Studien
zur Anthroposophie
Michael
Muschalle
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Michael
Muschalle
Über
den Zusammenhang von Freiheitsfrage und Erkenntnisfrage
Ein
Beitrag zum Verständnis des intuitiven
Denkens in Steiners Philosophie
der Freiheit
Stand
29. 04. 13. / 27.
12. 23
Am
27. 12. 23 wurden
lediglich einige
Links aktualisiert. Auch solche der Anmerkung
3), die inzwischen nur
noch über das Internetarchiv von webarchive.org erreichbar
sind.
*
"Ein
erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein. "
Rudolf
Steiner, Die
Natur und unsere Ideale,
(1886) GA 30,
Dornach 1989, S. 239
*
I.
Erkennen
und Freiheit gehören für Steiner zusammen.
Freiheitsphilosophie wurzelt in der Erkenntnistheorie.
Der
Philosoph Peter Bieri schreibt in seinem Buch Das Handwerk der
Freiheit (München/Wien 2001, S. 397) "In dem Maße, in
dem die Aneignung des Willens auf Artikulation und Verstehen
beruht, handelt es sich um einen Erkenntnisprozeß. Wachsende
Erkenntnis bedeutet wachsende Freiheit. So gesehen ist
Selbsterkenntnis ein Maß für Willensfreiheit. Dieser
Zusammenhang gibt uns eine erste Lesart der intuitiven Idee, daß
ein freier Wille ein Wille ist, mit dem ich mich
>indentifizieren< kann: Es ist ein Wille, den ich mir
zurechnen kann, weil ich ihn in seinen Konturen erkannt und
weil ich verstanden habe, wie er in die Geschichte und die
gegenwärtige Struktur des Wünschens eingebettet ist, die
mich zu dieser bestimmten Person machen."
Eine der
Auffassung Bieris sehr verwandt klingende Überzeugung drückt
Steiner gegen Ende des ersten Kapitels der Philosophie der
Freiheit (GA - 4, Dornach 1978, S. 23) aus, wenn er sagt:
"Daß eine Handlung nicht frei sein kann, von der der
Täter nicht weiß, warum er sie vollbringt, ist ganz
selbstverständlich. Wie verhält es sich aber mit einer solchen,
von deren Gründen gewußt wird?"
In beiden Fällen
geht es darum, sich der Gründe seines Handelns bewußt zu
werden. Von Freiheit kann nicht die Rede sein, wenn ich nicht
weiß, was mich umtreibt. Ich muß Kenntnis haben von den Motiven
meines Handelns, um ernsthaft von freien Handlungen reden zu
können. Und das kann, wie Bieri in seinem Buch ausführlich
darlegt, eine ziemlich verwickelte Angelegenheit sein, weil
sich diese Motive nicht so ohne weiteres zeigen, sondern sich oft
hinter Masken verbergen oder zunächst ganz und gar unsichtbar
bleiben. Auf jeden Fall aber gilt: Ohne den Willen zur
Selbsterkenntnis, ohne die Erkenntnis der Handlungsmotive keine
Freiheit.
Es wäre reizvoll
diese Gegenüberstellung erheblich auszuweiten. Ich will mich
hier auf einen einzelnen Punkt beschränken und demonstrieren,
daß Steiner mit seinen Gedanken in mancher Hinsicht doch
konsequenter ist als Peter Bieri. Deswegen konsequenter, weil er
in einem viel umfassenderen Sinne als Bieri die
Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage verknüpft und die
Untersuchung auch auf das Erkennen selbst ausdehnt. Dahingehend,
sich zu fragen, was Denken und Erkenntnis überhaupt ist, und ob
denn das denkende Erkennen selbst auch frei, oder von woher auch
immer determiniert sei.
Steiner führt
den eben zitierten Gedanken (S. 23 f) mit den Worten fort: "Das
führt uns auf die Frage: welches ist der Ursprung und die
Bedeutung des Denkens? Denn ohne die Erkenntnis der denkenden
Betätigung der Seele ist ein Begriff des Wissens von etwas, also
auch von einer Handlung nicht möglich. Wenn wir erkennen,
was Denken im allgemeinen bedeutet, dann wird es auch leicht
sein, klar darüber zu werden, was für eine Rolle das Denken
beim menschlichen Handeln spielt. «Das Denken macht die Seele,
womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste», sagt Hegel mit
Recht, und deshalb wird das Denken auch dem menschlichen Handeln
sein eigentümliches Gepräge geben."
Bei Steiner führt
die Freiheitsfrage durch die ihr eigene Sachstruktur mit
Notwendigkeit auf die Erkenntnisfrage. Und zwar in einem
dreifachen Sinn. Einmal will im Grundsatz geklärt sein, was wir
überhaupt tun, wenn wir denken und erkennen. Zweitens geht sie
darauf, welche Rolle das Denken und Erkennen ganz speziell in
unserem Handeln spielt. Und drittens schließlich, - Steiner
sagt das an dieser Stelle nicht ganz so explizit, aber es ist
fast die entscheidende Frage seiner ganzen Freiheitsphilosophie -
geht sie darauf: Ist dieses denkende Erkennen selbst frei oder
nicht? Man muß, um bei Steiner die Bedeutung dieser dritten
Frage zu ermessen, sich die Zusätze zur Neuauflage von 1918
ansehen. Dort wird ausdrücklich hervorgehoben, daß es die
Freiheit des intuitiven Denkens ist, auf die sich
jede Freiheit des Handelns stützt. Auf S. 253 f der Philosophie
der Freiheit führt Steiner diese Sachlage vor Augen. Und das
intuitive Denken wiederum ist ist ein solches, das
vorrangig bei Erkenntnisvorgängen zur Geltung kommt. Es ist -
wie Steiner auf S. 254 sagt - das Denken, durch das "eine
jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt
wird."
Schon im
Sendschreiben von 1886 Die Natur und unsere Ideale (GA 30,
Dornach 1989, S. 237 ff) betont Rudolf Steiner diesen engen
Zusammenhang zwischen Erkenntnisfähigkeit und Freiheit.
"Oh, wir sollten doch endlich zugeben, daß ein Wesen, das
sich selbst erkennt, nicht unfrei sein kann!", heißt es da.
(S. 238.) Und weiter: "Indem wir die ewige Gesetzlichkeit
der Natur erforschen, lösen wir jene Substanz aus ihr los, die
ihren Äußerungen zugrunde liegt. Wir sehen das Gewebe der
Gesetze über den Dingen walten, und das bewirkt die
Notwendigkeit. Wir besitzen in unserem Erkennen die Macht, die
Gesetzlichkeit der Naturdinge aus ihnen loszulösen und
sollten dennoch die willenlosen Sklaven dieser Gesetze sein?
Die Naturdinge sind unfrei, weil sie die Gesetze nicht erkennen,
weil sie, ohne von ihnen zu wissen, durch sie beherrscht werden.
Wer sollte sie uns aufdrängen, da wir sie geistig durchdringen?
Ein erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein."
Wenige Jahre
später wird dieser Gesichtspunkt aus einer
erkenntnistheoretischen Perspektive erneut aufgegriffen und
vertieft. Den Hinweis, beim denkenden Erkennen handele es sich um
einen Akt der Freiheit, gibt Steiner jetzt in seinem
Vorspiel zur Philosophie der Freiheit, der Schrift
Wahrheit und Wissenschaft. (Rudolf Steiner, Wahrheit
und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit.
GA-03, Dornach 1980.) Auf S. 11 dieser Schrift schreibt er, das
Ergebnis seiner Analyse vorwegnehmend: "Das Resultat
dieser Untersuchungen ist, daß die Wahrheit nicht, wie man
gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem
Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das
überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst
hervorbrächten." Weiter (S. 12) führt er aus: "Für
die Gesetze unseres Handelns, für unsere sittlichen Ideale
hat diese Anschauung die wichtige Konsequenz, daß auch diese
nicht als das Abbild von etwas außer uns Befindlichem angesehen
werden können, sondern als ein nur in uns Vorhandenes. Eine
Macht, als deren Gebote wir unsere Sittengesetzte ansehen müßten,
ist damit ebenfalls abgewiesen. Einen «kategorischen
Imperativ», gleichsam eine Stimme aus dem Jenseits, die uns
vorschriebe, was wir zu tun oder zu lassen haben, kennen wir
nicht. Unsere sittlichen Ideale sind unser eigenes freies
Erzeugnis. Wir haben nur auszuführen, was wir uns selbst als
Norm unseres Handelns vorschreiben. [...] Die Anschauung von
der Wahrheit als Freiheitstat begründet somit auch eine
Sittenlehre, deren Grundlage die vollkommen freie Persönlichkeit
ist."
Gegen Ende von
Wahrheit und Wissenschaft (S. 83 f) greift Steiner diesen
Gedankengang noch einmal auf im Zusammenhang mit einer Erörterung
der Philosophie Fichtes, und führt aus: "Der Umstand, daß
das Ich durch Freiheit sich in Tätigkeit versetzen kann, macht
es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die
Kategorie des Erkennens zu realisieren, während in der
übrigen Welt die Kategorien sich durch objektive Notwendigkeit
mit dem ihnen korrespondierenden Gegebenen verknüpft erweisen.
[...] Das Wesen der freien Selbstbestimmung zu untersuchen wird
die Aufgabe einer auf unsere Erkenntnistheorie gestützten Ethik
und Metaphysik sein. Diese werden auch die Frage zu erörtern
haben, ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu
realisieren vermag. [...] Daß die Realisierung des Erkennens
durch Freiheit geschieht, geht aber aus den oben gemachten
Anmerkungen bereits klar hervor. Denn wenn das unmittelbar
Gegebene und die dazugehörige Form des Denkens durch das Ich im
Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so kann die Vereinigung
der sonst immer getrennt im Bewußtsein verbleibenden zwei
Elemente der Wirklichkeit nur durch einen Akt der Freiheit
geschehen."
Was Rudolf
Steiner hier ankündigt, "das Wesen der freien
Selbstbestimmung zu untersuchen" und zugleich der Frage
nachzugehen, "ob das Ich auch noch andere Ideen außer der
Erkenntnis zu realisieren vermag", das findet statt in der
Folgeschrift Die Philosophie der Freiheit, auf die in
ihrem Vorspiel Wahrheit und Wissenschaft wiederholt
hingedeutet wird. Und entsprechend weist Steiner seinen Leser
dort (S. 254) auch darauf hin, daß der zweite Teil dieses Buches
" ... seine naturgemäße Stütze in dem ersten" finde.
"Dieser stellt das intuitive Denken als erlebte innere
Geistbetätigung des Menschen hin. Diese Wesenheit des
Denkens erlebend verstehen, kommt aber der Erkenntnis
von der Freiheit des intuitiven Denkens gleich."
In der
Philosophie der Freiheit geht es folglich, wenn man beide
Schriften aufeinander bezieht, sowohl darum näher zu
untersuchen, wie die Verwirklichung der Idee des Erkennens sich
vollzieht und worauf sich dieser Akt der Freiheit im einzelnen
gründet - was Steiners Bemerkung in der Philosophie der
Freiheit zufolge im ersten Teil des Buches verhandelt wird.
Und sich ferner zu fragen: " ... ob das Ich auch noch andere
Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag."
Letzterem ist der zweite Teil der Schrift gewidmet. Beiden
Fragestellungen wird nachgegangen, wie Steiner 1917 an anderer
Stelle ausdrücklich betont, "durch rein philosophische
Forschung". Mit den "Denkmitteln" und der
"Methodik allein", "die man gewöhnt ist, in
philosophischen Arbeiten zu finden." (Die
Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die
zeitgenössische Erkenntnistheorie.
Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35, 1984, S. 319).
Die Idee des
Erkennens wird, so können wir festhalten, durch einen Akt der
Freiheit realisiert. Bezogen auf die Philosophie der Freiheit:
Das intuitive respektive erkennende Denken
verwirklicht oder vollzieht im Erkennen diesen Akt der
Freiheit. Und nur weil es dieses vermag, also selbst frei ist,
ist auch Freiheit des Handelns denkbar und möglich. Der
Auffassung eines freien oder freiheitsfähigen menschlichen
Individuums liegt demnach fundierend zugrunde die Einsicht vom
Erkennen als einer Freiheitstat des Menschen. Der Umstand, daß
Steiner dieses erkennende Denken später in der Zweitauflage der
Philosophie der Freiheit, - und auch dort nur an wenigen
Stellen - , ein intuitives Denken nennt, hat viel zur
allgemeinen Verwirrung bei seinen Rezipienten beigetragen. Ich
meine aber, daß die Sachlage verständlich sein sollte,
wenn man die Materialien hinreichend berücksichtigt. Wenn
also Steiner in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit
(S. 254) betont, das freie Handeln gründe in der Freiheit des
intuitiven Denken, dann gibt es unter Berücksichtigung
seiner dortigen Bemerkungen zu diesem intuitiven Denken
und unter Einbeziehung dessen, was er in den vorausdeutend
programmatischen Hinweisen in Wahrheit und Wissenschaft
zum Erkennen als Freiheitstat ausführt, mehr als Anlaß
genug, vom intuitiven Denken als einem erkennenden
Denken zu sprechen. Denn die Philosophie der Freiheit
versteht sich als Programm, das in ihrem Vorspiel
angekündigt wird.
I
I.
Probleme
mit dem intuitiven Denken
Vielen
Lesern der Philosophie der Freiheit wird es wahrscheinlich
ähnlich gehen wie mir am Beginn meiner Studien vor rund 25
Jahren: Wenn vom intuitiven Denken die Rede ist, dann
assoziieren sie damit eher Ungewöhnliches, Besonderes -
Ausnahmesituationen des Denkens. Falls sie philosophisch
vorgeprägt sind, dann werden sie sich vielleicht an Kants
Unterscheidung diskursiv - intuitiv in der Kritik der
Urteilskraft erinnern, wo der intuitive Verstand
(intellectus archetypus) nur als schiere, spekulative
Möglichkeit genannt wird. Eine für Kant rein theoretische Größe
ohne praktische Bedeutung und ohne tatsächliche Realität im
Bewußtsein. Und als Anthroposophen, die mit Steiners Werk etwas
vertraut sind, werden sie sich an die Intuition
genannte höchste Form der höheren Erkenntnis erinnern.
Ebenfalls für den normalen Sterblichen eine rein theoretische,
für ihn im Augenblick kaum zu erreichende Größe, die ihm
allenfalls Zukunftsmöglichkeiten andeutet, aber ohne
faktische Relevanz für sein tatsächliches Bewußtsein jetzt
ist. Was sich um Ausdrücke wie intellectus archetypus,
anschauende Urteilskraft oder eben auch die hohe Stufe
der Intuition rankt, das sind häufig die
Verstehenshintergründe, wenn jemand auf einen Ausdruck stößt
wie intuitives Denken. Man tut gut daran
Assoziationen dieser Art beim Studium der Philosophie der
Freiheit vorerst einmal beiseite zu schieben, sonst befindet
man sich allzu leicht auf dem Holzweg. In der
Philosophiegeschichte oder auch in der Anthroposophie
verankerte Begrifflichkeiten sind manchmal hilfreich und
unentbehrlich für das Verständnis der Philosophie der
Freiheit. Doch sie können auch gehörig hinters Licht
führen, wenn man sie übereilt und ohne eingehende textimmanente
Prüfung auf den sachlichen Kontext dieser Schrift überträgt.
Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Es gibt natürlich
eine direkte Verbindung zwischen Steiners Intuitionsbegriff hier
und dort. Aber es ist für das Erschließen der Philosophie
der Freiheit - zumal für das anfängliche - mitunter sehr
entlastend, sich an das zu halten, was er in der Vorrede von
1918 sagt, daß nämlich niemand auf seine spätere
Geistesforschung hinschielen muß, um den Inhalt dieses
Buches annehmbar zu finden.
Kaum
anthroposophische Forschung zum intuitiven Denken.
Folge: Mythen und
Legenden darüber.
Von anthroposophischen Autoren werden bisweilen regelrechte
Mythen bezüglich des intuitiven Denkens konstruiert -
(ein aktuelles Beispiel dazu aus der Zeitschrift Die Drei,
2/2008, S. 56 ist im Internet abrufbar unter
http://www.diedrei.org/Heft_2_08/09%20Forum%20Anthroposophie%202-08.pdf)
- was sicherlich im wesentlichen eine Folge des Umstandes
ist, daß Steiner sich in der Philosophie der Freiheit
über das intuitive Denken nur sehr wenig explizit
erläuternd äußert. Es gibt keine erschöpfenden
unmittelbaren Erklärungen zu diesem Ausdruck. Der Terminus
intuitives Denken taucht überhaupt nur in den
späteren Zusätzen der Zweitauflage dieses Buches auf. Und
auch hier - soweit ich sehe - nur im zweiten Teil des
Buches, wo die grundsätzlichen Fragen des Denkens längst
abgehandelt sind. In der Erstauflage von 1894 dagegen ist er
nicht explizit vorhanden, aber das intuitive Denken der
Sache nach. Denn im ersten Teil, wo dieser Ausdruck zwar fehlt,
soll gleichwohl schon die Rede davon sein. Denn: "Dieser
[erste Teil, MM] stellt das intuitive Denken als erlebte innere
Geistbetätigung des Menschen hin. " (S. 254) Man muß
demnach unterstellen, daß dort, wo im ersten Teil vom Denken
die Rede ist, und zwar schon 1894, Steiner das intuitive
Denken meint. Das deckt sich mit der hier von mir vertretenen
Auffassung vom intuitiven Denken als einem erkennenden,
denn um dieses geht es ja dort. Anthroposophische Autoren
verweisen mit Vorliebe auf Steiners spätere Zusätze zur
Philosophie der Freiheit, wenn sie eine Differenz zwischen
dem intuitiven und dem sogenannten normalen Denken (was
immer das sein mag) anhand dieser Schrift festzustellen glauben.
Daß Steiner in dieser Schrift (siehe oben) ausdrücklich
darauf hinweist, daß im gesamten ersten Teil schon von diesem
intuitiven Denken, und folglich auch im dritten Kapitel schon die
Rede ist, das kommt ihnnen gar nicht in den Sinn. So sehr sind
sie befangenen in einer apriorischen und ungeprüften
Vorwegannahme dahingehend, das intuitive Element komme im
gewöhnlichen erkennenden Denken des Menschern grundsätzlich
nicht vor.
Wie dem auch sei:
Für den Interpreten ist das eine ziemlich vertrackte Situation.
Schließlich - man kann es nicht oft genug wiederholen - gründet
in der Freiheit des intuitiven Denkens die Freiheit des
Handelns. Weiß man aber nicht, was dieses intuitive
Denken denn nun für Steiner ist, dann hat man nicht die Spur
einer Aussicht zu begreifen, worin bei ihm die Freiheit des
Handelns wirklich gründet. Mit allen Folgen, die das wiederum
für weiteres philosophisches Arbeiten mit diesem Buche hat. Es
ist, als habe Steiner in der Zweitauflage auf den letzten Seiten
dieser Schrift dem Verständnis einen regelrechten Riegel
vorgeschoben. Das ist eine sehr sperrige, Mythenbildung geradezu
herausfordernde Faktenlage und macht die Dringlichkeit offenbar,
eine Klärung dieses Begriffs anhand des Textes voranzutreiben.
Gerade wegen der kargen Erläuterungen, die Steiner dazu gibt,
scheint es mir daher wichtig, wirklich auch alle ausdrücklichen
Bemerkungen, die er dazu macht, in die Interpretation
einzubeziehen. Dazu gehört nun einmal, daß er es vorrangig
als erkennendes Denken qualifiziert, dahingehend, daß
durch das intuitive Denken "eine jegliche Wahrnehmung
in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird", wie er
im zweiten Zusatz von 1918 auf S. 255 ausführt. Und als ein in
im Sinne dieser Erläuterung gekennzeichnetes erkennendes Denken
wird es von jedem Denker ausgeübt, der sich erkennend betätigt,
ganz gleichgültig, ob dieser seinem eigenen Denken schon
Erkenntnisinteresse entgegengbracht hat oder nicht.
Diese Sachlage,
daß das intuitive Denken in jedem
Erkenntnisvorgang des normalen Bewußtseins wirksam ist, wird von
anthroposophischen Autoren vielfach übersehen oder
ignoriert. Stattdessen erhält es einen ganz eigentümlichen
Status, in dem Sinne daß es auf jeden Fall nicht im normalen,
naiven Denkbewußtsein anzutreffen sei.
Einen
derartigen Mythos etwa konstruiert Marcelo da Veiga Greuel in
seinem Buch Wirklichkeit und Freiheit, Dornach 1990, S. 46
f, wenn er dort sagt: "Das intuitive, durch die
Selbstreflexion entdeckte Denken, ist also nicht die Form des
Denkens, welche im naiven Bewußtsein vorkommt. Hier gilt
vielmehr durchgängige Diskursivität, d.h. ein sich in
zeitlicher Schrittfolge vollziehendes und an die Wahrnehmung der
Sinne gebundenes Denken, das sich seines tätigen Ursprungs nicht
bewußt wird."
Diese These wird
quellenkritisch durch nichts weiter belegt als den Hinweis
darauf, daß es, "eine Wahrnehmung" sei, "in der
der Wahrnehmende selbst tätig ist, und" ebenso " ...
eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird",
wie Steiner auf S. 256 in einer allerdings etwas anderen Absicht
anmerkt. Was der Autor hier nicht berücksichtigt, ist, daß
Steiner an dieser Stelle nicht generell charakterisierend vom
intuitiven Denken spricht, sondern in einem engeren Sinne
vom intuitiv erlebten Denken. (Was der Autor übrigens
auch noch irreführend zitiert.) Und nur darauf, auf
dieses intuitiv erlebte Denken trifft die Kennzeichnung
zu, daß es "eine Wahrnehmung" sei, "in der der
Wahrnehmende selbst tätig ist, und" ebenso " ... eine
Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird". Denn in
diesem Fall nimmt der Denker aktiv-tätig den
ideell-begrifflichen Gehalt seines Denkens wahr - dies entspricht
einer von Steiner durchgängig im philosophischen Schrifttum
vorgetragenen Ansicht vom Denken als Auffassungs- oder
Wahrnehmungsorgan für Begriffe und Ideen. Und er nimmt seine
eigene aktuelle denkerische Aktivität wahr.
Das
(begrifflicher Inhalt und denkerische Aktivität) sind zwei
verschiedene Wahrnehmungen, die häufig verwechselt oder
gleichgesetzt werden, aber nicht verwechselt werden dürfen. Eine
derartige Verwechselung bzw Gleichsetzung findet sich etwa im
Kommentarteil des im übrigen sehr zu empfehlenden Buches von
Renatus Ziegler, Intuition und Ich-Erfahrung, Stuttgart,
2006, S. 418. Ziegler paraphrasiert dort diesen Passus des
zweiten Zusatzes von 1918 aus dem Kapitel Die
Konsequenzen des Monismus mit tätigem Wahrnehmen und
wahrnehmendem Tätigsein, wobei zwischen diesen
seinen beiden Kennzeichnungen von der Sachaussage her für mich
kein Unterschied zu erkennen ist. Tätiges Wahrnehmen und
wahrnehmendes Tätigsein besagt in meinen Augen jeweils
dasselbe: ein aktives Wahrnehmen. Während auf der anderen Seite
die von Steiner ausdrücklich hervorgehobene Wahrnehmung
der Selbstbetätigung in Zieglers Kommentierung vollständig
untergeht. Doch darum geht es ja gerade hier: Nicht nur ist die
ideelle Wahrnehmung Folge einer Aktivität, sondern diese
wahrnehmende Aktivität ihrerseits wird ebenfalls vollbewußt
wahrgenommen und als Aktivität auch erlebt. Sie bleibt nicht
etwa vorbewußt, bewußtseinsunterschwellig oder gar völlig
unbewußt wie manche glauben. Es müßte also bei Ziegler
korrekterweise heißen: tätiges Wahrnehmen und
wahrgenommenes Tätigsein oder besser Wahrnehmen des
Tätigseins. (Vielleicht handelt es sich hier nur um einen
sprachlichen Lapsus in Zieglers Kommentierungen. Im Hauptteil
seiner Arbeit, der allerdings nicht mehr explizit an den
Text der Schrift angebunden wird, trifft er diese Unterscheidung
sehr wohl.) Die Wahrnehmung des begrifflichen Inhalts (als
Resultat des tätigen Wahrnehmens oder wahrnehmenden
Tätigseins) findet bei jedem begrifflichen Denkvorgang statt.
Die Wahrnehmung der Selbstbetätigung (wahrgenommenes
Tätigsein/Wahrnehmen des Tätigseins) aber nur, wenn der
Denker seine erlebende Aufmerksamkeit bewußt auch auf die
eigene denkerische Aktivität hinorientiert. Sonst wird sie
einfach übersehen, weil sie weiter nicht interessiert und somit
unter der Schwelle des Bewußtseins bleibt.
Der Ausdruck
intuitiv erlebtes Denken trifft also nur auf ein Denken
zu, in dem beide Wahrnehmungsformen (Inhalt und Tätigkeit)
wirklich vorliegen. Damit kennzeichnet er etwas, das Steiner
im Zusatz von 1918 zum 3. Kapitel (S. 55) einfordert, wenn er
dort sagt: "... es kommt darauf an, daß nichts gewollt
wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem «Ich» nicht restlos
als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint",
und ist somit ein terminus technicus für erlebtes
gegenwärtiges Denken. (Man beachte: für erlebtes,
nicht für beobachtetes gegenwärtiges Denken. Das aber
selbstverständlich auch als Erkenntnismittel in der Beobachtung
des Denkens zu finden ist, weil ja dann die Erfahrungen oder
Erlebnisse des Denkens selbst einer denkenden Betrachtung
unterworfen werden.)
Es ist übrigens,
soweit ich sehe, der einzige Versuch da Veiga Greuels - um wieder
auf diesen zurückzukommen - sich am expliziten Steinerschen
Sprachgebrauch intuitives Denken etwas zu orientieren.
Wohlgemerkt am Ausdruck intuitives Denken und nicht nur an
dem der Intuition, den er obendrein weitgehend links
liegen läßt, ohne sich Steiners Ausführungen dazu näher
anzusehen. Und bis auf dieses eine, irreführende und nicht
weiter aufgeschlossene Zitat verliert er kein Wort mehr darüber,
was Steiner höchstselbst in der Schrift ausdrücklich zum
Begriff intuitives Denken sagt. Und so hält der Leser
dann am Ende ein Buch in der Hand. Eine wissenschaftliche Arbeit,
die ihm versichert, das intuitive Denken komme im naiven
Bewußtsein nicht vor. Deren Autor unter anderem Steiners
Freiheitsverständnis auf die Spur kommen möchte. Der dem Leser
nichts näheres über Steiners Intuitionsbegriff berichtet, und
noch viel weniger über den im Sachzusammenhang entscheidenden
Steinerschen Sprachgebrauch das intuitive Denken
betreffend. Man fragt sich: Warum tut er das nicht? - Warum führt
er einen Begriff vom intuitiven Denken vor, der Steiners
eigene direkte Äußerungen dazu nahezu komplett ignoriert? Dem
jede seriöse Untersuchungsgrundlage für die fragliche
Behauptung fehlt! Die Folgen treten dann auch zu Tage. Denn: Daß
das naive Bewußtsein, das sich "seines tätigen
Ursprungs nicht bewußt" ist, nur in der Lage sein sollte,
diskursiv und an die Sinne gebunden zu denken, dünkt mir
abenteuerlich. Warum sollte das der Fall sein? Es würde
doch bedeuten, daß dieses Bewußtsein solange nicht imstande
wäre, reinen, sinnlichkeitsfreien - etwa mathematischen
oder philosophischen - Gedanken nachzugehen, solange es sich
seines tätigen Ursprungs nicht bewußt ist. Das ist denn doch zu
weit hergeholt. Ein derartiges Junktim läßt sich aus der
Philosophie der Freiheit nun wirklich nicht ablesen.
Der Umstand, daß
der Autor diese disparaten Sachverhalte (Wissen um die Tätigkeit
des Denkens und Befähigung zum reinen Denken - Wer sich des
tätigen Ursprungs seines Denkens nicht bewußt ist kann nur an
die Sinne gebunden denken) derart sachwidrig verquickt, geht zu
erheblichen Teilen auf eine fehlende Textanalyse zurück. Aber
die ganze Passage offenbart darüber hinaus auch ein
derartiges gedankliches, hier nicht analysierbares
Durcheinander, daß die Vermutung nahe liegt, ob dahinter nicht
ein fundamentales und weit reichendes Mißverstehen dieser
Schrift steht, das nicht originär auf eigenem Boden gewachsen
ist, sondern mittelbare Folge ist einer bestimmten
philosophischen Schulenbildung innerhalb der Anthroposophie, die
nicht hinreichend unterscheidet zwischen dem Beobachten
und dem Erleben des aktuellen Denkens. (Siehe hierzu auch
die Ausführungen an anderer Stelle
auf dieser Homepage.)
(Noch weit ärger,
dies sei kurz angemerkt, ist die Sachlage bei Florin Lowndes, der
sich in seinem Buch Das Erwecken des Herzdenkens,
Stuttgart 1998, auf S. 20 ff in eine völlig haltlose
Phantastik über das intuitive Denken versteigt. Und zwar
ohne auch nur den Schimmer einer Begründung für seine
Auffassung an der Philosophie der Freiheit selbst zu
liefern. Bei ihm wird es gar als "überlogisches"
Denken etikettiert, mit dessen Hilfe allein der "rein
geisteswissenschaftliche" - sprich: esoterische - Charakter
des Buches zugänglich sei. Das somit also weit jenseits dessen
liegt, wozu das normale Denkbewußtsein in der Lage ist. Woher er
seine Weisheiten hat und warum er das glaubt, das erklärt der
Autor dem Leser erst gar nicht. Dafür deckt er ihn aber mit
einer wahren Flut esoterischen Beiwerks und zusammengewürfelter
Vortragszitate ein, die den Unwissenden beeindrucken mögen,
faktisch aber doch nur bluffen und Sachkenntnis lediglich
vortäuschen. Ein wahrhaft dokumentationswürdiges Beispiel für
mangelnde Sorgfalt, Paralogik des Denkens und
Pseudowissenschaftlichkeit innerhalb der anthroposophischen
Bewegung, wenn sich ihre Autoren mit der Philosophie der
Freiheit und speziell mit dem intuitiven Denken
befassen. Und ein besonders symptomatisches Beispiel für den
Zustand dieser Bewegung, da Lowndes auf der Umschlagseite von
seinem Verlag Freies Geistesleben gleich mit drei
umfangreichen Bänden zum Thema angekündigt wird. Vom Schaden,
der damit im Erkenntnisleben des Lesers und für dessen
weitere Entwicklung angerichtet wird will ich erst gar nicht
reden. Mir scheint es bezeichnend für die wissenschaftliche
Gesinnung, wenn Autoren wie Lowndes von bekannteren
anthroposophischen Verlagen mit großem Aufwand ins Publikum
gepreßt werden, während andere Autoren wie etwa Lorenzo
Ravagli, die wirklich etwas Substantielles zu sagen haben, eigene
Verlage gründen müssen, damit sie überhaupt Gehör finden.
