieses Denken, das der Mensch so entwickelt, dieses Denken, das nimmt man zwar heute als etwas ganz Na­türliches, aber man hat die schiefesten, unnatürlichsten Ansichten über dieses Denken. Und gerade die westländischen Philosophen haben über dieses Denken die allerschiefsten Anschauungen, denn man hält gewöhn­lich dieses Denken für eine bloße Photographie der äußeren sinnlichen Wirklichkeit, man glaubt, die Begriffe, Ideen entstehen im Menschen, dieses ganze innere Denken überhaupt entstehe im Menschen von der physischen Außenwelt herein." (S. 33f) [...] " Hier komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der ganz und gar wichtig ist gerade für diejenigen, die mit der eigenen Seele eine okkulte Entwickelung durchmachen wollen. ... So ist es nämlich, wenn auch nicht mit dem Goldmachen, so ist es mit dem Hellsehen. Kein Mensch könnte eigentlich zu wirklichem Hellsehen kommen, wenn er nicht zunächst ein Winziges an Hellsehen in der Seele hätte. Wenn es wahr wäre, was ein allgemeiner Glaube ist, daß die Men­schen, wie sie sind, nicht hellsichtig seien, dann könnten sie überhaupt nicht hellsichtig werden. Denn wie der Alchimist meint, daß man etwas Gold haben muß, um viele Mengen Goldes hervorzuzaubern, so muß man unbedingt etwas hellsehend schon sein, damit man dieses Hellsehen immer weiter und weiter bis ins Unbegrenzte hinein ausbilden kann." [...] "Es gibt wirklich keinen unter Ihnen, der nicht - wenn er sich dessen auch nicht bewußt ist - diesen Ausgangspunkt hätte. Sie haben ihn alle. Keiner von Ihnen ist in der Not, weil Sie alle ein gewisses Quantum Hellsehen haben. Und was ist dieses Quantum? Das ist dasjenige, was gewöhnlich gar nicht als Hellsehen geschätzt wird." [...] "Niemand könnte abstrakt denken, wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig wäre, denn in den gewöhnlichen Gedanken und Ideen ist die Perle der Hellsichtigkeit von allem Anfang an. Diese Gedanken und Ideen entste­hen genau durch denselben Prozeß der Seele, durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist ungeheuer wichtig, daß man zunächst verste­hen lernt, daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz alltägliches ei­gentlich ist: man muß nur die übersinnliche Natur der Begriffe und Ideen erfassen. Man muß sich klar sein, daß aus den übersinnlichen Welten die Begriffe und Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht. Wenn ich Ihnen erzähle von Geistern der höheren Hierarchien, von den Seraphim, Cherubim, von den Thronen herunter bis zu den Archangeloi und Ange­loi, so sind das Wesenheiten, die aus geistigen, höheren Welten zu der Menschenseele sprechen müssen. Aus eben diesen Welten kommen der Seele die Ideen und Begriffe, sie kommen geradezu in die Seele aus hö­heren Welten herein und nicht aus der Sinnenwelt." [...] "Es wurde als ein großes Wort eines großen Aufklärers gehalten, das dieser gesagt hat im 18. Jahrhundert: Mensch, erkühne dich, deiner Vernunft dich zu bedie­nen. - Heute muß ein größeres Wort in die Seelen klingen, das heißt: Mensch erkühne dich, deine Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums anzusprechen. - Das, was ich jetzt ausgesprochen habe, habe ich schon vor vielen Jahren ausgesprochen, ausgesprochen in aller Öffentlichkeit, nämlich in meinen Büchern <<Wahrheit und Wissen­schaft>> und <<Philosophie der Freiheit>>, wo ich gezeigt habe, daß die menschlichen Ideen aus übersinnlichem, geistigen Erkennen kommen. Man hat es dazumal nicht verstanden; das ist ja auch kein Wunder, denn diejenigen, die es hätten verstehen sollen, die gehörten, nun ja, halt zu den Hühnern" (34 ff)

Siehe GA 255b, Vortr. Stuttgart, 25. Mai 1923, S. 295 ff:

"Und nun, was mir vor allen Dingen die Möglichkeit bot, eine solche Brücke zu finden, das war zunächst nicht das Hinschauen auf innere, sub­jektive Schauungen; das war mir vom Anfange an klar geworden. Sollten subjektive Schauungen noch so überzeugend, noch so intensiv vor der Seele auftreten, man hat keine Berechtigung, sie irgendwie, durch ihr subjektives Auftreten veranlaßt, zur objektiven Geltung zu bringen, wenn man nicht in der Lage ist, aus dem naturwissenschaftlich Sicheren heraus die Brücke hinüber zu geistigen Welt zu schlagen." (S. 298) [...] "Wer nun meine <<Philosophie der Freiheit>> durchliest, wird finden, wie die­se Wege zur Ergründung der Natur des menschlichen Denkens gesucht worden sind. Und für mich stellte es sich heraus, daß nur derjenige das menschliche Denken richtig verstehen könne, welcher in den höchsten Äußerungen dieses Denkens etwas sieht, das sich unabhängig von unse­rer Körperlichkeit, von unserer leiblichen Organisation vollzieht. Und ich glaube, es gelang mir nachzuweisen, daß die Vorgänge des reinen Den­kens im Menschen sich unabhängig von den leiblichen Vorgängen voll­ziehen. ... Und ich glaube, daß sich mir durch diese <<Philosophie der Freiheit>> nichts Geringeres ergeben hat als die übersinnliche Natur des reinen Denkens. Und hatte man diese übersinnliche Natur des menschli­chen Denkens erkannt, dann war damit der Beweis geliefert, daß der Mensch im gewöhnlichsten Alltagsleben, wenn er sich nur erhebt zum wirklichen Denken, durch das er durch nichts anderes als durch die Moti­ve des Denkens selbst bestimmt wird, daß er dann ein übersinnliches Ele­ment in diesem Denken vor sich hat." (S. 299 f) [...] " Wer dasjenige, was ich als Forschungsmethode meiner anthroposophischen Geisteswissen­schaft zugrunde lege, Hellsehen nennt, der muß auch schon das gewöhn­liche reine Denken, das durchaus aus dem Alltagsleben heraufströmt in das menschliche Bewußtsein, das hineinströmt in das menschliche Han­deln, Hellsehen nennen. Ich selber sehe qualitativ keinen Unterschied zwischen dem reinen Denken und demjenigen, was ich als Hellsehen be­zeichne. ... Dann aber, wenn man den Vorgang kennt, durch den man zu solchem reinen Denken kommt, kann durch das, was wahre tiefergehende Philosophie gibt, etwas ausgebildet werden, was ich dann in der verschie­densten Weise als Erkenntnismethode für die höheren Welten dargestellt habe in meinem Buch << Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> und in meiner <<Geheimwissenschaft>>. Geradeso, wie aus den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen Seele zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine besondere Schulung braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang weiter ausbildet, zu dem kommen, was ich in dem genannten Buch und im zweiten Teil meiner <<Geheimwissenschaft>> die Stufen der höheren Erkenntnis - also Ima­gination, Inspiration, Intuition - genannt habe. Was sich im reinen Den­ken äußert, das wird uns Menschen einfach eigen dadurch, daß wir gebo­ren sind; es ist uns in unserem jetzigen Stadium der Menschheitsentwick­lung vererbt." (S. 300 f)

Und um ein weiteres Argument betreff Klärung des intuitiven Denkens anzuführen, so gilt: Nur auf der Grundlage dieses Verstehens sind echte, fundierte Brückenschläge möglich zu anderen philosophischen Ansätzen. Und zwar in erkenntnistheoretischer, freiheitsphilosophischer und mehr bewußtseinsphänomenologischer, ja sogar in physikalisch-naturphiloso­phischer Richtung. Nicht nur um argumentativ die eigene Auffassung ver­teidigen zu können, sondern auch und vor allem um Verwandtschaf­ten zu erkennen und eventuell gemeinsam weiterführende Fragestellun­gen zu formulieren, ist ein solches Verständnis unerläßlich. Bei Lichte besehen ist das Thema intuitives Denken eines der spannendsten, aussichtsreichst­en, ergiebigsten, vielschichtigsten und zukunftsfähigsten überhaupt für eine Dissertation mit anthroposophischem Hintergrund und gibt genügend Stoff her für mindestens sieben von einander unabhängige wissenschaftli­che Arbeiten dieser Art. - Tatsächlich sogar weit mehr, weil man es in jede Richtung nahezu unbegrenzt weiter entfalten kann. Das liegt einfach mit daran, weil sich im intuitiven Denken alles mit es­sentiellen Fragestel­lungen trifft: Erkenntnistheorie, Anthroposophie, Freiheitsphilosophie, Psychologie, Bewußtseinsphänomenologie, Natur­philosophie, Medizin, Biologie, Physik und im engeren Sinne Quantenphysik, und letztlich auch die Theologie.

Nichtanthroposophische Forschung zum intuitiven Denken

Was die Erkenntnis des Denkens im engeren Sinne angeht, so gilt: Das intuitive Denken ist ja zunächst eine Eigenschaft oder ein Vermögen des ganz normalen erkennenden Bewußtseins. Was die Frage einer Bewußt­seinsphänomenologie des intuitiven Denken betrifft, so liegt hier - abge­sehen von seinen epistemologischen Betrachtungen, die ja ausschließlich Grundsatzuntersuchungen darstellen - nur sehr wenig Material von Stei­ner selbst vor, das diesen normalbewußten Bereich abdeckt. Das gesamte bewußtseinsphänomenologische Areal zwischen Epistemologie und höhe­rer Erkenntnis im eigentlichen Sinne ist von ihm nahezu völlig unbearbei­tet.

Allerdings gibt es von Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln (GA-21, 1976, S. 170 f), die einiges in dieser Beziehung enthält, den ausdrücklich geäußerten Wunsch, in einem psychologischen Laboratorium arbeiten zu können, um zu zeigen, wie das gewöhnliche Bewußtsein bereits zum Schauen veranlagt ist. Das heißt, er zielt hier exakt auf dieses unbearbei­tete Areal hin. Damit, so Steiner dort, sei es sogar möglich, "... die beste Grundlage [zu] schaffen zu anthropologisch-psychologischen Ergebnis­sen, die bis an die «Erkenntnis-Grenzorte» gehen, an denen sich Anthro­pologie mit Anthroposophie treffen muß ...". Nun sind aber all die Er­scheinungsformen des intuitiven Denkens im normalen Bewußtsein be­reits Ausdrucksformen dieser Veranlagung zum Schauen und entspre­chend an diesem "Treffpunkt" bzw "Grenzort" anzusiedeln, wo sich An­throposophie und Anthropologie Steiners Worten zufolge treffen müssen. Denn das reine Denken - ich habe es schon wiederholt im Rahmen der hier veröffentlichten Arbeiten gesagt - ist für Steiner bereits eine Form des schauenden Bewußtseins. (Siehe GA-35, Dornach 1984, S. 321 : "Meine früheren Schriften behandeln das reine Denken so, daß ersichtlich ist, ich zähle dieses durchaus zu den Verrichtungen des «schauenden Be­wußtseins». Ich sehe in diesem reinen Denken die erste, noch schattenhaf­te Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen." ) Deswegen erfüllt die Untersuchung des erkennenden Normalbewußtseins einen wichtigen Zwi­schenschritt zur weiteren Erkenntnis des Denkens; sowohl was die Be­griffsbildung bezüglich dieses intuitiven Denkbewußtseins und in ihm veranlagte Möglichkeiten angeht - und auch im Hinblick auf eine Brü­ckenbildung zwischen Anthroposophie und Anthropologie. (Man sollte sich den Steinerschen Ausdruck "beste Grundlage" wahrlich auf der Zun­ge zergehen lassen.)

Es ist daher gut zu wissen, daß es in den auf dieser Homepage immer wie­der vorgestellten denkpsychologischen Untersuchungen Karl Bühlers um eine experimentelle Erhellung des normalbewußten intuitiven Denkens ging - oder in Steiners Ausdrucksweise: der "schattenhaften Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen". Nicht nur das, sondern es ging mehr noch um eine Untersuchung des intuitiv erlebten Denkens. Denn das Erleben der Denkaktivität, des Denkprozesses selbst, war eines der Hauptziele der Untersuchung. Das leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich vorstellt, daß einem Untersuchungsteilnehmer (dem Philosophie- und Psychologiepro­fessor Oswald Külpe) etwa die Frage vorgelegt wurde, ob es möglich sei, mit dem Denken das Wesen des Denkens zu klären, und ihn der Ver­suchsleiter aufforderte zu berichten, was er bei der denkenden Entschei­dung dieser Frage erlebt hat. Es ist dieselbe (Schlüssel)Frage, die unter anderem in der Philosophie der Freiheit im dritten Kapitel verhandelt wird. Külpe berichtet also über Erlebnisse, die er beim intuitiven Denken (in diesem Fall beim reinen, mehr noch: beim sich selbst erkennenden Denken) hat. Und in diesem Sinne ist die ganze Bühlersche Untersuchung auch mit anderen Teilnehmern und auch mit davon abweichenden Formen des intuitiven Denkens eingerichtet. - Das mag manchmal dort - schließ­lich war es eine Pioniertat der Würzburger - im einzelnen noch unbehol­fen und unausgereift aussehen. Aber es geht in diesen Untersuchungen al­les in allem um das erlebte intuitive Denken in seinen verschiedenen nor­malbewußten Erscheinungsformen!

Wer also konkretes Anschauungsmaterial und sinnvolle weiterführende Fragestellungen zum normalbewußten intuitiven Denken sucht, der wird bei Steiner nicht viel finden über das hinaus, was in den erkenntnistheore­tischen Grundschriften und in der Schrift Von Seelenrätseln vorhanden ist, weil Steiner sich darüber kaum weiter ausgelassen hat. Er muß bei Bühler in den erwähnten Untersuchungen nachsehen. Dazu kann er sich weiter an Problemstellungen entlangarbeiten, wie sie etwa im sachlichen Umfeld von Hönigswald oder Palágyi, aufgeworfen wurden. (Siehe: Ri­chard Hönigswald, Prinzipienfragen der Denkpsychologie, Berlin 1913. Siehe auch: Melchior Palágyi, Der Streit der Psychologisten und Forma­listen in der modernen Logik, Leipzig 1902.) Das dann vom Anthroposo­phischen her zu beleuchten und zu problematisieren entspräche einer Ar­beit, wie sie an dem von Steiner genannten Treffpunkt von Anthroposo­phie und Anthropologie stattfinden könnte. Nur muß man eben wissen, daß es bei besagten Forschern überhaupt um das intuitive Denken geht. Diese bedeutsame Tatsache, daß andere, nichtanthroposophische Forscher längst dabei sind oder waren das intuitive Denken näher zu untersuchen, aber fällt aus dem anthroposophischen Explorationsraster völlig heraus, wenn man hier keine Vorstellung davon hat, was das intuitive Denken ist und ihm nur exotisch-esoterische Eigenschaften anheftet - man möchte besser sagen: andichtet. Dann ist man unfähig Brücken dieser Art zu bau­en und weitergehende interdisziplinäre Forschung zu treiben, weil man keine Ahnung hat, wonach man überhaupt suchen soll und logischerweise auch nicht wo man interdisziplinär in anderen Forschungsbezirken hinse­hen soll. Das heißt: Die Unklarheit über das intuitive Denken führt direkt zur wissenschaftlichen Blindheit und Orientierungslosigkeit in dieser wichtigen Frage. Genau so, wie sie zur (nicht nur) interdisziplinären Läh­mung in bezug auf die Freiheitsfrage führt. Und genau das kennzeichnet in Bezug auf das intuitive Denken die gegenwärtige Lage der anthropso­phischen Bewegung. Vor lauter Wirrwarr, so mein gelegentlicher Ein­druck, weiß man weder was, noch wo man nachschauen soll! Statt sinn­vollen Fragestellungen nachzugehen produziert man oft genug literarische Geisterbilder und jagt Chimären nach.

III.

Ein kurzer Blick auf Peter Bieri und Karl Popper

Einmal ganz unabhängig von Steiner bemerkt: Es gibt einen mehr als gu­ten Grund, nach der Freiheit des eigenen Denkens und Erkennens zu fra­gen. Das wird uns deutlich werden, wenn wir uns Bieris Auffassung anse­hen, die dieser Frage aus dem Wege geht, und uns die Konsequenzen die­ses Vermeidungsverhalten vor Augen führen.

Auch bei Bieri führt die Freiheitsfrage zunächst zu Erkenntnisfragen, im engeren Sinne zur Frage der Selbsterkenntnis und Klärung der eigenen Handlungsmotive. Doch dann finden wir bei ihm (S. 409 f) einen eigen­tümlichen Abbruch des Untersuchungsverfahrens, der gewaltsam und sachlich wenig schlüssig erscheint. Bieri schreibt dort: "Es gibt in jedem Moment, wo ich nach der Freiheit meines Willens frage, ein Stück inneres Terrain, das nicht Thema dieser Frage sein kann. Und das ist kein bedauer­liches Defizit, kein beklagenswerter blinder Fleck, sondern eine Voraussetzung dafür, daß die Frage nach der Freiheit überhaupt in Gang kommen und einen Sinn haben kann. Während ich artikulierend, verste­hend und bewertend damit beschäftigt bin, meinen Willen zu modellieren, stellt sich die Frage nach der Freiheit dieser Beschäftigung nicht. Und das ist nicht deshalb so, weil ich, engagiert in der Beschäftigung, einfach kei­ne Zeit hätte, sie zu stellen. Es ergäbe keinen Sinn, sie zu stellen, denn die aneignende Beschäftigung bildet den Rahmen für das Stellen jeder sol­chen Frage."