Irgendwo auf dieser Linie anthroposophischer Pseudowissenschaft
liegt auch, was das Dornacher Vorstandsmitglied Sergej Prokofieff
seinem Leser über die Philosophie der Freiheit und das
intuitive Denken auftischt: Fachlich substanzlos, dafür
umso mehr aufgeschäumt mit reichlich Esoterik und
suggestiv-dämagogischem Steinerkult. Näheres dazu siehe hier.)
Es macht
allerdings für den Interpreten einen maßgeblichen Unterschied
aus, ob ein philosophischer Autor vom intuitiven Denken
spricht, oder vom intuitiv erlebten Denken. Beachtet man
diese Differenz nicht, dann kommt man zu allen möglich
irreführenden Auffassungen, die zwangsläufig Folgen haben
für das Verständnis der Philosophie der Freiheit insgesamt.
(Ich sage das ganz im Bewußtsein eigener leidvoller Erfahrungen
mit diesem Begriff.)
Um es
zusammenzufassen: Die von Marcelo da Veiga Greuel vertretene
Auffassung, das intuitive Denken komme im normalen
(naiven) Bewußtsein nicht vor, scheint mir unplausibel. Und
schon gar nicht, so meine ich, läßt sich seine Ansicht mit der
von ihm angeführten Textstelle belegen. Vielmehr gilt: Das
intuitive Denken ist nicht etwa das erst "durch
Selbstreflexion entdeckte Denken", wie es bei da Veiga
Greuel heißt, sondern, das entdeckende, erkennende
Denken. Und als solches kann es sich eben auch selbst entdecken,
erkennen, und vor allem: seinen intuitiven und darauf
basierend seinen Freiheitscharakter entdecken und erkennen.
Worauf Steiner ja eigens hinweist, wenn er (S. 255) jene Methode,
die ihm in der Philosophie der Freiheit gleichermaßen zur
Erhellung der Freiheitsfrage wie der näheren Beleuchtung des
Denkens dient, selbst auch als intuitives Denken
bezeichnet, und andernorts als ein Verfahren, das man gewöhnlich
in philosophischen Arbeiten angewendet findet. Wer sich damit dem
intuitiven Denken erlebend und verstehend
zuwendet, der erkennt den Freiheitscharakter des
intuitiven Denkens (S. 254). Was sich nicht zuletzt doch
auch mit der Tatsache der Wesensgleichheit von
beobachtendem und beobachtetem Denken deckt, wie sie im drittem
Kapitel der Philosophie der Freiheit betont wird. Insofern
ist auch die von da Veiga Greuel oben getroffene, jedoch von
Steiner weder hier noch sonst im Buche gebrauchte
Unterscheidung diskursiv-intuitiv nicht eben hilfreich im
fraglichen Zusammenhang, sondern führt auf Abwege. Denn es
geht ums Erkennen. Und jede Erkenntnis, ob sinnlich oder
übersinnlich, ob im naiven oder kritischen Bewußtsein, operiert
nach Steiner mit Intuitionen, also intuitiv, sonst wäre es keine
Erkenntnis. Die Unterscheidung diskursiv-intuitiv, wie sie für
Immanuel Kants Erkenntnisbegriff charakteristisch ist,
dahingehend, daß dem Menschen ohnehin nur ein
sinnlichkeitsgebundenes diskursives und kein intuitives (auf
das Sinnlichkeitsfreie, Übersinnliche bezogene)
Erkenntnisvermögen zugestanden wird, - siehe dazu etwa den § 77
seiner Kritik der Urteilskraft -, kommt bei Steiner
schlichtweg nicht vor. Für Steiner, und da liegt eine der
basalen Differenzen zu Kant überhaupt, ist die intuitive,
übersinnliche oder sinnlichkeitsfreie Wahrnehmung
konstitutiv für den Erkenntnisbegriff. Das heißt: in jeder
Erkenntnis ist bereits dieses intuitive, übersinnliche
respektive sinnlichkeitsfreie Element enthalten. (Weiteres
dazu siehe auch hier)
*
Versuch
eines Verständnisansatzes
Auf fünf
wesentliche Fakten ist nach meiner Einschätzung bei dem Bemühen
um eine begriffliche Klärung des intuitiven Denkens das
Augenmerk besonders zu richten:
1) Das intuitive
Denken wird von Steiner als diejenige Methode gekennzeichnet,
die diesem Buche als Forschungsverfahren zugrunde liegt. Und die,
wie oben gezeigt wurde, nach Steiner explizit dieselbe ist, "die
man gewöhnt ist, in philosophischen Arbeiten zu finden."
Sie liegt also nicht nur der Philosophie der Freiheit
zugrunde, sondern philosophischen Untersuchungen ganz
allgemein.
2) Für den
Erkenntnistheoretiker Steiner ist notwendigerweise vor der
Beantwortung der Freiheitsfrage die Erkenntnisfrage zu klären.
"Denn ohne die Erkenntnis der denkenden Betätigung der
Seele ist ein Begriff des Wissens von etwas, also auch von einer
Handlung nicht möglich. Wenn wir erkennen, was Denken im
allgemeinen bedeutet, dann wird es auch leicht sein, klar darüber
zu werden, was für eine Rolle das Denken beim menschlichen
Handeln spielt", um Steiners Argumentation von S. 23 der
Philosophie der Freiheit noch einmal aufzugreifen.
Deswegen hängt aus logisch-systematischen Gründen die
Freiheitsfrage von der Erkenntnisfrage ab und kann nur
dieser nachfolgend gelöst werden. Und man sieht auch, es geht in
der Argumentation Steiners nicht darum irgend welche
Spezialformen des Denkens erforschen, sondern zu klären, "was
Denken im allgemeinen bedeutet." Das wird im ersten Teil der
Philosophie der Freiheit - und da geht es ja vielfach
um diese Frage - auch in geradezu augenfälliger Weise
sichtbar. Da bleibt für mystifizierende Überhöhungen des
dort untersuchten Denkens überhaupt kein Raum, und auch kein
Raum, ihm von vornherein irgend welche Eigenschaften anzuheften,
die fern abliegen von dem, was es gewöhnlich unter normalen
Verhältnissen tut.
3) Steiners
entsprechende Hinweise auf den generellen
Freiheitscharakter des Erkennens in der Schrift Wahrheit und
Wissenschaft (s.o.) und die dortigen Vorausdeutungen auf die
Philosophie der Freiheit, ferner
4) der Umstand,
daß er das intuitive Denken in seiner knappen
Kennzeichnung auf S. 255 der Philosophie der Freiheit
ebenfalls in einem generalisierenden Sinn mit der
Erkenntnistätigkeit verknüpft, wenn er sagt: durch das
intuitive Denken wird »eine jegliche Wahrnehmung in die
Wirklichkeit erkennend hineingestellt«, - man beachte: eine
jegliche Wahrnehmung und nicht etwa nur geistig-ideelle
respektive auf sinnlichkeitsfreiem Denken beruhende - und
schließlich
5) die Tatsache,
daß er (ebd., S. 253 f) in diesem intuitiven Denken
Freiheit überhaupt begründet sieht, was angesichts der
unter 2) genannten Sachlage logisch konsequent ist und sich auch
mit seinen Ausführungen in Wahrheit und Wissenschaft
bezüglich des Freiheitscharakters jedes Erkennens deckt,
verweisen unverkennbar darauf: Man wird auf jeden Fall seinen
Erkenntnisbegriff einbeziehen müssen, wenn es um die
begriffliche Klärung des intuitiven Denkens als
Grundlage jeder freien Handlung geht.
Und hier wiederum
scheint mir bemerkenswert, daß gleichsam am philosophischen
Quellort dieses Begriffs, jener Passage, in der Steiner in der
Philosophie der Freiheit (S. 95) den Intuitionsbegriff
einführt, in keiner Weise von irgendwelchen Sonderformen des
Denkens die Rede ist, sondern von einem Denken, das sich an
ganz konkreten sinnlichen Gegenständen entzündet. Von
einer Schnecke und einem Löwen ist dort (S. 95)
die Rede, mit denen sich das Denken erkennend befaßt. "Diese
Tätigkeit des Denkens", heißt es, "ist eine
inhaltvolle. Denn nur durch einen ganz bestimmten konkreten
Inhalt kann ich wissen, warum die Schnecke auf einer niedrigeren
Organisationsstufe steht als der Löwe. Der bloße Anblick,
die Wahrnehmung gibt mir keinen Inhalt, der mich über die
Vollkommenheit der Organisation belehren könnte." Und
jetzt folgt die Passage mit der Einführung des
Intuitionsbegriffs: "Diesen Inhalt bringt das Denken der
Wahrnehmung aus der Begriffs- und Ideenwelt des Menschen
entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen
gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern. Die Form, in
der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuition
bezeichnen. Sie ist für das Denken, was die Beobachtung für
die Wahrnehmung ist. Intuition und Beobachtung sind
die Quellen unserer Erkenntnis." In der Schrift Von
Seelenrätseln erläutert er diesen Abschnitt noch
einmal näher und führt dort aus: "Ich sage also hier:
Intuition wolle ich als Ausdruck für die Form gebrauchen,
in der die im Gedankeninhalt verankerte geistige Wirklichkeit
zunächst in der menschlichen Seele auftritt, bevor diese
erkannt hat, daß in dieser gedanklichen Innenerfahrung die in
der Wahrnehmung noch nicht gegebene Seite der Wirklichkeit
enthalten ist. Deshalb sage ich: Intuition ist «für das Denken,
was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist»." Und weiter:
"Mir gilt eben Intuition nicht «bloß» als die «Form, in
der ein Gedankeninhalt zunächst hervortritt», sondern als die
Offenbarung eines Geistig-Wirklichen, wie die Wahrnehmung als
diejenige des Stofflich Wirklichen." (GA-21, Dornach 1976,
S. 61)
Nur nebenbei
gesagt steckt in dieser letzten Formulierung Steiners ein
wesentliches Verständnismittel, die beiden scheinbar
verschiedenen Varianten seines Intuitionsbegriffes
(erkenntnistheoretische und esoterische Variante) sachlich
aufeinander zu beziehen. Gerade durch Steiners Gebrauch des
Intuitionsbegriffs in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen
tun sich viele Leser außerordentlich schwer, den Charakter des
intuitiven Denkens realistisch einzuschätzen, weil
sie zunächst an die höhere Form der Intuition denken, die
im Zusammenhang mit dem anthroposophischen Schulungsweg von
Steiner erörtert wird. Was in der Kürze dazu gesagt werden kann
ist, daß es sich hier nicht um zwei dem Wesen nach verschiedene
Formen der Intuition handelt, sondern daß sie nur dem Grade oder
der Qualität nach voneinander verschieden sind. Wenn auch in
dieser Hinsicht in Abhängigkeit vom Schulungsfortschritt ganz
erheblich. Aber in beiden Fällen geht es um die
"Offenbarung eines Geistig-Wirklichen". Das eine Mal
auf der Ebene des normalen, das andere Mal auf der des besonders
geschulten Bewußtseins. Und schon in jedem gewöhnlichen
Erkenntnisvorgang hat man es mit einem "Geistig-Wirklichen"
zu tun, das durch Intuition - einer der zwei genannten
Erkenntnisquellen - gegeben wird. Eben das wird durch
Steiners Erläuterung in der Schrift Von Seelenrätseln
noch einmal ausdrücklich unterstrichen. Insofern ist es
auch folgerichtig, wenn Steiner in der Vorrede von 1918 zur
Philosophie der Freiheit (S. 9) darauf hinweist, daß er
in diesem Buche hat zeigen wollen, " ... wie eine
unbefangene Betrachtung, die sich bloß über die beiden
gekennzeichneten für alles Erkennen grundlegenden Fragen
erstreckt, zu der Anschauung führt, daß der Mensch in einer
wahrhaftigen Geistwelt drinnen lebt."
Man kann es ja
manchmal nicht drastisch genug sagen: Aber wenn ich darüber
nachdenke, was eine vor mir liegende Konservendose von einem
Baumwollsocken unterscheidet, dann liegen dieser erkennenden
Unterscheidung Intuitionen zugrunde, denn - um
Steiners Gedankengang von eben aufzugreifen - "nur durch
einen ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen," daß
ein Baumwollsocken aus textilem Material gefertigt ist, das
organischen, pflanzlichen Ursprungs ist und eine Konservendose
aus Metall. "Der bloße Anblick, die Wahrnehmung gibt mir
keinen Inhalt", der mich über die materielle Beschaffenheit
und Herkunft dieser Gegenstände "belehren könnte" .
"Diesen Inhalt bringt das Denken der Wahrnehmung aus der
Begriffs- und Ideenwelt des Menschen entgegen. Im Gegensatz zum
Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben ist, erscheint
der Gedankeninhalt im Innern." Die Form, in welcher der
Gedankeninhalt bei dieser Unterscheidung zunächst
auftritt, nennt Steiner Intuition. Der erkennenden
Unterscheidung von Konservendose und Baumwollsocken liegt demnach
zugrunde ein Gedankeninhalt, der die Offenbarung eines
Geistig-Wirklichen ist, wie die Wahrnehmung dieser beiden
Gegenstände diejenige des Stofflich Wirklichen. Das
heißt: Die Erkenntnis eines ganz normalen sinnlichen
Gegenstandes geschieht im Rückgriff auf eine geistige
Wirklichkeit, die im begrifflichen Inhalt verankert ist, den
das Denken in der Intuition findet.
Mit Blick auf die
oben unter Punkt 1) - 5) genannte Faktenlage läßt sich dazu
sagen: Das von Steiner angeführte Beispiel skizziert
paradigmatisch die Struktur des intuitiven Denkens, indem
er hier im Grundsätzlichen darlegt, wie eine Wahrnehmung
- in diesem Fall eine sinnliche - in die Wirklichkeit erkennend
hineingestellt wird. Wobei das Auftreten der Intuition noch
nicht die eigentliche Erkenntnis ist, sondern, wie er sagt,
lediglich deren Voraussetzung auf der ideellen Seite. Das ist
übrigens ein Punkt, der besondere Beachtung verdient, und auch
von mir in den hier veröffentlichten Arbeiten nicht immer
adaequat behandelt wird. Deswegen noch einmal der Hinweis:
Die Intuition allein ist noch nicht die Erkenntnis, sondern
es muß neben der Wahrnehmung noch etwas nur vom Ich Ausgehendes
hinzukommen, was den eigentlichen Erkenntnisakt - die Synthese
zwischen intuitiv und wahrnehmlich Gegebenem - vollzieht. Erst in
der sachgemäßen Verbindung der von zwei Seiten gegebenen
Wirklichkeitsteile durch das Ich liegt die Erkenntnis
selbst. Auf S. 146 der Philosophie der Freiheit spricht er
diesbezüglich von einer "denkenden Durchsetzung der
Wahrnehmung". Diese Vereinigung des intuitiv (durch
Intuition) Gegebenen mit dem durch die Wahrnehmung Gegebenen
ist ein Akt der Freiheit, um noch einmal Steiners Bemerkung aus
Wahrheit und Wissenschaft (s.o., S. 84) aufzunehmen: "Denn
wenn das unmittelbar Gegebene und die dazugehörige Form des
Denkens durch das Ich im Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so
kann die Vereinigung der sonst immer getrennt im Bewußtsein
verbleibenden zwei Elemente der Wirklichkeit nur durch einen Akt
der Freiheit geschehen." Dieser Freiheitsakt findet
folglich in jedem Erkenntnisprozeß statt. Ein Denken, das
intuitiv (auf der Basis von Intuitionen) diesen
Erkenntnis- und Freiheitsakt vollzieht, nennt Steiner in der
Philosophie der Freiheit ein intuitives Denken.
Durch dieses Denken wird "eine jegliche Wahrnehmung in
die Wirklichkeit erkennend hineingestellt".
Dieses Paradigma
gilt nun generell für den Erkenntnisprozeß, mit der Variante,
daß die mit ideellem Gehalt zu verbindenden Wahrnehmungsteile
nicht nur sinnliche sein müssen, sondern beispielsweise selbst
auch ideelle sein können. In diesem Fall hat man es etwa
mit reinem Denken zu tun, wie es die philosophisch
gedankliche Entfaltung der Philosophie der Freiheit selbst
über weite Strecken hin demonstriert. Das im einzelnen unter
Einbeziehung von Steiners in der Schrift (S. 133) erweitertem
Wahrnehmungsbegriff - "Man wird aus dem schon Vorangehenden,
aber noch mehr aus dem später Ausgeführten ersehen, daß hier
alles sinnlich und geistig an den Menschen Herantretende als
Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten
Begriff erfaßt ist." - darzulegen würde hier zu weit
führen. So viel soll nur resümierend gesagt sein: Weil im
Erkenntnisvorgang immer - auf welchen Wahrnehmungstyp er
nun auch bezogen sein mag - vom Denken intuitiv der
ideelle Gehalt geschöpft, und die Wahrnehmung mit dem
intuitiv Gegebenen denkend durchsetzt wird,
deswegen ergibt es einen guten Sinn, wenn Steiner (S. 255)
hervorhebt, daß durch das intuitive Denken "eine
jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend
hineingestellt" werde. Das deckt sich vollständig mit dem,
was er bei Einführung des Intuitionsbegriffs zu der
Angelegenheit sagt. Da ist nichts Mystisch-Nebulöses, nichts
Abgehobenes, nichts Rätselhaftes drin, sondern nur eben
das, was er über den Erkenntnisvorgang ohnehin schon bis
dahin im philosophischen Schrifttum geäußert hat und auch in
der Philosophie der Freiheit schreibt. Denn die Sache
liegt für Steiner so, "daß alle in meiner «Philosophie
der Freiheit» vorgebrachten Grundanschauungen bereits in meinen
früheren Schriften ausgesprochen und in dem genannten Buche nur
in einer zusammenfassenden und sich mit den
philosophisch-erkenntnistheoretischen Ansichten vom Ende des
neunzehnten Jahrhunderts auseinandersetzenden Art vorgetragen
sind." (GA-21, Dornach 1976, S. 59) Der Ausdruck intuitives
Denken benennt also nichts wirklich Neues gegenüber
diesem älteren Schrifttum, sondern was dort gesagt wird,
findet sich auch in der Philosophie der Freiheit. Das
heißt: das intuitive Denken ist tätig sowohl bei der
Erkenntnis der gegenständlichen Welt, der seelischen und
auch der geistig-ideellen Welt; in letzterem Fall zum Beispiel
bei philosophischen Fragestellungen, wie sie die Abfassung
einer Schrift nach Art der Philosophie der Freiheit
aufwirft. Aber auch bei geistigen Erfahrungen, die über das, was
auf der Ebene der Philosophie der Freiheit anzusiedeln
ist, weit hinausreichen, worauf Steiner in den späteren
Anmerkungen zu seinen Grundlinien... ausdrücklich
hinweist. (Siehe Grundlinien einer Erkenntnistheorie der
Goetheschen Weltanschauung, GA-2, Dornach 1979, S. 137 f) Es
ist als erkennendes Denken ein Denken, das in Geistig-Wirkliches
tätig-empfangend hineinreicht, um Steiners Erläuterung aus der
Schrift Von Seelenrätseln (siehe oben) aufzugreifen.
Intuitives
Denken versus reines oder sinnlichkeitsfreies Denken
Für
Mystifikationen des intuitiven Denkens, so scheint mir,
gibt es in der Philosophie der Freiheit keinen Anlaß,
keine Materialgrundlage und auch keine theoretischen Spielräume.
Will man sich vorsichtig an dem orientieren, was Steiner
vortragsweise 1918 über das intuitive Denken sagt, indem
er es dort als sinnlichkeitsfreies Denken charakterisiert,
so hat man damit im Prinzip ganz gut die Sachlage getroffen.
(Siehe GA-67, Dornach 1962, S. 352; Vortr. Berlin 20. April 1918.
Siehe ebendort auch S. 336 ff im selben Vortrag wesentliches zur
Frage der in der Philosophie der Freiheit
vorausgesetzten Bewußtseinsverfassung.) Dies sagt zwar noch
nicht alles, aber immerhin wesentliches über das intuitive
Denken aus; einen Begriff, der ja nicht ohne Grund von Steiner in
der Zweitauflage neu eingeführt wird, und nicht an seiner
statt der des sinnlichkeitsfreien bzw. reinen
Denkens, der seinerseits mehrfach in der Schrift erscheint.
Deswegen spreche ich von vorsichtiger Orientierung. Denn
für das Verständnis dieses Buches sind nicht Steiners
Vorträge zuständig, sondern das, was in der Schrift selbst
steht. Das soll sagen: Die Differenzierung ist bewußt von
Steiner so gesetzt, und entspringt nicht seiner zufälligen
Verfasserlaune oder lediglich stilistischen Erfordernissen.
Die beiden Begriffe sind also nicht völlig
deckungsgleich, selbst wenn Steiner gelegentlich auch in
Aufsatzform die Bedeutungsvariante sinnlichkeitsfreies
Denken zu favorisieren scheint. (Siehe in diesem Sinne
verschiedene Stellen in GA-34,
Dornach 1987; S. 126; S. 494; S. 495) Das reine Denken
ist zwar stets ein intuitives Denken, aber nicht jedes
intuitive Denken ist ein reines Denken im engeren
Sinne. Eine Differenz ist vorhanden und vor allem: sie ist nicht
mehr vernachlässigbar wenn es darum geht, den Freiheitsgrad
der Erkenntnis im allgemeinen zu beurteilen. Man käme sonst
unter Umständen in die Verlegenheit, für den Fall der
sinnlichen Erkenntnis entweder ohne Handhabe dazustehen oder gar
der nicht mit dem Begriff des reinen Denkens im
engeren Sinne zu umfassenden sinnlich-gegenständlichen
Erkenntnis Unfreiheit zu attestieren und Freiheit nur jener
durch das reine Denken. Mehr als kurios wäre das, wenn
just jener exemplarische Fall von erkennender Betätigung, anhand
dessen Steiner den Intuitionsbegriff in der Philosophie der
Freiheit einführt, mit dem Begriff des intuitiven
Denkens selbst gar nicht erreichbar und die Wahrheit ausgerechnet
hier gar keine Freiheitstat wäre! Für denjenigen also,
der nach der Freiheit des Erkennens überhaupt fragt, ist es
daher nicht mehr harmlos, wie er mit dem Begriff des intuitiven
Denkens verfährt. Er muß schon genauer hinsehen - genauer,
als Steiner in Vorträgen und Aufsätzen hin und wieder selbst.
(Wie der Leser bemerkt haben wird, setze ich hier
sinnlichkeitsfreies und reines Denken gleich.
Das wäre im Einzelfall vielleicht noch einmal genauer zu
hinterfragen. Auf die Gesamtaussage hier, das intuitive
Denken betreffend, hätte eine weitere Differenzierung dort
allerdings keinen Einfluß. )
Wo aber liegt der
Unterschied? - Der Begriff des intuitiven Denkens setzt
einerseits (schon sprachlich) exakt am Moment der Intuition,
das heißt an der Geistigkeit des Erkennens selbst an, wie sie in
der Schrift eingeführt wird. Und er verfügt andererseits über
eine größere Weite und Anschmiegsamkeit, als der des
engeren sinnlichkeitsfreien oder reinen Denkens,
indem er das mit umgreift, was auch bei der Erkenntnis der
gegenständlichen Welt an Geistigkeit vorhanden ist. Und
nicht nur das: Er reicht sowohl nach unten, zur sinnlichen
Erkenntnis, als auch nach oben, zur rein geistigen Erkenntnis,
über den Bedeutungsradius des sinnlichkeitsfreien
oder reinen Denkens hinaus, und korrespondiert
infolgedessen auch mit der eben angedeuteten Erweiterung des
Wahrnehmungsbegriffes in der Zweitauflage, wonach "alles
sinnlich und geistig an den Menschen Herantretende als
Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten
Begriff erfaßt ist". Der Begriff des intuitiven
Denkens ist folglich auf jede Erkenntnis anwendbar. In
dieser Universalität gleicht er ganz und gar dem
Erkenntnisbegriff Steiners. Und das scheint mir auch einsehbar
konsequent. Denn wenn Wahrheit und Erkenntnis von Steiner als
Freiheitstat begriffen wird, als Grundlage von Freiheit überhaupt
aber das intuitive Denken gilt, dann muß freilich das
intuitive Denken in jeder dieser Wahrheits- und
Freiheitstaten vorhanden sein und ihnen diese Basis geben,
sonst hätten sie diesen Charakter nicht. Deswegen muß der
Begriff des intuitiven Denkens nach unten zum
Sinnlichen und nach oben zum Geistigen mindestens ebenso weit
reichen wie der Erkenntnisbegriff selbst. Insofern ist auch die
Geistigkeit dieses Denkens bereits bei einer sinnlichen
Erkenntnis erlebbar. Und die sinnliche Erkenntnis wegen
ihrer intuitiven Wesenheit ein Akt der Freiheit. Wenn
Steiner also in der Philosophie der Freiheit betont,
durch das intuitive Denken werde "eine jegliche
Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt",
dann heißt das auf die sinnliche Erkenntnis bezogen soviel wie:
Schon die Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmungswelt enthält
stets die entscheidenden Elemente des sinnlichkeitsfreien
oder reinen Denkens in sich - nämlich das intuitive,
begriffliche, geistige Element, das nicht aus der sinnlichen
Wahrnehmung stammt, in jeder Erkenntnis zu finden ist, die
Verbindung zur geistigen Wirklichkeit herstellt, und dadurch
den freiheitlichen Charakter dieses Erkennens garantiert. Was
sich nahtlos fügt zu einer Bemerkung an anderer Stelle, daß
nach seinem Verständnis ein "jedes Erkennen die
Gesetzmäßigkeit des reinen Denkens zur Voraussetzung hat".
(Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die
zeitgenössische Erkenntnistheorie.
Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35,
Dornach 1984, S. 321) In jedem Erkenntnisprozeß ist also
reines oder sinnlichkeitsfreies Denken vorhanden. Er ist
überhaupt nur Erkenntnisprozeß, soweit und insofern in ihm
reines Denken vorhanden ist. Und eben das bringt Steiner ja an
der zitierten Stelle zum Ausdruck, wenn er seinen
Intuitionsbegriff anhand einer Erkenntnis von Schnecke und
Löwe einführend erläutert und in diesem Zusammenhang von den
zwei Quellen der Erkenntnis spricht. "Mein Begriff
eines Löwen" sagt er auf S. 107 der Philosophie der
Freiheit, "ist nicht aus meinen Wahrnehmungen von
Löwen gebildet. Wohl aber ist meine Vorstellung vom Löwen an
der Wahrnehmung gebildet." Der Begriff einer Sache stammt
aus der Quelle der Intuition, die zur Wahrnehmung etwas
hinzufügt, aber nichts aus ihr herauszieht. In den Begriff geht
von der sinnlichen Wahrnehmung nichts ein, wohl aber in die
Vorstellung. Das intuitive Denken ist, wenn man sich an
Steiners oben erwähnte Erläuterung zum Intuitionsbegriff in der
Schrift Von Seelenrätseln hält, ein Denken, dem
sich auf den unterschiedlichsten Seinsebenen Geistig-Wirkliches
offenbahrt. Kurz und prägnant kann man es als eines
bezeichnen, das sich nach intuitiv gegebenen reinen begrifflichen
Inhalten richtet. Und als ein Denken, das sich nach begrifflichen
Inhalten richtet, ist es essentieller Bestandteil einer jeden
Erkenntnis. Das wird von Steiner nicht nur in der Philosophie
der Freiheit klar und unmißverständlich gesagt.
Deswegen läßt
sich vor dem Hintergrund des in der Philosophie der Freiheit
Gesagten auch nicht in Abgrenzung zu anderen Formen des
erkennenden Denkens von einem eigentlichen intuitiven
Denken sprechen, wie es ein von mir sehr geschätzter kritischer
Leser unlängst tat. Denn der Begriff intuitives Denken
ist Sammel- oder Oberbegriff für erkennendes Denken überhaupt,
der nur Binnendifferenzierungen erlaubt - etwa in Richtung reines
Denken. Aber keine Bewegungsräume mehr bietet in Richtung auf
ein noch eigentlicheres intuitives Denken. Man kann
allerdings von einem eigentlichen reinen
Denken sprechen, wenn man ein intuitives Denken
meint, daß sich - etwa bei philosophischen oder mathematischen
Fagestellungen - ausschließlich mit sinnlichkeitsfreien
Begriffen erkennend auseinandersetzt. Wo also auch auf der
Wahrnehmungsseite nichts Sinnliches, sondern nur
Geistig-Ideelles gegeben ist. Erkenntnis besteht für
Steiner immer in der Synthese von Wahrnehmung (gleich
welcher Art, ob sinnlich oder ideell-geistig) und Begriff,
schließt also per definitionem immer begriffliches, reines
Denken ein. (Siehe Grundlinien ... a.a.O., S. 137 f) Eine
Erkenntnis ohne dieses intuitive, begriffliche Denken
wäre für Steiner gar keine, nicht vorstellbar - ein Unding. Die
erkenntnistheoretisch, freiheitsphilosophisch und
bewußtseinsphänomenologisch herausragendste Eigenschaft
des intuitiven Denkens liegt darin, neben allen übrigen
Daseinsbereichen sich auch selbst erkennen und erklären zu
können. Aber es ändert im letzten und entscheidenden Fall - der
Beobachtungs des Denkens selbst - nicht die Art seiner Funktion,
sondern nur den Inhalt oder Objektbereich mit dem es sich
erkennend befaßt, indem es - intuitiv erlebend - ganz bei
sich bleibt. ("Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ
derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet.") Man
könnte doch allenfalls in bezug auf diese
Selbsterklärungsleistung des intuitiven Denkens noch von
einem eigentlichen intuitiven Denken sprechen. Dafür
aber bietet die Philosophie der Freiheit keinerlei Anhalt.