Nennen wir die "aneignende Beschäftigung" mit den Motiven des eigenen Handelns ein Erkennen dieser Motive, beziehungsweise mit Peter Bieri "Selbsterkenntnis", so lautet das Urteil Bieris: Die Frage nach der Freiheit der erkennenden Beschäftigung mit den eigenen Handlungsmotiven ergibt keinen Sinn! Sein Hinweis, daß es sich ja um eine Rahmenbildung hande­le, die es erst möglich mache, die Freiheitsfrage zu stellen, und daher die Freiheitsfrage darauf nicht anwendbar sei, scheint mir argumentativ we­nig überzeugend. Und zwar deswegen, weil es keinen vernünftigen Grund gibt, das eigene Erkennen von der Freiheitsfrage auszunehmen. Ganz im Gegenteil: Sollte sich nämlich herausstellen, daß dieses Erkennen selbst schon durchgängig kausal determiniert ist, was ja der Physikalist aus trif­tigem Anlaß behauptet. - Etwa dahingehend, daß sämtliche mentalen Vor­gänge einschließlich Erkenntnisprozeß ausnahmslos durch hirnorganische Prozesse bestimmt, nur Epiphänomene der Hirnphysiologie sind, denn wäre dies nicht so, dann müßte man ja das ganze physikalische Weltbild in Frage stellen. 1) - Dann würde uns die Erkenntnis der eigenen Hand­lungsmotive nicht ein Haar breit in Richtung Freiheit voranbringen, weil sich diese Erkenntnis selbst mit Naturnotwendigkeit vollziehen muß. Ob wir unsere Motive nun kennen oder auch nicht, das alles spielte nicht die geringste Rolle, weil, was wir tun, ob erkennend oder handelnd, im Grun­de nicht getan wird, sondern sich vollzieht, gemäß dem Gesetz der Kausalität. Nicht wir sind die Täter, sondern die Chemie unseres Gehirns, die Vorgänge des Stoffwechsels und die physikalischen Verhältnisse un­serer Umgebung. Erkenntnisgeleitete Steuerung oder Veränderung von Handlungen verdanken diese ihre scheinbare Steuerung dann ebensowe­nig unserem Erkennen, sondern vollziehen sich in Wirklichkeit mit der­selben Naturnotwendigkeit, wie unser Erkennen selbst. Der Steuermann sitzt nicht am Steuer sondern hinter einer wirkungslosen Spielzeugattrap­pe wie der Bub im Kinder-Spielmobil, der sich an der Illusion freut die Richtung vorzugeben, während die Mutter ihn schiebt wohin es ihr be­liebt. Das derart entstandene Freiheitsbewußtsein wäre lediglich ein Scheingebilde. Wir gaukeln uns nur eine Art von Freiheit vor und lügen uns etwas in die Tasche.

Weil wir im Erkennen erst einen Rahmen bilden, in dem die Freiheitsfra­ge gestellt wird, deswegen ist das Erkennen nicht etwa von der Freiheits­frage auszunehmen, sondern mit absolutem Vorrang auf seine Freiheit hin zu prüfen. Denn wenn das Erkennen selbst schon durchgängig kausal determiniert sein sollte, dann können wir das Stellen jeder weiteren Frei­heitsfrage getrost vergessen. 2)

Die Frage (physiologischer) Determinismus oder Freiheit im Erkenntnis­vorgang ist also alles andere als eine sinnlose Frage. Sie ist ein, wenn nicht sogar der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Freiheitsproblems. Karl Popper sah in dieser Beziehung etwas genauer hin als Bieri. Der Determi­nismus, schreibt Popper (Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, Hamburg 1984, S. 232 ff) schließt logisch begründete Einsicht aus, weil sich der Er­kenntnisvorgang dann selbst mit Notwendigkeit vollzieht. Und weil das so ist, gibt es für ihn auch keine Argumente, weder für ihn, noch gegen ihn. Für den Determinismus gibt es überhaupt keine Argumente mehr: "Denn nach dem Determinismus vertritt jemand irgendwelche Theorien - etwa den Determinismus - wegen seiner bestimmten physikalischen Struktur (etwa der seines Gehirns). Wir täuschen uns also (und sind dazu physikalisch vorherbestimmt), wenn wir glauben, es gäbe so etwas wie Argumente oder Gründe, die uns dazu bringen, den Determinismus zu ak­zeptieren. Oder mit anderen Worten, der physikalische Determinismus ist eine Theorie, über die man, wenn sie wahr ist, nicht argumentieren kann, denn sie muß alle unsere Reaktionen, auch das, was uns als auf Argumen­te gegründete Überzeugung erscheint, auf rein physikalische Bedingun­gen zurückführen. Rein physikalische Bedingungen, zu denen unsere phy­sikalische Umgebung gehört, veranlassen uns, zu sagen oder zu akzeptie­ren, was immer wir sagen oder akzeptieren; ... Doch das bedeutet: Wenn wir glauben, wir hätten eine Theorie wie den Determinismus wegen der logischen Kraft bestimmter Argumente angenommen, dann täuschen wir uns gemäß der Theorie des physikalischen Determinismus; oder genauer: Wir befinden uns in einem physikalischen Zustand, der uns dazu be­stimmt, uns zu täuschen." (Siehe hierzu auch Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München 1982, S. 105; S. 641, Anm 3)

Eben dieser Täuschung unterliegt bei Gültigkeit des Determinismus der Erkenner seiner Handlungsmotive, wenn er annimmt, er habe sich durch sachliche bzw logische Gründe vom Vorhandensein bestimmter Hand­lungsmotive überzeugt. Falls der Determinismus Recht hat, dann befindet er sich lediglich in einem physikalischen Zustand, der ihn glauben macht, er habe so etwas wie logische Gründe oder überzeugende Belege für seine Einsicht. Es ist nicht die logische Kraft von Argumenten, sondern die kausale Kraft seiner Hirnchemie, die ihm dies vorgaukelt. Verhält sich unser Selbsterkenner jetzt wie Peter Bieri und erklärt die Frage nach der Freiheit des Erkennens zur sinnlosen Frage, dann wird er folglich niemals herausfinden, ob er der Freiheit durch die sogenannte Selbsterkenntnis tatsächlich näher kommt oder nicht. Es könnte durchaus sein, daß der Determinismus Unrecht hat und uns die Selbsterkenntnis der Freiheit schrittweise näher bringt. Aber Bieri wird es nie mit Bestimmtheit be­haupten können, sondern allenfalls eine nicht begründete Glaubensüber­zeugung hegen.

Es kann, wenn man Poppers Argumentation folgt, in Wirklichkeit in ei­nem komplett kausal-deterministisch bestimmten Bewußtsein nichts der­gleichen geben wie logische Beweise, Plausibilisierungen, sachliche Be­gründungen, und im echten Sinne wirksame Erörterungen über das Für und Wider einer Auffassung. Das alles sind nur Vorspiegelungen oder Täuschungen seitens Vorgängen, die tatsächlich streng nach kausaler Ge­setzmäßigkeit verlaufen und keinen Raum mehr lassen für logisch veran­kerte Reflexionen aller Art. Von der anderen Seite gesehen: Läßt man lo­gisch begründete und orientierte Bewußtseinsvorgänge zu - und das tut letztlich jede seriöse Wissenschaft - dann muß man implizit dem Bewußt­sein - speziell dem Denkbewußtsein - einen Grad an Freiheit und Unab­hängigkeit gegenüber den kausalen Vorgängen des Organismus einräu­men.

Übrigens gilt dieses Poppersche Argument spiegelbildlich auch gegen­über der geistigen Welt. Popper selbst hat hier nur die physikalisch-mate­rielle Welt vor Augen. Man könnte infolgedessen zu der irrigen Auffas­sung gelangen, gegenüber der geistigen Welt stelle sich die Freiheitsfrage nicht, weil der Mensch als geistiges Wesen per se frei sei. Ein strenger Spiritualist könnte demgegenüber die Ansicht vertreten, daß der Mensch von geistigen Mächten in allem was er tut und denkt abhängig und ge­steuert sei. Er sähe nur eben die Silberfäden nicht, an denen er wie eine Marionette von Geistwesen gelenkt und manipuliert werde. In Wirklich­keit aber sei der Mensch der geistigen Welt vollkommen ausgeliefert und von dieser Seite alles andere als frei. Er sei zwar nicht physisch determi­niert, weil es die physische Welt in Wirklichkeit ja gar nicht gibt. Nichts desto trotz sei er durchgängig der Macht und Willkür Gottes oder etwai­ger anderer bedeutender Geistwesen unterstellt. Man könnte dies einen fatalistischen Spiritualismus,einen spirituellen Fatalismus, oder vielleicht besser: einen spirituellen Determinismus nennen. (So könnte etwa ein Anthroposoph die Überzeugung vertreten, der Mensch sei zwar in seinem Erkennen nicht physiologisch-physikalisch determiniert, wohl aber kar­misch. Und in allen seinen Gedankenoperationen zeige sich nichts weiter als die Abfolge und Wirksamkeit unentrinnbarer karmischer Notwendig­keit. )

*

Übrigens hat Steiner schon in der Vorrede zur Zweitausgabe von 1918 die Problematik so weit und allgemein gefasst, dass in der Philosophie der Freiheit nicht etwa nur an Freiheit gegenüber den kausalen Natur­mächten gedacht ist, sondern auch gegenüber geistigen Mächten. So lau­tet seine zweite der dort behandelten Wurzelfragen: "Die andere Frage ist die: Darf sich der Mensch als wollendes Wesen die Freiheit zuschreiben, oder ist diese Freiheit eine bloße Illusion, die in ihm entsteht, weil er die Fäden der Notwendigkeit nicht durchschaut, an denen sein Wollen eben­so hängt wie ein Naturgeschehen?" (PdF.,a.a.O., S. 7) Es geht hier, wie zu erkennen ist, nicht nur um Freiheit gegenüber einer wie immer gearte­ten Naturkausalität respektive -notwendigkeit. Sondern um Freiheit im Gegensatz zu Notwendigkeit überhaupt. Der entscheidende Passus lautet: " ... wie ein Naturgeschehen?" Es geht um Determination jedweder Art: Das an den Fäden der Notwendigkeit hängende Naturgeschehen ist hier lediglich als Vergleichspunkt und exemplarisches Beispiel gemeint für etwas an den Fäden der Notwendigkeit Hängendes. Im Prinzip aber könnte es sich ebensogut um geistige oder seelische Notwendigkeiten handeln, an denen das Wollen hängen kann. Der von Steiner verwendete Begriff der Notwendigkeit ist in diese Richtung völlig offen. Steiner macht hier keine Einschränkung, in welchem Sinne Notwendigkeit hier zu sehen ist. Naturhafte, seelische und eben auch geistige Notwendigkeit sind gleichermassen darunter zu fassen.

Ich erwähne diesen letzteren Sachverhalt hier vor allem im Hinblick auf Hartmut Traubs Buch Philosophie und Anthroposophie, Stuttgart 2011. Speziell im Hinblick auf die dort (S 268 ff) geäusserten erheblichen Be­denken Traubs an Steiners Spinozakritik von S 17 ff der Philosophie der Freiheit.

Es sticht ja in der von Steiner zitierten Briefpassage Spinozas ins Auge, dass diese gewissermassen beginnt mit einer Vergesellschaftung der Be­griffe von Freiheit und Notwendigkeit. So zitiert Steiner Spinoza ein­gangs: "«Ich nenne nämlich die Sache frei, die aus der bloßen Notwen­digkeit ihrer Natur besteht und handelt, und gezwungen nenne ich die, welche von etwas anderem zum Dasein und Wirken in genauer und fester Weise bestimmt wird. So besteht zum Beispiel Gott, obgleich notwendig, doch frei, weil er nur aus der Notwendigkeit seiner Natur allein besteht. Ebenso erkennt Gott sich selbst und alles andere frei, weil es aus der Not­wendigkeit seiner Natur allein folgt, daß er alles erkennt. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in ein freies Beschließen, sondern in eine freie Notwendigkeit setze.» An dieser eigentümlichen Gemengelage von Frei­heit und Notwendigkeit ändert sich auch in Spinozas Ethik nichts, die Traub in seiner Kritik als Referenz anführt. Und eine solche Position - das lässt sich hier zunächst nur allgemein und ungeschützt sagen, müsste aber eingehender belegt und demonstriert werden - ist für Steiner völlig unvertretbar. Dass Spinoza, wie Traub mit Recht zeigt, natürlich auch von den einsehbaren Vernunftgründen des menschlichen Handelns spricht, und damit die Freiheit auch mit der menschlichen Erkenntnistä­tigkeit verknüpft, ändert an dieser grundsätzlich widersprüchlichen Sach­lage nichts. Denn eine Frage wäre ja in Anlehnung an Popper oben zu stellen: folgt die menschliche Erkenntnistätigkeit im Sinne Spinozas nicht a priori wieder nur einer unsichtbaren (geistigen) Notwendigkeit? Im Sinne Poppers wäre das eigentlich nicht denkbar. Und ich meine im Sinne Steiners auch nicht. Und eine andere Frage ist die: Was versteht ei­gentlich Spinoza unter einsehbaren Gründen und Erkenntnistätigkeit? Aus der nominellen Verwandtschaft sprachlicher Formulierungen im Sin­ne Traubs auf die Verwandtschaft der Erkenntnisbegriffe bei Steiner und Spinoza zu folgern, scheint mir etwas reichlich kurz gegriffen. Bei Stei­ner geht die Kernfrage der Freiheitsphilosophie nun gerade darauf, was der Ursprung und die Bedeutung des Denkens ist (s. o.). Ein ernsthafter Vergleich mit Spinoza müsste sich dann der Aufgabe zuwenden, ob die­ser sich eine vergleichbare Kernfrage stellt wie Steiner, und wie er sie einlöst. Bei Traub ist, so weit ich sehe, darüber nichts zu erfahren. (Inter­essierte Leser, die selbst einen solchen Vergleich anstellen wollen, darf ich zu diesem Zweck an Spinozas Ethik verweisen. Siehe dort etwa in Teil II (Von der Natur und dem Ursprung des Geistes) den Lehrsatz 40 ff. Dazu können sie sich parallel die Frage vorlegen, warum Rudolf Stei­ner in Kapitel III der PdF so viel Wert legt auf die Beobachtung des Den­kens, respektive auf die Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des Denkens in Kap I, und was ihn methodisch in dieser Beziehung von Spinoza unterscheidet. Wie zum Beispiel erkennt Spinoza das Erkennen in der Ethik, Teil II, Lehrsatz 43; siehe auch Teil III, Lehrsatz 58, und welche Ansicht äussert Rudolf Steiner in dieser methodischen Frage des Erkennens der Erkenntnis?)

Schliesslich auch: Ist eine auf der Grundlage moralischer Phantasie und moralischer Intuitionen vollzogene Handlung, die ich vollziehe, weil ich sie liebe (Steiner), deckungsgleich mit einer aus einsichtigen Gründen vollzogenen Handlung, die ich vollbringe, weil ich gar nicht anders kann (Spinoza)? Ob ein gewolltes Handeln aus einsichtigen Gründen nach Spi­noza überhaupt möglich ist, das wird unten ebenfalls etwas zu betrachten sein.

Siehe zu Spinozas Ethik auch folgenden Link: http://gutenberg.spiegel.­de/buch/5217/1

Ein Überblicksartikel zu Spinoza: http://www.kunstinfrankfurt.de/Ba­ruchDeSpinozaLayout.html#oben

Es ist auch keineswegs so, wie Traub auf S. 271 f Steiner unterstellt, nämlich dieser habe sich in seiner Spinozakritik "nahezu ausschliesslich" auf die von Spinoza erwähnte illusionäre Freiheit bezogen. Das ist durch­aus nicht der Fall - man muss es nur sehen (wollen). Und man sollte vor allen Dingen nicht Quantität (Textumfang des Steinerschen Zitats) mit Qualität (ihrem argumentativem Gehalt) verwechseln. Denn in dem von Steiner wiedergegebenen Brief Spinozas ist, wie Traub selbst erwähnt, sogar eine Definition dessen vorhanden, was Spinoza unter Freiheit ver­steht. Und zwar nicht nur, wie Traub schreibt, eine exemplarische, erläu­ternde Definition der Freiheit anhand der Wesenheit Gottes, sondern durchaus eine generelle Definition unabhängig von dieser Gotteswesen­heit. Und exakt mit dieser lässt Steiner sein Spinozazitat auch beginnen mit den Worten Spinozas: "Ich nenne nämlich die Sache frei, die aus der blossen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt." (Nicht nur in dem von Steiner zitierten Brief, sondern auch in Spinozas Ethik findet sich eine vergleichbare Formulierung an ausgesprochen prominenter Stelle, nämlich gleich zu Beginn des Buches in der Definition 7. Siehe dazu Spinozas Ethik in der lateinisch-deutschen Studienausgabe des Felix Meiner Verlages, Hamburg 2010, dritte verbesserte Auflage; S. 7 ) Ex­emplifiziert anhand der Wesenheit Gottes wird dies von Spinoza erst im von Steiner ebenfalls zitierten Folgesatz des Briefes: "So besteht zum Beispiel Gott, obgleich notwendig, doch frei, weil er nur aus der Notwen­digkeit seiner Natur allein besteht. Ebenso erkennt Gott sich selbst und alles andere frei, weil es aus der Notwendigkeit seiner Natur allein folgt, daß er alles erkennt. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in ein freies Beschließen, sondern in eine freie Notwendigkeit setze." Steiner ist da er­sichtlich präziser in der Textauffassung als sein Interpret Traub. Und es ist gewiss nicht ohne Grund, dass Steiner mit eben dieser allgemeinen Definition Spinozas beginnt und damit den qualitativ gewichtigsten An­teil von dessen Gedankengang des Briefes an erster Stelle aufgreift. Er hätte ihn auch weglassen können und wäre anders vorgegangen, wenn er sich nur am Aspekt der illusionären Freiheit Spinozas hätte aufhalten wollen. Er hat also ein deutliches Bewusstsein für die Gewichtung und Wertigkeit der Argumente. "Argumentationsstrategisch", um ein häufiger verwendetes Wort Traubs aufzunehmen, ein durchaus vernünftiges Un­terfangen. (Davon abgesehen wäre es wenig realitätsnah anzunehmen, dass der Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften - Steiner - so wenig über das Verhältnis Goethes zu seinem mannigfachen philosophischen Inspirator Spinoza aufgeklärt ist und Spinozas Philoso­phie so ungenügend kennt, dass er den Fehler begeht bei Spinoza die illu­sionäre Freiheit mit der echten zu verwechseln. Siehe dazu Steiners zahl­reiche Erläuterungen zu Spinoza in Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, GA-1, Dornach 1987)

Also wird man mit guten Gründen unterstellen können, dass Steiner sich in seinem abschliessenden Resüme dann ebenso auf diese Definition der einleitenden Sätze mit bezieht, und nicht etwa irrtümlich nur auf dasjeni­ge, was bei Spinoza unter illusionärer Freiheit firmiert, wie Traub be­hauptet. Für Traubs Vermutung besteht gar kein Anlass. Denn warum sollte Steiner Spinozas Definition von Freiheit in seiner abschliessenden kritischen Beurteilung ausser Acht lassen, wenn er sie eigens an erster Stelle anführt? Interpretatorisch plausibel ist diese Vermutung einer Ver­nachlässigung oder eines Übersehens des schwerwiegendsten Argumen­tes durch Steiner nicht. Und dass er es mit einbezieht ist bei Steiner auch ersichtlich, wenn er nach dem Ende des Zitats (S. 18 f) ganz sachgemäss kritisiert: "So notwendig, wie der Stein auf einen Anstoß hin eine be­stimmte Bewegung ausführt, ebenso notwendig soll der Mensch eine Handlung ausführen, wenn er durch irgendeinen Grund dazu getrieben wird." Wohlgemerkt: "durch irgendeinen Grund ... getrieben". Das kön­nen bei Beachtung der Vollständigkeit des Steinerschen Zitats eben auch Vernunftgründe sein, die im Sinne Spinozas notwendig zu Handlungen treiben. Womit Steiner bis in die sprachliche Wendung hinein einen massgeblichen Kern der spinozistischen Freiheitsphilosophie aufgenom­men hat, nämlich dessen Trieb- und Affektlehre, die bei all dem eine fun­damentale Rolle spielt. Wobei man als heutiger Zeitgenosse eigentlich nur staunt, auf welch sonderbarem bewusstseinsphänomenologischen Bo­den Spinoza seine Urteils- und Entscheidungspsychologie in diesem Kontext entwickelt.