Denn hierfür verwendet Steiner wahlweise die Ausdrücke
Beobachtung, Betrachung, Anschauung des
Denkens oder auch Denken über das Denken. Tätigkeiten,
die vom intuitiven Denken vollzogen werden. Man kann also
nur nach Objektbereichen oder Wahrnehmungstypen weiter
spezifizieren, an denen sich das intuitive Denken
erkennend betätigt. Je nachdem, ob es sich mit dem sinnlichen,
seelischen oder geistig-ideellen Bereich erkennend befaßt. Zum
eigentlichen intuitiven Denken gehören indessen
sämtliche Erscheinungsformen, in denen es aufzutreten vermag. So
wie zur eigentlichen Währung Frankreichs sämtliche
Erscheinungsformen dieser Währung gehören - also auch
Zwei-Cent-Münzen und nicht nur Zwanzig-Euro-Scheine.
Davon abgesehen:
Auch das reine oder sinnlichkeitsfreie Denken im
engeren Sinne und für sich genommen birgt keinen Anlaß für
Mystifikationen. Die Befähigung dazu, der ausschließliche
intuitive Umgang mit reinen Begriffen und Ideen ist unter
den gegenwärtigen kulturellen Bedingungen ein durchaus
normales menschliches Vermögen, wenn auch nicht überall gleich
ausgeprägt. - Es ist bereits ein Vermögen des naiven
Bewußtseins. (Siehe hierzu etwa: Renatus Ziegler, Reines
Denken und reine Begriffe: Einwände und Widerlegungen, in
Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 2004, S. 71
ff.) Und dieses setzt in keiner Weise ein Wissen um den tätigen
Ursprung des Denkens voraus, sonst müßte der reine Denker
apriori ein Beobachter respektive Erkenner des Denkens sein. Man
sollte dann die Beobachter des Denkens mit Vorrang bei den
Mathematikern suchen, was so natürlich Unsinn ist. In der
ungebührlichen Vermengung dieser beiden Sachebenen bei da
Veiga Greuel, so meine ich, steckt unter Umständen weit mehr als
nur ein persönliches Mißverständnis des Autors, sondern
möglicherweise ein ernstes Verständnisproblem einer
spezifischen philosophischen Schule innerhalb der Anthroposophie.
Nebenbei gesagt:
Dieses Entdecken und philosophische Begründen des
Freiheitscharakters des erkennenden Denkens gleichermaßen wie
der darauf sich stützenden Freiheit des Handelns, hat
Steiner eigenen Worten zufolge ganz persönlich als ein
außerordentlich mühevolles Geschäft erlebt. Dermaßen
mühevoll, daß er, wie er am 4. November 1894 an die
Schriftstellerin Rosa Mayreder schreibt, vor lauter
Schwierigkeiten gar nicht daran denken konnte, seinen Lesern
einen Verständnisweg zur Lösung der Freiheitsfrage zu ebnen,
sondern vorrangig und nahezu ausschließlich sich selbst. Und
dabei auch noch manche Hürde gewaltsam überspringen mußte:
"Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich versucht,
die geeigneten Wege sogleich für andere zu suchen. Ich bin
meinen gegangen, so gut ich konnte; hinterher habe
ich diesen Weg beschrieben. ... Willkürlich, ganz
individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch
Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise
durchgearbeitet. Wenn man ans Ziel kommt, weiß man erst,
daß daß man da ist." (Siehe,
GA-39, Dornach 1987, Brief Nr. 402) Das ist nicht höflich
zurückhaltendes Understatement eines brillianten
philosophischen Kopfes, sondern durchaus im Wortsinne zu nehmen
und kennzeichnet eine rezeptionsgeschichtliche Sachlage, an
der seine philosophischen Schüler bis heute hart zu beißen
haben. Es rückt auch von dieser konkreten,
forschungspraktischen Seite den erkennenden und entdeckenden
Charakter der von ihm dabei verwendeten und später intuitives
Denken genannten Methode in ein deutliches Licht.
Weil für Steiner
jedes Erkennen auf den oben genannten intuitiven Teil
zurückgreift - unabhängig davon, ob dem Denker diese Tatsache
bewußt ist oder nicht - kann das intuitive als
erkennendes Denken auch von jedem naiven Denker ausgeübt werden,
und wird auch von jedem erkennenden Denker ausgeübt. Und nicht
erst dann, wenn dieser bereits ein Wissen um den tätigen
Ursprung des Denkens hat. Das scheint mir auch eine
Notwendigkeit. Nicht nur weil entdeckendes und entdecktes -
respektive beobachtendes und beobachtetes - Denken
wesensgleich sind. Sondern auch, weil erst nach der
Entdeckung um bestimmte Sachverhalte des Denkens gewußt
wird. Wer aber sollte darüber prüfend und abwägend befinden,
ob eine Einsicht bezüglich des Denkens zutreffend ist oder
nicht, wenn nicht das entdeckende Denken selbst? Ursprünglich
entdeckt werden aber kann das Denken nur von einem Denken,
das noch nichts von sich weiß. Also: Auch dieses
selbstentdeckende Denken ist ein intuitives - erkennendes.
Also ist zu sagen: Das intuitive Denken muß nicht
notwendigerweise auch intuitiv erlebt werden. Und
zwar wird es dann nicht intuitiv erlebt, wenn der
Denker seine erlebende Aufmerksamkeit nicht eigens auf den
Aktivitätsaspekt dieses Denken hin orientiert. Oder auch dann,
wenn er selbst das Denken noch nicht für sich entdeckt hat, und
für diesen Bereich seiner inneren Aktivität noch nicht
sensibilisiert ist. Dann vollzieht er zwar im Erkennen das
intuitive Denken, aber es fällt in seinem besonderen
Tätigkeitscharakter aus seinem Erlebnishorizont heraus, weil er
diesem keine gesonderte Aufmerksamkeit schenkt - was ja in den
meisten Fällen, während wir uns erkennend betätigen,
zweifellos der Fall ist; wenn wir zwar um Eigenarten des Denkens
wissen, aber gleichwohl situativ bedingt nicht darauf achten.
(Letzteres gilt auch für den Vorgang des reinen Denkens,
wenn wir etwa von der Fragestellung derart absorbiert sind,
daß wir unserer Tätigkeit keine Aufmerksamkeit zuwenden,
sondern nur dem Inhalt des Denkens.) In diesem Fall hat der
Denker nur die Resultate seines Denkens (den ideell
wahrgenommenen begrifflichen Gehalt) im Bewußtsein, aber nicht
den intuitiven Vorgang des Denkens selbst. Das heißt: die
Wahrnehmung der Selbstbetätigung - eines der von Steiner
angeführten beiden Kennzeichen für ein intuitiv erlebtes
Denken - hat in diesem Fall nicht stattgefunden, wohl aber ein
intuitives Denken. Das intuitive Erleben
ist allerdings dann unverzichtbar, wenn es um die Erkenntnis
des eigenen Denkens geht, vor allem, aber nicht nur,
hinsichtlich des Aktivitätsaspektes dieses Denkens. Und
erst hier könnte man davon sprechen, daß der naive
Bewußtseinsstandpunkt gegenüber dem eigenen Denken
verlassen und einem kritischen - sprich: faktisch erkennenden
- gewichen ist. Man könnte präzisierend sagen: das intuitive
Erleben des Denkens ist eine methodische Voraussetzung
für eine Erkenntnis des Denkens, die sich nicht nur der
bloß formalen, logischen Seite des Denkens widmet (etwa im
Rahmen einer erkenntnistheoretischen Erörterung),
sondern der faktischen, bewußtseinsphänomenologischen,
erkenntnispsychologischen - und auch seiner rein geistigen Seite.
Man kann also
festhalten, und hier gibt es vielleicht eine gewisse Brücke der
Verständigung zu Marcelo da Veiga Greuels Ansicht: Wenn ich
ernsthaft und begründet von eigenem Denken oder einer
moralischen Intuition als Grundlage meiner freien Handlung reden
will, dann muß ich idealerweise über das Zustandekommen
dieses Gedankens bzw dieser moralischen Intuition im
Einzelfall dezidiert Auskunft geben können. Und das kann ich
letzlich ja nur, wenn ich in der Lage bin, vor mir selbst zu
rechtfertigen, daß beidem eine echte Denkleistung
meinerseits zugrunde liegt, und nichts anderes, wie etwa
Eingebungen und dergleichen. Und das wiederum setzt
verständlicherweise voraus, daß ich diesen Denkvorgang wirklich
auch in den Einzelheiten intuitiv erlebt habe. Ihn also
als meine eigene Erkenntnisleistung, als meine freie Schöpfung
anerkennen kann, die auf eigener Tätigkeit basiert und nichts
sonst. Ich muß also hier ein verläßlicher Zeuge meiner Denk-
oder Erkenntnisleistung gewesen sein. Und das ist übrigens
etwas, was im Prinzip jeder Mensch leisten kann, sofern er
nur mit Aufmerksamkeit auf das Zustandekommen seiner Gedanken
achtet, und zu unterscheiden vermag, was nur Assoziation oder
Eingebung ist, und was eigenes Denken ist.
Ein
vielversprechender aber noch etwas unvollständiger Ansatz
bei Renatus Ziegler
Für
interessierte Leser sei aus aktuellem Anlaß noch erwähnt: Das
Verständnis vom intuitiven Denken wie es hier anhand
des Quellenmaterials herausgearbeitet wurde, ist weitgehend
deckungsgleich mit demjenigen, das Renatus Ziegler in seiner
jüngsten Buchveröffentlichung Intuition und
Ich-Erfahrung, Stuttgart 2006, zugrunde legt, aber
dort nicht näher belegt. Anders gesagt: es deckt sich
weitestgehend mit Steiners Begriff des reinen
Denkens. Und dies läßt sich, so glaube ich wenigstens
ansatzweise gezeigt zu haben, auch gut an den einschlägigen
Texten Steiners nachweisen. Und zwar ganz unabhängig von Ziegler
selbst, oder den Forschungszusammenhängen in denen er
persönlich steht. Bei Ziegler fehlt wie gesagt ein solcher Beleg
noch, obwohl er es sicherlich ebenfalls belegen könnte. Daß
es dort nicht hinlänglich geschieht, dafür gibt es viele
Gründe, die nicht allein nur beim Autor liegen.
Für den Leser,
vor allem wenn er mehr in akademischen Kontexten oder im Rahmen
der Steinerforschung arbeitet, ist Zieglers Buch deswegen leider
nur bedingt - z. B. als wertvolle und anregende Verständnishilfe
- nutzbar zu machen, weil er in wissenschaftlichen Kontexten
natürlich quellenkritische Nachweise benötigt, die auch
demonstrieren können, daß er Steiner nicht lediglich eine
subjektiv-willkürliche Lesart seiner Begrifflichkeit
aufprojiziert. Insbesondere bei Begrifflichkeiten wie
Beobachtung des Denkens oder intuitives
Denken, die unhinterfragt zu so hochgradig abenteuerlichen
Verständnisansätzen führen, wie es hier an einigen Beispielen
gezeigt wurde, ist das notwendig. Und so ein Prüfungsnachweis
läßt sich der inneren Konsistenz der Gedankenführung eines
Autors allein nicht entnehmen; diese mag im übrigen noch so
scharfsinnig sein, und der Autor gar wie im vorliegenden Fall
Lehrbuchansprüche anmelden.
Die Frage ist
eben, ob sein Brückenschlag von der Untersuchung des Denkens zur
Philosophie der Freiheit auch sachlich zu rechtfertigen
ist. Konkret: Ist sein Verständnis etwa vom intuitiven
Denken dasselbe, wie es Steiner in seiner Schrift meint? Das läßt
sich nun einmal nur durch eine Untersuchung der von Steiner
publizierten Texte und einen entsprechenden Vergleich
herausfinden. Bezüglich dieser begrifflichen Klärung des
intuitiven Denkens aber steht Ziegler bedauerlicherweise
kaum anders da als etwa Prokofieff, Kirn, Lowndes oder da Veiga
Greuel, dessen persönlicher Mythos vom intuitiven
Denken noch heute seine Spuren in wissenschaftlichen
Publikationen um die Waldorfpädagogik hinterläßt. (Siehe:
Marcelo da Veiga, Diskursfähigkeit der Waldorfpädagogik und
ihre bildungsphilosophischen Grundlagen, in: Horst Philip
Bauer/Peter Schneider, Waldorfpädagogik. Perspektiven eines
wissenschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M, 2006, S. 27; S. 34.)
Bei einer Schrift, die laut Verfasser Lehrbuchcharakter hat, ist
das eigentlich nicht hinnehmbar. Auch nicht hinnehmbar, daß ein
so regelmäßig mißverstandener Schlüsselbegriff, an dem das
ganze Freiheitsverständnis der Philosophie der Freiheit
letztlich hängt, nicht einmal als terminus technicus im
ausführlichen Sachregister dieses Lehrbuchs Erwähnung findet.
Ich glaube für den Nutzer seiner Schrift hätte Ziegler am Ende
mehr getan, wenn er diesen Begriff eingehender geklärt
hätte, als um jeden Preis bei der auf nur hypothetischem Niveau
behandelten Reinkarnationsfrage anzukommen. Seine Leser müssen
es ihm letzten Endes vertrauensvoll abnehmen, daß er den Begriff
des intuitiven Denkens adaequat wiedergibt. Vertrauen
aber, um ein Wort Zieglers aus seinem Buch aufzugreifen, hat in
Erkenntnisfragen nichts zu suchen.
Wäre, was er
dort vorträgt, nicht trotz dieser Schwäche so weitgehend
kongruent zu dem, was ich selbst auf dieser Internetseite
versuche den Lesern nahezubringen, dann würde ich mich nicht für
dieses Buch stark machen. So kann man vielleicht ersatzweise all
den anderen Lesern sagen, daß sie sich im großen und
ganzen ohne weiteres auf den Gedankengang Zieglers einlassen
können, weil er mit Steiners Schrift und dessen Verständnis vom
intuitiven Denken, von einigen marginalen Details einmal
abgesehen, kompatibel ist. Und sie werden außerordentlich davon
profitieren. Bei Dingen, die weiter weg von der Philosophie
der Freiheit liegen und mehr den Charakter von logischen
Schlußfolgerungen oder nachgeschobenen erkenntnisphilosophischen
Reflexionen haben, müssen sie ohnehin genauer hinsehen und
prüfen. Denn da ist manches mit einer gewissen Vorsicht zu
genießen. So glaube ich zum Beispiel, daß das von Ziegler auf
S. 178 ff eingeführte Aktualitätsprinzip seinen eigenen
Erkenntnisbegriff in große Schwierigkeiten bringt, weil
dieses Prinzip auf das Erkennen von Denken und Erkennen nicht
uneingeschränkt anwendbar ist. Und was der Autor etwa auf
S. 209 f über die Erinnerung sagt, scheint mir empirisch wenig
gesättigt und unausgegoren, teilweise gar kurios. Aber
davon abgesehen - es ist soweit ich sehe das erste mal, daß es
im Rahmen einer Buchveröffentlichung gelungen ist, den
Gedankengang der Philosophie der Freiheit einigermaßen
konsistent in etwas Geisteswissenschaftliches zu überführen
- und zwar anhand des eigenen Erlebens und nicht nur der
Wiedergabe anthroposophischer Steinerzitate. Ziegler macht da
wirklich ernst mit Steiners Aufforderung vom Ende des Kapitels
Die Konsequenzen des Monismus: "Vom lebendigen
Ergreifen des in diesem Buche gemeinten intuitiven Denkens
wird sich aber naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die
geistige Wahrnehmungswelt ergeben." In dieser Hinsicht ist
es ungeachtet der fehlenden Nachweise und mancher internen
Schwierigkeiten sicherlich mit das Beste, was die
anthroposophische Bewegung derzeit zu bieten hat.
*
In der Vorrede
von 1918 zur Philosophie der Freiheit macht Steiner eine
Angabe über seine Beweggründe für Veränderungen und
Erweiterungen der Schrift im Zuge der Neuausgabe. Er nennt (S.
10) nur zwei Anlässe dafür: "Nur längere Zusätze habe
ich zu einer ganzen Reihe von Abschnitten gemacht. Die
Erfahrungen, die ich über mißverständliche Auffassungen
des von mir Gesagten gemacht habe, ließen mir solche
ausführliche Erweiterungen nötig erscheinen. Geändert
habe ich nur da, wo mir heute das ungeschickt gesagt schien, was
ich vor einem Vierteljahrhundert habe sagen wollen."
Wenn man Steiner hier sehr streng folgt, dann steht sachlich in
der Zweitausgabe dieses Buches dasselbe wie in der Erstausgabe,
nur um Ungeschicklichkeiten und Mißverständliches bereinigt.
Nun finden sich seine Ausführungen über das intuitive
oder intuitiv erlebte Denken ausschließlich in solchen
späteren Zusätzen, die dazu dienen Ungeschicklichkeiten
oder Mißverständliches auszuräumen. Frage: Was ist denn da so
mißverstanden worden, daß Steiner sich genötigt sieht den
Aspekt des erlebten gegenwärtigen Denkens mehrfach aufzugreifen
und in geradezu definitorischer Weise zu präzisieren? Warum
spricht er in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit
vom intuitiv erlebten Denken? Warum wird jetzt gesagt, was
1894 noch nicht zu lesen ist: Das intuitiv erlebte Denken
sei eine Wahrnehmung, "in der der Wahrnehmende selbst
tätig ist, und" auch " ... eine Selbstbetätigung, die
zugleich wahrgenommen wird"? Obwohl im Grundsätzlichen
doch sachlich die Zweitauflage nichts anderes enthält als
die erste. - Eine mögliche und plausible Erklärung dafür
finden Sie in meiner Arbeit über Walter
Johannes Stein auf dieser Homepage.
Für weitere
Einzelheiten darf ich den Leser an einen anderen Aufsatz auf
dieser Homepage verweisen. (Über
das Zusammenfallen von
Wahrnehmung und Begriff und intuitives Denken
)
*
Warum
die Klärung des intuitiven Denkens überhaupt notwendig ist
Vielleicht noch
eine letzte Bemerkung zu diesem zweiten Abschnitt für Leser,
denen der ganze Aufwand der begrifflichen Klärung um das
intuitive Denken noch nicht recht einleuchtet.
Einiges dazu habe ich schon im Kommentar zu dieser Arbeit
angedeutet. Das wichtigste Argument ist sicherlich, daß man
Steiners Freiheitsbegriff nicht verstehen kann wenn man nicht
weiß, was das intuitive Denken ist. Eine Folge
davon sollte man sich vor Augen führen: Ein so hehres Motto wie:
Erziehung zur Freiheit, mit dem sich Waldorfschulen gern
schmücken, entbehrt bis heute jeder tieferen
Verständnisgrundlage und bleibt ohne eine solche letztlich
hohl.
Und diese
Grundlage ist, nach allem was ich sehe, bislang tatsächlich
nicht vorhanden. Nicht, daß sie Steiner nicht gegeben hätte,
aber niemand scheint sie bislang begriffen zu haben. Exemplarisch
kann man diese Sachlage fassen, wenn man das umfangreiche und um
Fundierung bemühte Buch Stefan Lebers zur Hand nimmt, das
sicherlich die Frucht eines lebenslangen Ringens um
Verständnis auf hohem Niveau genannt werden kann: Die
Menschenkunde der Waldorfpädagogik, Stuttgart 1993. Ins Auge
fällt die eigentümliche Sparsamkeit, mit der Leber dem
Steinerschen Freiheitsbegriff dort im allgemeinen und vor
allem im einschlägigen Kapitel Anthropologie des
Individualismus und der Freiheit (S. 23 ff) nachgeht.
Dieses Kapitel etwa beginnt zwar mit der Bemerkung, daß
Steiner in seiner Erkenntniswissenschaft einen "empirischen
und keinen spekulativen Nachweis der Möglichkeit
menschlicher Freiheit" geführt habe. Nur: wie
dieser Nachweis wirklich aussieht, darüber gibt es bei Leber
keinen stringenten Aufschluß, sondern nur mehr oder weniger vage
Andeutungen. Über Gründung der Freiheit im intuitiven
Denken schließlich - das ist ja das Entscheidende - erfährt man
nichts, auch nicht mittelbar. So daß mit Blick auf das intuitive
Denken der Leser verschiedener anthroposophischer Bücher
die Wahl zwischen verschiedenen Extrempositionen hat:
die Grundlegung der Freiheit entweder im fantastischen
überlogischen Jenseits der Philosophie à la Lowndes oder
Kirn zu suchen, oder in den erkenntniswissenschaftlichen
Niederungen von Wahrnehmung und Begriff. Manchmal auch
irgendwo dazwischen. Logisch paßt das alles wohl nicht
recht zusammen. Und das ist schon bemerkenswert, wenn das
anspruchsvolle Buch Lebers - Untertitel: Anthropologische
Grundlagen der Erziehung des Kindes und Jugendlichen - kaum
schlüssige Angaben macht über die eigene philosophische Basis
der anthropologischen Kategorie Freiheit. Da Stefan
Leber gewiß kein Bruder Leichtfuß war, Steiner auf der
anderen Seite aber eine solche Begründung explizit gegeben
hat, kann man seriöserweise nur vermuten: Leber hat das Thema
aus strategischen Gründen so sparsam behandelt, weil auf der
Rezeptionsebene zu vieles unklar und ungesichert ist. Für
eine Waldorfpädagogik mit wissenschaftlichem
Fundierungsanspruch ist das wenig befriedigend. Die
Fragestellung sollte also dem Bund der Waldorfschulen
mindestens drei Dissertationen wert sein, sofern man dort
Einfluß darauf hat.
Ein
Wort zur desolaten Forschungskultur in der anthroposophischen
Bewegung
Daß sich an
dieser Stelle eine Fragestellung auftut, die vielen sich
wissenschaftlich um die Waldorfpädagogik Bemühenden noch
wenig bewußt ist, läßt sich am jüngsten von Horst
Philipp Bauer und Peter Schneider herausgegebenen
Sammelband Waldorfpädagogik. Perspektiven eines
wissenschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M, 2006 ablesen.
Ein ausgezeichnetes, lesenswertes Buch, dessen kritisch
reflektierende Positionen man im großen und ganzen nur
unterstreichen kann. Da werden viele in der Waldorfbewegung
offenbar werdenden Fragen und Schwierigkeiten beherzt
aufgegriffen und benannt. Und dennoch fehlt diesem Buch aus
meiner Sicht etwas ganz entscheidendes: Die explizite und
pointierte Forderung nach der internen methodenbewußten
wissenschaftlichen Aufarbeitung und Klärung der
philosophisch-anthroposophischen Quellen dieser
Waldorfpädagogik.
Die Tatsache, daß
der Rationalitätsnachweis der Steinerschen Anthroposophie
von den eigenen vor allem wissenschaftlich orientierten und
arbeitenden Anhängern dieser Bewegung in vielerlei Hinsicht
noch gar nicht adaequat verstanden worden ist, und die Lösung
manches gravierenden Problems noch in weiter Ferne zu liegen
scheint, wird dort weitestgehend ausgeblendet. Dabei hätte
dieser Fragestellung dort seiner faktischen Bedeutung nach,
so glaube ich, mindestens ein eigenständiger Beitrag gewidmet
werden müssen. Tatsächlich aber läßt sich ein solches
Anliegen soweit ich sehe allenfalls höchst mittelbar
beispielsweise aus den Beiträgen Peter Schneiders
entnehmen. Und auch die von Marcelo da Veiga (S. 22) formulierte
Aufforderung: "Die Waldorfpädagogik und die sie
begründende anthroposophische Geisteswissenschaft müssen
in Theorie und Praxis kritisch reflektiert, beforscht und
gewürdigt werden ..." steht da noch sehr vereinzelt und
blaß nur allgemein programmatisch, ohne eine nähere Beleuchtung
dessen, was daraus an konkreten Fragestellungen und
Forschungszielen bezüglich dieser begründenden
Geisteswissenschaft zu entnehmen ist. Zwei vage Sätze, wenn man
großzügig ist drei, werden über diesen Kardinalpunkt fallen
gelassen. Weit davon entfernt Problembewußtsein in dieser
Angelegenheit zu vermitteln oder gar zu demonstrieren. Da
wird nicht etwa davon gesprochen, daß es beispielsweise
bezüglich des intuitiven Denkens so vielerlei
unterschiedliche und kaum belegte Verständnisansätze gibt, die
untereinander nicht verträglich sind, aber auch nicht diskutiert
werden. Oder so viele undiskutierte Versionen dessen
existieren, was bei Steiner Beobachtung des Denkens sein soll.
Daß manche da gar von einem Erzeugungsproblem des Denkens
reden und man diesem Thema vielleicht einmal kritisch nachgehen
sollte. Daß es bis heute keine verbindlichen
Interpretationsstandards über die Philosophie der Freiheit
gibt, und viele Autoren, selbst Mitglieder des Dornacher
Vorstandes, darüber zu schreiben scheinen was ihnen beliebt,
ohne sich um Belege und Nachweise zu kümmern oder irgend ein
tiefer gehendes Verständnis zu zeigen. Daß darüber auch kaum
öffentlich debattiert wird, weil das anscheinend nicht zum guten
Ton in dieser Bewegung gehört, und alle offenbar irgendwie
nebeneinander her und aneinander vorbei reden, ohne sich
gegenseitig - von Ausnahmen abgesehen - kritisch aufzugreifen
und zu beleuchten.
Das jüngste Buch Prokofieffs zur Philosophie der Freiheit
ist vielleicht ein krasser Fall, aber so ungewöhnlich
für die anthroposophische Szene auch wiederum nicht: Der
Autor verweist in seinem Anmerkungsapparat über hundert mal
auf Rudolf Steiner, und vielleicht zehn mal auf übrige
anthroposophische Sekundärliteratur ohne näher auf Details
einzugehen. Kritisierte Literatur wird überhaupt nicht
genannt, obwohl er sich über philosophische Autoren einige
heftige Ausfälle leistet, und hält schließlich einen
einzigen Verfasser mehr als siebzig mal für zitierwürdig:
nämlich sich selbst. Darin liegt viel Exemplarisches:
Man bindet andere in Büchern nicht wirklich ein, noch nicht
einmal wenn man sie öffentlich kritisiert. Publikationen
dieser Art haben einen unverkennbar egozentrischen und
selektiven Charakter. Ein großer Teil der wissenschaftlich
relevanten Fakten wird bewußt ausgeblendet,
zurückgehalten und dem Leser vorenthalten. Es geht nicht
darum über eine Sachlage möglichst breit und facettenreich
problemorientiert zu unterrichten, sondern die spezifische
Sichtweise eines Autors konzentriert, wirkungsmächtig und
unrelativiert von anderen Auffassungen ins Publikum zu
tragen. Ein Schelm, wer da an die Nähe zur politischen
Propaganda denkt. [Siehe Sergej O. Prokofieff,
«Anthroposophie und die Philosophie der Freiheit», Dornach
2006]
Renatus Ziegler vermeidet in seinem erwähnten letzten Buch
die Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen unter
Hinweis (S. 29) darauf, daß dann sein Buch nicht zustande
gekommen wäre. Obwohl das von ihm behandelte Thema mehr als
strittig ist unter den Bearbeitern von Steiners
philosophischem Werk und genügend publizierte Auffassungen
existieren, die mit der seinigen nicht vereinbar sind. Die von
Ziegler vorgebrachte Begründung hätte auch Prokofieff
vorbringen können. Es ist ein wahrer argumentativer Joker,
der beliebig oft gezogen werden kann und jeden Kritiker zum
Schweigen bringen muß, weil ja nichts nachvollziehbarer
ist als das. Nur mit Wissenschaft hat das alles nichts zu tun.
Wenn ein Autor ein Lehrbuch verfaßt zu einem teilweise
hochproblematischen und kontrovers behandelten
Forschungsgegenstand namens Philosophie der Freiheit,
ohne ein Bewußtsein für die heikle Forschungslage zu
demonstrieren oder seinem Leser gar zu vermitteln. Sich
stattdessen mit der Bemerkung dieser Aufgabe entledigt, sein
Buch wäre dann nicht zustande gekommen. Dort eine Serie
strenger Erkenntnisgesetze formuliert und doch selbst,
abgesehen von bescheidenen Textkommentierungen (näheres dazu
siehe hier),
keinen brauchbaren am Forschungsobjekt festgemachten
Nachweis dafür liefert, daß er die umstrittene
Begrifflichkeit der Philosophie der Freiheit auch
adaequat behandelt: dann gehört das mit zu den
wissenschaftlich-existentiellen Kuriositäten der
anthroposophischen Bewegung.
Prokofieff und
Ziegler stehen sich qualitativ zwar auf der einen Seite wie
Antipoden gegenüber, aber in dieser Art der
wissenschaftlichen Einbindung ihres Umfeldes sind sie
sich innerhalb gewisser Grenzen ähnlicher als man wünschen
möchte. Daß es da noch einen betroffenen Leser gibt, der
dezidierten Anspruch darauf hat über gewisse Dinge,
Schwierigkeiten und Forschungsprobleme mit aufgeklärt zu
werden, spielt offenbar in den Überlegungen der Verfasser nur
eine untergeordnete Rolle. Und auch das scheint mir
charakteristisch für das anthroposophische
Publikationswesen: Da stellt man einen Haufen miteinander
unverträglicher Literatur beziehungslos nebeneinander
hin und halst dem ahnungslosen Leser die Verantwortung dafür
auf, sich in diesem literarischen Konglomerat
zurechtzufinden. Derjenige, der in der Regel ja kein
Fachmann ist, soll jetzt darüber befinden was davon
akzeptabel oder inakzeptabel ist. Diejenigen Autoren aber, die
es zumindest besser wissen müßten und ihm dabei dienlich
sein könnten, schweigen sich aus. Das kann schlechterdings
nicht funktionieren und muß auf Dauer dazu führen, daß
nicht das sachlich Angemessene sich durchsetzt, sondern
was die unaufgeklärte Erwartungshaltung der meisten
Leser bedient.
Zu welch
kontraproduktiven Blüten auch in eben diesem Sinne dieser
Verzicht auf öffentliche Kritik und das damit verbundene
Benennen von Forschungsproblemen führt, wird im erwähnten
Buch Prokofieffs evident. Ein exemplarisches und
folgenschweres Beispiel dafür, was passiert, wenn dann
so ein unaufgeklärter Leser selbst zum Autor wird und seine
eigene Unwissenheit literarisch weiter transportiert:
Prokofieff ist so ein Ahnungsloser, der dieser Strategie zwar
selbst folgt, aber ihr gleichzeitig auch zum Opfer fällt.
Seine dortige (S. 34) für Sachkundige kaum zu begreifende
Forderung nach einer Überwindung der "bloß"
philosophisch-philologischen Zugangsweise zur Philosophie
der Freiheit ist nicht allein, aber maßgeblich auch damit
zu erklären, daß er sehr schlecht informiert ist über die
außerordentlichen Schwierigkeiten eines Zugangs zu diesem
Werk schon auf dieser "bloß" philosophischen Ebene.
(Näheres siehe hier)
Vergleichbares gilt für die Vorhaltungen, die er
philosophischen Autoren gegenüber auf S. 243 erhebt. Ihm
fehlt augenfällig die Einsicht und Übersicht über
Forschungslage und Forschungsproblematik zur Philosophie
der Freiheit. Nur so scheinen mir angesichts dieser
Forschungslage derart blauäugige und wirklichkeitsfremde
Ansprüche verständlich. Denn so kann nur ein
Anfänger urteilen und fordern, dem jede nennenswerte
Forschungserfahrung mit der Philosophie der Freiheit
abgeht. Aber woher, so möchte man sich fragen, sollte er
diese Übersicht auch haben als interdisziplinärer
Grenzgänger? Als jemand, der in der Anthroposophie, aber
allenfalls besuchsweise in der Erkenntnistheorie bzw. der
Philosophie der Freiheit zu hause ist? (Man vergleiche
dazu sein Nachwort S. 243 ff.) Wie sollte er das überschauen,
wenn nicht einmal von jenen öffentlich etwas davon
thematisiert wird, die sich weit besser auf diesem Sachgebiet
auskennen als er selbst?
Hält man sich
die forschungspraktischen Konsequenzen aus Prokofieffs
Forderungen in seinem Buch vor Augen, dann heißt das nichts
anderes als: im Endeffekt führt die Enthaltsamkeit von
problemorientierter öffentlicher Kritik hier dazu, daß
der Dornacher Vorstand aus schierer Unwissenheit den
forschenden Philosophen (und letztlich auch sich selbst) das
Wasser abgräbt für essentiell wichtige Forschungsarbeit. Und
das wird natürlich nicht nur bei einer literarischen
Wasserabgrabung bleiben, sondern auch faktisch umgesetzt
werden. Da sollte man sich nicht von Illusionen leiten
lassen: Dies wird seine ganz realen und pragmatischen
Auswirkungen auf die anthroposophisch-gesellschaftliche
Entwicklung und die Forschung dort haben, wenn sich bei den
Entscheidungsträgern und Multiplikatoren im Dornacher
Vorstand Überzeugungen wie diejenigen Prokofieffs
festsetzen. Das bitte ich all jene sich vor Augen zu führen,
die mir gelegentlich Vorwürfe machen weil ich manchmal etwas
sehr kritisch mit anthroposophischen Autoren umgehe, und dies
ja so gar nicht dem anthroposophischen Positivitätsideal
entspricht. Gerade der Fall Prokofieff zeigt, daß eine
Bewegung, die ihre Forschungsprobleme nicht öffentlich
thematisiert und hier für Transparenz sorgt, über kurz oder
lang mehr davon und weit gravierendere bekommt als ihr lieb
sein kann. Da deutet sich schon jetzt ein Szenario als real
möglich an, wo selbst ein Buch wie dasjenige Zieglers im
anthroposophischen Rahmen gar nicht mehr publizierbar sein
wird. Die Tendenzen dahin sind allemal vorhanden.
(Die
Wirklichkeit ist manchmal schneller als ihr Vorausdeuter es
ahnte. Inzwischen - Herbst 2008 - wird Ziegler mit seinem Buch
ganz offen schon als Gegner Steiners und der Anthroposophie
gehandelt. So von einer Frau Mieke Mosmuller. Und deren
Rezensent im Europäer von Thomas Meyer, Nr. 12,
Oktober 2008, S. 21 f, ist auch noch arglos und unbesonnen
genug, die kritische Frage zu unterlassen, welchen Sinn es
wohl haben kann, wenn ein Anthroposoph einen anderen, der
ersichtlich ernsthaft um Verständnis bemüht ist, ganz
öffentlich und in Buchform als Gegner Steiners und der
Anthroposophie etikettiert, nur weil der bei manchen heiklen
Sachfragen anderen Auffassungen zuneigt als er selbst. Und ob
diese Fundamentalkategorisierung nach Gegnerschaft in
anthroposophischen Forschungszusammenhängen wirklich
angemessen ist, oder nicht eher Ausdruck einer gewissen
paranoidoformen und intoleranten Psychologie, wie sie
viele fundamentalistische Religionsströmungen auszeichnet.
Man darf
gespannt sein auf die nächste Eskalationsstufe solcher
Prädikationen. Wohin diese unsägliche interne
Gegnerschaftsattribution zu führen vermag, das lässt
sich höchst eindrucksvoll studieren nicht nur anhand der
Geschichte der christlichen Kirchen, sondern tagtäglich und
weltweit in den monumental-monströsen Werken religiös
motivierter Sprengmeister jeglicher Provenienz. Sie alle haben
einmal klein und bescheiden angefangen. Und eine
Bewegung, deren Anhänger schon in der Vergangenheit mitunter
nicht immer leicht zu unterscheiden wußten zwischen dem,
was geistgetragene Weltsicht ist und was bloß dumpfes
Nazitum, - Beispiele siehe etwa hier
zu Haverbeck und hier
zu Benesch -, ist da zweifellos noch für Überraschungen
gut.
Wenn zwei
seriöse Physiker sich über ein physikalisches Sachproblem
streiten, dann werden sie versuchen ihr Problem mit
Sachargumenten und weiterer Forschung zu lösen. Aber
schwerlich wird deswegen der eine den anderen öffentlich als
Feind der Physik anprangern. Bei Anthroposophen ist so
etwas prinzipiell möglich. Da fällt das Absurde dieser
Geisteshaltung bisweilen noch nicht einmal auf. Selbst im
Europäer von Thomas Meyer nicht.
Personen wie Frau Moosmuller mit ihren
Ansprüchen und fundamentalistischen
Gegnerschaftsunterstellungen scheinen mir geradezu ein
Belegexemplar zu sein für die Folgen der hier
skizzierten wissenschaftlichen Verfassung der
anthroposophischen Bewegung.)
|
Schließlich:
Über den verbreiteten unreflektierten, ungehemmten und
katastrophalen Umgang mit Steiners Vorträgen wird in dem
erwähnten Sammelband auch nichts gesagt. Obwohl alle daran
beteiligten Autoren davon sicherlich Kenntnis haben. Bei aller
Zustimmung zum Anliegen dieses Sammelbandes: Wo, wenn nicht dort,
sollte dies öffentlich angesprochen werden in der Hoffnung
dadurch etwas zu bewegen? Es gibt offensichtlich eine Art
blinden Fleck in der wissenschaftlich-kritischen
Selbstwahrnehmung. Vielleicht auch ein Gesetz des Schweigens -
eine anthroposophisch-wissenschaftliche Omerta. Vielleicht hat
auch niemand Zeit das alles zu tun, dann sollte man sich die
Bedingungen wissenschaftlichen Forschens in dieser Bewegung
ansehen. Eine eingehende wissenschaftssoziologische Studie
würde vermutlich aufzeigen können, daß hier ein Gemisch von
all dem vorliegt.
Und darin scheint
mir einer der wesentlichen Gründe für manche in diesem
Sammelband angesprochene Misere zu liegen. Das Vorhandensein
eines gewissen allgemeinen Grundkonsenses in der Einschätzung
von Steiners Werk und dessen philosophischer Begründung darf
nicht mit der Tatsache eines Konsenses in jeder Hinsicht
verwechselt werden. Schaut man nämlich mehr in die Feinheiten
der jeweiligen Überzeugungen selbst nur bei den
philosophisch orientierten Vertretern, dann ist es mit dem
Konsens in einigen zentralen Fragen sehr schnell vorbei. Und
nimmt man noch die rein anthroposophischen Vertreter wie etwa
Prokofieff hinzu, dann scheint eine Verständigung zwischen
den Lagern nahezu ausgeschlossen, weil die Einschätzungen und
Erwartungen des jeweils anderen kaum noch verstanden werden
können. Dem läßt sich dauerhaft und wirksam nur entgegenwirken
durch die Etablierung einer vergleichbaren Forschungskultur, wie
sie meinetwegen in der Hegel- oder Kantforschung gepflegt wird.
Das ist bezogen auf die gesamte Anthroposophie und realistisch
betrachtet nur multiprofessionell und interdisziplinär
umzusetzen, weil das Steinersche Werk dermaßen viele
Fachbereiche und Forschungsfragen übergreift, die von einem
einzelnen nicht zu überschauen sind. Weder intellektuell noch
kräftemäßig. In diese Richtung muß wohl auf lange Sicht
gearbeitet werden. Auf dieser Linie liegt auch eine sehr
treffende Bemerkung Marcelo da Veigas in der Anmerkung 2 auf
S. 21 des Sammelbandes. Das bislang noch weitgehende Fehlen einer
reifen anthroposophischen Wissenschaftkultur, die sich ihrer
eigenen Grundlagenprobleme bewußt ist und diese
selbstkritisch öffentlich reflektiert und methodenbewußt
aufarbeitet, führt hingegen auf der einen Seite gleichermaßen
zu internen wie externen Vermittlungs- und Diskursschwierigkeiten
und massiven Forschungsblockaden. Und auf der anderen Seite dazu,
daß Zieglers über weite Strecken fabelhaftes Buch erscheinen
kann, ohne daß ihm die entscheidenden Plausibilitätsnachweise
beigefügt werden, weil offenbar niemand sieht wie notwendig und
unerläßlich das in einer Wissenschaftskultur ist. Beides
ist symptomatisch für eine Bewegung, die im großen und ganzen
noch wissenschaftlich vor sich hin zu träumen scheint - das
jedenfalls möchte man mitunter meinen.
Wohin diese beklagenswerte anthroposophische Forschungskultur
führt, das läßt sich unmittelbar studieren in der
ursprünglich zur Dissertation vorgesehenen Arbeit von Jonael
Schickler, Metaphysik als Christologie. Eine Odysse des Ich
von Kant und Hegel zu Steiner. Aus dem Englischen übersetzt,
herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter von
Rukteschell, Würzburg 2004. (Inzwischen in deutscher
Sprache nicht mehr erhältlich. Die englische Ausgabe lautet
Metaphysics as Christology. An Odyssey of the
Self from Kant and Hegel to Steiner. Ashgate New
Critical Thinking in Religion, Theology and Biblical
Studies Series, Aldershot: Ashgate, 2005) [Mein
herzlicher Dank geht an G. D. für Literaturhinweise]
Dieser in
philosophischen Dingen begabte junge Mann konnte sein Projekt
nicht mehr definitiv zum Abschluß bringen, da er
tragischerweise 25-jährig unmittelbar vor dem Einreichen
seiner Dissertation in England bei einem Zugunglück im Mai
2002 ums Leben kam.
Die Tragik
dieses kurzen Lebens wiegt insofern doppelt, als Schickler
offensichtlich nie in seinen jungen Jahren einen sachlich
verwertbaren Hinweis darauf erhalten hat, daß der
entscheidende Aspekt dessen, was er philosophisch sucht, von
seinem Kern her in der Philosophie der Freiheit und in
den übrigen Steinerschen Frühschriften längst enthalten
ist. Was seinen sichtlich beeindruckten, wohlmeinenden und
offensichtlich nicht anthroposophisch geprägten Rezensenten
Martin Wendte zu der resignierend kritischen Feststellung
veranlaßt: "The key issue is this: Schickler himself
states that today’s mankind is unable to perceive the
etheric body, and that the clairvoyance of Steiner and other
mystics is necessary to do so. Could this not be a hint that a
problem has been reached here which, at this side of the
eschaton, cannot be solved? Schickler is right in stating the
problem he states—but perhaps under the conditions of fallen
human beings, we simply cannot solve it and must learn to live
with the rest of ontological scepticism inherent to a Kantian
position. " (Siehe diese Renzension im Internet
unter
http://www.arsdisputandi.org/publish/articles/000268/article.pdf
)
Der Rezensent
fühlt sich bei aller Bewunderung für Schicklers Scharfsinn
und Kenntnisreichtum Kant und Hegel betreffend gleichsam vom
Verfasser allein gelassen, weil Schickler ausschließlich auf
Steiners höhere übersinnliche Fähigkeiten und die
darauf basierenden Forschungsergebnisse verweisen zu
können glaubt.
Daß die
übersinnliche Schlüsselfähigkeit und geistige Basisgröße,
auf die es philosophisch vorrangig ankommt, nämlich das
reine, sinnlichkeitsfreie oder intuitive
Denken in der Philosophie der Freiheit ausdrücklich
thematisiert wird, und dessen Charakter als geistiges
Wahrnehmungsorgan und individuelle Erscheinungsform
des Wesens der Welt ganz explizit auch in anderen
Frühschriften (Siehe etwa GA-02, Dornach 1979, S. 79)
Steiners hervorgehoben wird, diesem Gedanken scheint der junge
Mann nie begegnet zu sein. Und entsprechend findet sich auch
kein Hinweis darauf in seiner Schrift. Kaum mehr als vage
Andeutung oder Ahnungen (etwa S. 165), teilweise schlicht
unzutreffende enthält sein Buch in dieser Richtung. Wie man
überhaupt darüber staunt, daß ein Buch mit diesem
anspruchvollen Titel und wertvollen Gedankengängen über Kant
und Hegel, sich schließlich und endlich damit begnügt bei
rund 180 Seiten Gesamtumfang Steiner selbst auf den
Seiten 151 ff kaum mehr als grob überschlägig 15-20 Seiten
zu widmen. Angesichts der Verständnisschwierigkeiten,
mit denen sich die Steinerforschung seit vielen Jahrzehnten
plagt, ist das verzweifelt wenig. Und im Literaturverzeichnis
(S. 185 f) findet sich nicht einmal die von Steiner selbst als
grundlegend bezeichnete Schrift Wahrheit und
Wissenschaft (GA-03) vermerkt. Jene Schrift übrigens, die
laut Vorrede Steiners ausdrücklich einen Beitrag leisten
wollte zur Überwindung des ungesunden Kant-Glaubens seiner
Zeit. Für jemanden, der Steiner professionell
philosophisch mit Kant vergleicht, sollte es schon einen
forschenden Blick wert sein, was Steiner da möglicherweise zu
dieser Überwindung beizutragen gedenkt. Ebensowenig
finden sich erwähnt die Einleitungen in Goethes
naturwissenschaftliche Schriften (GA-01) oder die
Schrift Goethes Weltanschauung (GA-06).
So
ausgestattet läßt Schickler entsprechend wenig Neigung
erkennen in die Details Steinerscher Grundschriften
einzusteigen. Und was er dann schließlich über Steiners
philosophische Frühschriften schreibt kann man auch nicht
eben als Ausdruck einer überbordenden philosophischen
Wertschätzung bezeichnen. Die hat ihm offensichtlich niemand
nahe gebracht. Die geringschätzigen Bemerkungen, die er
ganz beiläufig über Steiners Erkenntnistheorie fallen läßt
- z. B. S. 167 ff, - sind ihm noch nicht einmal eine sachliche
Begründung wert.
So herrscht
eine geradezu verblüffende Asymmetrie zwischen der profunden
Werkkenntnis und Liebe zum Detail, die er bei seinen
Untersuchungen von Kant und mehr noch Hegels walten läßt,
und der um Größenordnungen darunterliegenden Neigung,
sich mit Steiners philosophischen Schriften zu befassen.
Hätte man nicht die Versicherung des Herausgebers, diese
Arbeit sei faktisch zur Abgabe bereit gelegen, man würde
sie glatt für ein Fragment halten, das auf seinen Abschluß
erst noch wartet. Man fühlt sich regelrecht in eine
philosophische Podiumsdiskussion versetzt, wo der
Hauptakteur (Steiner), der angeblich die Probleme der beiden
anderen (Kant und Hegel) lösen kann, gar nicht eingeladen
wurde. An seiner statt verliest dann der Moderator in ein paar
dürren Statements das, was er für die philosophische Meinung
Steiners hält, während er sich tatsächlich auf dessen
eigene Gedankenbildung gar nicht erst groß eingelassen hat.
Der Part über die Frühschriften Steiners ist gemessen
an der Gründlichkeit mit der er Kant und Hegel behandelt mit
Abstand der schwächste der Arbeit, und steht in einem so
auffallenden Mißverhältnis dazu, daß man die Anmutung hat,
er sei überhaupt erst vor kurzem zum ersten mal damit in
Berührung gekommen, nachdem er die Vorarbeiten zu Kant
und Hegel weitgehend hinter sich hatte. Was zumindest die
Unvollständigkeit seiner Literaturangaben dieses
philosophische Werk Steiners betreffend erklären würde.
Er rauscht, da
er vorrangig auf Steiners späteres esoterisches Werk
hinorientiert ist, flüchtig hindurch, läßt wichtige
Teile unbeachtet und an den entscheidenden Einzelheiten hetzt
er achtlos vorüber. Nur eine davon ist die alles
überragende Entdeckung Steiners aus den Grundlinien ...
(GA -02, Dornach 1979, S.79): Jene vom Denken als Wesen der
Welt, und vom menschlichen Denken als einzelner Erscheingsform
dieses Wesens. Eine Entdeckung ausdrücklich als Resultat
philosophisch-erkenntnistheoretischer Untersuchung
vermerkt, die sich ihrer Bedeutung und ihrem
Fundamentalcharakter nach nur vergleichen läßt mit der
staunenden Entdeckung des kleinen Kindes, daß es
überhaupt eine Welt gibt. Hier ist im Prinzip in einem
Vorentwurf alles schon enthalten, was später dann zur weit
feiner ausziselierten esoterischen Weltbeschreibung Steiners
wird. Sogar der Methode nach, wie Steiner oft genug betont,
selbst wenn sie hier philosophischer Natur ist (vergleiche
etwa hier). Erkenntnistheorie ist
hier nur ein anderer, der spezifischen philosophischen
Problemlage Rechnung tragender Ausdruck für Geistesforschung.
Es ist eine hellseherische Methode, die im Grundsatz
jeder denkende Mensch ohne weiteres anzuwenden in der Lage
ist. Auch der Rezensent Martin Wendte, der sich so sehr
darüber beklagt, daß er nun einmal kein Hellseher sei. Er
ist es im Prinzip längst - er weiß es nur noch nicht. Der
Verfasser des von ihm rezensierten Buches weiß es
unglücklicherweise auch nicht. Und warum er es nicht
weiß, das ist eine der großen Fragen, die hinter diesem
tragisch unvollendeten Leben steht. Sie geht die ganze
anthroposophische Bewegung etwas an.
Dieser
Entdeckung vom Denken als Weltwesen ordnet sich letztlich
alles unter. Auch Steiners Hinweis aus der Philosophie der
Freiheit (Kap. IV) dahingehend, das Denken sei jenseits
von Subjekt und Objekt, ist nur eine selbstverständliche
Konsequenz aus dieser grundlegenden Entdeckung. Ebenso
wie sein methodischer Hinweis vom Ende der Philosophie
der Freiheit, vom lebendigen Ergreifen des intuitiven
Denkens werde sich der weitere Eintritt in die geistige
Wahrnehmungswelt von selbst ergeben, auch nur eine Konsequenz
der Tatsache ist, daß das übersinnliche Wesen der Welt
auch auf übersinnlichem Wege und keinem anderen gefunden
wird. Und demgemäß natürlich auch die weitere
Hineinarbeitung in dieses Weltwesen organisch an diese
philosophisch-hellseherische Methode der Frühschriften
anknüpft. Dieser Hinweis Steiners über die Geistnatur
des Denkens und den Charakter der Philosophie der Freiheit
als geisteswissenschaftliches Forschungsresultat hätte
sachlich gesehen auch schon in den Grundlinien ...
stehen können. Und wer die Materie etwas überschaut, der
könnte beispielsweise entsprechend klare Hinweise im Kapitel
18. der Grundlinien ..., Psychologisches Erkennen
ausfindig machen. (Siehe auch die entsprechenden
diesbezüglichen Anmerkungen Steiners dazu zur Neuauflage
von 1924 der Grundlinien ... .) Der weitere Weg in
die geistige Welt ist letzten Endes ein methodisch
verfeinerter und geregelter Weg in dasjenige, was in den
Grundlinien ... über das Denken als Wesen der Welt
bereits aufgezeigt wird.
Was in
diesem Weltwesen dann alles enthalten ist und wohinein es sich
weiter differenziert, das gilt es dann ebenso fortschreitend
aufzuklären, wie ein Kind erst nach der Entdeckung der
Welt als solcher weitere Einzelheiten dieser Welt nach
und nach bemerken wird. Und nicht gleich schon von Anfang an
weiß, daß da auch Sonne, Mond und Tiefseekraken warten, die
noch gefunden werden wollen. Insofern ist auch Schicklers
Bemerkung von S. 167 wenig zielführend, Steiner behandele in
der Philosophie der Freiheit nicht wie aus der
Erkenntnistheorie Ontologie werden könne. Abgesehen
davon, daß er es schon in den Grundlinien ... behandelt
hat, wiederholt sich das ganze noch einmal in der Philosophie
der Freiheit im Hinweis vom Denken als einem sich selbst
tragenden Wesensweben, um nur ein Beispiel von manchen
möglichen zu nennen. Und angesichts der ausgesprochen
empiristischen und nicht etwa nur formalen Orientierung
der Steinerschen Erkenntniswissenschaft - letzteres hält
Steiner seinen philosophischen Zeitgenossen häufiger vor -
ist es mir ohnehin schleierhaft, wie jemand überhaupt auf so
einen Gedanken wie Schickler verfallen kann. Auch dies nur ein
beredtes Zeichen dafür, wie wenig er sich darum bemüht hat,
die Steinersche Philosophie aufzuschließen.
Das meiste von
dem, was Schickler über Steiners Frühschriften schreibt,
wirkt dagegen bloß altklug und lieblos nur so hingesetzt wie
von jemandem, der einen grandiosen Überblick über die
Details hat und sich darum nicht mehr scheren muß. Nur trifft
das eben in diesem Fall nicht zu. Was spätestens dann
offensichtlich wird, wenn man in diese Details und die Art
seiner handwerklichen Auseinandersetzung damit selbst
hineingeht. Er hat, so scheint es, nicht wirklich Interesse
daran. Und in anderem wiederum meint man geradezu
authentisch einen hinlänglich bekannten Ton mancher
Anthroposophen herauszuhören, die ohnehin Steiners
philosophischen Bemühungen nicht allzuviel abgewinnen
können, weil sie das spätere
Anthroposophisch-Geisteswissenschaftliche für allemal
wertvoller halten als diese vorläufige Philosophie
Steiners, die man tunlichst überwinden sollte. Wo notwendige
Klärungsarbeit im ungünstigsten Fall auch noch als
anthroposophischer Intellektualismus gebrandmarkt wird,
der am wesentlichen vorbeigeht. Bei Schickler - er scheint ja
aus diesem geistigen Milieu zu kommen - mutet dies, obgleich
er darin zurückhaltender ist und nur eine deutliche
Tendenz dahin erkennen läßt (siehe etwa S. 168) insofern
eigentümlich aufgesetzt an, weil der junge Mann das, so
hoffnungslos ungenügend wie er durch seine Übersicht über
die Einzelheiten der Steinerschen Philosophie
qualifiziert erscheint, natürlich realistischerweise gar
nicht beurteilen kann. Weil er noch nicht einmal mit diesen
philosophischen Detailfragen der Frühschriften Steiners
zurecht kommt. Weil er sie - dieser Eindruck drängt sich
auf - in ihrem Eigencharakter auch gar nicht wahrnehmen
will.
Der junge Mann
muß, das kann man hier nur vermutungsweise konstatieren,
auf die philosophischen Grundlagen der Anthroposophie, die
Wesenhaftigkeit des Geistigen und das sogenannte
Hellsehen bezogen furchtbar schlechte anthroposophische Lehrer
und Ratgeber gehabt haben. Und niemand von denen, die er
hatte, hat ihm offenbar einen ernstzunehmenden und
produktiven Hinweis darauf geben können, was das intuitive
Denken ist und welche außerordentliche Bedeutung es für
den philosophischen und gleichermaßen empirischen
Zugang zur Anthroposophie und für das Verständnis des
Geistigen hat. So bleibt ihm, abgesehen von der vagen
Andeutung (S. 165) Steiners Phänomenologie des Denkens in der
Philosophie der Freiheit lege einen Grund "für
das Verstehen des Hellsehens, das daraus erwächst",
weiter nichts übrig als auf Steiners spektakuläre
Hellsichtigkeit zu verweisen, anstatt seinen Leser darüber
aufzuklären, daß dieser ja längst schon Anteil an dieser
Hellsichtigkeit und damit Zugang zum Geistigen hat, insofern
er nämlich in der Lage ist, das reine Denken auszuüben.
Denn den
Philosophen, und das ist ja bei aller Anerkennung auch
Wendtes Problem mit diesem Buch, interessiert vor allem
der Übergang vom sogenannten normalen zum hellseherischen
Bewußtsein. Dasjenige, was ihm selbst unmittelbar davon
erreichbar ist. Denn das ist ihm auch am leichtesten einer
Überprüfung zugänglich. Und ihn interessiert warum und mit
welchen Gründen Steiner das dem hellseherischen Bewußtsein
zuschlägt. (Näheres siehe hier)
Kurz gesagt: Ihn interessiert was dieses hellseherische
Bewußtsein grundsätzlich genommen überhaupt ist!
Darüber aber bekommt er keine Auskunft. Er hätte sie
zumindest mit dem Verweis auf die Geistnatur des intuitiven
oder reinen Denkens bekommen können, wie ihn Steiner in
der Philosophie der Freiheit gibt. Oder mit dem Hinweis
auf den Charakter des reinen Denkens als intellektuelle
Anschauung, wie er es in der Schrift Wahrheit und
Wissenschaft vermerkt. Für jemanden, der sich wie
Schickler mit Kant auseinandersetzt ganz gewiß kein
unerheblicher Fingerzeig. Aber letztere grundlegende Schrift
findet sich wie gesagt nicht einmal in seinem
Literaturverzeichnis. Und nicht zuletzt hätte so ein
Hinweis gegeben werden können via Steiners Bemerkung aus der
Schrift Goethes Weltanschauung, der Beobachter des
Denkens schaue die wirkende Idee unmittelbar selbst an.
Da wäre sogar ein möglicher philosophischer Anknüpfungspunkt
zum Ätherischen gegeben. Auch diese Schrift wie gesagt
nicht in Schicklers Literaturliste aufgeführt. Diese
Aufzählung konkreter Steinerscher Hinweise läßt sich um
etliche Stationen erweitern.
Daß diese
Phänomenologie des Denkens in der Philosophie der Freiheit
nicht nur den Grund legt für das Verstehen des Hellsehens,
das daraus erwächst, sondern daß dieses dort behandelte
Denken ganz explizit von Steiner schon dem Hellsehen
zugerechnet wird und ein essentieller Bestandteil davon
ist; wie die Schrift überhaupt dem Selbstverständnis
Steiners nach schon das Resultat eines philosophisch
geprägten Hellsehens ist, darüber verliert Schickler keine
weitere Bemerkung. Und - so wie die Dinge in der
Steinerforschung bislang liegen - konnte er das vermutlich
auch nicht. Die zentrale Größe dieses Buches, so scheint es
mir, hat er gar nicht ernsthaft erfaßt.
Mit anderen
Worten: Er beruft sich im Hinblick auf sein christologisches
Anliegen auf Steiners hellseherisches Vermögen, das er
selbst, und zwar allen diesbezüglichen und expliziten
philosophischen Angaben Steiners zum Trotz, nicht einmal im
Ansatz versteht. Daß dies für seinen philosophischen
Rezensenten Wendte unbefriedigend sein muß läßt sich
nachvollziehen. Schickler läßt ihn an der
entscheidenden Stelle buchstäblich im Regen stehen. Ob dem
letzteren mit einer dahingehenden aufklärenden
Erläuterung Schicklers ernstlich weitergeholfen wäre, so daß
er es auch hätte akzeptieren können, mag dahingestellt
bleiben. Auf jeden Fall aber kommt, wer
philosophisch-empirischen Zugang zum Geistigen und zur
Christologie Steiners sucht, am intuitiven Denken und dessen
Verständnis nicht vorbei.
Mit den
schlechten anthroposophischen Ratgebern meine ich sowohl
einzelne Lehrerpersönlichkeiten, als auch den
anthroposophischen Forschungskontext im allgemeinen, so
wie er oben kritisch skizziert wurde. Wovon ich mich selbst
übrigens nicht ausnehme. (Man müßte hier den
soziokulturellen und nichtwissenschaftlichen
bildungsbiographischen Kontext, auch den informellen
bildungsbiographischen Kontext eigentlich mit
einbeziehen.)
Es ist
unrealistisch zu glauben, ein junger Mann von anfang 20 mit
großer philosophischer Begabung sei imstande, alles das,
was anthroposophische Forschung im Verlauf vieler
Jahrzehnte versäumt und vernachlässigt hat, in vier
oder fünf Jahren im Alleingang zu bewältigen. Daß das nicht
klappt, dafür kann man die jungen Menschen nicht
verantwortlich machen. Die jungen Leute, auch wenn sie noch so
talentiert sein mögen, ob Doktorranden oder Diplomanden,
müssen geradezu mit einer gewissen
Zwangsläufigkeit an den anthroposophischen Fragen scheitern,
wenn ihnen nicht entsprechend ernsthaft von anderer Seite
zugearbeitet wird. Oder um das ganze wenigstens perspektivisch
noch einmal ins Positive zu wenden, so kann man sich
angesichts Schicklers Leistung dort die Frage stellen:
Was wäre einem talentierten jungen Menschen möglich, wenn
die philosophisch-anthroposophische Grundlagenforschung einen
ähnlich hohen Reifegrad hätte wie die Kant- oder
Hegelforschung? So daß er nicht nur scharfsinnige und
weitreichende Fragen stellen kann, sondern ihm das
Forschungsumfeld auch die (theoretischen, praktischen und
menschenkundlichen) Mittel an die Hand gibt, sie in
realistischen Zeiträumen und mit vertretbarem Aufwand
einzulösen. Daß dies für den anthroposophischen Bereich
noch eine ganz andere Herausforderung darstellt als es
etwa für Kant oder Hegel gilt ist klar. Aber wo, wenn nicht
dort, sollte diese Zukunftsaufgabe überhaupt realisiert
werden?