Auf diesen zentralen Punkt jedenfalls - dem aus einer mangelhaften Un­tersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens folgenden geistigen Determinismus Spinozas mit einhergehendem Ich-Verlust - scheint Stei­ner doch sein Augenmerk vor allen anderen Dingen zu richten. Siehe dazu Spinozas Ethik, Teil I, Von Gott; ferner im Teil III. die weitläufigen Anmerkungen zum Lehrsatz 2. Dort werden unter anderem auch die Bei­spiele aus Steiners zitierter Briefstelle angeführt. Und in ihren freiheits­philosophischen Konsequenzen sind sie dort noch weitaus prägnanter und aussagefähiger als die Formulierungen in Steiners Zitat. Angesichts des beträchtlichen argumentativen Aufwandes von Seiten Spinozas kann man sie wohl als eine empirische Schlüsselpassage in seiner Philosophie betrachten. Man vergleiche mit Spinozas dortigen Ausführungen einmal Steiners Kapitel III der Philosophie der Freiheit. Man wird dann besser verstehen können, warum die Frage nach dem Ursprung und der Bedeu­tung des Denkens für Steiner eine so grosse Rolle spielt. Und warum es sehr sinnvoll ist, die von Spinoza vorgelegten bewusstseinsphänomenolo­gischen Beispiele zu prüfen. Was daran ist realistisch, und was blosse, zum Teil doch sehr abwegige Hypothese, Vermutung oder wirklichkeits­fremde theoretische oder metaphysische Konstruktion?

Ich denke, dass diese der Erfahrung entlehnten Argumente Spinozas sehr viel zum Verständnis von seinem Determinismus beitragen können, weil sie im Kontext der Frage stehen, ob und wie weit der denkende Geist überhaupt in der Lage ist, auf den physischen Leib Einfluss zu nehmen und ihn zu Handlungen oder Bewegungen zu veranlassen. Und wie Be­schlüsse zustande kommen und zu bewerten sind. (Letztere Frage ist für Rudolf Steiner die Kernthematik seiner Philosophie der Freiheit) Siehe zum Thema Beschlüsse die beiden Schlußsätze Spinozas in den genann­ten Anmerkungen zu Lehrsatz 2. im Teil III der Ethik: "Die erwähnten Entscheidungen des Geistes [zu Handlungen, MM] entstehen im Geist mithin mit derselben Notwendigkeit, wie die Ideen von wirklich existie­renden Dingen. Wer also glaubt, er rede oder schweige oder tue sonst et­was aus einer freien Entscheidung des Geistes, der träumt mit offenen Augen." Hier geht es, das muss man hinzufügen, nicht um illusionäre Freiheit, sondern die getroffenen Aussagen sind ganz grundsätzlicher Na­tur und gelten für sämtliche Handlungen respektive Entscheidungen. Zwar spricht Spinoza hier auch von geträumten oder eingebildeten Ent­scheidungen, doch diese stellt er gewissermassen auf eine Stufe mit den wachbewussten, weil das Nebeneinanderbestehen verschiedener Ent­scheidungsbewusstheiten auf einen Widerspruch führen müsste, wenn man die eine akzeptiert, die andere aber nicht. Da dies aber nicht sein könne werden sie allesamt in das Gebiet der Notwendigkeiten verwiesen. Die unterschiedlichen Qualitäten von geträumten und wachen Entschei­dungen scheinen ihm argumentativ, und das ist wirklich bemerkenswert, irrelevant. Die Ethik Spinozas ist nicht gerade reich an bewusstseinsbezo­genen empirischen Belegen. Umso aufschlussreicher ist es zu beobach­ten, wie er mit dem Wenigen verfährt, was er an bewusstseinsphänome­nologischen Grundtatsachen überhaupt beibringt.

Deswegen noch einmal das Zitat ausführlicher: "Wenn wir aber träumen, daß wir sprechen, glauben wir auf Grund eines freien Entschlusses des Geistes zu sprechen, und dennoch sprechen wir nicht, oder wenn wir sprechen, so geschieht es auf Grund einer willkürlichen Bewegung des Körpers. Uns träumt ferner, daß wir manches den Menschen verhehlen, und zwar nach demselben Beschlusse des Geistes, nach welchem wir wa­chend verschweigen, was wir wissen. Uns träumt endlich, daß wir man­ches nach dem Beschlusse des Geistes tun, was wir wachend nicht wa­gen, und deshalb möchte ich wohl wissen, ob es im Geiste zwei Gattun­gen von Beschlüssen gebe, nämlich phantastische und freie? Wenn wir nicht so weit im Unsinn gehen wollen, muß man notwendig zugeben, daß dieser Beschluß des Geistes, den man für frei hält, sich von der Vorstel­lung selbst oder Erinnerung nicht unterscheidet und nichts anderes ist als jene Bejahung, welche die Idee, sofern sie Idee ist, notwendig in sich schließt (siehe Lehrsatz 49, T. 2). Folglich entstehen diese Beschlüsse des Geistes nach derselben Notwendigkeit im Geiste wie die Ideen der wirklich daseienden Dinge. Wer also glaubt, daß er aus freiem Beschlus­se des Geistes spreche oder schweige, oder sonst etwas tue, träumt mit offenen Augen."

Wie wachbewusste Entscheidungen zustande kommen, welchen Anteil ein selbstbewusstes Ich daran möglicherweise hat, und wie sich qualitativ ein Traum vom wachen Bewusstsein abhebt - das alles interessiert hier nicht. Spinoza räumt den augenfälligen Unterschied zwischen geträumten und wachen Entscheidungen rigoros beiseite, setzt Traumphantasien mit wachbewussten Beschlüssen qualitativ gleich und siedelt sie epistemolo­gisch und freiheitsphilosophisch auf dem selben Niveau an. Ganz offen­sichtlich ist er, aus welchen Gründen auch immer, hier nicht in der Lage die gewaltige Differenz zwischen geträumten und wachbewussten Ent­scheidungen zu bemerken, zu bewerten und adaequat in seine Theorie der Entscheidungsbildung einzubringen. Die Annahme, dass es tatsächlich zwei verschiedene "Gattungen von Beschlüssen" geben könne, nämlich "phantastische" (geträumte) und "freie" (wachbewusste), zwischen denen genetisch gesehen Welten liegen, hält er stattdessen für "Unsinn".

Vorausgesetzt die Übersetzung aus dem Lateinischen ist hier angemes­sen, dann erscheint der ganze Argumentationsgang mehr als seltsam. Um nicht zu sagen so hochgradig abenteuerlich, dass die nächstgelegen Frage eigentlich nur lauten kann: Was hindert ihn nur daran, die auf der Hand liegende Verschiedenheit von wachen und geträumten Beschlüssen zu se­hen? Und möglicherweise zu erkennen, dass geträumte Beschlüsse eben nur scheinbare sind und keine wirklichen, weil ihnen eigentlich alles fehlt, was sie in irgend einem seriösen Sinn als "Beschlüsse" ausweisen könnte - nämlich Wachheit des Bewusstseins, gedankliche Kontrolle und das mehr oder weniger sorgfältige Abwägen von Gründen und Gegen­gründen. - Es fehlt ihnen generell gesagt die Zurechnungsfähigkeit des Beschliessenden. Der "Geist" hat eben im Traum nichts "beschlos­sen", weil derjenige, der hätte beschliessen können - die Person oder das Ich des Träumers - geistig abwesend war. Infolgedessen ist es einiger­massen verwegen zu glauben, geträumte und wache Beschlüsse seien vergleichbar, oder gar dieselben, nach denen einmal dies, und einmal das Gegenteil davon beschlossen werde. Der Träumer erlebt nur ohnmächtig seine eigendynamischen Traumbilder und weiss nicht, dass er träumt. Während der Wache sehr wohl weiss, dass er wach ist, das Geschehen beeinflussen kann und die Beschlussbildung in der Hand hat. Er weiss auch dass und wann er geträumt hat, während der Träumende nicht weiss wann er wach war und wie sich das anfühlt. Deswegen ist es auch wenig wahrscheinlich, dass der Träumer wirklich glaubt "aus einem freien Be­schlusse des Geistes zu sprechen".

Was Spinoza den entscheidenden Hinweis auf verschiedene Gattungen hätte geben können, nämlich eine Untersuchung der Bewusstseinsqualitä­ten und Genese von phantastischen und freien Beschlüssen, das fegt er buchstäblich mit der folgenschweren Bewertung "Unsinn" vom Tisch. Vielleicht hätte ihn, wenn er noch weiter in diesem "Unsinn" gegangen wäre, eine nähere Untersuchung von wachen Beschlüssen zu der Entde­ckung geführt, dass diese auch nicht von einheitlicher Art sind, und er wäre auf eine dritte Gattung gestossen - nämlich innerhalb der wachen Beschlüsse auf die potentiell freien. Da nun die Entscheidungsbildung im Wachbewusstsein die Voraussetzung für ein angenommenes entschei­dungsgeleitetes freies Handeln bildet, leuchtet es ein, dass für Spinoza derjenige mit offenen Augen träumen muss, der da glaubt, seine wachen Entscheidungen als freie Beschlüsse zu fassen, da sich seine wachbe­wussten Entscheidungen grundsätzlich ja nicht von den geträumten un­terscheiden. Ich betone noch einmal: Das Gesagte gilt in Spinozas Augen für sämtliche Entscheidungen. Seien sie aus Vernunftgründen oder ande­ren erfolgt. Oder wie sein Fazit lautet: "Folglich entstehen diese (ge­träumten wie wachen, MM) Beschlüsse des Geistes nach derselben Not­wendigkeit im Geiste wie die Ideen der wirklich daseienden Dinge." Die Beschlüsse des Geistes - und zwar wache wie geträumte - entstehen "nach derselben Notwendigkeit". Das heisst: die Beschlussfindung und -bildung ist generell und vollständig determiniert, und nichts davon ist in des Menschen freies Vermögen gelegt. Entscheidungen und Beschlüsse überkommen den Menschen und werden nicht aktiv gefasst beziehungs­weise herbeigeführt. Das Ich des Menschen beschliesst nichts, sondern ist allenfalls Zuschauer eines Beschlussvorganges, der sich mit naturgesetz­licher Notwendigkeit in ihm vollzieht. (Interessant ist es zu sehen, dass die in der Steinerschen Briefstelle zitierten Beispiele Spinozas bei letzte­rem wie auch hier mehrfach wiederkehren und durchaus auch eine exem­plarische Bedeutung innerhalb dessen Freiheitsdiskussion haben. Denn Spinozas Argumentation im Lehrsatz 2 richtet sich gegen diese dort ex­emplifizierte naive Freiheitsgläubigkeit. Dann ist es schon erhellend sei­ner hierzu entfalteten empirischen Beweisführung zu folgen. Es ist ein offenkundiger und weitgehend empirieferner philosophischer Rationalis­mus, den er hier entfaltet, aber keine empiriegeleitete Philosophie)

Thematisch anders gelagert, aber argumentativ eingebettet in die umfang­reichen Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik ist die Frage, wie eigentlich das bewusste Denken mit dem Körper interagiert. Zu die­ser Frage äussert sich Spinoza, und zwar besonders eindeutig, schon in dem vorangestellten kurzen, aber folgenreichen einleitenden Lehrsatz 2: "Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt.)"

Was eigentlich die biologische oder sonstige Grundlage für entschei­dungsgeleitetes Handeln ist, ist streng genommen bis heute fast so unver­standen wie zu Spinozas Zeit und nach wie vor umstritten, aber im allge­meinen wird die gewollte Interaktion zwischen Denken und Körper als Faktum akzeptiert. Die Akzeptanz besteht inhaltlich in der Annahme, der Mensch sei für seine Taten verantwortlich, weil er sie von der Vernunft her organisieren, steuern und bewerten kann. Das heisst, man nimmt an, seine bewussten leiblichen Äusserungen seien dem Einfluss seiner Ver­nuft und seines Urteilsvermögens prinzipiell unterstellt. Worauf diese In­teraktion zwischen Denken und Handeln im physiologischen oder sonsti­gen Sinne genau beruht und wie sie verläuft ist wie gesagt bis heute nicht ernstlich geklärt, aber sie wird auf jeden Fall aus Evidenzgründen unter­stellt und vorausgesetzt. Es ist einfach evident, das wir willentlich und gedankengesteuert zur Arbeit gehen, Englisch lernen oder dem Bedürfti­gen einen kleinen Geldbetrag schenken. Auch wenn die genaue Wechsel­wirkung zwischen Denken und Leibesäusserung wissenschaftlich noch im Dunkeln liegt. Für Spinoza indessen ist es laut Lehrsatz 2 prinzipiell gar nicht möglich, dass vom Denken her irgend ein handlungsbestim­mender Einfluss auf den Körper ausgeht, weil laut nachfolgendem Be­weis zu Lehrsatz 2 Körper nur durch andere Körper, aber nicht durch Ge­danken bewegt werden können: " ... die Bewegung und Ruhe des Körpers muß durch einen anderen Körper entstehen, welcher auch zur Bewegung oder Ruhe durch einen anderen bestimmt worden ist...".

In den Anmerkungen zum Lehrsatz 2 wird dies, unter stetigem Hinweis auf das Nichtwissen in diesen Dingen, teils mit recht modern und natur­wissenschaftlich anmutenden empirischen Belegen und Fragestellungen flankiert, die demonstrieren sollen, dass menschliche Entscheidungen auf Aktionen des Körpers ohne Einfluss sind. Darunter auch bewusstseins­phänomenologische: Auf Erinnern und Vergessen habe der Mensch kei­nen Einfluss. - Was zu prüfen wäre und nachweislich nicht der Fall ist, wie jeder ernsthafte Selbstversuch zeigt. Dass es einen unbeeinflussbaren Erinnerungs- und Vergessensautomatismus gibt kann nur behaupten, wer diesen Dingen nie gezielt im Selbstbeobachtungsexperiment nachgegan­gen ist. Die unbeeinflussbare Erinnerung indessen ist für Spinoza ein ganz ernst zu nehmendes und schwerwiegendes bewusstseinsphänome­nologisches Argument, um wache Beschlüsse mit geträumten gleichzu­setzen. Siehe seinen resümierenden Gedankengang oben. Die Vorgänge des Bewusstseins ereignen sich eben, und wir können sie nur hinnehmen! (Hier wird vorausgesetzt, dass Spinoza damals in seinem Bewusstsein vergleichbar ebenso organisiert war wie wir. Die Möglichkeit, dass er seine Einflusslosigkeit auf Erinnern und Vergessen tatsächlich auch so erlebt hat, wie er sie beschreibt, und auch seine Beschlussbildung viel­leicht den oben skizzierten traumartigen Charakter hatte, besteht grund­sätzlich auch noch. Dann wäre sein Bewusstsein vor rund 400 Jahren qualitativ in einigem doch sehr anders organisiert, als das gegenwärtig normalerweise der Fall ist. Dieser interessanten Frage nach einem mögli­chen historischen Bewusstseinswandel kann hier leider nicht nachgegan­gen werden.)

Erstaunlicherweise aber findet sich bei Spinoza auch der generelle Hin­weis darauf, dass der Körper allein eben zu vielem fähig sei. Sogar kultu­relle Grossleistungen wie Kirchbau und Kunstwerke hätten danach ihren Ursprung nicht in denkerischen Entscheidungen und Entwürfen, sondern vernunftunabhängig in den wahren Wunderleistungen des menschlichen Leibes. Und zwar führt Spinoza das unter anderem aus im argumentativen Rückgriff auf Schlafwandler, die gelegentlich bemer­kenswerte Dinge tun, worüber sie im wachen Zustand sehr verblüfft sind. Genialische Tatsachen zeigen sich eben in der gesamten Natur, auch dort, wo vom Denken keine Spur zu finden ist, weil die Natur so weise einge­richtet ist. Warum sollten sie beim Menschen nicht durch die ebenfalls genialische aber ausschliesslich organische Funktion des menschlichen Leibes zustande kommen? Es ist nach Spinozas Auffassung ersichtlich realistischer anzunehmen, dass Kirchbauten und Tempel nach demselben Prinzip entstehen wie die intelligenten Bauten von Termiten, Spinnenge­webe und Vogelfedern: Aus einer universellen Naturvernunft heraus und nicht aus einer individuellen menschlichen. Es besteht weder ein notwen­diger Anlass vernunftvoll erscheinende menschliche Taten mit dem menschlichen Denken faktisch in Verbindung zu bringen, noch ist dies möglich. Der Glaube der Menschen, sie könnten mit der Vernunft auf die Bewegungen ihres Leibes Einfluss nehmen, sei eben naiv und anhand der Tatsachen nicht zu belegen.

Auch dieser Gedankengang mutet wie im Fall der Traumbeschlüsse der­art abenteuerlich und an den Haaren herbeigezogen an, dass man den Eindruck hat, Spinoza habe sich hier mit aller Gewalt zu einer Art ko­pernikanischen Strategie entschlossen. Nämlich gegen jede Evidenz zu argumentieren, und eine kopernikanische Wende in der Bewusstseins- und Handlungsauffassung rein rationalistisch zu inszenieren. Freilich ist der Lebens- und Erlebenszusammenhang im Fall der himmelsmechani­schen Erscheinungen unmittelbar nicht vorhanden, der das Trügerische eines vermeintlichen Umlaufs der Sonne um die Erde leicht entlarven könnte. Deswegen ist es dort durchaus angemessen eine Beweisführung gegen die scheinbare Evidenz zu suchen. Während wir im Fall von Träu­men, Wachen, Urteilsvorgängen oder von willkürlichen Bewegungen in einem Erlebenszusammenhang mitten drin stehen. Näher als durch die unmittelbare Erlebensweise können wir diesen Phänomenen gedanklich nicht kommen. Und näher als Urteils- und Denkvorgänge können uns überhaupt keine Phänomene kommen. Deswegen haben sich bis heute die Menschen trotz aller gegenteiligen Beschwörungen mancher Neuro­biologen und aller populärwissenschaftlichen Bekehrungsversuche nicht von der Überzeugung abbringen lassen, dass sie es sind, die denken, ur­teilen und sprechen und nicht das Hirn. Das von Spinoza hier nahegeleg­te Bild vom Menschen gleicht doch eher einem Untoten, als einem menschlichen Individuum.

Mit dieser Unfähigkeit des Geistes den Körper zu Handlungen zu bestim­men korrespondiert eine analoge Unfähigkeit des Denkens, sich aktiv mit dem Geist (besser vielleicht: mit Gedanklichem) in Verbindung zu brin­gen. Infolgedessen ist die Wahrnehmung von Ideellem für Spinoza eben­falls ein blosses Leiden, eine passive Wahrnehmung und kein aktives, ge­wolltes denkerisches Geschehen. Auch ideelle Wahrnehmungen - hier haben wir eine deutliche Parallele zum oben erörterten Prozess der Be­schlussbildung - überkommen den Menschen und werden nicht aktiv auf­gesucht oder herbeigeführt. (Ein modernerer Psychologe des 19. oder frü­hen 20. Jahrhunderts würde vielleicht von einem rein assoziativen Me­chanismus sprechen.) Wir werden weiter unten etwas darauf zurückkom­men. Ein agiles und selbständig handelndes oder erkennendes Ich jeden­falls, das muss man wohl sagen, kommt bei Spinoza nicht vor. Son­dern nur ein betroffener Zuschauer im Stück der Notwendigkeiten.

Abgesehen davon, dass bei Spinoza alles Geschehen ursächlich in Gott und nicht in der Materie gründet, und er dafür argumentativ sehr viel Aufwand investiert, ist er mit seinem Determinismus dem physikalischen strukturell nicht nur ziemlich ähnlich, sondern auch methodisch ver­wandt, wie seine empirischen Belegversuche oben zeigen. (Infolgedessen gab und gibt es nicht wenige, die ihn für einen Materialisten halten, der seinen Materialismus lediglich theologisch verhüllt habe. Einer der Grün­de dafür, warum Marxisten in ihm gern einen Vorläufer des modernen Marxismus sehen. Siehe etwa http://www.spinoza.de/Spinoza_Vorge­schichte_Marxismus.pdf) Offensichtlich jedenfalls nimmt er ein an den Naturwissenschaften orientiertes Prüfen und Bewerten der empirischen Tatsachen mitunter, wenn auch auf sehr einseitige Weise, ernst. Doch sein Umgang mit den empirischen Tatsachen des Bewusstseins offenbart gerade dies: Die empirischen Tatsachen scheinen gegenüber der Theorie­bildung allemal nachrangig. Sie sprechen sich nicht aus, sondern werden gewaltsam in ein gedankliches Schema gepresst und im Zweifel in gro­tesker Weise umgedeutet. Auch dies eine deutliche Parallele zum Physi­kalismus. Ein autonomer Gedankenbildner oder Entscheidungsträger für Handlungen findet sich infolgedessen bei beiden Formen des Determinis­mus nicht, ob sie nun von Gott oder von der Materie ihren Ausgang neh­men. Und am Ende bleibt, wie von Popper gegen den Physikalismus vor­gebracht, auch dasselbe Problem wie beim Physikalismus: Wie kommt denn der Determinist, ob physikalisch oder geistig orientiert, dazu, an die Gültigkeit seiner Argumente zu glauben, die er für den Determinismus ins Feld führt? Die entscheidende Frage zielt damit auf den, der sich das alles ausdenkt. Er kann es ja nur glauben unter Berufung auf eine Instanz, die eben nicht vollständig determiniert sein kann - und das ist das urtei­lende, prüfende und erwägende Ich des Denkers. Damit aber hat er sei­nem Determinismus bereits den Boden entzogen. Wenn ihm das nicht klar ist, dann deswegen, weil er sich mit den faktischen Vorgängen seiner Gedanken- und Urteilsbildung nicht weiter auseinandersetzt und die rich­tigen Konsequenzen daraus zieht.

Bei Spinoza führt das auf die Frage, woher er denn für den Teil V der Ethik die Überzeugung nimmt, aktiv in ein vollständig determiniertes Ge­schehen eingreifen zu können, welche empirischen Belege er dafür bei­bringt und wie plausibel diese sind. (Siehe dazu den Lehrsatz 1 im Teil III der Ethik und den nachfolgenden Lehrsatz 2. nebst Anhang) Denn wenn er glaubt dies aktiv tun zu können, so muss sich diese Aktivität schon im Prozess der Entscheidungsfindung oder Urteilsbildung nach­weisen lassen. Diese aber, so scheint es doch, sind bei ihm ganz und gar frei von individueller Aktivität und Autonomie, sondern gleichen aufs Haar dem Ausgeliefertsein an etwas, das sich notwendig vollzieht. Des­wegen seine Gleichsetzung von Traumbeschlüssen mit wachen. Es gibt seinen bisherigen empirischen Ausführungen nach gar kein Anzeichen von geistiger Autonomie, und die Macht des Verstandes und die mensch­liche Freiheit, von denen im V. Teil der Ethik die Rede ist, erscheinen im Lichte seiner oben erläuterten Befunde wie ein Hirngespinst. Plötzlich wird nun aber ohne jede Vorwarnung und vollkommen unbegründet je­mand aus dem Hut gezaubert, der eben doch Entscheidungsträger ist und die Gedanken selbsttätig verbindet. Denn was er für den Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik an Initiativmöglichkeiten des Ich voraussetzt, verlangt auch ein aktives Ich, das bei der Beschlussbildung die Gedanken selbsstä­tig, und nicht traumartig miteinander verbindet. Bei Spinoza ist das ein noch etwas anonymes "Wir", das nun laut Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik zur Überraschung des Lesers etwas tun soll, wozu es laut Theo­rie der Beschlussbildung eigentlich gar nicht fähig sein dürfte: Nämlich in eigener Tätigkeit des Ich Gedanken trennen und verknüpfen, die sich angeblich nur selbst untereinander verknüpfen können. Ja, - Ich? - wie denn? - Ich soll in eigener Tätigkeit Gedanken verknüpfen? - fragt sich der erstaunte Leser. Diese Möglichkeit hat er doch im Teil III schon komplett aus der Hand gegeben. Dafür besteht folglich kein konzeptio­neller Spielraum mehr. Denn Traumbeschlüsse können, wie von ihm selbst betont, Gedanken nicht aktiv und autonom verbinden oder trennen. Und auf Erinnern und Vergessen habe ich angeblich ja auch keinen Ein­fluss. Wie soll denn so etwas dann überhaupt gehen? - Der Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik ist infolgedessen und möglicherweise bloss missver­ständliche philosophische Rhetorik, und ein aktiv verbindendes und tren­nendes "Wir" gar nicht gemeint. Dann freilich wäre die Macht des Ver­standes nebst Freiheit ohnehin eine bloss traumhaft eingebildete, sprich: illusionäre. Wie auch immer. Auf jeden Fall aber bedarf er einer ganz an­ders gearteten Konzeption der Beschlüsse und Entscheidungsfindung, als sie Spinoza im Teil III der Ethik vorgelegt hat, um ihren dort konzeptio­nell veranlagten illusionären Charakter abzulegen. Darauf allerdings war­tet der Leser vergeblich.

Nehmen wir also Hartmut Traubs Hinweis auf die von Steiner angeblich übersehenen Vernunftgründe Spinozas ernst, so müssten wir bei der Ge­nese und der faktischen Umsetzung dieser Vernunftgründe Spinozas fün­dig werden und einen entscheidenden empirischen Fingerzeig auf die Freiheitsrelevanz von Vernunftgründen entdecken. Was aber finden wir dort vor? - Die wachbewussten Entscheidungen und Beschlüsse kommen nicht anders zustande als geträumte oder phantastische. Es existiert nur eine Gattung von Beschlüssen und der gehören sowohl wache wie ge­träumte gleichermassen an. Die mögliche Existenz einer weiteren "Gat­tung" von Beschlüssen wird mit dem Prädikat "Unsinn" abgelehnt. Also haben die aus Vernunftgründen gefassten Beschlüsse qualitativ und frei­heitsphilosophisch keinen anderen Status als die geträumten. Sie kom­men entsprechend mit derselben Notwendigkeit zustande wie auch Traumbeschlüsse zustande kommen. Und daraus folgt: "Wer also glaubt, daß er aus freiem Beschlusse des Geistes spreche oder schweige, oder sonst etwas tue, träumt mit offenen Augen." Das ist gedanklich zwar konsequent, aber vollkommen abwegig und meilenweit entfernt von jeder Realität. Man fragt sich, wie Spinoza die Freiheit des Ich im vernunftge­leiteten Handeln ansiedeln will, wenn er beides schon im Erkennen oder bei der Beschlussbildung nicht findet? Wie könnte er im Teil V der Ethik noch stringent darauf verfallen, wenn er sich empirisch im Teil III schon so gründlich darin widerlegt?

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Um es sinngemäss mit den Gedanken des Steiner von 1899 zu fassen: Erst projiziert der Mensch - Spinoza - ganz logisch auf der Basis seiner Definitionen ein allbeherrschendes Gotteswesen in die Welt hinaus, um sich hernach von diesem hinausprojizierten Gott durchgängig bestimmt zu denken. Nur übersieht er dabei, dass es ja nur die Produkte seiner ei­genen Subjektivität waren, die er da zuallererst in seine Definitionen hin­einlegt hat, von denen er sich jetzt, seiner Logik folgend, beherrscht glaubt. Er versetzt ein allmächtiges Wesen in die Welt, während er gleichzeitig sein Ich als Produzenten dieser Gedankenbildung vergisst und verliert. (Siehe Rudolf Steiner, Der Individualismus in der Philoso­phie, in: GA 30, Dornach 1989, S. 99-152. Zu Spinoza siehe dort S. 127 f. Erläuternd dazu siehe ebd, S. 148 ff.)

Von dieser Einsicht, dass die Eigenschaften Gottes wie Vollkommenheit, Wesensnotwendigkeit etc, aus denen Spinoza mit dem Anspruch auf Not­wendigkeit wiederum seine Handlungsmaximen zwecks Beherrschung der Affekte mehr oder weniger herleitet, ursprünglich sein eigenes ge­dankliches Erzeugnis sind, ist die Ethik Spinozas in der Tat nicht nur weit entfernt, sondern völlig frei. Oder wie Steiner in dem erwähnten Aufsatz (S.127) sagt: "Daß der Mensch das Bild, unter dem er sich diese Notwen­digkeit [Wesensnotwendigkeit Gottes, MM] vorstellt, seinem eigenen In­halte entnimmt, davon hat Spinoza kein Bewusstsein." In der Tat: Schon die Behauptung über Gottes Vollkommenheit ist in den Augen Spinozas eine regelrechte geistige Zwangshandlung, die auf dem Wege einer geis­tigen Nötigung durch Gott zustande kommt. Denn, so Spinoza, seine Aussagen über Gottes Vollkommenheit seien nur deswegen erfolgt, weil Gottes Vollkommenheit selbst ihn dazu "gezwungen" habe, diese Voll­kommenheit zu behaupten. (Siehe Ethik, Teil I., Von Gott; Anmerkung 2 zu Lehrsatz 33) Gott ist der eigentliche Urheber dieser Überzeugung - nicht der Philosoph Spinoza. Denn der folgt lediglich Gottes Macht­spruch, respektive göttlicher Notwendigkeit. Man könnte das bezeichnen als eine Erklärung im Lichte der eigenen (deterministischen) Überzeu­gung. Aber nicht im Lichte der empirischen Ereignisse, die bei der Bil­dung dieser Überzeugung tasächlich vorgegangen sind. Denn schon die im allgemeinen doch sorgfältig abwägende und kritische Gedankenfüh­rung Spinozas, die seiner Ethik zugrunde liegt, und worauf sie aufbaut, belegt nachprüfbar das völlige Gegenteil dessen, was er soeben behauptet hat: Sie belegt die Nicht-Existenz göttlicher Erkenntniszwänge und eines Determinismus, so wie er ihn versteht. Ironischerweise, möchte man sa­gen, gründet sich seine Ethik auf etwas, was er darin unter erstaunlicher Investition gedanklicher Arbeit theoretisch so gut wie abgeschafft hätte, falls man seine Behauptung ernst nähme - die menschliche Gedankenfrei­heit.

Wenn man Steiner in diesem Kontext recht versteht, dann sieht er einen engeren Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des naturwissen­schaftlichen Denkens mit seinem Kausalitätsprinzip und Spinozas nicht mehr christlichem Gottesverständnis, das letztlich von diesem naturwis­senschaftlichen Kausalitätsdenken inspiriert ist, und ein Analogon zur Naturkausalität in Form von göttlicher Notwendigkeit geschaffen hat. Im Prinzip, so könnte man Steiners Gedanken erläutern, ist dieses Bild der göttlichen Notwendigkeiten mehr oder weniger dem damaligen naturwis­senschaftlich-philosophischen Zeitgeist geschuldet. Doch warum sollte in einem vollkommenen Wesen (Gott) zugleich die Notwendigkeit vorlie­gen, seine gesamte Schöpfung bis ins Kleinste nach dem Vorbild der materiellen Welt oder nach Art logischer Zusammenhänge - wenn man will: logisch-mechanistisch, nach dem Vorbild von etwas Totem - auch zu determinieren? Ist ein umfassender Determinismus wirklich ein notwendiger Ausdruck von Vollkommenheit, zu dem es keine Alternati­ven gibt? Was logisch oder aus dem Zeitalter heraus scheinbar einleuch­tet braucht faktisch längst nicht so sein. Was sich der Philosoph also un­ter der Vollkommenheit Gottes jeweils vorstellt, - und das gilt verständli­cherweise nicht nur für Spinoza -, ist in vielerlei Richtung hin durchaus offen und entscheidungskontingent, weil historisch bedingt und insofern von eher zufälligen Faktoren. Er muss auf jeden Fall den Inhalt für diese gedanklich erschlossene Vollkommenheit aus sich selbst holen - und an dieser Stelle wird das Verfahren einigermassen windig und anfechtbar. Denn dieser Inhalt ist gebunden an die Grenzen und an den Horizont sei­ner menschlich beschränkten philosophischen Phantasie. Und die muss mit der Realität nicht unbedingt übereinstimmen. Steiner speziell dazu an ganz anderer Stelle: "Als man anfing, nach Gottesbeweisen zu suchen, war dieses Suchen selbst schon ein Beweis dafür, daß man den lebendi­gen Zusammenhang mit der göttlichen Welt verloren hatte. Deshalb kann auch kein intellektualistischer Gottesbeweis in einer befriedigenden Wei­se geführt werden." (Rudolf Steiner, Drei Schritte der Anthroposophie: Philosophie, Kosmologie, Religion. Zehn Auto-Referate zum Französi­schen Kurs am Goetheanum Dornach, 6. bis 15. September 1922, GA 25, Dornach, 1999, IV. Erkenntnis- und Willensübungen S. 37) Und Gideon Spicker zum selben Thema aus religonsphilosophischer Sicht: "Von ei­nem willkürlich entworfenen Begriff - Idee der Vollkommenheit - kommt man durch bloßes Schlußverfahren nicht zu der ihm korrespondierenden Realität. Es ist und bleibt nur eine gedachte Vollkommenheit." (Gideon Spicker, Am Wendepunkt der christlichen Weltperiode, Stuttgart 1910, Nachdruck des Georg Olms Verlages, Hildesheim 1998, S. 38. Sowohl der ontologische Gottesbeweis, der von einer erschlossenen unendlichen Vollkommenheit Gottes ausgeht, als auch der kosmologische Gottesbe­weis, der folgernd auf eine unbedingte Ursache alles Gewordenen führt, liefert nach Spicker keine Erfahrunsgegebenheit, sondern bleibt ein in­haltlich unbestimmtes logisches Konstrukt. Die eigentliche Beschaffen­heit dieses erschlossenen Gottes bleibt in beiden Fällen völlig im Dun­keln. Und liefert damit, so möchte man ihn ergänzen, nahezu beliebigen Raum für philosophische Phantasieproduktionen. Siehe Spicker a.a.O., S. 27)