Schickler sagt
auf S. 22, seine Ausführungen über Steiner seien "mehr
als alles andere eine Einführung". Das erklärt in
mancher Hinsicht die Kürze und Flüchtigkeit seiner
unmittelbar auf Steiner gewendeten Gedankengänge. Es
zeigt aber auch, daß seine hoch angesetzte Programmatik aus
dem Vorwort von S. 7 spätestens bei den philosophischen
Aspekten Steiners ins Stocken geraten ist und gar nicht
mehr eingelöst werden konnte, sondern vorsichtig ausgedrückt:
im besten Sinne Vision bleiben mußte. Er verheddert sich wie
so viele andere vor ihm schon in Steiners philosophischen
Schriften und findet, abgesehen von einigen guten
grundsätzlichen Gedankengängen den Faden zur
Anthroposophie nicht, so daß er ihn fruchtbringend weiter
freilegen könnte. Diese Methode, daß jeder für sich das Rad
immer wieder neu zu erfinden sucht und mehr oder weniger
ratlos in Steiners Philosophie herumzustochert, bis er mit
etwas Glück den einen oder anderen brauchbaren Brocken
aufgelesen hat, ist ineffizient und muß am Ende zu
unbefriedigenden Resultaten führen. (Soweit ich sehe zitiert
er keinen einzigen anthroposophischen Autoren im Kontext
der Steinerschen Frühschriften und gibt nur ein paar
Literaturhinweise auf Witzenmann, der aber auch nicht
aufgegriffen wird.)
Daß Jonael
Schickler beachtliches philosophisches Talent hatte zeigt
seine Behandlung von Kant und Hegel. Dort sind aber auch
die Bedingungen entsprechend, denn dort steht eine lange
Tradition der Forschung zur Verfügung, die Hilfe und
Orientierung geben kann. Während in der Anthroposophie
bislang noch eine Kakophonie von Meinungen herrscht, die
vielfach nicht einmal nachvollziehbar belegt sind. Auch ein
großes Talent muß am Ende vertrocknen, wenn die
Bedingungen für seine Entfaltung nicht stimmen.
Einige
zusätzliche Quellen: Rudolf Steiner vortragsweise über das
reine Denken als Hellsehen.
Siehe
GA-146, Vortr. Helsingfors , 29. Mai 1913, S. 33 ff:
"Auf
logisches Denken, auf Denken in Abstraktionen weist
gewissermaßen als auf etwas Neues hin, was jetzt erst in
die Menschheit eintreten soll, Krishna den Arjuna hin. Aber
dieses Denken, das der Mensch so entwickelt, dieses Denken,
das nimmt man zwar heute als etwas ganz Natürliches,
aber man hat die schiefesten, unnatürlichsten Ansichten über
dieses Denken. Und gerade die westländischen Philosophen
haben über dieses Denken die allerschiefsten Anschauungen,
denn man hält gewöhnlich dieses Denken für eine bloße
Photographie der äußeren sinnlichen Wirklichkeit, man
glaubt, die Begriffe, Ideen entstehen im Menschen, dieses
ganze innere Denken überhaupt entstehe im Menschen von der
physischen Außenwelt herein." (S. 33f) [...] " Hier
komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der ganz und gar
wichtig ist gerade für diejenigen, die mit der eigenen Seele
eine okkulte Entwickelung durchmachen wollen. ... So ist es
nämlich, wenn auch nicht mit dem Goldmachen, so ist es mit
dem Hellsehen. Kein Mensch könnte eigentlich zu wirklichem
Hellsehen kommen, wenn er nicht zunächst ein Winziges an
Hellsehen in der Seele hätte. Wenn es wahr wäre, was ein
allgemeiner Glaube ist, daß die Menschen, wie sie sind,
nicht hellsichtig seien, dann könnten sie überhaupt nicht
hellsichtig werden. Denn wie der Alchimist meint, daß man
etwas Gold haben muß, um viele Mengen Goldes hervorzuzaubern,
so muß man unbedingt etwas hellsehend schon sein, damit man
dieses Hellsehen immer weiter und weiter bis ins Unbegrenzte
hinein ausbilden kann." [...] "Es gibt wirklich
keinen unter Ihnen, der nicht - wenn er sich dessen auch nicht
bewußt ist - diesen Ausgangspunkt hätte. Sie haben ihn alle.
Keiner von Ihnen ist in der Not, weil Sie alle ein gewisses
Quantum Hellsehen haben. Und was ist dieses Quantum? Das ist
dasjenige, was gewöhnlich gar nicht als Hellsehen geschätzt
wird." [...] "Niemand könnte abstrakt denken,
wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig
wäre, denn in den gewöhnlichen Gedanken und Ideen ist die
Perle der Hellsichtigkeit von allem Anfang an. Diese Gedanken
und Ideen entstehen genau durch denselben Prozeß der
Seele, durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist
ungeheuer wichtig, daß man zunächst verstehen lernt,
daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz alltägliches
eigentlich ist: man muß nur die übersinnliche Natur der
Begriffe und Ideen erfassen. Man muß sich klar sein, daß aus
den übersinnlichen Welten die Begriffe und Ideen zu uns
kommen, dann erst sieht man recht. Wenn ich Ihnen erzähle von
Geistern der höheren Hierarchien, von den Seraphim, Cherubim,
von den Thronen herunter bis zu den Archangeloi und Angeloi,
so sind das Wesenheiten, die aus geistigen, höheren Welten zu
der Menschenseele sprechen müssen. Aus eben diesen Welten
kommen der Seele die Ideen und Begriffe, sie kommen geradezu
in die Seele aus höheren Welten herein und nicht aus der
Sinnenwelt." [...] "Es wurde als ein großes Wort
eines großen Aufklärers gehalten, das dieser gesagt hat im
18. Jahrhundert: Mensch, erkühne dich, deiner Vernunft dich
zu bedienen. - Heute muß ein größeres Wort in die
Seelen klingen, das heißt: Mensch erkühne dich, deine
Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums
anzusprechen. - Das, was ich jetzt ausgesprochen habe, habe
ich schon vor vielen Jahren ausgesprochen, ausgesprochen in
aller Öffentlichkeit, nämlich in meinen Büchern <<Wahrheit
und Wissenschaft>> und <<Philosophie der
Freiheit>>, wo ich gezeigt habe, daß die menschlichen
Ideen aus übersinnlichem, geistigen Erkennen kommen. Man hat
es dazumal nicht verstanden; das ist ja auch kein Wunder, denn
diejenigen, die es hätten verstehen sollen, die gehörten,
nun ja, halt zu den Hühnern" (34 ff)
Siehe GA
255b, Vortr. Stuttgart, 25. Mai 1923, S. 295 ff:
"Und nun, was mir vor allen Dingen die
Möglichkeit bot, eine solche Brücke zu finden, das war
zunächst nicht das Hinschauen auf innere, subjektive
Schauungen; das war mir vom Anfange an klar geworden. Sollten
subjektive Schauungen noch so überzeugend, noch so intensiv
vor der Seele auftreten, man hat keine Berechtigung, sie
irgendwie, durch ihr subjektives Auftreten veranlaßt, zur
objektiven Geltung zu bringen, wenn man nicht in der Lage ist,
aus dem naturwissenschaftlich Sicheren heraus die Brücke
hinüber zu geistigen Welt zu schlagen." (S. 298) [...]
"Wer nun meine <<Philosophie der Freiheit>>
durchliest, wird finden, wie diese Wege zur Ergründung
der Natur des menschlichen Denkens gesucht worden sind. Und
für mich stellte es sich heraus, daß nur derjenige das
menschliche Denken richtig verstehen könne, welcher in den
höchsten Äußerungen dieses Denkens etwas sieht, das sich
unabhängig von unserer Körperlichkeit, von unserer
leiblichen Organisation vollzieht. Und ich glaube, es gelang
mir nachzuweisen, daß die Vorgänge des reinen Denkens
im Menschen sich unabhängig von den leiblichen Vorgängen
vollziehen. ... Und ich glaube, daß sich mir durch diese
<<Philosophie der Freiheit>> nichts Geringeres
ergeben hat als die übersinnliche Natur des reinen Denkens.
Und hatte man diese übersinnliche Natur des menschlichen
Denkens erkannt, dann war damit der Beweis geliefert, daß der
Mensch im gewöhnlichsten Alltagsleben, wenn er sich nur
erhebt zum wirklichen Denken, durch das er durch nichts
anderes als durch die Motive des Denkens selbst bestimmt
wird, daß er dann ein übersinnliches Element in diesem
Denken vor sich hat." (S. 299 f) [...] " Wer
dasjenige, was ich als Forschungsmethode meiner
anthroposophischen Geisteswissenschaft zugrunde lege,
Hellsehen nennt, der muß auch schon das gewöhnliche
reine Denken, das durchaus aus dem Alltagsleben heraufströmt
in das menschliche Bewußtsein, das hineinströmt in das
menschliche Handeln, Hellsehen nennen. Ich selber sehe
qualitativ keinen Unterschied zwischen dem reinen Denken und
demjenigen, was ich als Hellsehen bezeichne. ... Dann
aber, wenn man den Vorgang kennt, durch den man zu solchem
reinen Denken kommt, kann durch das, was wahre tiefergehende
Philosophie gibt, etwas ausgebildet werden, was ich dann in
der verschiedensten Weise als Erkenntnismethode für die
höheren Welten dargestellt habe in meinem Buch << Wie
erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> und in
meiner <<Geheimwissenschaft>>. Geradeso, wie aus
den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen Seele
zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine
besondere Schulung braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang
weiter ausbildet, zu dem kommen, was ich in dem genannten Buch
und im zweiten Teil meiner <<Geheimwissenschaft>>
die Stufen der höheren Erkenntnis - also Imagination,
Inspiration, Intuition - genannt habe. Was sich im reinen
Denken äußert, das wird uns Menschen einfach eigen
dadurch, daß wir geboren sind; es ist uns in unserem
jetzigen Stadium der Menschheitsentwicklung vererbt."
(S. 300 f)
|
Und um ein
weiteres Argument betreff Klärung des intuitiven Denkens
anzuführen, so gilt: Nur auf der Grundlage dieses Verstehens
sind echte, fundierte Brückenschläge möglich zu anderen
philosophischen Ansätzen. Und zwar in erkenntnistheoretischer,
freiheitsphilosophischer und mehr bewußtseinsphänomenologischer,
ja sogar in physikalisch-naturphilosophischer Richtung.
Nicht nur um argumentativ die eigene Auffassung verteidigen
zu können, sondern auch und vor allem um Verwandtschaften
zu erkennen und eventuell gemeinsam weiterführende
Fragestellungen zu formulieren, ist ein solches Verständnis
unerläßlich. Bei Lichte besehen ist das Thema intuitives
Denken eines der spannendsten, aussichtsreichsten,
ergiebigsten, vielschichtigsten und zukunftsfähigsten überhaupt
für eine Dissertation mit anthroposophischem Hintergrund und
gibt genügend Stoff her für mindestens sieben von einander
unabhängige wissenschaftliche Arbeiten dieser Art. -
Tatsächlich sogar weit mehr, weil man es in jede Richtung nahezu
unbegrenzt weiter entfalten kann. Das liegt einfach mit daran,
weil sich im intuitiven Denken alles mit essentiellen
Fragestellungen trifft: Erkenntnistheorie, Anthroposophie,
Freiheitsphilosophie, Psychologie, Bewußtseinsphänomenologie,
Naturphilosophie, Medizin, Biologie, Physik und im engeren
Sinne Quantenphysik, und letztlich auch die Theologie.
Nichtanthroposophische
Forschung zum intuitiven Denken
Was die
Erkenntnis des Denkens im engeren Sinne angeht, so gilt: Das
intuitive Denken ist ja zunächst eine Eigenschaft oder
ein Vermögen des ganz normalen erkennenden Bewußtseins. Was die
Frage einer Bewußtseinsphänomenologie des intuitiven
Denken betrifft, so liegt hier - abgesehen von seinen
epistemologischen Betrachtungen, die ja ausschließlich
Grundsatzuntersuchungen darstellen - nur sehr wenig Material von
Steiner selbst vor, das diesen normalbewußten Bereich
abdeckt. Das gesamte bewußtseinsphänomenologische Areal
zwischen Epistemologie und höherer Erkenntnis im
eigentlichen Sinne ist von ihm nahezu völlig unbearbeitet.
Allerdings gibt
es von Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln (GA-21,
1976, S. 170 f), die einiges in dieser Beziehung enthält, den
ausdrücklich geäußerten Wunsch, in einem psychologischen
Laboratorium arbeiten zu können, um zu zeigen, wie das
gewöhnliche Bewußtsein bereits zum Schauen veranlagt ist. Das
heißt, er zielt hier exakt auf dieses unbearbeitete Areal
hin. Damit, so Steiner dort, sei es sogar möglich, "... die
beste Grundlage [zu] schaffen zu
anthropologisch-psychologischen Ergebnissen, die bis an die
«Erkenntnis-Grenzorte» gehen, an denen sich Anthropologie
mit Anthroposophie treffen muß ...". Nun sind aber all die
Erscheinungsformen des intuitiven Denkens im normalen
Bewußtsein bereits Ausdrucksformen dieser Veranlagung zum
Schauen und entsprechend an diesem "Treffpunkt"
bzw "Grenzort" anzusiedeln, wo sich Anthroposophie
und Anthropologie Steiners Worten zufolge treffen müssen.
Denn das reine Denken - ich habe es schon wiederholt im Rahmen
der hier veröffentlichten Arbeiten gesagt - ist für Steiner
bereits eine Form des schauenden Bewußtseins. (Siehe
GA-35, Dornach 1984, S. 321 : "Meine früheren Schriften
behandeln das reine Denken so, daß ersichtlich ist, ich zähle
dieses durchaus zu den Verrichtungen des «schauenden
Bewußtseins». Ich sehe in diesem reinen Denken die erste,
noch schattenhafte Offenbarung der geistigen
Erkenntnisstufen." ) Deswegen erfüllt die Untersuchung des
erkennenden Normalbewußtseins einen wichtigen Zwischenschritt
zur weiteren Erkenntnis des Denkens; sowohl was die
Begriffsbildung bezüglich dieses intuitiven
Denkbewußtseins und in ihm veranlagte Möglichkeiten angeht -
und auch im Hinblick auf eine Brückenbildung zwischen
Anthroposophie und Anthropologie. (Man sollte sich den
Steinerschen Ausdruck "beste Grundlage" wahrlich
auf der Zunge zergehen lassen.)
Es ist daher gut
zu wissen, daß es in den auf dieser Homepage immer wieder
vorgestellten denkpsychologischen Untersuchungen Karl Bühlers um
eine experimentelle Erhellung des normalbewußten intuitiven
Denkens ging - oder in Steiners Ausdrucksweise: der
"schattenhaften Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen".
Nicht nur das, sondern es ging mehr noch um eine Untersuchung des
intuitiv erlebten Denkens. Denn das Erleben der
Denkaktivität, des Denkprozesses selbst, war eines der
Hauptziele der Untersuchung. Das leuchtet unmittelbar ein, wenn
man sich vorstellt, daß einem Untersuchungsteilnehmer (dem
Philosophie- und Psychologieprofessor Oswald Külpe) etwa
die Frage vorgelegt wurde, ob es möglich sei, mit dem Denken das
Wesen des Denkens zu klären, und ihn der Versuchsleiter
aufforderte zu berichten, was er bei der denkenden Entscheidung
dieser Frage erlebt hat. Es ist dieselbe (Schlüssel)Frage, die
unter anderem in der Philosophie der Freiheit im dritten
Kapitel verhandelt wird. Külpe berichtet also über Erlebnisse,
die er beim intuitiven Denken (in diesem Fall beim reinen,
mehr noch: beim sich selbst erkennenden Denken) hat. Und in
diesem Sinne ist die ganze Bühlersche Untersuchung auch mit
anderen Teilnehmern und auch mit davon abweichenden Formen des
intuitiven Denkens eingerichtet. - Das mag manchmal dort -
schließlich war es eine Pioniertat der Würzburger - im
einzelnen noch unbeholfen und unausgereift aussehen. Aber es
geht in diesen Untersuchungen alles in allem um das erlebte
intuitive Denken in seinen verschiedenen normalbewußten
Erscheinungsformen!
Wer also
konkretes Anschauungsmaterial und sinnvolle weiterführende
Fragestellungen zum normalbewußten intuitiven Denken
sucht, der wird bei Steiner nicht viel finden über das hinaus,
was in den erkenntnistheoretischen Grundschriften und in der
Schrift Von Seelenrätseln vorhanden ist, weil Steiner
sich darüber kaum weiter ausgelassen hat. Er muß bei Bühler in
den erwähnten Untersuchungen nachsehen. Dazu kann er sich weiter
an Problemstellungen entlangarbeiten, wie sie etwa im sachlichen
Umfeld von Hönigswald oder Palágyi, aufgeworfen
wurden. (Siehe: Richard Hönigswald, Prinzipienfragen der
Denkpsychologie, Berlin 1913. Siehe auch: Melchior
Palágyi, Der Streit der Psychologisten und Formalisten in
der modernen Logik, Leipzig 1902.) Das dann vom
Anthroposophischen her zu beleuchten und zu problematisieren
entspräche einer Arbeit, wie sie an dem von Steiner
genannten Treffpunkt von Anthroposophie und Anthropologie
stattfinden könnte. Nur muß man eben wissen, daß es bei
besagten Forschern überhaupt um das intuitive Denken
geht. Diese bedeutsame Tatsache, daß andere,
nichtanthroposophische Forscher längst dabei sind oder waren das
intuitive Denken näher zu untersuchen, aber fällt aus
dem anthroposophischen Explorationsraster völlig heraus, wenn
man hier keine Vorstellung davon hat, was das intuitive
Denken ist und ihm nur exotisch-esoterische Eigenschaften
anheftet - man möchte besser sagen: andichtet. Dann ist
man unfähig Brücken dieser Art zu bauen und weitergehende
interdisziplinäre Forschung zu treiben, weil man keine Ahnung
hat, wonach man überhaupt suchen soll und logischerweise auch
nicht wo man interdisziplinär in anderen
Forschungsbezirken hinsehen soll. Das heißt: Die Unklarheit
über das intuitive Denken führt direkt zur
wissenschaftlichen Blindheit und Orientierungslosigkeit in dieser
wichtigen Frage. Genau so, wie sie zur (nicht nur)
interdisziplinären Lähmung in bezug auf die Freiheitsfrage
führt. Und genau das kennzeichnet in Bezug auf das intuitive
Denken die gegenwärtige Lage der anthropsophischen
Bewegung. Vor lauter Wirrwarr, so mein gelegentlicher Eindruck,
weiß man weder was, noch wo man nachschauen soll!
Statt sinnvollen Fragestellungen nachzugehen produziert man
oft genug literarische Geisterbilder und jagt Chimären nach.
III.
Ein
kurzer Blick auf Peter Bieri und Karl Popper
Einmal
ganz unabhängig von Steiner bemerkt: Es gibt einen mehr als
guten Grund, nach der Freiheit des eigenen Denkens und
Erkennens zu fragen. Das wird uns deutlich werden, wenn wir
uns Bieris Auffassung ansehen, die dieser Frage aus dem Wege
geht, und uns die Konsequenzen dieses Vermeidungsverhalten
vor Augen führen.
Auch bei Bieri
führt die Freiheitsfrage zunächst zu Erkenntnisfragen, im
engeren Sinne zur Frage der Selbsterkenntnis und Klärung der
eigenen Handlungsmotive. Doch dann finden wir bei ihm (S. 409 f)
einen eigentümlichen Abbruch des Untersuchungsverfahrens,
der gewaltsam und sachlich wenig schlüssig erscheint. Bieri
schreibt dort: "Es gibt in jedem Moment, wo ich nach der
Freiheit meines Willens frage, ein Stück inneres Terrain, das
nicht Thema dieser Frage sein kann. Und das ist kein
bedauerliches Defizit, kein beklagenswerter blinder Fleck,
sondern eine Voraussetzung dafür, daß die Frage nach der
Freiheit überhaupt in Gang kommen und einen Sinn haben kann.
Während ich artikulierend, verstehend und bewertend damit
beschäftigt bin, meinen Willen zu modellieren, stellt sich die
Frage nach der Freiheit dieser Beschäftigung nicht. Und das ist
nicht deshalb so, weil ich, engagiert in der Beschäftigung,
einfach keine Zeit hätte, sie zu stellen. Es ergäbe keinen
Sinn, sie zu stellen, denn die aneignende Beschäftigung
bildet den Rahmen für das Stellen jeder solchen
Frage."
Nennen
wir die "aneignende Beschäftigung" mit den Motiven des
eigenen Handelns ein Erkennen dieser Motive,
beziehungsweise mit Peter Bieri "Selbsterkenntnis", so
lautet das Urteil Bieris: Die Frage nach der Freiheit der
erkennenden Beschäftigung mit den eigenen Handlungsmotiven
ergibt keinen Sinn! Sein Hinweis, daß es sich ja um eine
Rahmenbildung handele, die es erst möglich mache, die
Freiheitsfrage zu stellen, und daher die Freiheitsfrage darauf
nicht anwendbar sei, scheint mir argumentativ wenig
überzeugend. Und zwar deswegen, weil es keinen vernünftigen
Grund gibt, das eigene Erkennen von der Freiheitsfrage
auszunehmen. Ganz im Gegenteil: Sollte sich nämlich
herausstellen, daß dieses Erkennen selbst schon durchgängig
kausal determiniert ist, was ja der Physikalist aus triftigem
Anlaß behauptet. - Etwa dahingehend, daß sämtliche mentalen
Vorgänge einschließlich Erkenntnisprozeß ausnahmslos
durch hirnorganische Prozesse bestimmt, nur Epiphänomene der
Hirnphysiologie sind, denn wäre dies nicht so, dann müßte man
ja das ganze physikalische Weltbild in Frage stellen. 1)
- Dann würde uns die Erkenntnis der eigenen Handlungsmotive
nicht ein Haar breit in Richtung Freiheit voranbringen, weil sich
diese Erkenntnis selbst mit Naturnotwendigkeit vollziehen muß.
Ob wir unsere Motive nun kennen oder auch nicht, das alles
spielte nicht die geringste Rolle, weil, was wir tun, ob
erkennend oder handelnd, im Grunde nicht getan wird,
sondern sich vollzieht, gemäß dem Gesetz der Kausalität.
Nicht wir sind die Täter, sondern die Chemie unseres Gehirns,
die Vorgänge des Stoffwechsels und die physikalischen
Verhältnisse unserer Umgebung. Erkenntnisgeleitete
Steuerung oder Veränderung von Handlungen verdanken diese ihre
scheinbare Steuerung dann ebensowenig unserem Erkennen,
sondern vollziehen sich in Wirklichkeit mit derselben
Naturnotwendigkeit, wie unser Erkennen selbst. Der Steuermann
sitzt nicht am Steuer sondern hinter einer wirkungslosen
Spielzeugattrappe wie der Bub im Kinder-Spielmobil, der sich
an der Illusion freut die Richtung vorzugeben, während die
Mutter ihn schiebt wohin es ihr beliebt. Das derart
entstandene Freiheitsbewußtsein wäre lediglich ein
Scheingebilde. Wir gaukeln uns nur eine Art von Freiheit vor und
lügen uns etwas in die Tasche.
Weil
wir im Erkennen erst einen Rahmen bilden, in dem die
Freiheitsfrage gestellt wird, deswegen ist das Erkennen
nicht etwa von der Freiheitsfrage auszunehmen, sondern mit
absolutem Vorrang auf seine Freiheit hin zu prüfen. Denn wenn
das Erkennen selbst schon durchgängig kausal determiniert sein
sollte, dann können wir das Stellen jeder weiteren
Freiheitsfrage getrost vergessen. 2)
Die Frage
(physiologischer) Determinismus oder Freiheit im
Erkenntnisvorgang ist also alles andere als eine sinnlose
Frage. Sie ist ein, wenn nicht sogar der Dreh- und
Angelpunkt des ganzen Freiheitsproblems. Karl Popper sah in
dieser Beziehung etwas genauer hin als Bieri. Der Determinismus,
schreibt Popper (Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis,
Hamburg 1984, S. 232 ff) schließt logisch begründete Einsicht
aus, weil sich der Erkenntnisvorgang dann selbst mit
Notwendigkeit vollzieht. Und weil das so ist, gibt es für ihn
auch keine Argumente, weder für ihn, noch gegen ihn. Für den
Determinismus gibt es überhaupt keine Argumente mehr: "Denn
nach dem Determinismus vertritt jemand irgendwelche Theorien -
etwa den Determinismus - wegen seiner bestimmten physikalischen
Struktur (etwa der seines Gehirns). Wir täuschen uns also (und
sind dazu physikalisch vorherbestimmt), wenn wir glauben, es gäbe
so etwas wie Argumente oder Gründe, die uns dazu bringen, den
Determinismus zu akzeptieren. Oder mit anderen Worten, der
physikalische Determinismus ist eine Theorie, über die man, wenn
sie wahr ist, nicht argumentieren kann, denn sie muß alle unsere
Reaktionen, auch das, was uns als auf Argumente gegründete
Überzeugung erscheint, auf rein physikalische Bedingungen
zurückführen. Rein physikalische Bedingungen, zu denen unsere
physikalische Umgebung gehört, veranlassen uns, zu sagen
oder zu akzeptieren, was immer wir sagen oder akzeptieren;
... Doch das bedeutet: Wenn wir glauben, wir hätten eine Theorie
wie den Determinismus wegen der logischen Kraft bestimmter
Argumente angenommen, dann täuschen wir uns gemäß der Theorie
des physikalischen Determinismus; oder genauer: Wir befinden uns
in einem physikalischen Zustand, der uns dazu bestimmt, uns
zu täuschen." (Siehe hierzu auch Popper/Eccles, Das Ich
und sein Gehirn, München 1982, S. 105; S. 641, Anm 3)
Eben dieser
Täuschung unterliegt bei Gültigkeit des Determinismus der
Erkenner seiner Handlungsmotive, wenn er annimmt, er habe sich
durch sachliche bzw logische Gründe vom Vorhandensein bestimmter
Handlungsmotive überzeugt. Falls der Determinismus Recht
hat, dann befindet er sich lediglich in einem physikalischen
Zustand, der ihn glauben macht, er habe so etwas wie logische
Gründe oder überzeugende Belege für seine Einsicht. Es ist
nicht die logische Kraft von Argumenten, sondern
die kausale Kraft seiner Hirnchemie, die ihm dies
vorgaukelt. Verhält sich unser Selbsterkenner jetzt wie Peter
Bieri und erklärt die Frage nach der Freiheit des Erkennens zur
sinnlosen Frage, dann wird er folglich niemals herausfinden, ob
er der Freiheit durch die sogenannte Selbsterkenntnis tatsächlich
näher kommt oder nicht. Es könnte durchaus sein, daß der
Determinismus Unrecht hat und uns die Selbsterkenntnis der
Freiheit schrittweise näher bringt. Aber Bieri wird es nie mit
Bestimmtheit behaupten können, sondern allenfalls eine
nicht begründete Glaubensüberzeugung hegen.
Es kann, wenn man
Poppers Argumentation folgt, in Wirklichkeit in einem
komplett kausal-deterministisch bestimmten Bewußtsein nichts
dergleichen geben wie logische Beweise, Plausibilisierungen,
sachliche Begründungen, und im echten Sinne wirksame
Erörterungen über das Für und Wider einer Auffassung. Das
alles sind nur Vorspiegelungen oder Täuschungen seitens
Vorgängen, die tatsächlich streng nach kausaler
Gesetzmäßigkeit verlaufen und keinen Raum mehr lassen für
logisch verankerte Reflexionen aller Art. Von der anderen
Seite gesehen: Läßt man logisch begründete und
orientierte Bewußtseinsvorgänge zu - und das tut letztlich jede
seriöse Wissenschaft - dann muß man implizit dem Bewußtsein
- speziell dem Denkbewußtsein - einen Grad an Freiheit und
Unabhängigkeit gegenüber den kausalen Vorgängen des
Organismus einräumen.
Übrigens gilt dieses Poppersche Argument spiegelbildlich auch
gegenüber der geistigen Welt. Popper selbst hat hier nur
die physikalisch-materielle Welt vor Augen. Man könnte
infolgedessen zu der irrigen Auffassung gelangen,
gegenüber der geistigen Welt stelle sich die Freiheitsfrage
nicht, weil der Mensch als geistiges Wesen per se frei sei.
Ein strenger Spiritualist könnte demgegenüber die Ansicht
vertreten, daß der Mensch von geistigen Mächten in allem was
er tut und denkt abhängig und gesteuert sei. Er sähe
nur eben die Silberfäden nicht, an denen er wie eine
Marionette von Geistwesen gelenkt und manipuliert werde. In
Wirklichkeit aber sei der Mensch der geistigen Welt
vollkommen ausgeliefert und von dieser Seite alles andere als
frei. Er sei zwar nicht physisch determiniert, weil es
die physische Welt in Wirklichkeit ja gar nicht gibt. Nichts
desto trotz sei er durchgängig der Macht und Willkür Gottes
oder etwaiger anderer bedeutender Geistwesen unterstellt.
Man könnte dies einen fatalistischen Spiritualismus,einen
spirituellen Fatalismus, oder vielleicht besser: einen
spirituellen Determinismus nennen. (So könnte etwa ein
Anthroposoph die Überzeugung vertreten, der Mensch sei zwar
in seinem Erkennen nicht physiologisch-physikalisch
determiniert, wohl aber karmisch. Und in allen seinen
Gedankenoperationen zeige sich nichts weiter als die Abfolge
und Wirksamkeit unentrinnbarer karmischer Notwendigkeit.
)
*
Übrigens hat
Steiner schon in der Vorrede zur Zweitausgabe von 1918 die
Problematik so weit und allgemein gefasst, dass in der
Philosophie der Freiheit nicht etwa nur an Freiheit
gegenüber den kausalen Naturmächten gedacht ist,
sondern auch gegenüber geistigen Mächten. So lautet
seine zweite der dort behandelten Wurzelfragen: "Die
andere Frage ist die: Darf sich der Mensch als wollendes Wesen
die Freiheit zuschreiben, oder ist diese Freiheit eine bloße
Illusion, die in ihm entsteht, weil er die Fäden der
Notwendigkeit nicht durchschaut, an denen sein Wollen ebenso
hängt wie ein Naturgeschehen?" (PdF.,a.a.O., S. 7) Es
geht hier, wie zu erkennen ist, nicht nur um Freiheit
gegenüber einer wie immer gearteten Naturkausalität
respektive -notwendigkeit. Sondern um Freiheit im Gegensatz zu
Notwendigkeit überhaupt. Der entscheidende Passus lautet: "
... wie ein Naturgeschehen?" Es geht um Determination
jedweder Art: Das an den Fäden der Notwendigkeit hängende
Naturgeschehen ist hier lediglich als Vergleichspunkt und
exemplarisches Beispiel gemeint für etwas an den Fäden der
Notwendigkeit Hängendes. Im Prinzip aber könnte es sich
ebensogut um geistige oder seelische Notwendigkeiten handeln,
an denen das Wollen hängen kann. Der von Steiner verwendete
Begriff der Notwendigkeit ist in diese Richtung völlig
offen. Steiner macht hier keine Einschränkung, in welchem
Sinne Notwendigkeit hier zu sehen ist. Naturhafte,
seelische und eben auch geistige Notwendigkeit sind
gleichermassen darunter zu fassen.
Ich erwähne
diesen letzteren Sachverhalt hier vor allem im Hinblick auf
Hartmut Traubs Buch Philosophie und Anthroposophie,
Stuttgart 2011. Speziell im Hinblick auf die dort (S 268 ff)
geäusserten erheblichen Bedenken Traubs an Steiners
Spinozakritik von S 17 ff der Philosophie der Freiheit.
Es sticht ja
in der von Steiner zitierten Briefpassage Spinozas ins Auge,
dass diese gewissermassen beginnt mit einer Vergesellschaftung
der Begriffe von Freiheit und Notwendigkeit.
So zitiert Steiner Spinoza eingangs: "«Ich nenne
nämlich die Sache frei, die aus der bloßen Notwendigkeit
ihrer Natur besteht und handelt, und gezwungen nenne ich die,
welche von etwas anderem zum Dasein und Wirken in genauer und
fester Weise bestimmt wird. So besteht zum Beispiel Gott,
obgleich notwendig, doch frei, weil er nur aus der
Notwendigkeit seiner Natur allein besteht. Ebenso erkennt Gott
sich selbst und alles andere frei, weil es aus der
Notwendigkeit seiner Natur allein folgt, daß er alles
erkennt. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in ein
freies Beschließen, sondern in eine freie Notwendigkeit
setze.» An dieser eigentümlichen Gemengelage von Freiheit
und Notwendigkeit ändert sich auch in Spinozas Ethik
nichts, die Traub in seiner Kritik als Referenz anführt.
Und eine solche Position - das lässt sich hier zunächst nur
allgemein und ungeschützt sagen, müsste aber eingehender
belegt und demonstriert werden - ist für Steiner völlig
unvertretbar. Dass Spinoza, wie Traub mit Recht zeigt,
natürlich auch von den einsehbaren Vernunftgründen des
menschlichen Handelns spricht, und damit die Freiheit auch mit
der menschlichen Erkenntnistätigkeit verknüpft, ändert
an dieser grundsätzlich widersprüchlichen Sachlage
nichts. Denn eine Frage wäre ja in Anlehnung an Popper
oben zu stellen: folgt die menschliche Erkenntnistätigkeit im
Sinne Spinozas nicht a priori wieder nur einer unsichtbaren
(geistigen) Notwendigkeit? Im Sinne Poppers wäre das
eigentlich nicht denkbar. Und ich meine im Sinne Steiners auch
nicht. Und eine andere Frage ist die: Was versteht eigentlich
Spinoza unter einsehbaren Gründen und
Erkenntnistätigkeit? Aus der nominellen Verwandtschaft
sprachlicher Formulierungen im Sinne Traubs auf die
Verwandtschaft der Erkenntnisbegriffe bei Steiner und Spinoza
zu folgern, scheint mir etwas reichlich kurz gegriffen. Bei
Steiner geht die Kernfrage der Freiheitsphilosophie nun
gerade darauf, was der Ursprung und die Bedeutung des Denkens
ist (s. o.). Ein ernsthafter Vergleich mit Spinoza müsste
sich dann der Aufgabe zuwenden, ob dieser sich eine
vergleichbare Kernfrage stellt wie Steiner, und wie er sie
einlöst. Bei Traub ist, so weit ich sehe, darüber nichts zu
erfahren. (Interessierte Leser, die selbst einen solchen
Vergleich anstellen wollen, darf ich zu diesem Zweck an
Spinozas Ethik verweisen. Siehe dort etwa in Teil II
(Von der Natur und dem Ursprung des Geistes) den
Lehrsatz 40 ff. Dazu können sie sich parallel die
Frage vorlegen, warum Rudolf Steiner in Kapitel III der
PdF so viel Wert legt auf die Beobachtung des Denkens,
respektive auf die Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung
des Denkens in Kap I, und was ihn methodisch in dieser
Beziehung von Spinoza unterscheidet. Wie zum Beispiel erkennt
Spinoza das Erkennen in der Ethik, Teil II,
Lehrsatz 43; siehe auch Teil III, Lehrsatz 58, und welche
Ansicht äussert Rudolf Steiner in dieser methodischen Frage
des Erkennens der Erkenntnis?)
Schliesslich
auch: Ist eine auf der Grundlage moralischer Phantasie und
moralischer Intuitionen vollzogene Handlung, die ich
vollziehe, weil ich sie liebe (Steiner), deckungsgleich mit
einer aus einsichtigen Gründen vollzogenen Handlung, die ich
vollbringe, weil ich gar nicht anders kann (Spinoza)? Ob ein
gewolltes Handeln aus einsichtigen Gründen nach
Spinoza überhaupt möglich ist, das wird unten ebenfalls
etwas zu betrachten sein.
Siehe zu
Spinozas Ethik auch folgenden Link:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/5217/1
Ein
Überblicksartikel zu Spinoza:
http://www.kunstinfrankfurt.de/BaruchDeSpinozaLayout.html#oben
Es ist auch
keineswegs so, wie Traub auf S. 271 f Steiner unterstellt,
nämlich dieser habe sich in seiner Spinozakritik "nahezu
ausschliesslich" auf die von Spinoza erwähnte
illusionäre Freiheit bezogen. Das ist durchaus nicht der
Fall - man muss es nur sehen (wollen). Und man sollte vor
allen Dingen nicht Quantität (Textumfang des Steinerschen
Zitats) mit Qualität (ihrem argumentativem Gehalt)
verwechseln. Denn in dem von Steiner wiedergegebenen Brief
Spinozas ist, wie Traub selbst erwähnt, sogar eine Definition
dessen vorhanden, was Spinoza unter Freiheit versteht.
Und zwar nicht nur, wie Traub schreibt, eine exemplarische,
erläuternde Definition der Freiheit anhand der Wesenheit
Gottes, sondern durchaus eine generelle Definition unabhängig
von dieser Gotteswesenheit. Und exakt mit dieser lässt
Steiner sein Spinozazitat auch beginnen mit den Worten
Spinozas: "Ich nenne nämlich die Sache frei, die aus der
blossen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt."
(Nicht nur in dem von Steiner zitierten Brief, sondern auch in
Spinozas Ethik findet sich eine vergleichbare
Formulierung an ausgesprochen prominenter Stelle, nämlich
gleich zu Beginn des Buches in der Definition 7. Siehe dazu
Spinozas Ethik in der lateinisch-deutschen
Studienausgabe des Felix Meiner Verlages, Hamburg 2010, dritte
verbesserte Auflage; S. 7 ) Exemplifiziert anhand der
Wesenheit Gottes wird dies von Spinoza erst im von Steiner
ebenfalls zitierten Folgesatz des Briefes: "So besteht
zum Beispiel Gott, obgleich notwendig, doch frei, weil er nur
aus der Notwendigkeit seiner Natur allein besteht. Ebenso
erkennt Gott sich selbst und alles andere frei, weil es aus
der Notwendigkeit seiner Natur allein folgt, daß er alles
erkennt. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in ein
freies Beschließen, sondern in eine freie Notwendigkeit
setze." Steiner ist da ersichtlich präziser in der
Textauffassung als sein Interpret Traub. Und es ist gewiss
nicht ohne Grund, dass Steiner mit eben dieser allgemeinen
Definition Spinozas beginnt und damit den qualitativ
gewichtigsten Anteil von dessen Gedankengang des Briefes
an erster Stelle aufgreift. Er hätte ihn auch weglassen
können und wäre anders vorgegangen, wenn er sich nur am
Aspekt der illusionären Freiheit Spinozas hätte aufhalten
wollen. Er hat also ein deutliches Bewusstsein für die
Gewichtung und Wertigkeit der Argumente.
"Argumentationsstrategisch", um ein häufiger
verwendetes Wort Traubs aufzunehmen, ein durchaus vernünftiges
Unterfangen. (Davon abgesehen wäre es wenig realitätsnah
anzunehmen, dass der Herausgeber von Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften - Steiner - so wenig über
das Verhältnis Goethes zu seinem mannigfachen philosophischen
Inspirator Spinoza aufgeklärt ist und Spinozas Philosophie
so ungenügend kennt, dass er den Fehler begeht bei Spinoza
die illusionäre Freiheit mit der echten zu verwechseln.
Siehe dazu Steiners zahlreiche Erläuterungen zu Spinoza
in Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, GA-1,
Dornach 1987)
Also wird man
mit guten Gründen unterstellen können, dass Steiner sich in
seinem abschliessenden Resüme dann ebenso auf diese
Definition der einleitenden Sätze mit bezieht, und nicht etwa
irrtümlich nur auf dasjenige, was bei Spinoza unter
illusionärer Freiheit firmiert, wie Traub behauptet. Für
Traubs Vermutung besteht gar kein Anlass. Denn warum sollte
Steiner Spinozas Definition von Freiheit in seiner
abschliessenden kritischen Beurteilung ausser Acht lassen,
wenn er sie eigens an erster Stelle anführt?
Interpretatorisch plausibel ist diese Vermutung einer
Vernachlässigung oder eines Übersehens des
schwerwiegendsten Argumentes durch Steiner nicht. Und
dass er es mit einbezieht ist bei Steiner auch ersichtlich,
wenn er nach dem Ende des Zitats (S. 18 f) ganz sachgemäss
kritisiert: "So notwendig, wie der Stein auf einen Anstoß
hin eine bestimmte Bewegung ausführt, ebenso notwendig
soll der Mensch eine Handlung ausführen, wenn er durch
irgendeinen Grund dazu getrieben wird." Wohlgemerkt:
"durch irgendeinen Grund ... getrieben". Das können
bei Beachtung der Vollständigkeit des Steinerschen Zitats
eben auch Vernunftgründe sein, die im Sinne Spinozas
notwendig zu Handlungen treiben. Womit Steiner bis in
die sprachliche Wendung hinein einen massgeblichen Kern der
spinozistischen Freiheitsphilosophie aufgenommen hat,
nämlich dessen Trieb- und Affektlehre, die bei all dem eine
fundamentale Rolle spielt. Wobei man als heutiger
Zeitgenosse eigentlich nur staunt, auf welch sonderbarem
bewusstseinsphänomenologischen Boden Spinoza seine
Urteils- und Entscheidungspsychologie in diesem Kontext
entwickelt.
Auf diesen
zentralen Punkt jedenfalls - dem aus einer mangelhaften
Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens
folgenden geistigen Determinismus Spinozas mit einhergehendem
Ich-Verlust - scheint Steiner doch sein Augenmerk vor
allen anderen Dingen zu richten. Siehe dazu Spinozas Ethik,
Teil I, Von Gott; ferner im Teil III. die
weitläufigen Anmerkungen zum Lehrsatz 2. Dort werden
unter anderem auch die Beispiele aus Steiners zitierter
Briefstelle angeführt. Und in ihren freiheitsphilosophischen
Konsequenzen sind sie dort noch weitaus prägnanter und
aussagefähiger als die Formulierungen in Steiners Zitat.
Angesichts des beträchtlichen argumentativen Aufwandes von
Seiten Spinozas kann man sie wohl als eine empirische
Schlüsselpassage in seiner Philosophie betrachten. Man
vergleiche mit Spinozas dortigen Ausführungen einmal Steiners
Kapitel III der Philosophie der Freiheit. Man wird dann
besser verstehen können, warum die Frage nach dem
Ursprung und der Bedeutung des Denkens für Steiner eine
so grosse Rolle spielt. Und warum es sehr sinnvoll ist, die
von Spinoza vorgelegten bewusstseinsphänomenologischen
Beispiele zu prüfen. Was daran ist realistisch, und was
blosse, zum Teil doch sehr abwegige Hypothese, Vermutung oder
wirklichkeitsfremde theoretische oder metaphysische
Konstruktion?
Ich denke,
dass diese der Erfahrung entlehnten Argumente Spinozas sehr
viel zum Verständnis von seinem Determinismus beitragen
können, weil sie im Kontext der Frage stehen, ob und wie weit
der denkende Geist überhaupt in der Lage ist, auf den
physischen Leib Einfluss zu nehmen und ihn zu Handlungen oder
Bewegungen zu veranlassen. Und wie Beschlüsse zustande
kommen und zu bewerten sind. (Letztere Frage ist für Rudolf
Steiner die Kernthematik seiner Philosophie der Freiheit)
Siehe zum Thema Beschlüsse die beiden Schlußsätze Spinozas
in den genannten Anmerkungen zu Lehrsatz 2. im
Teil III der Ethik: "Die erwähnten Entscheidungen
des Geistes [zu Handlungen, MM] entstehen im Geist mithin mit
derselben Notwendigkeit, wie die Ideen von wirklich
existierenden Dingen. Wer also glaubt, er rede oder
schweige oder tue sonst etwas aus einer freien
Entscheidung des Geistes, der träumt mit offenen Augen."
Hier geht es, das muss man hinzufügen, nicht um illusionäre
Freiheit, sondern die getroffenen Aussagen sind ganz
grundsätzlicher Natur und gelten für sämtliche
Handlungen respektive Entscheidungen. Zwar spricht Spinoza
hier auch von geträumten oder eingebildeten Entscheidungen,
doch diese stellt er gewissermassen auf eine Stufe mit den
wachbewussten, weil das Nebeneinanderbestehen verschiedener
Entscheidungsbewusstheiten auf einen Widerspruch führen
müsste, wenn man die eine akzeptiert, die andere aber nicht.
Da dies aber nicht sein könne werden sie allesamt in das
Gebiet der Notwendigkeiten verwiesen. Die unterschiedlichen
Qualitäten von geträumten und wachen Entscheidungen
scheinen ihm argumentativ, und das ist wirklich bemerkenswert,
irrelevant. Die Ethik Spinozas ist nicht gerade reich
an bewusstseinsbezogenen empirischen Belegen. Umso
aufschlussreicher ist es zu beobachten, wie er mit dem
Wenigen verfährt, was er an bewusstseinsphänomenologischen
Grundtatsachen überhaupt beibringt.
Deswegen noch
einmal das Zitat ausführlicher: "Wenn wir aber träumen,
daß wir sprechen, glauben wir auf Grund eines freien
Entschlusses des Geistes zu sprechen, und dennoch sprechen wir
nicht, oder wenn wir sprechen, so geschieht es auf Grund einer
willkürlichen Bewegung des Körpers. Uns träumt ferner, daß
wir manches den Menschen verhehlen, und zwar nach demselben
Beschlusse des Geistes, nach welchem wir wachend
verschweigen, was wir wissen. Uns träumt endlich, daß wir
manches nach dem Beschlusse des Geistes tun, was wir
wachend nicht wagen, und deshalb möchte ich wohl wissen,
ob es im Geiste zwei Gattungen von Beschlüssen gebe,
nämlich phantastische und freie? Wenn wir nicht so weit im
Unsinn gehen wollen, muß man notwendig zugeben, daß dieser
Beschluß des Geistes, den man für frei hält, sich von der
Vorstellung selbst oder Erinnerung nicht unterscheidet
und nichts anderes ist als jene Bejahung, welche die Idee,
sofern sie Idee ist, notwendig in sich schließt (siehe
Lehrsatz 49, T. 2). Folglich entstehen diese Beschlüsse des
Geistes nach derselben Notwendigkeit im Geiste wie die Ideen
der wirklich daseienden Dinge. Wer also glaubt, daß er aus
freiem Beschlusse des Geistes spreche oder schweige, oder
sonst etwas tue, träumt mit offenen Augen."
Wie
wachbewusste Entscheidungen zustande kommen, welchen Anteil
ein selbstbewusstes Ich daran möglicherweise hat, und wie
sich qualitativ ein Traum vom wachen Bewusstsein abhebt - das
alles interessiert hier nicht. Spinoza räumt den
augenfälligen Unterschied zwischen geträumten und wachen
Entscheidungen rigoros beiseite, setzt Traumphantasien mit
wachbewussten Beschlüssen qualitativ gleich und siedelt sie
epistemologisch und freiheitsphilosophisch auf dem selben
Niveau an. Ganz offensichtlich ist er, aus welchen
Gründen auch immer, hier nicht in der Lage die gewaltige
Differenz zwischen geträumten und wachbewussten
Entscheidungen zu bemerken, zu bewerten und adaequat in
seine Theorie der Entscheidungsbildung einzubringen. Die
Annahme, dass es tatsächlich zwei verschiedene "Gattungen
von Beschlüssen" geben könne, nämlich "phantastische"
(geträumte) und "freie" (wachbewusste), zwischen
denen genetisch gesehen Welten liegen, hält er stattdessen
für "Unsinn".
Vorausgesetzt
die Übersetzung aus dem Lateinischen ist hier angemessen,
dann erscheint der ganze Argumentationsgang mehr als seltsam.
Um nicht zu sagen so hochgradig abenteuerlich, dass die
nächstgelegen Frage eigentlich nur lauten kann: Was hindert
ihn nur daran, die auf der Hand liegende Verschiedenheit von
wachen und geträumten Beschlüssen zu sehen? Und
möglicherweise zu erkennen, dass geträumte Beschlüsse eben
nur scheinbare sind und keine wirklichen, weil ihnen
eigentlich alles fehlt, was sie in irgend einem seriösen Sinn
als "Beschlüsse" ausweisen könnte - nämlich
Wachheit des Bewusstseins, gedankliche Kontrolle und das mehr
oder weniger sorgfältige Abwägen von Gründen und
Gegengründen. - Es fehlt ihnen generell gesagt die
Zurechnungsfähigkeit des Beschliessenden. Der "Geist"
hat eben im Traum nichts "beschlossen", weil
derjenige, der hätte beschliessen können - die Person oder
das Ich des Träumers - geistig abwesend war. Infolgedessen
ist es einigermassen verwegen zu glauben, geträumte und
wache Beschlüsse seien vergleichbar, oder gar dieselben,
nach denen einmal dies, und einmal das Gegenteil davon
beschlossen werde. Der Träumer erlebt nur ohnmächtig
seine eigendynamischen Traumbilder und weiss nicht, dass er
träumt. Während der Wache sehr wohl weiss, dass er wach ist,
das Geschehen beeinflussen kann und die Beschlussbildung in
der Hand hat. Er weiss auch dass und wann er geträumt hat,
während der Träumende nicht weiss wann er wach war und wie
sich das anfühlt. Deswegen ist es auch wenig wahrscheinlich,
dass der Träumer wirklich glaubt "aus einem
freien Beschlusse des Geistes zu sprechen".
Was Spinoza
den entscheidenden Hinweis auf verschiedene Gattungen
hätte geben können, nämlich eine Untersuchung der
Bewusstseinsqualitäten und Genese von phantastischen und
freien Beschlüssen, das fegt er buchstäblich mit der
folgenschweren Bewertung "Unsinn" vom Tisch.
Vielleicht hätte ihn, wenn er noch weiter in diesem "Unsinn"
gegangen wäre, eine nähere Untersuchung von wachen
Beschlüssen zu der Entdeckung geführt, dass diese auch
nicht von einheitlicher Art sind, und er wäre auf eine dritte
Gattung gestossen - nämlich innerhalb der wachen Beschlüsse
auf die potentiell freien. Da nun die Entscheidungsbildung im
Wachbewusstsein die Voraussetzung für ein angenommenes
entscheidungsgeleitetes freies Handeln bildet, leuchtet
es ein, dass für Spinoza derjenige mit offenen Augen träumen
muss, der da glaubt, seine wachen Entscheidungen als freie
Beschlüsse zu fassen, da sich seine wachbewussten
Entscheidungen grundsätzlich ja nicht von den geträumten
unterscheiden. Ich betone noch einmal: Das Gesagte gilt
in Spinozas Augen für sämtliche Entscheidungen. Seien sie
aus Vernunftgründen oder anderen erfolgt. Oder wie sein
Fazit lautet: "Folglich entstehen diese (geträumten
wie wachen, MM) Beschlüsse des Geistes nach derselben
Notwendigkeit im Geiste wie die Ideen der wirklich
daseienden Dinge." Die Beschlüsse des Geistes - und zwar
wache wie geträumte - entstehen "nach derselben
Notwendigkeit". Das heisst: die Beschlussfindung und
-bildung ist generell und vollständig determiniert, und
nichts davon ist in des Menschen freies Vermögen gelegt.
Entscheidungen und Beschlüsse überkommen den Menschen
und werden nicht aktiv gefasst beziehungsweise
herbeigeführt. Das Ich des Menschen beschliesst
nichts, sondern ist allenfalls Zuschauer eines
Beschlussvorganges, der sich mit naturgesetzlicher
Notwendigkeit in ihm vollzieht. (Interessant ist es zu sehen,
dass die in der Steinerschen Briefstelle zitierten Beispiele
Spinozas bei letzterem wie auch hier mehrfach
wiederkehren und durchaus auch eine exemplarische
Bedeutung innerhalb dessen Freiheitsdiskussion haben. Denn
Spinozas Argumentation im Lehrsatz 2 richtet sich gegen
diese dort exemplifizierte naive Freiheitsgläubigkeit.
Dann ist es schon erhellend seiner hierzu entfalteten
empirischen Beweisführung zu folgen. Es ist ein
offenkundiger und weitgehend empirieferner philosophischer
Rationalismus, den er hier entfaltet, aber keine
empiriegeleitete Philosophie)
Thematisch
anders gelagert, aber argumentativ eingebettet in die
umfangreichen Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im Teil III der
Ethik ist die Frage, wie eigentlich das bewusste Denken mit
dem Körper interagiert. Zu dieser Frage äussert sich
Spinoza, und zwar besonders eindeutig, schon in dem
vorangestellten kurzen, aber folgenreichen einleitenden
Lehrsatz 2: "Der Körper kann den Geist nicht zum
Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu Bewegung
und Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn es noch etwas
anderes gibt.)"
Was eigentlich
die biologische oder sonstige Grundlage für
entscheidungsgeleitetes Handeln ist, ist streng genommen
bis heute fast so unverstanden wie zu Spinozas Zeit und
nach wie vor umstritten, aber im allgemeinen wird die
gewollte Interaktion zwischen Denken und Körper als Faktum
akzeptiert. Die Akzeptanz besteht inhaltlich in der Annahme,
der Mensch sei für seine Taten verantwortlich, weil er sie
von der Vernunft her organisieren, steuern und bewerten kann.
Das heisst, man nimmt an, seine bewussten leiblichen
Äusserungen seien dem Einfluss seiner Vernuft und seines
Urteilsvermögens prinzipiell unterstellt. Worauf diese
Interaktion zwischen Denken und Handeln im
physiologischen oder sonstigen Sinne genau beruht und wie
sie verläuft ist wie gesagt bis heute nicht ernstlich
geklärt, aber sie wird auf jeden Fall aus Evidenzgründen
unterstellt und vorausgesetzt. Es ist einfach evident,
das wir willentlich und gedankengesteuert zur Arbeit gehen,
Englisch lernen oder dem Bedürftigen einen kleinen
Geldbetrag schenken. Auch wenn die genaue Wechselwirkung
zwischen Denken und Leibesäusserung wissenschaftlich noch im
Dunkeln liegt. Für Spinoza indessen ist es laut Lehrsatz 2
prinzipiell gar nicht möglich, dass vom Denken her irgend ein
handlungsbestimmender Einfluss auf den Körper ausgeht,
weil laut nachfolgendem Beweis zu Lehrsatz
2 Körper nur durch andere Körper, aber nicht durch Gedanken
bewegt werden können: " ... die Bewegung und Ruhe des
Körpers muß durch einen anderen Körper entstehen, welcher
auch zur Bewegung oder Ruhe durch einen anderen bestimmt
worden ist...".
In den
Anmerkungen zum Lehrsatz 2 wird dies, unter stetigem
Hinweis auf das Nichtwissen in diesen Dingen, teils mit recht
modern und naturwissenschaftlich anmutenden empirischen
Belegen und Fragestellungen flankiert, die demonstrieren
sollen, dass menschliche Entscheidungen auf Aktionen des
Körpers ohne Einfluss sind. Darunter auch
bewusstseinsphänomenologische: Auf Erinnern und
Vergessen habe der Mensch keinen Einfluss. - Was zu
prüfen wäre und nachweislich nicht der Fall ist, wie jeder
ernsthafte Selbstversuch zeigt. Dass es einen
unbeeinflussbaren Erinnerungs- und Vergessensautomatismus gibt
kann nur behaupten, wer diesen Dingen nie gezielt im
Selbstbeobachtungsexperiment nachgegangen ist. Die
unbeeinflussbare Erinnerung indessen ist für Spinoza ein ganz
ernst zu nehmendes und schwerwiegendes
bewusstseinsphänomenologisches Argument, um wache
Beschlüsse mit geträumten gleichzusetzen. Siehe seinen
resümierenden Gedankengang oben. Die Vorgänge des
Bewusstseins ereignen sich eben, und wir können sie
nur hinnehmen! (Hier wird vorausgesetzt, dass Spinoza damals
in seinem Bewusstsein vergleichbar ebenso organisiert war wie
wir. Die Möglichkeit, dass er seine Einflusslosigkeit auf
Erinnern und Vergessen tatsächlich auch so erlebt hat, wie er
sie beschreibt, und auch seine Beschlussbildung vielleicht
den oben skizzierten traumartigen Charakter hatte, besteht
grundsätzlich auch noch. Dann wäre sein Bewusstsein vor
rund 400 Jahren qualitativ in einigem doch sehr anders
organisiert, als das gegenwärtig normalerweise der Fall ist.
Dieser interessanten Frage nach einem möglichen
historischen Bewusstseinswandel kann hier leider nicht
nachgegangen werden.)
Erstaunlicherweise
aber findet sich bei Spinoza auch der generelle Hinweis
darauf, dass der Körper allein eben zu vielem fähig sei.
Sogar kulturelle Grossleistungen wie Kirchbau und
Kunstwerke hätten danach ihren Ursprung nicht in denkerischen
Entscheidungen und Entwürfen, sondern vernunftunabhängig in
den wahren Wunderleistungen des menschlichen Leibes. Und zwar
führt Spinoza das unter anderem aus im argumentativen
Rückgriff auf Schlafwandler, die gelegentlich bemerkenswerte
Dinge tun, worüber sie im wachen Zustand sehr verblüfft
sind. Genialische Tatsachen zeigen sich eben in der gesamten
Natur, auch dort, wo vom Denken keine Spur zu finden ist, weil
die Natur so weise eingerichtet ist. Warum sollten sie
beim Menschen nicht durch die ebenfalls genialische aber
ausschliesslich organische Funktion des menschlichen Leibes
zustande kommen? Es ist nach Spinozas Auffassung ersichtlich
realistischer anzunehmen, dass Kirchbauten und Tempel nach
demselben Prinzip entstehen wie die intelligenten Bauten
von Termiten, Spinnengewebe und Vogelfedern: Aus einer
universellen Naturvernunft heraus und nicht aus einer
individuellen menschlichen. Es besteht weder ein notwendiger
Anlass vernunftvoll erscheinende menschliche Taten mit dem
menschlichen Denken faktisch in Verbindung zu bringen, noch
ist dies möglich. Der Glaube der Menschen, sie könnten mit
der Vernunft auf die Bewegungen ihres Leibes Einfluss nehmen,
sei eben naiv und anhand der Tatsachen nicht zu belegen.
Auch dieser
Gedankengang mutet wie im Fall der Traumbeschlüsse derart
abenteuerlich und an den Haaren herbeigezogen an, dass man den
Eindruck hat, Spinoza habe sich hier mit aller Gewalt zu einer
Art kopernikanischen Strategie entschlossen. Nämlich
gegen jede Evidenz zu argumentieren, und eine kopernikanische
Wende in der Bewusstseins- und Handlungsauffassung rein
rationalistisch zu inszenieren. Freilich ist der Lebens- und
Erlebenszusammenhang im Fall der himmelsmechanischen
Erscheinungen unmittelbar nicht vorhanden, der das Trügerische
eines vermeintlichen Umlaufs der Sonne um die Erde leicht
entlarven könnte. Deswegen ist es dort durchaus angemessen
eine Beweisführung gegen die scheinbare Evidenz zu
suchen. Während wir im Fall von Träumen, Wachen,
Urteilsvorgängen oder von willkürlichen Bewegungen in einem
Erlebenszusammenhang mitten drin stehen. Näher als durch die
unmittelbare Erlebensweise können wir diesen Phänomenen
gedanklich nicht kommen. Und näher als Urteils- und
Denkvorgänge können uns überhaupt keine Phänomene kommen.
Deswegen haben sich bis heute die Menschen trotz aller
gegenteiligen Beschwörungen mancher Neurobiologen und
aller populärwissenschaftlichen Bekehrungsversuche nicht von
der Überzeugung abbringen lassen, dass sie es sind,
die denken, urteilen und sprechen und nicht das Hirn. Das
von Spinoza hier nahegelegte Bild vom Menschen gleicht
doch eher einem Untoten, als einem menschlichen Individuum.
Mit dieser
Unfähigkeit des Geistes den Körper zu Handlungen zu
bestimmen korrespondiert eine analoge Unfähigkeit des
Denkens, sich aktiv mit dem Geist (besser vielleicht:
mit Gedanklichem) in Verbindung zu bringen. Infolgedessen
ist die Wahrnehmung von Ideellem für Spinoza ebenfalls
ein blosses Leiden, eine passive Wahrnehmung und kein aktives,
gewolltes denkerisches Geschehen. Auch ideelle
Wahrnehmungen - hier haben wir eine deutliche Parallele zum
oben erörterten Prozess der Beschlussbildung -
überkommen den Menschen und werden nicht aktiv aufgesucht
oder herbeigeführt. (Ein modernerer Psychologe des 19. oder
frühen 20. Jahrhunderts würde vielleicht von einem rein
assoziativen Mechanismus sprechen.) Wir werden weiter
unten etwas darauf zurückkommen. Ein agiles und
selbständig handelndes oder erkennendes Ich
jedenfalls, das muss man wohl sagen, kommt bei Spinoza
nicht vor. Sondern nur ein betroffener Zuschauer im Stück
der Notwendigkeiten.