Ebensogut vorstellbar wäre nun beispielsweise, dass dieser vollkommene Gott gleichsam Ebenbilder seiner selbst in die Welt entlässt, die seine Schöpfung auf unterschiedlichen Stufen fortführen, ohne dass sie seinen permanenten deterministischen Zwängen unterliegen. Das wäre eine Vollkommenheit mit dem immanenten Impuls zur fortlaufenden Schöp­fung in Freiheit. Im christlichen Bild von den Gotteskindern kommt dies ja auf eine gewisse naive Weise auch zum Ausdruck. Er hätte damit seine Substantialität weitergeschenkt und die eigene Vollkommenheit gleich­sam vervielfacht, indem er sie auf andere Wesen überträgt, die zwar in ihm wurzeln, aber nicht durchgängig von ihm beherrscht werden. Nur - dieser Gedanke ist der zeitgenössischen Kausalitätsphilosophie Spinozas eben noch reichlich fremd und weniger naheliegend. Der Kausalgedanke ist philosophisch zu seiner Zeit stark präsent und ein vergleichbar beein­druckender Begriff des Lebendigen noch nicht in Sicht. Eine spätere Phi­losophie des Organischen und Lebendigen würde neue Perspektiven er­öffnen und sich ihren Gott vermutlich eher nach dem Idealbild einer gött­lichen Evolution und organischen Werdens, - das ist im Sinne eines lebendigen, beweglichen Organismus -, und nicht nach dem einseitigen Muster eines lieblosen und zwanghaften Mechanismus der toten Materie oder einer starren Logik formen. Das wird im Zeitalter Kants ja auch be­ginnen der Fall zu sein, und beispielsweise bei Johann Gottlieb Fichte wird der Begriff Gottes sehr eng mit dem Begriff des Lebendigen und der Liebe verknüpft. (Siehe Fichtes Die Anweisung zum seligen Leben [http://www.zeno.org/Philosophie/M/Fichte,+Johann+Gottlieb/Die+Anweisung+zum+seligen+Leben])

Die Vernachlässigung des Ich bei Spinoza mag weiter auch, wie oben schon angedeutet, damit zu tun haben, dass Spinoza der Frage nicht aus­führlicher nachgeht, wie eigentlich das Ich des Menschen im Erkennen handelt und entsprechend zu einer Erkenntnis des Erkennens gelangt. Bzw weil er glaubt im erkennenden Rückgriff auf Gott sei die Erkenntnis der Erkenntnis eine sich von selbst verstehende Beigabe. (Siehe dazu etwa dessen Ethik, Teil II, Lehrsatz 43; siehe auch Teil III, Lehrsatz 58) Bei Spinoza tritt das Verstehen infolgedessen auf als eine passive Funkti­on, das heisst: als ein blosses Leiden: "Denn wir haben gesagt, daß das Verstehen ein blosses Leiden ist, d. h. ein Gewahrwerden der Essenz und Existenz der Dinge in der Seele, so daß wir es also niemals sind, die et­was von dem Ding bejahen oder verneinen, sondern das Ding selbst ist es, das etwas von sich aus in uns bejaht oder verneint." (Spinoza, kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück, in der Ausgabe des Felix Meiner Verlages, Hamburg 1991, S. 88 f. 16. Kapitel § 5) Im Kontrast dazu Steiner, der nicht nur am vollkommenen Gegenpol, nicht von einem logisch als erstem und absolut gesetztem Gott seinen Ausgang nimmt, sondern an der empirischen Erkenntnis des Erkennens, die der Methode nach durchaus empirisch psychologische Züge hat. Beziehungs­weise, wenn wir systematische Kollisionen der Erkenntnistheorie mit der Psychologie vermeiden wollen, wäre es angemessener zu sagen, sie habe bewusstseinsphänomenologische Züge. Und zwar im Sinne jenes zeitge­nössischen Erkenntnistheoretikers Johannes Volkelt, auf den Steiner in seinen Frühschriften so ausführlich zurückgreift. (Zur bewusstseinsphä­nomenologischen Erkenntnistheorie Volkelts, auf die Steiner vor allem in den Frühschriften Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung sowie Wahrheit und Wissenschaft - siehe die Einleitung zu Wahrheit und Wissenschaft - ganz ausdrücklich rekurriert vergleiche Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken, Hamburg und Leipzig 1886. Dort vor allem die Abschnitte 1. und 2. ; S. 1 - 132 . Zum Verhältnis von Erkenntnistheorie zur Psychologie dort etwa S. 43 f; S. 46 f. [ Im Internet frei erreichbar unter http://ia600600.us.archive.org/18/items/Erfahrun­gUndDenken/Johannes_Volkelt_Erfahrung_und_Denken.pdf])

Für Steiner kann schon die Realisierung der Idee des Erkennens, bzw das Erkennen als individueller Prozess des denkerischen Handelns weder von aussen, noch von innen aufgenötigt werden, sondern nur auf einen freien Entschluss des erkennenden Wesens selbst hin erfolgen. Ohne meinen persönlichen Entschluss zum Erkennen geschieht hier - und zwar jeder­zeit überprüfbar - nichts. Auch keine Erkenntnis Gottes. Spinozas wenn man so will: ideelle Wahrnehmung (Gewahrwerden der Essenz) findet sich auch bei Steiner. Aber sie wird bei ihm als ein durchgängig aktives Geschehen - besser vielleicht: als tätige Rezeption des Ideellen - eben als Resultat eines gewollten Denkens und nicht als ein passives Leiden ge­kennzeichnet. Auch dieses ist jederzeit einer Verifikation anhand der Er­fahrung zugänglich. Und damit ist es bei Steiner noch nicht getan. Denn die Wahrnehmung des Ideellen bzw der Essenz allein ist in seinen Augen noch keine Erkenntnis, sondern lediglich dessen Voraussetzung auf der ideellen Seite. Das Bejahen oder Verneinen einer ideellen Wahrnehmung ist Sache des Urteilens und Prüfens, und damit vollständig als Vorgang in die Hand des erkennenden Menschen gelegt. Wer nicht urteilen will hat allenfalls fixe Ideen und nicht Erkenntnis oder Verständnis. Das gilt na­türlich auch für Wahrnehmungen nicht-ideller Art. Das Ding, das sich im Sinne Spinozas aussprechen will, wird dies nur können, sofern der Mensch sich aktiv darauf einlässt. Der fehlende Hinweis Spinozas auf die Aktivität des Denkens und Erkennens kontrastiert übrigens ganz eigen­tümlich mit dem, was Steiner in der Philosophie der Freiheit dazu aus­führt, weil dieser so eindringlich fortwährend diese Aktivität betont. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als habe Spinoza für diese individu­elle Aktivität im Denken gar keine Wahrnehmung. So, wie er offensicht­lich auch keine Wahrnehmung für die Einflussnahme auf das Erinne­rungsgeschehen (s. o.) hat. Ob dies durchgängig bei ihm der Fall ist, wäre eine detailliertere Untersuchung wert. Es würde bewusstseinsphänome­nologisch zumindest einige seiner theoretischen Positionen erklären.

Offensichtlich geht es Steiner doch um den Begriff der Notwendigkeit, und darum, ob eine aus einsehbaren Gründen erfolgte Handlung sich mit derselben Notwendigkeit vollzieht, wie die mechanische Bewegung eines Steines. Deswegen zum Schluss der Passage sein abschliessender Gedan­kengang: "Und ein tiefgreifender Unterschied ist es doch, ob ich weiß, warum ich etwas tue, oder ob das nicht der Fall ist. Zunächst scheint das eine ganz selbstverständliche Wahrheit zu sein. Und doch wird von den Gegnern der Freiheit nie danach gefragt, ob denn ein Beweggrund mei­nes Handelns, den ich erkenne und durchschaue, für mich in gleichem Sinne einen Zwang bedeutet, wie der organische Prozeß, der das Kind veranlaßt, nach Milch zu schreien." Das aber lässt sich Spinoza doch mit guten Gründen vorhalten, nämlich diesen Unterschied gar nicht recht zu erfassen, sonst könnte er nicht (s.o.) zu der Definition kommen, die Sa­che sei frei, "die aus der blossen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt." (Dass diese Verknüpfung von Notwendigkeit und Freiheit wie eben schon angedeutet bei Spinoza in direkter Verbindung steht zu Spi­nozas Gottesbegriff, sei hier nur der Vollständigkeit halber noch einmal erwähnt, kann aber an dieser Stelle nicht ausführlicher dargestellt wer­den. Siehe dazu etwa den oben genannten Überblicksartikel zu Spinoza.) Man sehe sich seine empirischen Belege oben nur an, um einen Eindruck davon zu bekommen, was das für Spinoza konkret heisst. Natürlich spricht er auch von den einsehbaren Gründen unseres Handelns. Aber das ist sozusagen nur der halbe Aspekt seiner Freiheitsphilosophie, und auch nicht der zentrale Punkt von Steiners Kritik. Denn Steiner geht es nicht nur darum, ob wir überhaupt auch aus Vernunftgründen zu handeln ver­mögen, und diese Vernunftgründe unseres Handelns kennen. Sondern darum, ob einsehbare Vernunftgründe unseres Handelns einen ähnlich determinierenden Zwang auf uns ausüben wie andere, uns unbewusste Ursachen des Handelns. Deswegen seine zentrale Frage nach dem Ur­sprung und der Bedeutung des Denkens. Denn genau das von Steiner Be­mängelte wird von Spinoza in einen Topf geworfen. Alles - das (geistige und physische) Handeln aus einsehbaren Gründen und das Handeln aus dunklen organischen Bedürfnissen geschieht letztlich mit Notwendigkeit. Denn Traumbeschlüsse und wache kommen nach derselben Notwendig­keit zustande. Genetisch und qualitativ unterscheidet sich daher ein Ver­nunftgrund nicht von einem geträumten und ein Vernunftbeschluss nicht von einem Traumbeschluss. Ich handle in allen Fällen, ob ich die Gründe meines Handelns kenne oder nicht, weil ich so handeln muss und gar nicht anders kann. Das eine Mal aus Vernunftgründen und das andere Mal aus unbewussten organischen. Auf diesen entscheidenden Punkt, - ob ein aus Vernunftgründen vollzogenes Handeln vergleichbar ebenso aus Notwendigkeit geschieht wie ein Handeln aus unbewussten organi­schen Ursachen -, so meine ich, zielt berechtigterweise Steiners Kritik an Spinoza.

Dabei haben wir hier den kaum weniger entscheidenden Aspekt, dass laut Spinozas Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik einschliesslich Anmerkungen das Denken ohnehin nicht in der Lage ist (motorische) Handlungen zu steuern, noch nicht einmal in die Bilanz aufgenommen. Tun muss man das freilich, denn die motorischen Bewegungen vollziehen sich dort ja tatsächlich frei vom Einfluss der individuellen Vernunft so notwendig wie die Bewegung eines Steines. Siehe Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik: "Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt.)" So gesehen ist die Frage nach einer durch individuelle Vernunft oder Vernunftgründe geleiteten körperlichen Handlung augenfällig überflüssig, da sie laut Lehrsatz 2, - ganz physika­listisch gedacht -, grundsätzlich nicht stattfinden kann. Denn menschliche Willensakte, so Spinoza auch an anderer Stelle, können nur einen äusse­ren verursachenden Anlass haben, von dem sie notwendig bewirkt wor­den sind. Denn es sei so, : " ... daß dieser oder jener Willensakt des Men­schen [...] auch eine äußere Ursache haben muß, von der er notwendig verursacht wird, ..." (Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Men­schen und dessen Glück, Meiner Ausgabe Hamburg 1991, Kapitel sechs, § 5, S. 45 f. Siehe ebd auch Kapitel sechzehn, Vom Willen, S. 86 ff.) Al­les in allem tut man sich schwer mit der Vorstellung, dass ein geistiges Multi - Mängel - Wesen, das zu keiner einzigen Erinnerung willkürlichen Zugang hat, seine Vernunftbeschlüsse wie Traumbeschlüsse fasst, und von der Vernunft her keine körperlichen Bewegungen zu steuern vermag, dass dieses Wesen mit der Macht des Verstandes ausgestattet und zu ir­gend einer nennenswerten Form von Handlungsfreiheit fähig sein soll. Und damit dürfte auf jeden Fall die von Hartmut Traub angestossene Fra­ge, welche Konsequenz eigentlich bei Spinoza das Wissen um die Grün­de des eigenen Handelns hat, beantwortet sein: In körperlicher Hinsicht gar keine! Ob ich meine Handlungsgründe kenne oder nicht - für den Mechanismus meiner leiblichen Abläufe hat das keinerlei Bedeutung. Der ist ohnehin vom Denken her nicht zu erreichen und folgt vollständig seiner eigenen Betriebsamkeit.

Angesichts dieser Umstände kann man sich unter mehr menschenkundli­chen Gesichtspunkten, und ohne seine zugrunde liegenden philoso­phisch-theologischen Basisannahmen weiter zu thematisieren, die Frage stellen, was Spinoza eigentlich dazu veranlasst, im Teil V der Ethik von der Macht des Verstandes zu sprechen. Worauf gründet sich diese Macht? Worin besteht sie? Und wie wird sie konkret ausgeübt? Nun sagt Spinoza im Lehrsatz 3. im Teil V. der Ethik (wohlgemerkt: dort geht es um die Macht des Verstandes): "Ein Affekt, der eine Leidenschaft ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir von ihm eine klare und deutliche Idee bilden." Das ist eine durchaus empirisch zugängliche Be­hauptung. Oder besser vielleicht: eine empirisch prüfbare Prognose. Wis­sen ist Macht! - so könnte man sein freiheitsphilosophisches Credo hier etwas verkürzend in einem geflügelten Wort zusammenfassen. Aufklä­rung befreit! Ihr Erkennen führt per se dazu, dass unerwünschte Affekte und Leidenschaften ihren Einfluss auf den Menschen verlieren. Dann wäre das vielleicht ein wünschenswertes Resultat von Vernunftgründen. Wenn es schon bei den leiblichen Handlungen damit nicht klappt, und sie zu nichts führen, dann aber doch vielleicht im Bereich des Seelenlebens. Wenigstens im Umfeld von Affekten und Leidenschaften könnte man ih­nen eine unmittelbare Wirksamkeit zutrauen.

Eine erste Frage dazu, ganz pragmatisch genommen: Trifft das zu? Ver­schwinden Affekte und unerwünschte Emotionen, nur weil ich von ihnen deutlich weiss? Vielleicht auch weiss, dass es nicht unbedingt förderlich ist, ihnen freien Lauf zu lassen? Der Leser wird mit mir vermutlich seuf­zend einwenden: Schön wär`s! - Und Spinoza selbst scheint wohl auch nicht recht an die Durchschlagskraft seines Konzeptes zu glauben, wenn er in den ausführlichen Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik beklagt, dass wir so oft "das Bessere sehen und dem Schlechteren folgen". (Die selbe Klage erhebt er übrigens auch in dem von Steiner in der Philosophie der Freiheit zitierten Brief.) Da scheint doch an dem ganzen Konzept: Aus Wissen folgt Macht etwas nicht zu stimmen! Au­genscheinlich ist dieser Gedankengang zu kurz gegriffen, wenn er sich empirisch nicht bewährt. Es wird vermutlich etwas sehr Wichtiges über­sehen worden sein. Aus dem Wissen allein folgt eben keineswegs ohne weiteres Macht. Menschenkundlich wäre es naiv anzunehmen, dass le­diglich aus dem Wissen allein schon eine Befreiung von Affekten und Leidenschaften, Herrschaft gar über dieselben erfolgt. Blosses Wissen ohne den Willen und die Möglichkeit zur Anwendung führt ersichtlich zu nichts. Dieser philosophische Traum, dass eine rein intellektuelle Wis­senskultur und Aufklärung den Menschen gewissermassen automatisch zu einer autonomen und von Affekten und unerwünschten Emotionen un­belasteten Persönlichkeit macht, der dürfte wohl längst ausgeträumt und von der Realität widerlegt sein. Das Wissen selbst ist allenfalls eine Vor­aussetzung dazu, in seiner willentlichen Anwendung so etwas wie Macht zu entfalten. Und das gilt auch und vor allem für den von Spinoza hier angesprochenen Bereich der Affekte und Leidenschaften. Blosses Wissen ohne den entschiedenen Willen und die geeignete Grundlage es umzuset­zen ist eben noch keine Macht. Es bleibt zunächst ein impotentes intel­lektuelles Vermögen, so lange sich nicht eine entsprechend methodisch darauf abgestimmte Willenskultur daran anschliesst; in Form einer ge­zielten, willentlichen seelischen Auseinandersetzung an und mit dem er­kannten Gegenstand - sprich: den unerwünschten Emotionen, Affekten und Leidenschaften. Das aber setzt ganz andere psychologische Grundan­nahmen und eine andere pragmatische Vorgehensweise voraus, als sie Spinoza in seiner Ethik vorlegt bzw vorschlägt, und wäre in dem dort vorgegebenen Rahmen unmöglich zu entwickeln. Schon aus theoreti­schen Gründen nicht.