Abgesehen
davon, dass bei Spinoza alles Geschehen ursächlich in Gott
und nicht in der Materie gründet, und er dafür argumentativ
sehr viel Aufwand investiert, ist er mit seinem
Determinismus dem physikalischen strukturell nicht nur
ziemlich ähnlich, sondern auch methodisch verwandt, wie
seine empirischen Belegversuche oben zeigen. (Infolgedessen
gab und gibt es nicht wenige, die ihn für einen Materialisten
halten, der seinen Materialismus lediglich theologisch
verhüllt habe. Einer der Gründe dafür, warum Marxisten
in ihm gern einen Vorläufer des modernen Marxismus sehen.
Siehe etwa
http://www.spinoza.de/Spinoza_Vorgeschichte_Marxismus.pdf)
Offensichtlich jedenfalls nimmt er ein an den
Naturwissenschaften orientiertes Prüfen und Bewerten der
empirischen Tatsachen mitunter, wenn auch auf sehr einseitige
Weise, ernst. Doch sein Umgang mit den empirischen Tatsachen
des Bewusstseins offenbart gerade dies: Die empirischen
Tatsachen scheinen gegenüber der Theoriebildung allemal
nachrangig. Sie sprechen sich nicht aus, sondern werden
gewaltsam in ein gedankliches Schema gepresst und im Zweifel
in grotesker Weise umgedeutet. Auch dies eine deutliche
Parallele zum Physikalismus. Ein autonomer
Gedankenbildner oder Entscheidungsträger für Handlungen
findet sich infolgedessen bei beiden Formen des Determinismus
nicht, ob sie nun von Gott oder von der Materie ihren Ausgang
nehmen. Und am Ende bleibt, wie von Popper gegen den
Physikalismus vorgebracht, auch dasselbe Problem wie beim
Physikalismus: Wie kommt denn der Determinist, ob physikalisch
oder geistig orientiert, dazu, an die Gültigkeit seiner
Argumente zu glauben, die er für den Determinismus ins Feld
führt? Die entscheidende Frage zielt damit auf den, der sich
das alles ausdenkt. Er kann es ja nur glauben unter Berufung
auf eine Instanz, die eben nicht vollständig determiniert
sein kann - und das ist das urteilende, prüfende und
erwägende Ich des Denkers. Damit aber hat er seinem
Determinismus bereits den Boden entzogen. Wenn ihm das nicht
klar ist, dann deswegen, weil er sich mit den faktischen
Vorgängen seiner Gedanken- und Urteilsbildung nicht weiter
auseinandersetzt und die richtigen Konsequenzen daraus
zieht.
Bei Spinoza
führt das auf die Frage, woher er denn für den Teil V der
Ethik die Überzeugung nimmt, aktiv in ein vollständig
determiniertes Geschehen eingreifen zu können, welche
empirischen Belege er dafür beibringt und wie plausibel
diese sind. (Siehe dazu den Lehrsatz 1 im Teil III
der Ethik und den nachfolgenden Lehrsatz 2. nebst
Anhang) Denn wenn er glaubt dies aktiv tun zu können, so muss
sich diese Aktivität schon im Prozess der
Entscheidungsfindung oder Urteilsbildung nachweisen
lassen. Diese aber, so scheint es doch, sind bei ihm ganz und
gar frei von individueller Aktivität und Autonomie, sondern
gleichen aufs Haar dem Ausgeliefertsein an etwas, das sich
notwendig vollzieht. Deswegen seine Gleichsetzung von
Traumbeschlüssen mit wachen. Es gibt seinen bisherigen
empirischen Ausführungen nach gar kein Anzeichen von
geistiger Autonomie, und die Macht des Verstandes und
die menschliche Freiheit, von denen im V. Teil der
Ethik die Rede ist, erscheinen im Lichte seiner oben
erläuterten Befunde wie ein Hirngespinst. Plötzlich wird nun
aber ohne jede Vorwarnung und vollkommen unbegründet jemand
aus dem Hut gezaubert, der eben doch Entscheidungsträger ist
und die Gedanken selbsttätig verbindet. Denn was er für den
Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik an
Initiativmöglichkeiten des Ich voraussetzt, verlangt auch ein
aktives Ich, das bei der Beschlussbildung die Gedanken
selbsstätig, und nicht traumartig miteinander verbindet.
Bei Spinoza ist das ein noch etwas anonymes "Wir",
das nun laut Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik zur
Überraschung des Lesers etwas tun soll, wozu es laut Theorie
der Beschlussbildung eigentlich gar nicht fähig sein dürfte:
Nämlich in eigener Tätigkeit des Ich Gedanken trennen und
verknüpfen, die sich angeblich nur selbst untereinander
verknüpfen können. Ja, - Ich? - wie denn? - Ich soll in
eigener Tätigkeit Gedanken verknüpfen? - fragt sich der
erstaunte Leser. Diese Möglichkeit hat er doch im Teil III
schon komplett aus der Hand gegeben. Dafür besteht folglich
kein konzeptioneller Spielraum mehr. Denn Traumbeschlüsse
können, wie von ihm selbst betont, Gedanken nicht aktiv
und autonom verbinden oder trennen. Und auf Erinnern und
Vergessen habe ich angeblich ja auch keinen Einfluss. Wie
soll denn so etwas dann überhaupt gehen? - Der Lehrsatz 2
im Teil V. der Ethik ist infolgedessen und
möglicherweise bloss missverständliche philosophische
Rhetorik, und ein aktiv verbindendes und trennendes
"Wir" gar nicht gemeint. Dann freilich wäre die
Macht des Verstandes nebst Freiheit ohnehin
eine bloss traumhaft eingebildete, sprich: illusionäre. Wie
auch immer. Auf jeden Fall aber bedarf er einer ganz anders
gearteten Konzeption der Beschlüsse und Entscheidungsfindung,
als sie Spinoza im Teil III der Ethik vorgelegt hat, um ihren
dort konzeptionell veranlagten illusionären Charakter
abzulegen. Darauf allerdings wartet der Leser vergeblich.
Nehmen wir
also Hartmut Traubs Hinweis auf die von Steiner angeblich
übersehenen Vernunftgründe Spinozas ernst, so müssten
wir bei der Genese und der faktischen Umsetzung
dieser Vernunftgründe Spinozas fündig werden und einen
entscheidenden empirischen Fingerzeig auf die
Freiheitsrelevanz von Vernunftgründen entdecken. Was aber
finden wir dort vor? - Die wachbewussten Entscheidungen und
Beschlüsse kommen nicht anders zustande als geträumte oder
phantastische. Es existiert nur eine Gattung von
Beschlüssen und der gehören sowohl wache wie geträumte
gleichermassen an. Die mögliche Existenz einer weiteren
"Gattung" von Beschlüssen wird mit dem
Prädikat "Unsinn" abgelehnt. Also haben die aus
Vernunftgründen gefassten Beschlüsse qualitativ und
freiheitsphilosophisch keinen anderen Status als die
geträumten. Sie kommen entsprechend mit derselben
Notwendigkeit zustande wie auch Traumbeschlüsse zustande
kommen. Und daraus folgt: "Wer also glaubt, daß er aus
freiem Beschlusse des Geistes spreche oder schweige, oder
sonst etwas tue, träumt mit offenen Augen." Das ist
gedanklich zwar konsequent, aber vollkommen abwegig und
meilenweit entfernt von jeder Realität. Man fragt sich, wie
Spinoza die Freiheit des Ich im vernunftgeleiteten
Handeln ansiedeln will, wenn er beides schon im Erkennen oder
bei der Beschlussbildung nicht findet? Wie könnte er im Teil
V der Ethik noch stringent darauf verfallen, wenn er sich
empirisch im Teil III schon so gründlich darin widerlegt?
*
Um es
sinngemäss mit den Gedanken des Steiner von 1899 zu fassen:
Erst projiziert der Mensch - Spinoza - ganz logisch auf der
Basis seiner Definitionen ein allbeherrschendes Gotteswesen in
die Welt hinaus, um sich hernach von diesem hinausprojizierten
Gott durchgängig bestimmt zu denken. Nur übersieht er dabei,
dass es ja nur die Produkte seiner eigenen Subjektivität
waren, die er da zuallererst in seine Definitionen hineinlegt
hat, von denen er sich jetzt, seiner Logik folgend, beherrscht
glaubt. Er versetzt ein allmächtiges Wesen in die Welt,
während er gleichzeitig sein Ich als Produzenten dieser
Gedankenbildung vergisst und verliert. (Siehe Rudolf Steiner,
Der Individualismus in der Philosophie, in: GA 30,
Dornach 1989, S. 99-152. Zu Spinoza siehe dort S. 127 f.
Erläuternd dazu siehe ebd, S. 148 ff.)
Von dieser
Einsicht, dass die Eigenschaften Gottes wie Vollkommenheit,
Wesensnotwendigkeit etc, aus denen Spinoza mit dem Anspruch
auf Notwendigkeit wiederum seine Handlungsmaximen zwecks
Beherrschung der Affekte mehr oder weniger herleitet,
ursprünglich sein eigenes gedankliches Erzeugnis sind,
ist die Ethik Spinozas in der Tat nicht nur weit
entfernt, sondern völlig frei. Oder wie Steiner in dem
erwähnten Aufsatz (S.127) sagt: "Daß der Mensch das
Bild, unter dem er sich diese Notwendigkeit
[Wesensnotwendigkeit Gottes, MM] vorstellt, seinem eigenen
Inhalte entnimmt, davon hat Spinoza kein Bewusstsein."
In der Tat: Schon die Behauptung über Gottes Vollkommenheit
ist in den Augen Spinozas eine regelrechte geistige
Zwangshandlung, die auf dem Wege einer geistigen
Nötigung durch Gott zustande kommt. Denn, so Spinoza, seine
Aussagen über Gottes Vollkommenheit seien nur deswegen
erfolgt, weil Gottes Vollkommenheit selbst ihn dazu
"gezwungen" habe, diese Vollkommenheit zu
behaupten. (Siehe Ethik, Teil I., Von Gott;
Anmerkung 2 zu Lehrsatz 33) Gott ist der eigentliche Urheber
dieser Überzeugung - nicht der Philosoph Spinoza. Denn der
folgt lediglich Gottes Machtspruch, respektive göttlicher
Notwendigkeit. Man könnte das bezeichnen als eine Erklärung
im Lichte der eigenen (deterministischen) Überzeugung.
Aber nicht im Lichte der empirischen Ereignisse, die bei der
Bildung dieser Überzeugung tasächlich vorgegangen sind.
Denn schon die im allgemeinen doch sorgfältig abwägende und
kritische Gedankenführung Spinozas, die seiner Ethik
zugrunde liegt, und worauf sie aufbaut, belegt nachprüfbar
das völlige Gegenteil dessen, was er soeben behauptet hat:
Sie belegt die Nicht-Existenz göttlicher Erkenntniszwänge
und eines Determinismus, so wie er ihn versteht.
Ironischerweise, möchte man sagen, gründet sich seine
Ethik auf etwas, was er darin unter erstaunlicher
Investition gedanklicher Arbeit theoretisch so gut wie
abgeschafft hätte, falls man seine Behauptung ernst nähme -
die menschliche Gedankenfreiheit.
Wenn man
Steiner in diesem Kontext recht versteht, dann sieht er einen
engeren Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des
naturwissenschaftlichen Denkens mit seinem
Kausalitätsprinzip und Spinozas nicht mehr christlichem
Gottesverständnis, das letztlich von diesem
naturwissenschaftlichen Kausalitätsdenken inspiriert
ist, und ein Analogon zur Naturkausalität in Form von
göttlicher Notwendigkeit geschaffen hat. Im Prinzip, so
könnte man Steiners Gedanken erläutern, ist dieses Bild der
göttlichen Notwendigkeiten mehr oder weniger dem damaligen
naturwissenschaftlich-philosophischen Zeitgeist
geschuldet. Doch warum sollte in einem vollkommenen Wesen
(Gott) zugleich die Notwendigkeit vorliegen, seine
gesamte Schöpfung bis ins Kleinste nach dem Vorbild der
materiellen Welt oder nach Art logischer Zusammenhänge - wenn
man will: logisch-mechanistisch, nach dem Vorbild von etwas
Totem - auch zu determinieren? Ist ein umfassender
Determinismus wirklich ein notwendiger Ausdruck von
Vollkommenheit, zu dem es keine Alternativen gibt? Was
logisch oder aus dem Zeitalter heraus scheinbar einleuchtet
braucht faktisch längst nicht so sein. Was sich der Philosoph
also unter der Vollkommenheit Gottes jeweils vorstellt, -
und das gilt verständlicherweise nicht nur für Spinoza
-, ist in vielerlei Richtung hin durchaus offen und
entscheidungskontingent, weil historisch bedingt und insofern
von eher zufälligen Faktoren. Er muss auf jeden Fall den
Inhalt für diese gedanklich erschlossene Vollkommenheit aus
sich selbst holen - und an dieser Stelle wird das Verfahren
einigermassen windig und anfechtbar. Denn dieser Inhalt ist
gebunden an die Grenzen und an den Horizont seiner
menschlich beschränkten philosophischen Phantasie. Und die
muss mit der Realität nicht unbedingt übereinstimmen.
Steiner speziell dazu an ganz anderer Stelle: "Als man
anfing, nach Gottesbeweisen zu suchen, war dieses Suchen
selbst schon ein Beweis dafür, daß man den lebendigen
Zusammenhang mit der göttlichen Welt verloren hatte. Deshalb
kann auch kein intellektualistischer Gottesbeweis in einer
befriedigenden Weise geführt werden." (Rudolf
Steiner, Drei Schritte der Anthroposophie: Philosophie,
Kosmologie, Religion. Zehn Auto-Referate zum Französischen
Kurs am Goetheanum Dornach, 6. bis 15. September 1922, GA 25,
Dornach, 1999, IV. Erkenntnis- und Willensübungen S. 37)
Und Gideon Spicker zum selben Thema aus
religonsphilosophischer Sicht: "Von einem
willkürlich entworfenen Begriff - Idee der Vollkommenheit -
kommt man durch bloßes Schlußverfahren nicht zu der ihm
korrespondierenden Realität. Es ist und bleibt nur eine
gedachte Vollkommenheit." (Gideon Spicker, Am
Wendepunkt der christlichen Weltperiode, Stuttgart 1910,
Nachdruck des Georg Olms Verlages, Hildesheim 1998, S. 38.
Sowohl der ontologische Gottesbeweis, der von einer
erschlossenen unendlichen Vollkommenheit Gottes ausgeht, als
auch der kosmologische Gottesbeweis, der folgernd
auf eine unbedingte Ursache alles Gewordenen führt, liefert
nach Spicker keine Erfahrunsgegebenheit, sondern bleibt ein
inhaltlich unbestimmtes logisches Konstrukt. Die
eigentliche Beschaffenheit dieses erschlossenen Gottes
bleibt in beiden Fällen völlig im Dunkeln. Und liefert
damit, so möchte man ihn ergänzen, nahezu beliebigen Raum
für philosophische Phantasieproduktionen. Siehe Spicker
a.a.O., S. 27)
Ebensogut
vorstellbar wäre nun beispielsweise, dass dieser vollkommene
Gott gleichsam Ebenbilder seiner selbst in die Welt entlässt,
die seine Schöpfung auf unterschiedlichen Stufen fortführen,
ohne dass sie seinen permanenten deterministischen Zwängen
unterliegen. Das wäre eine Vollkommenheit mit dem immanenten
Impuls zur fortlaufenden Schöpfung in Freiheit. Im
christlichen Bild von den Gotteskindern kommt dies ja auf eine
gewisse naive Weise auch zum Ausdruck. Er hätte damit seine
Substantialität weitergeschenkt und die eigene Vollkommenheit
gleichsam vervielfacht, indem er sie auf andere Wesen
überträgt, die zwar in ihm wurzeln, aber nicht durchgängig
von ihm beherrscht werden. Nur - dieser Gedanke ist der
zeitgenössischen Kausalitätsphilosophie Spinozas eben noch
reichlich fremd und weniger naheliegend. Der Kausalgedanke ist
philosophisch zu seiner Zeit stark präsent und ein
vergleichbar beeindruckender Begriff des Lebendigen noch
nicht in Sicht. Eine spätere Philosophie des Organischen
und Lebendigen würde neue Perspektiven eröffnen und
sich ihren Gott vermutlich eher nach dem Idealbild einer
göttlichen Evolution und organischen Werdens, - das ist
im Sinne eines lebendigen, beweglichen Organismus -, und nicht
nach dem einseitigen Muster eines lieblosen und zwanghaften
Mechanismus der toten Materie oder einer starren Logik formen.
Das wird im Zeitalter Kants ja auch beginnen der Fall zu
sein, und beispielsweise bei Johann Gottlieb Fichte wird der
Begriff Gottes sehr eng mit dem Begriff des Lebendigen und der
Liebe verknüpft. (Siehe Fichtes Die Anweisung zum
seligen Leben
[http://www.zeno.org/Philosophie/M/Fichte,+Johann+Gottlieb/Die+Anweisung+zum+seligen+Leben])
Die
Vernachlässigung des Ich bei Spinoza mag weiter auch, wie
oben schon angedeutet, damit zu tun haben, dass Spinoza der
Frage nicht ausführlicher nachgeht, wie eigentlich
das Ich des Menschen im Erkennen handelt und entsprechend zu
einer Erkenntnis des Erkennens gelangt. Bzw weil er glaubt im
erkennenden Rückgriff auf Gott sei die Erkenntnis der
Erkenntnis eine sich von selbst verstehende Beigabe. (Siehe
dazu etwa dessen Ethik, Teil II, Lehrsatz 43; siehe auch
Teil III, Lehrsatz 58) Bei Spinoza tritt das Verstehen
infolgedessen auf als eine passive Funktion,
das heisst: als ein blosses Leiden: "Denn wir haben
gesagt, daß das Verstehen ein blosses Leiden ist, d. h. ein
Gewahrwerden der Essenz und Existenz der Dinge in der Seele,
so daß wir es also niemals sind, die etwas von dem Ding
bejahen oder verneinen, sondern das Ding selbst ist es, das
etwas von sich aus in uns bejaht oder verneint."
(Spinoza, kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und
dessen Glück, in der Ausgabe des Felix Meiner Verlages,
Hamburg 1991, S. 88 f. 16. Kapitel § 5) Im Kontrast dazu
Steiner, der nicht nur am vollkommenen Gegenpol, nicht von
einem logisch als erstem und absolut gesetztem Gott seinen
Ausgang nimmt, sondern an der empirischen Erkenntnis des
Erkennens, die der Methode nach durchaus empirisch
psychologische Züge hat. Beziehungsweise, wenn wir
systematische Kollisionen der Erkenntnistheorie mit der
Psychologie vermeiden wollen, wäre es angemessener zu sagen,
sie habe bewusstseinsphänomenologische Züge. Und zwar im
Sinne jenes zeitgenössischen Erkenntnistheoretikers
Johannes Volkelt, auf den Steiner in seinen
Frühschriften so ausführlich zurückgreift. (Zur
bewusstseinsphänomenologischen Erkenntnistheorie
Volkelts, auf die Steiner vor allem in den Frühschriften
Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen
Weltanschauung sowie Wahrheit und Wissenschaft -
siehe die Einleitung zu Wahrheit und Wissenschaft
- ganz ausdrücklich rekurriert vergleiche Johannes
Volkelt, Erfahrung und Denken, Hamburg und Leipzig 1886.
Dort vor allem die Abschnitte 1. und 2. ; S. 1 - 132 . Zum
Verhältnis von Erkenntnistheorie zur Psychologie dort etwa S.
43 f; S. 46 f. [ Im Internet frei erreichbar unter
http://ia600600.us.archive.org/18/items/ErfahrungUndDenken/Johannes_Volkelt_Erfahrung_und_Denken.pdf])
Für Steiner
kann schon die Realisierung der Idee des Erkennens, bzw das
Erkennen als individueller Prozess des denkerischen Handelns
weder von aussen, noch von innen aufgenötigt werden, sondern
nur auf einen freien Entschluss des erkennenden Wesens selbst
hin erfolgen. Ohne meinen persönlichen Entschluss zum
Erkennen geschieht hier - und zwar jederzeit überprüfbar
- nichts. Auch keine Erkenntnis Gottes. Spinozas wenn man so
will: ideelle Wahrnehmung (Gewahrwerden der Essenz)
findet sich auch bei Steiner. Aber sie wird bei ihm als
ein durchgängig aktives Geschehen - besser vielleicht: als
tätige Rezeption des Ideellen - eben als Resultat
eines gewollten Denkens und nicht als ein passives
Leiden gekennzeichnet. Auch dieses ist jederzeit einer
Verifikation anhand der Erfahrung zugänglich. Und damit
ist es bei Steiner noch nicht getan. Denn die Wahrnehmung
des Ideellen bzw der Essenz allein ist in seinen Augen
noch keine Erkenntnis, sondern lediglich dessen Voraussetzung
auf der ideellen Seite. Das Bejahen oder Verneinen
einer ideellen Wahrnehmung ist Sache des Urteilens und
Prüfens, und damit vollständig als Vorgang in die Hand des
erkennenden Menschen gelegt. Wer nicht urteilen will hat
allenfalls fixe Ideen und nicht Erkenntnis oder Verständnis.
Das gilt natürlich auch für Wahrnehmungen nicht-ideller
Art. Das Ding, das sich im Sinne Spinozas aussprechen
will, wird dies nur können, sofern der Mensch sich aktiv
darauf einlässt. Der fehlende Hinweis Spinozas auf die
Aktivität des Denkens und Erkennens kontrastiert übrigens
ganz eigentümlich mit dem, was Steiner in der
Philosophie der Freiheit dazu ausführt, weil
dieser so eindringlich fortwährend diese Aktivität betont.
Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als habe Spinoza für
diese individuelle Aktivität im Denken gar keine
Wahrnehmung. So, wie er offensichtlich auch keine
Wahrnehmung für die Einflussnahme auf das
Erinnerungsgeschehen (s. o.) hat. Ob dies durchgängig
bei ihm der Fall ist, wäre eine detailliertere Untersuchung
wert. Es würde bewusstseinsphänomenologisch zumindest
einige seiner theoretischen Positionen erklären.
Offensichtlich
geht es Steiner doch um den Begriff der Notwendigkeit,
und darum, ob eine aus einsehbaren Gründen erfolgte Handlung
sich mit derselben Notwendigkeit vollzieht, wie die
mechanische Bewegung eines Steines. Deswegen zum Schluss der
Passage sein abschliessender Gedankengang: "Und ein
tiefgreifender Unterschied ist es doch, ob ich weiß, warum
ich etwas tue, oder ob das nicht der Fall ist. Zunächst
scheint das eine ganz selbstverständliche Wahrheit zu sein.
Und doch wird von den Gegnern der Freiheit nie danach gefragt,
ob denn ein Beweggrund meines Handelns, den ich erkenne
und durchschaue, für mich in gleichem Sinne einen Zwang
bedeutet, wie der organische Prozeß, der das Kind veranlaßt,
nach Milch zu schreien." Das aber lässt sich Spinoza
doch mit guten Gründen vorhalten, nämlich diesen Unterschied
gar nicht recht zu erfassen, sonst könnte er nicht (s.o.) zu
der Definition kommen, die Sache sei frei, "die aus
der blossen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt."
(Dass diese Verknüpfung von Notwendigkeit und Freiheit wie
eben schon angedeutet bei Spinoza in direkter Verbindung steht
zu Spinozas Gottesbegriff, sei hier nur der
Vollständigkeit halber noch einmal erwähnt, kann aber an
dieser Stelle nicht ausführlicher dargestellt werden.
Siehe dazu etwa den oben genannten Überblicksartikel zu
Spinoza.) Man sehe sich seine empirischen Belege oben nur an,
um einen Eindruck davon zu bekommen, was das für Spinoza
konkret heisst. Natürlich spricht er auch von den einsehbaren
Gründen unseres Handelns. Aber das ist sozusagen nur der
halbe Aspekt seiner Freiheitsphilosophie, und auch nicht der
zentrale Punkt von Steiners Kritik. Denn Steiner geht es nicht
nur darum, ob wir überhaupt auch aus Vernunftgründen zu
handeln vermögen, und diese Vernunftgründe unseres
Handelns kennen. Sondern darum, ob einsehbare Vernunftgründe
unseres Handelns einen ähnlich determinierenden Zwang auf uns
ausüben wie andere, uns unbewusste Ursachen des Handelns.
Deswegen seine zentrale Frage nach dem Ursprung und der
Bedeutung des Denkens. Denn genau das von Steiner Bemängelte
wird von Spinoza in einen Topf geworfen. Alles - das (geistige
und physische) Handeln aus einsehbaren Gründen und das
Handeln aus dunklen organischen Bedürfnissen geschieht
letztlich mit Notwendigkeit. Denn Traumbeschlüsse und wache
kommen nach derselben Notwendigkeit zustande. Genetisch
und qualitativ unterscheidet sich daher ein Vernunftgrund
nicht von einem geträumten und ein Vernunftbeschluss nicht
von einem Traumbeschluss. Ich handle in allen Fällen, ob ich
die Gründe meines Handelns kenne oder nicht, weil ich so
handeln muss und gar nicht anders kann. Das eine Mal
aus Vernunftgründen und das andere Mal aus unbewussten
organischen. Auf diesen entscheidenden Punkt, - ob ein aus
Vernunftgründen vollzogenes Handeln vergleichbar ebenso aus
Notwendigkeit geschieht wie ein Handeln aus unbewussten
organischen Ursachen -, so meine ich, zielt
berechtigterweise Steiners Kritik an Spinoza.
Dabei haben
wir hier den kaum weniger entscheidenden Aspekt, dass laut
Spinozas Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik einschliesslich
Anmerkungen das Denken ohnehin nicht in der Lage ist
(motorische) Handlungen zu steuern, noch nicht einmal in die
Bilanz aufgenommen. Tun muss man das freilich, denn die
motorischen Bewegungen vollziehen sich dort ja tatsächlich
frei vom Einfluss der individuellen Vernunft so notwendig wie
die Bewegung eines Steines. Siehe Lehrsatz 2 im Teil
III der Ethik: "Der Körper kann den Geist nicht
zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu
Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn es noch
etwas anderes gibt.)" So gesehen ist die Frage nach einer
durch individuelle Vernunft oder Vernunftgründe geleiteten
körperlichen Handlung augenfällig überflüssig, da sie laut
Lehrsatz 2, - ganz physikalistisch gedacht -,
grundsätzlich nicht stattfinden kann. Denn menschliche
Willensakte, so Spinoza auch an anderer Stelle, können nur
einen äusseren verursachenden Anlass haben, von dem sie
notwendig bewirkt worden sind. Denn es sei so, : "
... daß dieser oder jener Willensakt des Menschen [...]
auch eine äußere Ursache haben muß, von der er notwendig
verursacht wird, ..." (Spinoza, Kurze Abhandlung von
Gott, dem Menschen und dessen Glück, Meiner Ausgabe
Hamburg 1991, Kapitel sechs, § 5, S. 45 f. Siehe ebd auch
Kapitel sechzehn, Vom Willen, S. 86 ff.) Alles in allem
tut man sich schwer mit der Vorstellung, dass ein geistiges
Multi - Mängel - Wesen, das zu keiner einzigen Erinnerung
willkürlichen Zugang hat, seine Vernunftbeschlüsse wie
Traumbeschlüsse fasst, und von der Vernunft her keine
körperlichen Bewegungen zu steuern vermag, dass dieses Wesen
mit der Macht des Verstandes ausgestattet und zu irgend
einer nennenswerten Form von Handlungsfreiheit fähig sein
soll. Und damit dürfte auf jeden Fall die von Hartmut Traub
angestossene Frage, welche Konsequenz eigentlich bei
Spinoza das Wissen um die Gründe des eigenen Handelns
hat, beantwortet sein: In körperlicher Hinsicht gar keine! Ob
ich meine Handlungsgründe kenne oder nicht - für den
Mechanismus meiner leiblichen Abläufe hat das keinerlei
Bedeutung. Der ist ohnehin vom Denken her nicht zu erreichen
und folgt vollständig seiner eigenen Betriebsamkeit.
Angesichts
dieser Umstände kann man sich unter mehr menschenkundlichen
Gesichtspunkten, und ohne seine zugrunde liegenden
philosophisch-theologischen Basisannahmen weiter zu
thematisieren, die Frage stellen, was Spinoza eigentlich dazu
veranlasst, im Teil V der Ethik von der Macht
des Verstandes zu sprechen. Worauf gründet sich diese
Macht? Worin besteht sie? Und wie wird sie konkret ausgeübt?
Nun sagt Spinoza im Lehrsatz 3. im Teil V. der
Ethik (wohlgemerkt: dort geht es um die Macht des
Verstandes): "Ein Affekt, der eine Leidenschaft
ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir von ihm
eine klare und deutliche Idee bilden." Das ist eine
durchaus empirisch zugängliche Behauptung. Oder besser
vielleicht: eine empirisch prüfbare Prognose. Wissen ist
Macht! - so könnte man sein freiheitsphilosophisches Credo
hier etwas verkürzend in einem geflügelten Wort
zusammenfassen. Aufklärung befreit! Ihr Erkennen führt
per se dazu, dass unerwünschte Affekte und Leidenschaften
ihren Einfluss auf den Menschen verlieren. Dann wäre das
vielleicht ein wünschenswertes Resultat von Vernunftgründen.
Wenn es schon bei den leiblichen Handlungen damit nicht
klappt, und sie zu nichts führen, dann aber doch vielleicht
im Bereich des Seelenlebens. Wenigstens im Umfeld von Affekten
und Leidenschaften könnte man ihnen eine unmittelbare
Wirksamkeit zutrauen.
Eine erste
Frage dazu, ganz pragmatisch genommen: Trifft das zu?