Eine Frage, die sich daran anschliesst, ist: Wie verträgt sich dieser von uns geforderte willenshafte und gedankengesteuerte Einfluss aber mit Spinozas Theorie der (unmöglichen) Geist-Körper-Interaktion und der Bewusstseinsvorgänge und Entscheidungsbildung aus dem Teil III der Ethik? (Siehe oben) Noch im langen Vorwort zum Teil V. der Ethik setzt sich Spinoza etwas eingehender mit Descartes auseinander. Und gegen Ende dieser Besprechung sagt er: " ... weil es kein gemeinsames Mass zwischen dem Willen und der Bewegung gibt, gibt es auch kein Verglei­chen zwischen der Macht oder den Kräften des Geistes und denen des Körpers; und folglich können die Kräfte des einen von denen des anderen überhaupt nicht bestimmt werden." (Man beachte neuerlich, es geht hier um um die Macht des Verstandes) Anders gesagt: Der menschliche Geist hat laut Spinoza auf den Körper und seine Handlungen keinerlei willent­lichen Einfluss. Das kennen wir bereits. Es entspricht exakt dem oben schon erläuterten Lehrsatz 2 im Teil III. der Ethik, der da lautet: "Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen, und der Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt)." Das heisst, eine willentliche Interaktion zwischen Denken (Vernunftgründen) und Körper - und das ist ja die Vor­aussetzung jedes vom Denken her initiierten Handelns - wird von ihm ka­tegorisch ausgeschlossen. Und das bleibt wie gezeigt auch im Teil V. der Ethik so, wo er das eigens im Vorwort wiederholt. Wie verträgt sich das mit der angeblichen Macht des Verstandes, von welcher dieser Teil V. der Ethik ausdrücklich handelt? Die geforderte Grundlage (Interaktionsmög­lichkeit zwischen Denken und Körper) Vernunfteinsichten in körperlich vollzogene Handlungen einfliessen zu lassen, ist per definitionem nicht vorhanden. Um es also noch einmal zu wiederholen: Nach vom Ich auto­nom und willentlich gefassten reinen Begriffen oder Gedanken (morali­schen Intuitionen), wie bei Steiner, kann sich der Körper bzw. die Hand­lung laut Spinoza nicht richten!

Und wie sieht das bei Entscheidungen, Beschlüssen, Affekten und Lei­denschaften aus? Nun, die Entscheidungen und Beschlüsse - wie oben ebenfalls dargelegt - überkommen den Mensch mittels eines unbeein­flussbaren Erinnerungsautomatismus und ähnlichem. So dass die Frage schon sehr virulent ist, wie er unter diesen Verhältnissen zumindest eine Beherrschung von Affekten und Leidenschaften noch plausibel begrün­den und glaubhaft machen will, wenn er schon die denkerische Einfluss­nahme auf körperliche Aktionen ausschliesst. Das Eigentümliche bei Spi­noza ist wie schon angedeutet: Vom Willen her hat der Mensch auch im Bewusstseinsraum keinerlei wirkliche Kontrolle und Einflussnahme, son­dern die Dinge passieren wie sie eben passieren. Das heisst: eine gezielte Interaktionsmöglichkeit zwischen dem Denken (Vernunftgründen) und dem restlichen Seelenleben scheint ja auch nicht vorhanden zu sein. Er beschreibt sie in seinen empirischen Beispielen fast nur aus dem Blick­winkel der Ohnmacht heraus. Und zwar - und das ist interessant zu sehen - nicht nur philosophisch-theoretisch (deterministisch), sondern auch der Bewusstseinsphänomenologie, also der Erlebnislage nach. Es gibt keine positiven empirischen Beispiele, nicht einmal die simpelsten, von wil­lentlicher Affektkontrolle, Emotionssteuerung und Beherrschung und sonstiger aktiver Einwirkung auf die Phänomene des Bewusstseins. -

Um ein illustrierendes Beispiel davon zu geben, was damit gemeint ist: Ich fühle mich von jemandem infolge einer witzigen Bemerkung über mein Aussehen leicht gekränkt, unterdrücke dieses Gefühl aber bewusst und erfolgreich, mit der Folge, dass ich den Kränkenden freundschaftlich und unverkrampft umarme, und herzlich mitlache, ohne die Kränkung zurückzugeben. Ohne meinen aktiven Umgang mit der negativen Emoti­on hätte ich vielleicht reflexhaft selber damit begonnen, auszuteilen. So aber ist die Emotion wirklich weg, und das Ganze nimmt einen anderen Verlauf als ohne mein Eingreifen. Anzumerken ist: Mit dem Denken und der Einsicht allein ist es im vorliegenden Fall nicht getan. Das kann der Leser ja selbst einmal prüfen. Qualitativ ist dies etwas sehr anderes, als sich nur einen deutlichen Begriff von einer unerwünschten Emotion zu machen. Letzteres ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Sondern man muss wirklich der Emotion aktiv etwas entgegensetzen und ihr die Wirksamkeit nehmen. Sonst kommt nämlich keine unverkrampfte und authentische Handlung dabei heraus, sondern eine geschauspielerte, die man in ihrer Verspanntheit und Gespreiztheit leicht durchschaut. Das wirkt dann etwas verlogen. Die Emotion der Kränkung ist dann immer noch lebendig und wird nur hinter einer umgänglichen Fassade unsicht­bar gemacht. Dass dies nicht von jetzt auf gleich zu erreichen ist, dürfte einleuchten. Sondern es verlangt längere Übung und innere Auseinander­setzung. Das meinte ich in dem Hinweis auf die Willenskultur oben.

Oder ein anderes Beispiel - ein sehr häufiger Fall der uns geläufigen akti­ven Suche nach Erinnerungen: Mir ist entfallen, wo in einem Buch ein bestimmtes Zitat steht. Also gehe ich seinen Inhalt noch einmal strate­gisch im Geiste durch, und versuche gedanklich den Kontext einzukrei­sen, wo ich es wiederfinden könnte. Bis ich es schliesslich entdeckt habe. Das lässt sich mnemotechnisch bekanntlich vielfältig verfeinern und ein­üben. Die spontane Erinnerung war zum Auffinden nicht in der Lage, und ohne meinen aktiven Einsatz wäre das Zitat erst einmal verloren ge­wesen. -

Das sind alles keine extravaganten Beispiele von innerer Aktivität, son­dern so etwas widerfährt uns tausendfältig tagtäglich. Doch nichts davon ist bei Spinoza vorhanden. Scheint nicht zu existieren. Er betont ausdrü­cklich in den Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik, dass wir auf Erinnern und Vergessen keinen Einfluss haben: "Denn es gibt noch etwas anderes, auf das ich hier besonders aufmerksam machen möchte," so hebt er hervor, "dass wir nämlich aus einer Entscheidung des Geistes gar nichts verrichten können, es sei denn, wir erinnern uns daran. So kön­nen wir ein Wort, dessen wir uns nicht erinnern, nicht aussprechen. Und es steht nicht in der freien Gewalt des Geistes, sich eines Dinges zu erin­nern oder es zu vergessen." So heisst es in der Ethik, (Meiner Ausgabe, a.a.O, Hamburg 2010, S. 235) Und es folgt auch gleich die weitere Kon­sequenz daraus: "Daher glaubt man nur, es stehe in der Gewalt des Geis­tes, über eine Sache, deren wir uns erinnern, aus blosser Entscheidung des Geistes schweigen oder reden zu können." Man möchte fast bedau­ern, dass es damals anscheinend noch keine Kreuzworträtsel gab. Von Spinoza ist das an der Stelle zunächst einmal (die Unfähigkeit aktiv zu erinnern und zu vergessen) bewusstseinsphänomenologisch und nicht theoretisch-deterministisch zu nehmen. Es ist offenbar doch ein Erfah­rungsbeleg - hoffentlich. Sollte es nicht so sein, dann umso schlimmer. Die philosophische Konsequenz daraus im Nachfolgesatz ist allerdings und auf jeden Fall reine Theorie und Schlussfolgerung aus dieser ver­meintlichen Tatsache: Weil wir auf das Erinnern und Vergessen keinen aktiven Einfluss (keine freie Gewalt) haben, deswegen können wir uns auch nicht aktiv und frei dazu entscheiden, über das Erinnerte zu reden oder zu schweigen. - Auch hier möchte ich den Leser auffordern, beides einmal an sich selbst zu kontrollieren, ob das so zutrifft. Spinoza scheint diesen Zusammenhang ja für sehr wichtig zu halten, deswegen sein be­tonter Hinweis darauf. Sie folgen also seiner ausdrücklichen Empfeh­lung, das einmal zu prüfen. Und glauben Sie nicht, dass Sie dazu nicht imstande sind. - Sie können es! Anschliessend können Sie lange darüber meditieren, warum philosophische Fehlurteile von grosser Tragweite manchmal an furchtbar banalen Dingen hängen. Und wie es möglich ist, dass jemand für sich in Anspruch nimmt das Wesen Gottes zu erkennen, aber bei ziemlich simplen Dingen des alltäglichen Lebens, die letztlich doch die Basis von all dem sind, einigermassen krauses Zeug erfolgert?

Die Frage nach unsererm Vermögen zum aktiven Erinnern und Verges­sen können wir mit einem klaren "Jein" beantworten. Wir besitzen es, und auch nicht - es kommt darauf an. Auf den Einzelfall und auf vie­les andere. Erinnern und Vergessen sind keine absoluten und starren Grössen, die wir entweder beherrschen oder nicht. Sondern es sind dyna­mische und wandelbare Eigenschaften, die vom völligen (temporären) Unvermögen bis zu einer bedeutenden Seelenkraft reichen, und auf jeden Fall aber bildsam sind. Eine absolute Grenze lässt sich da nicht gut ange­ben. Wo sie jeweils liegt, das hängt nicht nur an der biologischen und sonstigen Ausstattung des Menschen, sondern auch an dem, was er dar­aus macht. Wir können unter unkontrollierten Zwangsideen und Ideen­flucht leiden (der ungünstige Fall, den Spinoza anscheinend hier im Auge hat), aber auch Gedanken und Erinnerungen regelrecht löschen und fort­schaffen, die wir momentan oder dauerhaft nicht haben wollen. Wir müs­sen sie nicht erleiden, sondern können sie bewusst herbeizitieren und auf­suchen - und sie auch wieder fortschicken. Beides ist möglich - unter ge­wissen Umständen, die durchaus variabel und beeinflussbar sind. Diese Grenzen zu erweitern und das Vermögen zu entwickeln ist uns als Fähig­keit an die Hand gegeben. Das ist kein esoterisches Geheimnis, sondern man darf das heute als selbstverständliches Allgemeinwissen und be­kannt voraussetzen. Bücher und Journale sind voll von diesen Dingen. In unserer Gewalt also sind das Erinnern und Vergessen innerhalb gewisser und erstaunlich weit dehnbarer Grenzen schon. Ob das eine absolut freie Gewalt ist, das sei erst einmal dahingestellt. Nur: Wie will man herausbe­kommen, wo da die Möglichkeiten und Grenzen liegen, wenn man diese Dinge in ihrer empirischen Tatsächlichkeit gar nicht erst in Augenschein nimmt, und nur undifferenziert, eindimensional und philosophisch einäu­gig auf das hinstarrt, was der Mensch angeblich nicht kann, ohne sich eingehend mit dem zu beschäftigen was er kann? Was haben die Men­schen davon, wenn sich so ein Philosoph hinstellt und ihnen aus seiner vorgeblichen Gotteserkenntnis heraus mit weitschweifender Logik er­klärt, wie metaphysisch ohnmächtig sie sind? Während er die tatsächli­che Macht, die sie tagtäglich erleben können, keines Blickes würdigt, darüber aber verwickelte Theorien ausheckt, die sich schon bei den ein­fachsten Dingen nicht bewähren? Und die Frage ist daher: Warum blickt Spinoza hier in diesen langen Anmerkungen nur auf das Unvermögen, wo er doch ebenso gut auf das Vermögen hätte hinsehen können? Ist das für den Philosophen alles ganz egal? War das zu seiner Zeit der Bewusst­seinslage nach eben anders als heute bei uns? Oder nur bei ihm? War es vielleicht noch nicht in den Horizont der (wissenschaftlichen) Aufmerk­samkeit geraten, so wie in unserer Zeit die sogenannte Umwelt plötzlich seit den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Horizont des Bewusstseins auftauchte, so, als hätte es sie vorher nie gegeben? Und bei manchen bis heute dort nicht angekommen ist.

Spinoza führt in den erläuterten langen Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik weitläufige Begründungen und empirische Belege dafür an, dass und warum das alles im Bewusstsein so eigendynamisch und un­zugänglich sein soll. Und der Blick ist vorzugsweise auf einen Automa­tismus der Bewusstseinsvorgänge gerichtet - von den zombiehaften kör­perlichen Aktionen und Wunderleistungen, die er dort ebenfalls argu­mentativ bemüht, gar nicht erst zu reden. Man erinnere sich nur an seinen grandios-paradoxen Vergleich von geträumten und wachen Entscheidun­gen. Ein wirklich spektakulärer Fall, in dem das Ganze gipfelt, und inso­fern besonders herausfordernd und geeignet, sich darüber Gedanken zu machen! Heutzutage muss uns so etwas einfach grotesk erscheinen. Und die Frage ist schon angebracht: Warum bemerkt er angesichts seines phi­losophischen Scharfsinnes den gewaltigen Unterschied zwischen wa­chen und geträumten Entscheidungen nicht, sondern setzt sie gleich? Denn immerhin sind Entscheidungen und Beschlüsse Denkvorgänge! Träumt er beim Denken? - Steiners Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des Denkens bekommt angesichts solcher Verhältnisse noch einen ganz anderen Akzent, als man ihn gewöhnlich beim Studium seiner Grundschrift damit verbindet. - Und mit Blick auf Spinoza lässt sich wei­ter überlegen: Steht hinter seinem Unvermögen sachlich zu differenzie­ren bloss philosophische Betriebsblindheit, oder existiert dafür auch eine Erfahrungsbasis? Ist die ganze Ohnmacht einfach nur erdacht, weil sie so gut in sein Determinismuskonzept passt, und sind die empirischen Ge­genbeispiele taktisch herausselektiert worden, um das philosophische Konzept nicht zu gefährden? Oder ist sie tatsächlich so oder ähnlich von ihm erlebt, und deswegen vielleicht sein Konzept des Determinismus von ihm erdacht worden?

Solche Fragen scheinen mir keine philosophischen Nebenschauplätze zu sein, die eher in eine philosophiegeschichtliche Psychologie gehören. Je­denfalls ist zu bemerken: Das zentrale Element der direkten willenshaften Einflussnahme eines gedankenklaren Ich auf Vorgänge des Bewusstseins (Denken, Erinnern, Emotionen etc) und auf Vorgänge des Leibes (besser: Handlungen), fällt bei Spinoza weitestgehend, - um nicht zu sagen: gänz­lich - unter den Tisch. Was bleibt ist eine doch eher glaubensartige, und gar schon nach seinem eigenen Eingeständnis wenig realistische Über­zeugung dahingehend, dass auf der Basis von Wissen die Leidenschaften quasi von selbst verschwinden. Während Steiner doch wesentlich auf dem Element der autonom willentlichen Aktivität aufbaut. Siehe etwa PdF, Kap III: ": ... es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, in­dem es sich vollzieht, vor dem "Ich" nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint. Man muß sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit des Denkens erscheint dieses dem Be­obachter als durch und durch gewollt." (GA-4, Dornach 1978, auch 1995, S. 55) Nicht, dass Steiner hier etwa behauptet der Mensch habe die volle Kontrolle über sämtliche leiblichen und seelischen Vorgänge. Keines­wegs! Aber er hat zumindest eine volle willentliche und sachliche Kon­trolle über die Aktivität seines Denkens und der Beschlussbildung. - Da wird nicht geträumt. Und von dort her ergibt sich zumindest insoweit eine Einflussnahme auf leibliche Handlungen, dass sie im beschlossenen Sinne verlaufen können. Dass diese willentliche Einflussnahme Steiners im Rahmen des anthroposophischen Übungsweges dann weiter systema­tisch und methodisch auf sämtliche Vorgänge des Seelenlebens (Denken, Fühlen, Wollen) vertieft und ausgeweitet wird, mit entsprechenden Fol­gen für das Erkennen und Handeln, das sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt, aber es soll davon hier nicht mehr ausführlicher die Rede sein. Jedenfalls wäre Vergleichbares bei Spinoza schon wegen seiner determi­nistischen und psychologischen Grundannahmen ganz und gar ausge­schlossen.

Hartmut Traub scheint das alles nicht bekannt zu sein, obwohl sein Buch den Titel trägt Philosophie und Anthroposophie. Es gibt bei Spinoza kei­ne ernst zu nehmende und vom Ich ausgehende Entwicklung zur Freiheit. So etwas wie autonome (Selbst)Entwicklung zu denken, oder dem Men­schen gar eine aktive Rolle innerhalb einer irdischen oder mehr noch: kosmischen Evolution zuzuweisen, das scheint ihm (noch) völlig unmög­lich zu sein. Was er dem Menschen zutraut ist lediglich, sich via empi­risch einigermassen fragwürdiger, weil auf dem alleinigen Wege von Einsicht zu erwerbenden Affektkontrolle der gänzlich vorausbestimmten göttlichen Weltordnung zu fügen, und auf diese Weise in einer höchsten Erkenntnisstufe so etwas wie "höchste Zufriedenheit" zu erlangen, "die es geben kann". (Siehe dazu Lehrsatz 27 im Teil V. der Ethik. Man ver­wechsle dies nicht mit Steiners höchster Erkenntnisstufe, die methodisch ganz anders zu erwerben ist und zu anderen Resultaten kommt. Und auch nicht primär zu höchster Zufriedenheit führt, weil dies nicht ihr Anliegen ist. Sondern dem Menschen ungeheuer viel Verantwortung für sich und die Welt aufbürdet, und an sein Handeln appelliert, im Sinne dieser Ver­antwortung zu wirken. Der Handlungsappell vor allem steigert sich ins Unermessliche. Mit Zufriedenheit hat das alles bei Steiner relativ wenig zu tun. Vielmehr sieht der Mensch auf diesem Wege vor allem auch, was alles noch zu leisten ist, und wie wenig er davon bisher erreicht hat. Um dies zu ertragen und dem Selbstappell erfolgreich zu folgen benötigt er allerdings des inneren Gleichgewichtes wegen schon kompensatorisch eine extreme Form von Gedankenklarheit, Gelassenheit, Geduld, Aus­dauer, Umsicht, Selbstkontrolle, Mut und vor allem Liebe, was zu erwer­ben ein massgeblicher Teil des Steinerschen Übungsweges ist, der so­wohl für das Erkennen selbst benötigt wird, als auch für die individuellen Folgen davon. Natürlich geht es Steiner gleichermassen um Erkenntnis auf hohen Stufen. Aber sie kann in seinen Augen unmöglich abgelöst werden von allen übrigen Eigenschaften und Parametern der menschli­chen Persönlichkeit. Da sie andernfalls Gefahr läuft sich zu vereinseiti­gen und ins Destruktive und Illusionäre abzugleiten. Vielversprechende und gedeihliche höhere Erkenntnis ohne diese begleitende Selbstentwick­lung kann es bei Steiner nicht geben.)

Unterwerfung, und nicht autonome Selbstentwicklung oder gar aktive Teilhabe an der Schöpfung lautet die Devise Spinozas. Er kann seinem Schicksal im günstigsten Fall einsichtsvoll zusehen und es in Zufrieden­heit akzeptieren wie es ist. Aber er kann es nicht aktiv in die Hand neh­men und getalten. Und selbst diese vom Subjekt gebilligte Unterwerfung wäre gemäss der inneren Architektur von Spinozas Gedankengebäude prädeterminiertes Resultat der alleinigen Wirksamkeit eines alles verur­sachenden göttlichen Wesens. Da ist nichts drin, was originär aus dem Menschen selbst kommt. Alleinige Folge göttlicher Vorhersehung und Schicksalsbestimmung. Einzige und eigentliche Ursache von allem was geschieht und was gedacht wird ist letztlich doch nur einer: - der All­mächtige. Dies alles das Resultat eines Wesens, das in Steiners Augen nichts anderes sein kann als ein rein logisches Konstrukt eines schlussfol­gernden philosophischen Denkens. Dessen Architekt (Spinoza) nach Steiners Einschätzung kein Bewusstsein davon hat, dass "der Mensch das Bild, unter dem er sich diese Notwendigkeit [Wesensnotwendigkeit Got­tes, MM] vorstellt, seinem eigenen Inhalte entnimmt" (s. o.). - Alles zu­sammen genommen das Ergebnis einer gigantischen theoretischen (lo­gisch-mechanistischen) Selbstblendung, die den empirisch offenbaren schöpferisch-lebendigen Eigenanteil des Ich an der Gedankenbildung und im Handlungsprozess hartnäckig übersieht, und den Menschen infolge­dessen zu einem willenlosen Sklaven seines erdachten Gottes degradiert. Anstatt zu bemerken, dass in der geistigen Gestaltungs- und Selbstgestal­tungsfähigkeit des Menschen selbst so etwas wie ein göttliches Element unmittelbar vorhanden ist. Dieser also keineswegs schicksalhaft dazu vergattert ist, lediglich den ohnmächtigen Lakaien und Automaten eines logisch postulierten allbestimmenden Herrn abzugeben. Weil er er in sei­ner schöpferischen Potenz, in seiner Entwicklungs- und Selbstentwick­lungsfähigkeit, wenn auch keimhaft, selbst das freischöpferische göttli­che Element in sich trägt. Und zwar der Anlage nach wirksam in sämtlichen Aspekten und Dimensionen seines geistigen, seelischen und materiellen Lebens.

Wer den aufschlussreichen, von Steiner in der Philosophie der Freiheit zitierten Brief Spinozas einmal studiert, und zwar vollständig, einsch­liesslich jener Passagen, die Steiner nicht in sein Zitat aufgenommen hat, der kann sich davon überzeugen, dass Spinoza nicht entfernt daran denkt, dem Menschen so etwas wie Entwicklungsfähigkeit zur Freiheit beizule­gen. Sondern seine Sichtweise dort ist durch und durch deterministisch und fatalistisch. Statisch und starr. - Wenn man so will ein Determinis­mus der krudesten Art: nicht nur materiell, sondern auch spirituell. (Im Internet im Original, so wie er Steiner vorgelegen hat, erreichbar unter: [http://archive.org/details/diebriefemehrer00spingoog] Der von Stei­ner zitierte Brief Nr 62 findet sich auf S. 203 ff) Dieser Brief ist, das kann man wohl sagen, ein auf wenige Seiten verdichtetes Konzentrat der Spinozistischen Freiheitslehre, und zeigt, dass Steiner doch einen recht präzisen Blick für das Wesentliche dieser Lehre hatte. Sonst hätte er die­se Auswahl vermutlich nicht getroffen. Eine Bemerkung dazu am Rande: Dieser von Steiner zitierte Brief trifft Spinozas Freiheitsphilosophie so genau, dass der Stuttgarter Kröner-Verlag ihn 1955 in einer kürzeren Werkausgabe Spinozas als einziges und kennzeichnendes Briefbeispiel für diese Freiheitsphilosophie auszugsweise abdruckt. Das ist schon sehr bezeichnend. (Siehe: Spinoza, Die Ethik : Schriften und Briefe; Hrsg. von Friedrich Bülow. Stuttgart: Kröner, 1955; S. 334 ) Merijn Fagard wird sich in absehbarer Zeit auf dieser Website ausführlicher zu diesem Brief Spinozas äussern, und ich kann dem Leser jetzt schon eine erhel­lende und an Überraschungen reiche Lektüre garantieren. Mit der wenig tief schürfenden Feststellung Traubs, Spinoza lasse auch eine Erkenntnis der Ursachen des Handelns zu wie Steiner, ist letztlich doch nicht viel ge­wonnen. Es kommt schon noch auf ein paar andere wichtige Details an. Bewusstseinsphänomenologisch und auch auf der philosophischen Ebe­ne, das kann man mit Fug und Recht behaupten, leben Steiner und Spino­za in völlig verschiedenen Welten, die miteinander nicht kompatibel sind. Und betroffen ist davon so gut wie alles, was sie zum Thema Erkennen und Freiheit ausführen. Angesichts dessen klingt Traubs Behauptung von Seite 272 seines Buches, Steiner renne bei Spinoza offene Türen ein, doch reichlich bizarr.

Steiners Spinozakritik scheint mir also ganz und gar nicht das "peinliche" und absehbare Ergebnis eines Versuchs bei Spinoza offene Türen einzu­rennen, wie Traub S. 272 mit Blick auf die von Spinoza erwähnten Ver­nunftgründe des Handelns seinem Leser erklärt. Denn tatsächlich ist der angeblich freie Geist Spinozas dem Erkenntnis- und Gottesverständnis Spinozas zufolge eingepfercht in ein System aus Zwangshandlungen. Der Mensch ist einer umfassenden (materiellen und geistigen) Natur vollstän­dig ausgeliefert und kann dementsprechend von sich aus nichts unterneh­men, was seinem Glück oder Heil dienlich ist: "Wir sehen also, daß der Mensch als ein Teil der gesamten Natur, von der er abhängt und von der er auch regiert wird, aus sich selbst nichts zu seinem Heil und Glück tun kann. " (Spinoza, kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück, in der Meiner Ausgabe, S. 93, Kap 18, § 1) Und ebendort in der Anmerkung 3, S. 89: "Weil es also kein Ding gibt, das irgendwelche Kraft hätte, sich zu erhalten oder etwas hervorzubringen, bleibt nichts an­deres übrig, als zu schließen, daß Gott allein die wirkende Ursache aller Dinge ist und sein muß und daß alles einzelne Wollen von ihm bestimmt ist." Folglich kommt es nicht von ungefähr, wenn Spinoza das Verhältnis des Menschen zu Gott in der Metaphorik der Sklaverei fasst. Denn es " ... folgt daraus, daß wir in Wahrheit Diener, ja Sklaven Gottes sind, und daß es unsere grösste Vollkommenheit ist, es notwendig zu sein." (Ebd., S. 93, § 2) Und ebendort, S. 95, § 8: „Denn hierin besteht eigentlich der wahre Gottesdienst und unser ewig Heil und Glückseligkeit. Denn die einzige Vollkommenheit und der letzte Zweck eines Sklaven und eines Werkzeugs ist, daß sie den ihnen auferlegten Dienst gehörig verrichten." An anderer Stelle wiederum wird dem Leser berichtet, Spinoza habe er­kannt, „daß die Seele nach bestimmten Gesetzen handelt und eine Art geistiger Automat ist“ (Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes § 85, in der lateinisch-deutschen Studienausgabe des Meiner Verlages, Hamburg, 2003, S. 79.) Woher kommen diese Bilder von Skla­ven, Werkzeugen und geistigen Automaten?

Zusammengefasst: "Von allen übrigen uns bekannten Naturdingen unter­scheidet sich der Mensch durch das Vermögen des Denkens; ...dieses macht ihn zum Menschen. Aber sowohl mit seinem Körper als auch mit seinem Geist ist der Mensch integraler Teil der Natur ... und damit deren (jeweiligen) Gesetzen vollständig unterworfen. Wie der Körper gehört auch der Verstand zur "natura naturata"; ...die Seele ist "sozusagen ein geistiger Automat" ... und mit allen ihren Äußerungen, auch den "höchs­ten" in Kunst und Wissenschaft, Religion und Philosophie, den Naturge­setzen, d. h. den Gesetzen ihrer Natur vollständig unterworfen. Kurz: auch in seinem gesamten Denken, Wollen und Handeln ist der Mensch notwendig und vollständig durch die Gesetze seiner (jeweiligen) Natur determiniert." Georg Geismann, Spinoza jenseits von Hobbes und Rous­seau, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 43,1989, S 405 f) Dass Steiner dies kritisiert wird man ihm nicht als Naivität oder Ver­wechselung von wirklicher mit illusionärer Freiheit bei Spinoza vorhal­ten können.

Im Kern wurzeln alle diese Zwangshandlungen Spinozas in der Wesens­notwendigkeit und Vollkommenheit eines Gottes, den er in der Ethik auf der Basis logischer Zwänge (nach geometrischer Ordnung) erschliesst. Er steht folglich in dem permanenten Dilemma sich entweder den Nötigun­gen der Vernunft oder den Nötigungen der Affekte zu unterwerfen. Und schliesslich gezwungenermassen ein höchstes Wesen (Gott) zu lieben, das ihn selbst weder lieben noch hassen kann, weil das in Gottes Natur nicht vorgesehen ist. (Siehe dazu Lehrsatz 17 im Teil V. der Ethik) - Als theoretisches Fundament in ein pädagogisches Gesamtkonzept imple­mentiert zweifellos eine gute Grundlage für psychopathologische Ent­wicklungen aller Art. Oder um es etwas moderater in den Worten Stei­ners zu formulieren: "Und was wäre denn dieser ganze Mensch wirklich, wenn die Behauptung des Spinoza wahr wäre, daß alles dasjenige, was der Mensch tut und erlebt, so notwendig wäre, wie, wenn eine Billardku­gel von einer anderen getroffen wird, diese andere, zweite, mit einer ge­wissen Notwendigkeit nach gewissen Gesetzen weiterfliegt. Wenn das so wäre, dann könnte der Mensch nimmermehr ertragen eine solche Welt­ordnung. Wie wenig sie zu ertragen wäre, das würden insbesondere die­jenigen Naturen zu empfinden haben, die «alle Wirkenskraft und Samen» schauen!" (GA 163, Dornach 1986, S. 54, Vortrag Dornach 28. August 1915)

Mehr theologisch betrachtet könnte man den Eindruck gewinnen, als habe sich Spinoza eher an einem mitleidlosen, alttestamentarischen Va­tergott der strengen Gesetzgebung und Notwendigkeiten orientiert. (Betrachtet man seinen logisch-mechanistischen Denkansatz, so käme man vor dem anthroposophischen Hintergrund unschwer auf so etwas wie eine ahrimanische Wesenheit, die ihn vorzugsweise inspirierte.). Steiner hingegen eher am christlichen Gott der (Nächsten)Liebe - das heisst: an der Christuswesenheit. Und eine weitergehende Fage, gewiss auch im Sinne Hartmut Traubs, wäre: Welchem Gott folgt eigentlich Goethe? Dem Christengott der Liebe oder dem Gott der Notwendigkeiten des Philosophen Spinoza, dem er so vielerlei Anregung verdankt? Und wie spiegelt sich das gegebenenfalls in seiner (Goethes), - und dadurch vermittelt -, wiederum in Steiners, vor allem dessen früher Weltsicht wie­der?

Als weitere Studienempfehlung kann ich dem Leser hier besonders Stei­ners Die Rätsel der Philosophie, GA-18, Dornach 1985 ans Herz legen. Steiner setzt sich da an sehr vielen Stellen mit Spinoza auseinander. Zu­meist in Verbindung mit der Besprechung anderer Philosophen. Erkenn­bar wird dort, was ich bislang schon angedeutet habe. Was Steiner an Spinozas Freiheitsverständnis vor allem bemängelt ist dessen Verqui­ckung von Freiheit und Notwendigkeit, wie sie in GA 18 exemplarisch auf S. 230 f aus einer Erörterung Schellings hervorgeht: "Die menschli­che Einzelpersönlichkeit lebt in dem geistigen Urwesen und durch dieses; dennoch ist sie im Besitze ihrer vollen Freiheit und Selbständigkeit. Die­se Vorstellung betrachtete Schelling als eine der wichtigsten innerhalb seiner Weltanschauung. Wegen dieser Vorstellung glaubte er in seiner idealistischen Ideenrichtung einen Fortschritt gegenüber früheren An­schauungen erblicken zu dürfen: weil diese dadurch, daß sie das Einzel­wesen im Weltengeiste gegründet sein ließen, es auch ganz allein durch diesen bestimmt dachten, ihm also Freiheit und Selbständigkeit raubten. <<Denn bis zur Entdeckung des Idealismus fehlt der eigentliche Begriff der Freiheit in allen neueren Systemen, im Leibnizischen so gut wie im Spinozischen; und eine Freiheit, wie sie viele unter uns gedacht haben, die sich noch dazu des lebendigsten Gefühls derselben rühmen, wonach sie nämlich in der bloßen Herrschaft des intelligenten Prinzips über das sinnliche und die Begierden besteht, eine solche Freiheit ließe sich nicht zur Not, sondern ganz leicht und sogar bestimmter auch aus dem Spinoza noch herleiten.>>"

Für Leser, die mit Steiners Gedankenwelt etwas näher vertraut sind: Eine sehr viel weitergehende und intimere Betrachtung der Persönlich­keit Spinozas im Lichte der Weltanschauung Rudolf Steiners zeigt, dass der Philosoph Spinoza, so wie er oben gezeichnet worden ist, - und infol­ge dieser groben Zeichnung ist vielleicht einiges an Unbehagen, Ableh­nung oder Irritation über diese Persönlichkeit hervorgerufen worden -, durchaus Überraschendes zu bieten hat. Denn Spinoza ist, - der Auffas­sung des späteren Steiner zufolge -, dieselbe Individualität, die sich spä­ter in Johann Gottlieb Fichte inkarnierte. Rudolf Steiner macht dies in verschiedenen Vorträgen deutlich. (Siehe etwa GA-88, Dornach 1999, S. 184: "Als Beispiel für eine regelmäßige Entwicklung einer Individualität können wir betrachten einen Zeitgenossen von Jesus, Philo von Alexan­drien. Seine Individualität kam wieder als Spinoza und dann als Johann Gottlieb Fichte. Wir haben hier also eine durchgehende Individualität in drei Persönlichkeiten. Liest man Fichte ohne Kenntnis dieser Vorgänge, so versteht man ihn nur wenig. Mit dieser Kenntnis aber findet man, daß seine Worte mit Feuerschrift geschrieben sind. Alle diese großen Geister haben eine regelmäßige Entwicklung durchgemacht." Siehe auch GA 158, Dornach, 1993, S. 213: "Wer würde nicht unter scheiden können den eigentümlichen Grundton Fichtes, des mitteleuropäischen Philoso­phen, und den eigentümlichen Grundton Spinozas, der ja auch ein euro­päischer Philosoph war. Es ist sogar in der Menschheitsevolution so, daß dasjenige, was der allgemeinen Kultur angehört, von derselben Individua­lität getragen werden kann. Denn dieselbe Individualität ist ja Spinoza und Fichte, wie vielleicht schon einige unserer Freunde wissen. Aber Fichte ist als einzelne Persönlichkeit des 18., 19. Jahrhunderts ein Geist, der durchdrungen werden konnte von der ganzen Kraft des Chris­tus-Impulses; Spinoza, also dieselbe Individualität, steht aber in der an­dern Strömung darinnen und hat nichts davon.") Und Johann Gottlieb Fichte wiederum war, - wie uns dies Hartmut Traub mit einigem Recht und oftmals sehr guten Gründen, und manchmal bis zum Überdruss ver­sichert -, auch für Rudolf Steiner ein ganz wesentlicher Vorläufer der Anthroposophie, dem Steiner und die Anthroposophie viel verdanken. Unter einem gewissen Blickwinkel könnte man, wenn man von Steiners ganz individuellen Voraussetzungen einmal absieht, Fichtes Werke als einen der ursprünglichen philosophischen Quellorte der anthroposophi­schen Geisteswissenschaft bezeichnen. Das wissen wir von Steiners auto­biographischen Äusserungen selbst. (Siehe Rudolf Steiner, Briefe I., her­ausgegeben von Edwin Froböse und Werner Teichert, Dornach 1948. Dort den mit Genehmigung von Marie Steiner abgedruckten autobiogra­phischen Vortrag Steiners vom 4. Februar 1913 in Berlin. S. 1 ff, insbes. S. 33 ff. [Im Internet in leicht überarbeiteter Form erreichbar unter http://www.anthroposophie.net/steiner/Lebensgang/bib_steiner_le­bensabriss.htm Ebenso unter http://bdn-steiner.ru/cat/Beitrage/D83_84.pdf ]) Interessant ist in die­sem Zusammenhang zu sehen, mit welcher Energie Fichte sein Erkennt­nisinteresse auf etwas richtet, wofür Spinoza allem Anschein nach voll­kommen blind war: Auf die Aktivität des denkenden und handelnden Ich. Vermutlich hat Hartmut Traub sogar auch darin recht, wenn er sagt, Stei­ner fusse weltanschaulich weit mehr auf Fichte denn auf Goethe. Eine ernst zu nehmende und diskutable These ist das allemal. Vor allem vor dem Hintergrund der eben erwähnten autobiographischen Skizze Stei­ners. Und zumindest methodisch lässt sich zeigen, dass Fichte im Gegen­satz zu Goethe eine absolut zentrale Figur für Steiner war. Insofern näm­lich, als es Fichte war, der die philosophische Aufmerksamkeit so sehr auf die Beobachtung des Denkens - genauer: auf die Tathandlung des Ich beim Denken - gerichtet hat, auf der die anthroposophische Empirie des Geistes eigentlich aufbaut. Und daran (an die Beobachtung des Denkens) knüpft Steiner in der Anthroposophie (vor allem schon in den philoso­phisch geprägten Frühschriften) ganz explizit und eindrücklich metho­disch an. Steiners Methode der wissenschaftlichen Geistesforschung ist ohne die Beobach­tung des Denkens weder möglich noch vorstellbar. (Wobei anzumerken ist: Was Hartmut Traub zu diesem Thema - wissen­schaftliche Geistes­forschung - schreibt, ist im wesentlichen nichts als Nonsens. Er hat von diesem Aspekt der Anthroposophie so gut wie nichts verstanden.) Wäh­rend Goethe demgegenüber einer bekannten Bemer­kung zufolge, angeb­lich nie über das Denken gedacht hat, - einer der we­nigen wirklich mar­kanten Anlässe für Steiner, an Goethe ernsthaft Kritik zu üben. Wobei er beides moniert: Sowohl dessen mangelndes Erkennt­nisinteresse dem Denken gegenüber, wie auch die daraus resultierende fehlende Einsicht bezüglich der Freiheit. (Siehe Goethes Weltanschau­ung, GA06, Dornach 1990, S. 84 ff). Jedenfalls hat Goethe niemals eine Weltanschauung dar­auf gegründet wie Fichte oder Steiner. Da war Spi­noza in der neuen Ge­stalt Fichtes offensichtlich - zumindest in dieser Frage - weiter als Goe­the. Nimmt man hinzu, dass Spinoza gewissermas­sen als eine philosophische Leitfigur Goethes wiederum von dieser re­zeptiven Seite in Steiners philosophischen Gedankengängen, vor allem in seinem frühen Idealismus einigen prägenden Eingang gefunden hat, dann bekommt die Frage nach dem Verhältnis von Steiner zu Spinoza noch eine vollkommen andere Dimension, als sie einer vordergründigen rezep­tionsgeschichtlichen Betrachtung zugänglich ist.

*

Zurück zu Popper: Hier zeigt sich nicht nur die bemerkenswerte Kraft des Popperschen Argumentes, sondern auch die unglaublich enge Ver­quickung der Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage. Denn für die Aner­kennung Gottes wie jedes anderen Geistwesens, dessen manipulative Existenz vom spirituellen Fatalisten vorausgesetzt wird, gilt das Prinzip seiner rationalen Begründbarkeit. Ein Gott, für dessen Existenz es keine Argumente gibt, ist eine leere und nichtssagende Hypothese. Dasselbe gilt für alle anderen Entitäten der geistigen Welt, von denen der Mensch möglicherweise gesteuert werden könnte. An diese Entitäten kann dann nur noch unbegründet geglaubt, aber nicht von ihnen begründet gewußt werden. Das begründete Wissen wiederum setzt die Überzeugung von der logischen Gültigkeit und Verbindlichkeit der Gründe des Wissens voraus und damit implizit den Freiheitscharakter des Erkennens. Im Sin­ne Poppers ließe sich dazu sagen: «Wenn wir glauben, wir hätten eine Theorie wie den geistigen Determinismus wegen der logischen Kraft be­stimmter Argumente angenommen, dann täuschen wir uns gemäß der Theorie des geistigen Determinismus; oder genauer: Wir befinden uns in einem geistigen Zustand, der uns dazu bestimmt, uns zu täuschen.» Das heißt bei Annahme eines geistigen Determinismus bricht überhaupt das ganze Begründungsgebäude nicht minder zusammen wie bei Annahme eines physikalischen Determinismus. Es gibt dann weder rationale Grün­de für noch gegen den Geist, womit zwangsläufig auch die These vom geistigen Determinismus nichtig wird und nur noch den Status einer Glaubenüberzeugung oder unbegründeten geistigen Ideologie einnimmt. Das heißt: im Vollzug des Erkenntnisprozesses kann der Mensch weder materiell noch geistig durchgängig determiniert sein. Wäre er es, dann würde er nicht erkennen, sondern hätte lediglich den Charakter eines sub­tilen Automaten, der im einen Fall physikalisch, im anderen Fall geistig einen Prozeß vollführen muß, auf den er nicht den geringsten Einfluß hat. Im zweiten Fall wird der Mensch zum willenlosen Subjekt, Werkzeug bzw Knecht des Geistes bzw der Idee. (Ein Gott, der dem Menschen kei­ne Freiheit gewährt, sondern ihn bis in jedes kleinste Detail beherrscht, könnte von diesem gar nicht erkannt werden. Auch nicht in marginalen Einzelheiten seiner Gottesnatur.)

Die Freiheit gegenüber der geistigen Welt verlangt also nicht minder nach einer Begründung wie die Freiheit gegenüber der materiellen Welt. Und in beiden Fällen wurzelt die Begründung der Freiheit in der Erkennt­nistheorie, die nicht nur unserer Überzeugung von den materiellen Din­gen sondern auch von den geistigen Dingen die Rechtfertigungsbasis lie­fert.

Beide Fälle hat Rudolf Steiner mit der Philosophie der Freiheit im Auge. Eben auch den Aspekt der Freiheit von geistigen Determinationen. Schlaglichtartig kommt dies zum Ausdruck, wenn er dort am Ende der Schrift im zweiten Anhang zur Neuausgabe von 1918 schreibt: "Man muß sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man un­ter ihre Knechtschaft." (Die analoge Stelle am Ende des ersten Kapitels der Erstausgabe lautet weniger zurückhaltend: "Man muß sich der Idee als Herr gegenüberstellen, sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.") Und auf S. 177 heisst es: "Wie der materialistische Dualist den Menschen zum Automaten macht, dessen Handeln nur das Ergebnis rein mechani­scher Gesetzmäßigkeit ist, so macht ihn der spiritualistische Dualist (das ist derjenige, der das Absolute, das Wesen an sich, in einem Geistigen sieht, an dem der Mensch mit seinem bewußten Erleben keinen Anteil hat) zum Sklaven des Willens jenes Absoluten."

Wenden wir den Blick kurz zurück auf die Abschnitte I und II dieser Ar­beit, dann können wir festhalten: Popper macht hier der Sache nach die selben Argumente geltend wie Steiner, wenn dieser im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit (S. 44 f) sagt: "Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denkprozeß ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis der physiologischen Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier von dem Den­ken, insoferne es sich aus der Beobachtung unserer geistigen Tätigkeit er­gibt. Wie ein materieller Vorgang meines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt, während ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht. Was ich am Denken beobachte, ist nicht: wel­cher Vorgang in meinem Gehirne den Begriff des Blitz es mit dem des Donners verbindet, sondern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen. Meine Beobachtung ergibt, daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach den materiellen Vor­gängen in meinem Gehirn richte ich mich." Der argumentative Kontext im engeren Sinne ist bei Popper die Logik. Bei Steiner ist es vordergrün­dig die durch Beobachtung feststellbare Tatsache, daß sich das intuitive Denken in seinem Fortgang ausschließlich nach begrifflichen Inhalten richtet. Der Sachlage nach liegt aber die Argumentation in beiden Fällen auf der gleichen Ebene. Denn der von Popper ins Feld geführte Beweis­gang: «Logische Erwägung ist überhaupt nur möglich wenn und weil das begriffliche Denken von den kausalen Vorgängen des Organismus unab­hängig ist», setzt voraus, daß sich das Denken nach begrifflichen Inhalten richten kann und nicht von den physiologischen Bedingungen seine Be­stimmungen erhält. Das heißt, er spricht hier von denselben grundlegen­den Tatsachen, die bei Steiner unter die Rubrik Intuitives Denken; Woher erhält dieses seine Bestimmungen?; Und in welchem Verhältnis steht es zu unserer leiblichen Organisation? fallen. Es ist nur konsequent und liegt in der Natur dieser Sache begründet, wenn Popper gemeinsam mit Eccles den erheblichen hirnphysiologischen Impikationen dieser Fakten­lage nachzugehen versucht.

(Bemerkung vom 09.08.05: Man kann natürlich in dieser kurzen Gegen­überstellung nur einige wenige Aspekte berücksichtigen, die für einen Vergleich zwischen Steiner und Popper in der diskutierten Frage von Be­lang sind. Ich sage das extra, um den Gedankengang nicht zu arg zu ver­kürzen. Was bei Steiner unter allen Umständen zu berücksichtigen ist, das ist die sich selbst tragende und erklärende Eigenschaft des Denkens. Da­für gibt es bei Popper, soweit ich bislang sehe, nichts vergleichbares. Er hätte diesen Aspekt vermutlich an die von ihm nicht übermäßig hoch ge­schätzte Denkpsychologie verwiesen. Einer Wissenschaft, der er in jun­gen Jahren als Schüler Karl Bühlers noch nahe gestanden hatte. Die er aber, frustriert von ihrem unreifen methodischen Instrumentarium, sehr bald verließ, um sich den aussichtsreicheren Naturwissenschaften philo­sophisch zuzuwenden. Eine kontrastierende Abklärung zwischen den logischen Gedankengängen Poppers und Steiners wäre eigentlich ein (Teil)-Thema einer umfangreichen Arbeit - etwa einer Dissertation. Und als solche durchaus interessant und erfolgversprechend.)

Manche Philosophen, die sich um das ausgehende 19. Jahrhundert mit dem Verhältnis von Logik und Naturkausalität befaßt haben, waren in dieser Hinsicht zielbewußter als etwa Peter Bieri. Karl Popper habe ich hier nur pars pro toto angeführt. Tatsächlich führt die Frage nach der Frei­heit noch sehr viel tiefer in Erkenntnisfragen hinein bis hin zu den Grund­lagen von Logik und Erkenntnis überhaupt. Sehr viel tiefer noch, als bei Popper auf den ersten Blick deutlich wird. Aber es ist ein sehr plastisches, sehr drastisches und folgerichtiges Beispiel, das er hier gibt. Die proble­matische Beziehung zwischen logischen Gründen einerseits und Kausal­gründen andererseits findet in der Erkenntnistheorie und Logik einen re­gelrechten Kulminationspunkt. Und dort zeigt sich, daß ein durchgängiger physikalischer Determinismus eine rein logisch begründete Einsicht nicht nur ausschließt, sondern die Grundprinzipien des Erkennens selbst zer­stört und mit ihnen - wie es Popper andeutet - auch die Möglichkeit für den Determinismus zu argumentieren, weil es dann gar keine Argumente mehr gibt. Der Determinist weiß es nur noch nicht, oder will es vielleicht auch gar nicht wissen. Anders gesagt: Der physikalische Determinismus des Erkennens ist mit den Grundprinzipien von Logik und Erkenntnis, auf die sich der Physikalist inkonsequenterweise selbst beruft, absolut unver­träglich. Die Frage nach der Freiheit des Erkennens ist also - wie bereits gesagt - eine der Schlüsselfragen der Freiheitsphilosophie schlechthin. Und sie ist auch - was den Physikalisten mit Recht sehr beunruhigt - eine physikalische Schlüsselfrage. Denn falls es sich so verhält, daß unser Er­kennen kein Epiphänomen der Hirnphysiologie, sondern unser eigenes von logischen Gründen geleitetes freies Tun ist, dann ist in der Tat das physikalische Weltbild der Gegenwart betroffen und in Frage gestellt. Denn Freiheit des Handelns und Erkennens schließt eine durchgängige und lückenlose Naturkausalität aus, und untergräbt damit eine der stabils­ten Grundüberzeugungen der gegenwärtigen Physik: den Energieerhal­tungssatz. 3) (Siehe hierzu auch Anmerkung 1)

Anmerkungen:

1) Vor allem in den Kritiken an der Philosophie des Geistes von Popper und Eccles (Karl R. Popper, John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München, 1982. Ebenso John C. Eccles, Daniel N. Robinson, Das Wun­der des Menschseins - Gehirn und Geist, München 1985) kommen diese Argumente und Befürchtungen zum Ausdruck. Siehe hierzu etwa:

Henrik Walter, Neurophilosophie der Willensfreiheit, Paderborn 1998, S. 80 f. :

"Wie wechselwirken die beiden Welten [gemeint sind die physikalische Welt und die intelligible Welt unseres Geistes, MM] miteinander? Wie wirkt die zweite Welt in die erste hinein und wie werden die beiden Wel­ten koordiniert? Jede Wechselwirkung verletzt den Energieerhaltungssatz und ist daher eine wissenschaftliche Anomalie."

Ebenso S. 123: "Einerseits behauptet Eccles, daß der selbstbewußte Geist nicht den üblichen Naturgesetzen unterworfen ist, andererseits erklärt er, daß der selbstbewußte Geist in der Lage sei, mit der physikalischen Welt, d.h. dem Gehirn, in Wechselwirkung zu treten. Er hält also am Begriff der mentalen Verursachung fest. Eine Veränderung physikalischer Gegeben­heiten im Gehirn erfordert jedoch Energie und eine mentale Verursa­chung, die in der physikalischen Welt vorher nicht vorhandene Energie einführte, bedeutet eine Verletzung des Energieerhaltungssatzes."

Ausführlicheres ebendort S. 178 ff.

Siehe auch: Mario Bunge, Rubén Ardila, Philosophie der Psychologie, Tübingen 1990, S. 14:

"An der Philosophie des Geistes von Popper und Eccles ist folgendes of­fensichtlich: Erstens, sie ist unausgegoren, weil ihre Schlüsselbegriffe - vor allem Welt, Geist und Interaktion - undefiniert bleiben, und sie enthält überdies keinerlei präzise Hypothese über den Geist und seine angebliche Interaktion mit dem Gehirn. Zweitens verletzt sie ein fundamentales phy­sikalisches Prinzip, nämlich den Energieerhaltungssatz (postuliert sie doch, der immaterielle Geist könne Materie in Bewegung setzen). Drit­tens mißachtet sie eine jedweder experimentellen Wissenschaft still­schweigend zugrunde liegende Voraussetzung, daß nämlich der Geist nicht unmittelbar auf Materie wirken könne, ...")

In seiner grundsätzlichen Struktur wird dieses Problem der Interaktion ei­ner immateriellen mit der materiellen Welt erörtert bei Peter Bieri (Hgr.), Analytische Philosophie des Geistes, 3. Aufl, Königsstein/Ts., 1997, S. 5 ff. Bieri schreibt dort etwa (S. 6): "Wenn mentale Phänomene nicht-pysi­sche Phänomene sind und wenn es mentale Verursachung gibt, dann kann der Bereich physischer Phänomene nicht kausal geschlossen sein. Wenn er jedoch kausal geschlossen ist und wenn mentale Phänomene nicht-phy­sische Phänomene sind, dann kann es allem Anschein zum Trotz keine mentale Verursachung geben. Und wenn es sie trotz der kausalen Ge­schlossenheit der physischen Welt gibt, dann kann es nicht sein, daß men­tale Phänomene nicht-physische Phänomene sind."

Eine umfassende Übersicht über die derzeitige Forschungslage zum The­ma mentale Verursachung aus der Sicht der analytischen Philosophie gibt Godehard Brüntrup, Mentale Verursachung, Stuttgart, Berlin, Köln, 1994.

2) Ein Argument dieses Typs - daß es in einer völlig deterministischen Welt keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne geben könne bzw. "Wenn der Determinismus nun zutrifft, bin ich gar nicht in der Lage, wirkliche Untersuchungen oder Nachforschungen anzustellen; daher kann ich kein Vertrauen in die Wahrheit des Determinismus haben. " - empfindet der oben erwähnte Henrik Walter (S. 84) als ernstzunehmende "Herausforde­rung". Siehe hierzu auch obiges Selbstwiderlegungsargument Poppers ge­gen den Determinismus.

Siehe hierzu auch Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn, a.a.O., S. 105 ff; S. 641 f, dort die Anmerkung 3.

3) Zu diesem Thema: Physikalische Implikationen des Denkens und Er­kennens finden Sie einen Artikel von mir in der Zeitschrift Die Drei, 7, Juli 2005, S. 31-39: Michael Muschalle, Errettung des Denkens. Roger Penroses Erkundungen des Bewussten und Rudolf Steiners Bewußtseins­philosophie

Siehe weiter dazu die Kritik zu diesem Aufsatz von Ernst Oldemeyer, Dualistische oder monistische Rettung des Denkens und der Freiheit, in Die Drei, 10, Oktober 2005, S. 61 ff; (http://www.diedrei.org/Heft%2010%2005/09%20Oldemeyer.pdf)

ebenso meine Antwort an Ernst Oldemeyer, Quantenphysik und Gedan­kenleben, in Die Drei 11, November 2005, S. 59 ff. Zu finden unter: (http://www.diedrei.org/Heft%2011%2005/09%20Muschalle-Erwide­rung.pdf)


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