Verschwinden Affekte und unerwünschte Emotionen, nur
weil ich von ihnen deutlich weiss? Vielleicht auch weiss, dass
es nicht unbedingt förderlich ist, ihnen freien Lauf zu
lassen? Der Leser wird mit mir vermutlich seufzend
einwenden: Schön wär`s! - Und Spinoza selbst scheint wohl
auch nicht recht an die Durchschlagskraft seines Konzeptes zu
glauben, wenn er in den ausführlichen Anmerkungen zum
Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik beklagt, dass
wir so oft "das Bessere sehen und dem Schlechteren
folgen". (Die selbe Klage erhebt er übrigens auch in dem
von Steiner in der Philosophie der Freiheit zitierten
Brief.) Da scheint doch an dem ganzen Konzept: Aus Wissen
folgt Macht etwas nicht zu stimmen! Augenscheinlich
ist dieser Gedankengang zu kurz gegriffen, wenn er sich
empirisch nicht bewährt. Es wird vermutlich etwas sehr
Wichtiges übersehen worden sein. Aus dem Wissen allein
folgt eben keineswegs ohne weiteres Macht. Menschenkundlich
wäre es naiv anzunehmen, dass lediglich aus dem Wissen
allein schon eine Befreiung von Affekten und Leidenschaften,
Herrschaft gar über dieselben erfolgt. Blosses Wissen ohne
den Willen und die Möglichkeit zur Anwendung
führt ersichtlich zu nichts. Dieser philosophische Traum,
dass eine rein intellektuelle Wissenskultur und
Aufklärung den Menschen gewissermassen automatisch zu einer
autonomen und von Affekten und unerwünschten Emotionen
unbelasteten Persönlichkeit macht, der dürfte wohl
längst ausgeträumt und von der Realität widerlegt sein. Das
Wissen selbst ist allenfalls eine Voraussetzung dazu, in
seiner willentlichen Anwendung so etwas wie Macht zu
entfalten. Und das gilt auch und vor allem für den von
Spinoza hier angesprochenen Bereich der Affekte und
Leidenschaften. Blosses Wissen ohne den entschiedenen Willen
und die geeignete Grundlage es umzusetzen ist eben noch
keine Macht. Es bleibt zunächst ein impotentes
intellektuelles Vermögen, so lange sich nicht eine
entsprechend methodisch darauf abgestimmte Willenskultur daran
anschliesst; in Form einer gezielten, willentlichen
seelischen Auseinandersetzung an und mit dem erkannten
Gegenstand - sprich: den unerwünschten Emotionen, Affekten
und Leidenschaften. Das aber setzt ganz andere psychologische
Grundannahmen und eine andere pragmatische Vorgehensweise
voraus, als sie Spinoza in seiner Ethik vorlegt bzw
vorschlägt, und wäre in dem dort vorgegebenen Rahmen
unmöglich zu entwickeln. Schon aus theoretischen Gründen
nicht.
Eine Frage,
die sich daran anschliesst, ist: Wie verträgt sich dieser von
uns geforderte willenshafte und gedankengesteuerte Einfluss
aber mit Spinozas Theorie der (unmöglichen)
Geist-Körper-Interaktion und der Bewusstseinsvorgänge und
Entscheidungsbildung aus dem Teil III der Ethik?
(Siehe oben) Noch im langen Vorwort zum Teil V. der
Ethik setzt sich Spinoza etwas eingehender mit
Descartes auseinander. Und gegen Ende dieser Besprechung sagt
er: " ... weil es kein gemeinsames Mass zwischen dem
Willen und der Bewegung gibt, gibt es auch kein Vergleichen
zwischen der Macht oder den Kräften des Geistes und denen des
Körpers; und folglich können die Kräfte des einen von denen
des anderen überhaupt nicht bestimmt werden." (Man
beachte neuerlich, es geht hier um um die Macht des
Verstandes) Anders gesagt: Der menschliche Geist hat laut
Spinoza auf den Körper und seine Handlungen keinerlei
willentlichen Einfluss. Das kennen wir bereits. Es
entspricht exakt dem oben schon erläuterten Lehrsatz 2
im Teil III. der Ethik, der da lautet: "Der
Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen, und der
Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend
etwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt)." Das
heisst, eine willentliche Interaktion zwischen Denken
(Vernunftgründen) und Körper - und das ist ja die
Voraussetzung jedes vom Denken her initiierten Handelns -
wird von ihm kategorisch ausgeschlossen. Und das bleibt
wie gezeigt auch im Teil V. der Ethik so, wo er
das eigens im Vorwort wiederholt. Wie verträgt sich das mit
der angeblichen Macht des Verstandes, von welcher dieser Teil
V. der Ethik ausdrücklich handelt? Die geforderte
Grundlage (Interaktionsmöglichkeit zwischen Denken und
Körper) Vernunfteinsichten in körperlich vollzogene
Handlungen einfliessen zu lassen, ist per definitionem nicht
vorhanden. Um es also noch einmal zu wiederholen: Nach vom
Ich autonom und willentlich gefassten reinen Begriffen
oder Gedanken (moralischen Intuitionen), wie bei Steiner,
kann sich der Körper bzw. die Handlung laut Spinoza
nicht richten!
Und wie sieht
das bei Entscheidungen, Beschlüssen, Affekten und
Leidenschaften aus? Nun, die Entscheidungen und
Beschlüsse - wie oben ebenfalls dargelegt - überkommen
den Mensch mittels eines unbeeinflussbaren
Erinnerungsautomatismus und ähnlichem. So dass die Frage
schon sehr virulent ist, wie er unter diesen Verhältnissen
zumindest eine Beherrschung von Affekten und Leidenschaften
noch plausibel begründen und glaubhaft machen will, wenn
er schon die denkerische Einflussnahme auf körperliche
Aktionen ausschliesst. Das Eigentümliche bei Spinoza ist
wie schon angedeutet: Vom Willen her hat der Mensch auch im
Bewusstseinsraum keinerlei wirkliche Kontrolle und
Einflussnahme, sondern die Dinge passieren wie sie eben
passieren. Das heisst: eine gezielte Interaktionsmöglichkeit
zwischen dem Denken (Vernunftgründen) und dem restlichen
Seelenleben scheint ja auch nicht vorhanden zu sein. Er
beschreibt sie in seinen empirischen Beispielen fast nur aus
dem Blickwinkel der Ohnmacht heraus. Und zwar - und das
ist interessant zu sehen - nicht nur philosophisch-theoretisch
(deterministisch), sondern auch der
Bewusstseinsphänomenologie, also der Erlebnislage nach. Es
gibt keine positiven empirischen Beispiele, nicht einmal die
simpelsten, von willentlicher Affektkontrolle,
Emotionssteuerung und Beherrschung und sonstiger aktiver
Einwirkung auf die Phänomene des Bewusstseins. -
Um ein
illustrierendes Beispiel davon zu geben, was damit gemeint
ist: Ich fühle mich von jemandem infolge einer witzigen
Bemerkung über mein Aussehen leicht gekränkt, unterdrücke
dieses Gefühl aber bewusst und erfolgreich, mit der Folge,
dass ich den Kränkenden freundschaftlich und unverkrampft
umarme, und herzlich mitlache, ohne die Kränkung
zurückzugeben. Ohne meinen aktiven Umgang mit der negativen
Emotion hätte ich vielleicht reflexhaft selber damit
begonnen, auszuteilen. So aber ist die Emotion wirklich weg,
und das Ganze nimmt einen anderen Verlauf als ohne mein
Eingreifen. Anzumerken ist: Mit dem Denken und der Einsicht
allein ist es im vorliegenden Fall nicht getan. Das kann der
Leser ja selbst einmal prüfen. Qualitativ ist dies etwas sehr
anderes, als sich nur einen deutlichen Begriff von einer
unerwünschten Emotion zu machen. Letzteres ist zwar
notwendig, aber nicht hinreichend. Sondern man muss wirklich
der Emotion aktiv etwas entgegensetzen und ihr die Wirksamkeit
nehmen. Sonst kommt nämlich keine unverkrampfte und
authentische Handlung dabei heraus, sondern eine
geschauspielerte, die man in ihrer Verspanntheit und
Gespreiztheit leicht durchschaut. Das wirkt dann etwas
verlogen. Die Emotion der Kränkung ist dann immer noch
lebendig und wird nur hinter einer umgänglichen Fassade
unsichtbar gemacht. Dass dies nicht von jetzt auf gleich
zu erreichen ist, dürfte einleuchten. Sondern es verlangt
längere Übung und innere Auseinandersetzung. Das meinte
ich in dem Hinweis auf die Willenskultur oben.
Oder ein
anderes Beispiel - ein sehr häufiger Fall der uns geläufigen
aktiven Suche nach Erinnerungen: Mir ist entfallen, wo in
einem Buch ein bestimmtes Zitat steht. Also gehe ich seinen
Inhalt noch einmal strategisch im Geiste durch, und
versuche gedanklich den Kontext einzukreisen, wo ich es
wiederfinden könnte. Bis ich es schliesslich entdeckt habe.
Das lässt sich mnemotechnisch bekanntlich vielfältig
verfeinern und einüben. Die spontane Erinnerung war zum
Auffinden nicht in der Lage, und ohne meinen aktiven Einsatz
wäre das Zitat erst einmal verloren gewesen. -
Das sind alles
keine extravaganten Beispiele von innerer Aktivität, sondern
so etwas widerfährt uns tausendfältig tagtäglich. Doch
nichts davon ist bei Spinoza vorhanden. Scheint nicht zu
existieren. Er betont ausdrücklich in den Anmerkungen
zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik, dass
wir auf Erinnern und Vergessen keinen Einfluss haben: "Denn
es gibt noch etwas anderes, auf das ich hier besonders
aufmerksam machen möchte," so hebt er hervor, "dass
wir nämlich aus einer Entscheidung des Geistes gar nichts
verrichten können, es sei denn, wir erinnern uns daran. So
können wir ein Wort, dessen wir uns nicht erinnern,
nicht aussprechen. Und es steht nicht in der freien Gewalt des
Geistes, sich eines Dinges zu erinnern oder es zu
vergessen." So heisst es in der Ethik, (Meiner
Ausgabe, a.a.O, Hamburg 2010, S. 235) Und es folgt auch gleich
die weitere Konsequenz daraus: "Daher glaubt man
nur, es stehe in der Gewalt des Geistes, über eine
Sache, deren wir uns erinnern, aus blosser Entscheidung des
Geistes schweigen oder reden zu können." Man möchte
fast bedauern, dass es damals anscheinend noch keine
Kreuzworträtsel gab. Von Spinoza ist das an der Stelle
zunächst einmal (die Unfähigkeit aktiv zu erinnern und zu
vergessen) bewusstseinsphänomenologisch und nicht
theoretisch-deterministisch zu nehmen. Es ist offenbar doch
ein Erfahrungsbeleg - hoffentlich. Sollte es nicht so
sein, dann umso schlimmer. Die philosophische Konsequenz
daraus im Nachfolgesatz ist allerdings und auf jeden Fall
reine Theorie und Schlussfolgerung aus dieser vermeintlichen
Tatsache: Weil wir auf das Erinnern und Vergessen keinen
aktiven Einfluss (keine freie Gewalt) haben, deswegen können
wir uns auch nicht aktiv und frei dazu entscheiden, über das
Erinnerte zu reden oder zu schweigen. - Auch hier möchte ich
den Leser auffordern, beides einmal an sich selbst zu
kontrollieren, ob das so zutrifft. Spinoza scheint diesen
Zusammenhang ja für sehr wichtig zu halten, deswegen sein
betonter Hinweis darauf. Sie folgen also seiner
ausdrücklichen Empfehlung, das einmal zu prüfen. Und
glauben Sie nicht, dass Sie dazu nicht imstande sind. - Sie
können es! Anschliessend können Sie lange darüber
meditieren, warum philosophische Fehlurteile von grosser
Tragweite manchmal an furchtbar banalen Dingen hängen. Und
wie es möglich ist, dass jemand für sich in Anspruch nimmt
das Wesen Gottes zu erkennen, aber bei ziemlich simplen Dingen
des alltäglichen Lebens, die letztlich doch die Basis von all
dem sind, einigermassen krauses Zeug erfolgert?
Die Frage nach
unsererm Vermögen zum aktiven Erinnern und Vergessen
können wir mit einem klaren "Jein" beantworten. Wir
besitzen es, und auch nicht - es kommt darauf an. Auf den
Einzelfall und auf vieles andere. Erinnern und Vergessen
sind keine absoluten und starren Grössen, die wir entweder
beherrschen oder nicht. Sondern es sind dynamische und
wandelbare Eigenschaften, die vom völligen (temporären)
Unvermögen bis zu einer bedeutenden Seelenkraft reichen, und
auf jeden Fall aber bildsam sind. Eine absolute Grenze
lässt sich da nicht gut angeben. Wo sie jeweils liegt,
das hängt nicht nur an der biologischen und sonstigen
Ausstattung des Menschen, sondern auch an dem, was er daraus
macht. Wir können unter unkontrollierten Zwangsideen und
Ideenflucht leiden (der ungünstige Fall, den Spinoza
anscheinend hier im Auge hat), aber auch Gedanken und
Erinnerungen regelrecht löschen und fortschaffen, die
wir momentan oder dauerhaft nicht haben wollen. Wir müssen
sie nicht erleiden, sondern können sie bewusst herbeizitieren
und aufsuchen - und sie auch wieder fortschicken. Beides
ist möglich - unter gewissen Umständen, die durchaus
variabel und beeinflussbar sind. Diese Grenzen zu erweitern
und das Vermögen zu entwickeln ist uns als Fähigkeit an
die Hand gegeben. Das ist kein esoterisches Geheimnis, sondern
man darf das heute als selbstverständliches Allgemeinwissen
und bekannt voraussetzen. Bücher und Journale sind voll
von diesen Dingen. In unserer Gewalt also sind das Erinnern
und Vergessen innerhalb gewisser und erstaunlich weit
dehnbarer Grenzen schon. Ob das eine absolut freie Gewalt
ist, das sei erst einmal dahingestellt. Nur: Wie will man
herausbekommen, wo da die Möglichkeiten und Grenzen
liegen, wenn man diese Dinge in ihrer empirischen
Tatsächlichkeit gar nicht erst in Augenschein nimmt, und nur
undifferenziert, eindimensional und philosophisch einäugig
auf das hinstarrt, was der Mensch angeblich nicht kann,
ohne sich eingehend mit dem zu beschäftigen was er
kann? Was haben die Menschen davon, wenn sich so ein
Philosoph hinstellt und ihnen aus seiner vorgeblichen
Gotteserkenntnis heraus mit weitschweifender Logik erklärt,
wie metaphysisch ohnmächtig sie sind? Während er die
tatsächliche Macht, die sie tagtäglich erleben
können, keines Blickes würdigt, darüber aber verwickelte
Theorien ausheckt, die sich schon bei den einfachsten
Dingen nicht bewähren? Und die Frage ist daher: Warum blickt
Spinoza hier in diesen langen Anmerkungen nur auf das
Unvermögen, wo er doch ebenso gut auf das Vermögen hätte
hinsehen können? Ist das für den Philosophen alles ganz
egal? War das zu seiner Zeit der Bewusstseinslage nach
eben anders als heute bei uns? Oder nur bei ihm? War es
vielleicht noch nicht in den Horizont der (wissenschaftlichen)
Aufmerksamkeit geraten, so wie in unserer Zeit die
sogenannte Umwelt plötzlich seit den 60er und 70er
Jahren des vorigen Jahrhunderts im Horizont des Bewusstseins
auftauchte, so, als hätte es sie vorher nie gegeben? Und bei
manchen bis heute dort nicht angekommen ist.
Spinoza führt
in den erläuterten langen Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im
Teil III der Ethik weitläufige Begründungen und
empirische Belege dafür an, dass und warum das alles im
Bewusstsein so eigendynamisch und unzugänglich sein
soll. Und der Blick ist vorzugsweise auf einen Automatismus
der Bewusstseinsvorgänge gerichtet - von den zombiehaften
körperlichen Aktionen und Wunderleistungen, die er dort
ebenfalls argumentativ bemüht, gar nicht erst zu reden.
Man erinnere sich nur an seinen grandios-paradoxen Vergleich
von geträumten und wachen Entscheidungen. Ein wirklich
spektakulärer Fall, in dem das Ganze gipfelt, und insofern
besonders herausfordernd und geeignet, sich darüber Gedanken
zu machen! Heutzutage muss uns so etwas einfach grotesk
erscheinen. Und die Frage ist schon angebracht: Warum bemerkt
er angesichts seines philosophischen Scharfsinnes den
gewaltigen Unterschied zwischen wachen und geträumten
Entscheidungen nicht, sondern setzt sie gleich? Denn immerhin
sind Entscheidungen und Beschlüsse Denkvorgänge! Träumt er
beim Denken? - Steiners Frage nach dem Ursprung und der
Bedeutung des Denkens bekommt angesichts solcher Verhältnisse
noch einen ganz anderen Akzent, als man ihn gewöhnlich beim
Studium seiner Grundschrift damit verbindet. - Und mit Blick
auf Spinoza lässt sich weiter überlegen: Steht hinter
seinem Unvermögen sachlich zu differenzieren bloss
philosophische Betriebsblindheit, oder existiert dafür auch
eine Erfahrungsbasis? Ist die ganze Ohnmacht einfach nur
erdacht, weil sie so gut in sein Determinismuskonzept passt,
und sind die empirischen Gegenbeispiele taktisch
herausselektiert worden, um das philosophische Konzept nicht
zu gefährden? Oder ist sie tatsächlich so oder ähnlich von
ihm erlebt, und deswegen vielleicht sein Konzept des
Determinismus von ihm erdacht worden?
Solche Fragen
scheinen mir keine philosophischen Nebenschauplätze zu sein,
die eher in eine philosophiegeschichtliche Psychologie
gehören. Jedenfalls ist zu bemerken: Das zentrale
Element der direkten willenshaften Einflussnahme eines
gedankenklaren Ich auf Vorgänge des Bewusstseins
(Denken, Erinnern, Emotionen etc) und auf Vorgänge des Leibes
(besser: Handlungen), fällt bei Spinoza weitestgehend, - um
nicht zu sagen: gänzlich - unter den Tisch. Was bleibt
ist eine doch eher glaubensartige, und gar schon nach seinem
eigenen Eingeständnis wenig realistische Überzeugung
dahingehend, dass auf der Basis von Wissen die Leidenschaften
quasi von selbst verschwinden. Während Steiner doch
wesentlich auf dem Element der autonom willentlichen
Aktivität aufbaut. Siehe etwa PdF, Kap III: ": ...
es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem
es sich vollzieht, vor dem "Ich" nicht restlos als
seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint. Man
muß sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit
des Denkens erscheint dieses dem Beobachter als durch und
durch gewollt." (GA-4, Dornach 1978, auch 1995, S. 55)
Nicht, dass Steiner hier etwa behauptet der Mensch habe die
volle Kontrolle über sämtliche leiblichen und seelischen
Vorgänge. Keineswegs! Aber er hat zumindest eine volle
willentliche und sachliche Kontrolle über
die Aktivität seines Denkens und der Beschlussbildung. - Da
wird nicht geträumt. Und von dort her ergibt sich zumindest
insoweit eine Einflussnahme auf leibliche Handlungen, dass sie
im beschlossenen Sinne verlaufen können. Dass diese
willentliche Einflussnahme Steiners im Rahmen des
anthroposophischen Übungsweges dann weiter systematisch
und methodisch auf sämtliche Vorgänge des Seelenlebens
(Denken, Fühlen, Wollen) vertieft und ausgeweitet wird, mit
entsprechenden Folgen für das Erkennen und Handeln, das
sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt, aber es soll
davon hier nicht mehr ausführlicher die Rede sein. Jedenfalls
wäre Vergleichbares bei Spinoza schon wegen seiner
deterministischen und psychologischen Grundannahmen ganz
und gar ausgeschlossen.
Hartmut Traub
scheint das alles nicht bekannt zu sein, obwohl sein Buch den
Titel trägt Philosophie und Anthroposophie. Es gibt
bei Spinoza keine ernst zu nehmende und vom Ich
ausgehende Entwicklung zur Freiheit. So etwas wie
autonome (Selbst)Entwicklung zu denken, oder dem Menschen
gar eine aktive Rolle innerhalb einer irdischen oder mehr
noch: kosmischen Evolution zuzuweisen, das scheint ihm (noch)
völlig unmöglich zu sein. Was er dem Menschen zutraut
ist lediglich, sich via empirisch einigermassen
fragwürdiger, weil auf dem alleinigen Wege von Einsicht zu
erwerbenden Affektkontrolle der gänzlich vorausbestimmten
göttlichen Weltordnung zu fügen, und auf diese Weise
in einer höchsten Erkenntnisstufe so etwas wie "höchste
Zufriedenheit" zu erlangen, "die es geben kann".
(Siehe dazu Lehrsatz 27 im Teil V. der Ethik.
Man verwechsle dies nicht mit Steiners höchster
Erkenntnisstufe, die methodisch ganz anders zu erwerben ist
und zu anderen Resultaten kommt. Und auch nicht primär zu
höchster Zufriedenheit führt, weil dies nicht ihr Anliegen
ist. Sondern dem Menschen ungeheuer viel Verantwortung für
sich und die Welt aufbürdet, und an sein Handeln appelliert,
im Sinne dieser Verantwortung zu wirken. Der
Handlungsappell vor allem steigert sich ins Unermessliche. Mit
Zufriedenheit hat das alles bei Steiner relativ wenig
zu tun. Vielmehr sieht der Mensch auf diesem Wege vor allem
auch, was alles noch zu leisten ist, und wie wenig er davon
bisher erreicht hat. Um dies zu ertragen und dem Selbstappell
erfolgreich zu folgen benötigt er allerdings des inneren
Gleichgewichtes wegen schon kompensatorisch eine extreme Form
von Gedankenklarheit, Gelassenheit, Geduld, Ausdauer,
Umsicht, Selbstkontrolle, Mut und vor allem Liebe, was zu
erwerben ein massgeblicher Teil des Steinerschen
Übungsweges ist, der sowohl für das Erkennen selbst
benötigt wird, als auch für die individuellen Folgen davon.
Natürlich geht es Steiner gleichermassen um Erkenntnis auf
hohen Stufen. Aber sie kann in seinen Augen unmöglich
abgelöst werden von allen übrigen Eigenschaften und
Parametern der menschlichen Persönlichkeit. Da sie
andernfalls Gefahr läuft sich zu vereinseitigen und ins
Destruktive und Illusionäre abzugleiten. Vielversprechende
und gedeihliche höhere Erkenntnis ohne diese begleitende
Selbstentwicklung kann es bei Steiner nicht geben.)
Unterwerfung,
und nicht autonome Selbstentwicklung oder gar aktive Teilhabe
an der Schöpfung lautet die Devise Spinozas. Er kann seinem
Schicksal im günstigsten Fall einsichtsvoll zusehen und es in
Zufriedenheit akzeptieren wie es ist. Aber er kann es
nicht aktiv in die Hand nehmen und getalten. Und selbst
diese vom Subjekt gebilligte Unterwerfung wäre gemäss der
inneren Architektur von Spinozas Gedankengebäude
prädeterminiertes Resultat der alleinigen Wirksamkeit eines
alles verursachenden göttlichen Wesens. Da ist nichts
drin, was originär aus dem Menschen selbst kommt. Alleinige
Folge göttlicher Vorhersehung und Schicksalsbestimmung.
Einzige und eigentliche Ursache von allem was geschieht und
was gedacht wird ist letztlich doch nur einer: - der
Allmächtige. Dies alles das Resultat eines Wesens, das
in Steiners Augen nichts anderes sein kann als ein rein
logisches Konstrukt eines schlussfolgernden
philosophischen Denkens. Dessen Architekt (Spinoza) nach
Steiners Einschätzung kein Bewusstsein davon hat, dass "der
Mensch das Bild, unter dem er sich diese Notwendigkeit
[Wesensnotwendigkeit Gottes, MM] vorstellt, seinem
eigenen Inhalte entnimmt" (s. o.). - Alles zusammen
genommen das Ergebnis einer gigantischen theoretischen
(logisch-mechanistischen) Selbstblendung, die den
empirisch offenbaren schöpferisch-lebendigen Eigenanteil des
Ich an der Gedankenbildung und im Handlungsprozess
hartnäckig übersieht, und den Menschen infolgedessen zu
einem willenlosen Sklaven seines erdachten Gottes degradiert.
Anstatt zu bemerken, dass in der geistigen Gestaltungs- und
Selbstgestaltungsfähigkeit des Menschen selbst so etwas
wie ein göttliches Element unmittelbar vorhanden ist. Dieser
also keineswegs schicksalhaft dazu vergattert ist, lediglich
den ohnmächtigen Lakaien und Automaten eines logisch
postulierten allbestimmenden Herrn abzugeben. Weil er er in
seiner schöpferischen Potenz, in seiner Entwicklungs-
und Selbstentwicklungsfähigkeit, wenn auch keimhaft,
selbst das freischöpferische göttliche Element in sich
trägt. Und zwar der Anlage nach wirksam in sämtlichen
Aspekten und Dimensionen seines geistigen, seelischen und
materiellen Lebens.
Wer den
aufschlussreichen, von Steiner in der Philosophie der
Freiheit zitierten Brief Spinozas einmal studiert, und
zwar vollständig, einschliesslich jener Passagen, die
Steiner nicht in sein Zitat aufgenommen hat, der kann sich
davon überzeugen, dass Spinoza nicht entfernt daran denkt,
dem Menschen so etwas wie Entwicklungsfähigkeit zur Freiheit
beizulegen. Sondern seine Sichtweise dort ist durch und
durch deterministisch und fatalistisch. Statisch und starr. -
Wenn man so will ein Determinismus der krudesten Art:
nicht nur materiell, sondern auch spirituell. (Im Internet im
Original, so wie er Steiner vorgelegen hat, erreichbar unter:
[http://archive.org/details/diebriefemehrer00spingoog]
Der von Steiner zitierte Brief Nr 62 findet sich
auf S.
203 ff) Dieser Brief ist, das kann man wohl sagen, ein
auf wenige Seiten verdichtetes Konzentrat der Spinozistischen
Freiheitslehre, und zeigt, dass Steiner doch einen recht
präzisen Blick für das Wesentliche dieser Lehre hatte. Sonst
hätte er diese Auswahl vermutlich nicht getroffen. Eine
Bemerkung dazu am Rande: Dieser von Steiner zitierte Brief
trifft Spinozas Freiheitsphilosophie so genau, dass der
Stuttgarter Kröner-Verlag ihn 1955 in einer kürzeren
Werkausgabe Spinozas als einziges und kennzeichnendes
Briefbeispiel für diese Freiheitsphilosophie auszugsweise
abdruckt. Das ist schon sehr bezeichnend. (Siehe: Spinoza, Die
Ethik : Schriften und Briefe; Hrsg. von Friedrich Bülow.
Stuttgart: Kröner, 1955; S. 334 ) Merijn Fagard wird sich in
absehbarer Zeit auf dieser Website ausführlicher zu diesem
Brief Spinozas äussern, und ich kann dem Leser jetzt schon
eine erhellende und an Überraschungen reiche Lektüre
garantieren. Mit der wenig tief schürfenden Feststellung
Traubs, Spinoza lasse auch eine Erkenntnis der Ursachen des
Handelns zu wie Steiner, ist letztlich doch nicht viel
gewonnen. Es kommt schon noch auf ein paar andere
wichtige Details an. Bewusstseinsphänomenologisch und auch
auf der philosophischen Ebene, das kann man mit Fug und
Recht behaupten, leben Steiner und Spinoza in völlig
verschiedenen Welten, die miteinander nicht kompatibel sind.
Und betroffen ist davon so gut wie alles, was sie zum Thema
Erkennen und Freiheit ausführen. Angesichts
dessen klingt Traubs Behauptung von Seite 272 seines Buches,
Steiner renne bei Spinoza offene Türen ein, doch reichlich
bizarr.
Steiners
Spinozakritik scheint mir also ganz und gar nicht das
"peinliche" und absehbare Ergebnis eines Versuchs
bei Spinoza offene Türen einzurennen, wie Traub
S. 272 mit Blick auf die von Spinoza erwähnten
Vernunftgründe des Handelns seinem Leser erklärt. Denn
tatsächlich ist der angeblich freie Geist Spinozas dem
Erkenntnis- und Gottesverständnis Spinozas zufolge
eingepfercht in ein System aus Zwangshandlungen. Der Mensch
ist einer umfassenden (materiellen und geistigen) Natur
vollständig ausgeliefert und kann dementsprechend von
sich aus nichts unternehmen, was seinem Glück oder Heil
dienlich ist: "Wir sehen also, daß der Mensch als ein
Teil der gesamten Natur, von der er abhängt und von der er
auch regiert wird, aus sich selbst nichts zu seinem Heil und
Glück tun kann. " (Spinoza, kurze Abhandlung von
Gott, dem Menschen und dessen Glück, in der Meiner
Ausgabe, S. 93, Kap 18, § 1) Und ebendort in der
Anmerkung 3, S. 89: "Weil es also kein Ding
gibt, das irgendwelche Kraft hätte, sich zu erhalten oder
etwas hervorzubringen, bleibt nichts anderes übrig, als
zu schließen, daß Gott allein die wirkende Ursache aller
Dinge ist und sein muß und daß alles einzelne Wollen von ihm
bestimmt ist." Folglich kommt es nicht von ungefähr,
wenn Spinoza das Verhältnis des Menschen zu Gott in der
Metaphorik der Sklaverei fasst. Denn es " ... folgt
daraus, daß wir in Wahrheit Diener, ja Sklaven Gottes sind,
und daß es unsere grösste Vollkommenheit ist, es notwendig
zu sein." (Ebd., S. 93, § 2) Und ebendort, S. 95, § 8:
„Denn hierin besteht eigentlich der wahre Gottesdienst und
unser ewig Heil und Glückseligkeit. Denn die einzige
Vollkommenheit und der letzte Zweck eines Sklaven und eines
Werkzeugs ist, daß sie den ihnen auferlegten Dienst gehörig
verrichten." An anderer Stelle wiederum wird dem Leser
berichtet, Spinoza habe erkannt, „daß die Seele nach
bestimmten Gesetzen handelt und eine Art geistiger Automat
ist“ (Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des
Verstandes § 85, in der lateinisch-deutschen
Studienausgabe des Meiner Verlages, Hamburg, 2003, S. 79.)
Woher kommen diese Bilder von Sklaven, Werkzeugen und
geistigen Automaten?
Zusammengefasst:
"Von allen übrigen uns bekannten Naturdingen
unterscheidet sich der Mensch durch das Vermögen des
Denkens; ...dieses macht ihn zum Menschen. Aber sowohl mit
seinem Körper als auch mit seinem Geist ist der Mensch
integraler Teil der Natur ... und damit deren (jeweiligen)
Gesetzen vollständig unterworfen. Wie der Körper gehört
auch der Verstand zur "natura naturata"; ...die
Seele ist "sozusagen ein geistiger Automat" ... und
mit allen ihren Äußerungen, auch den "höchsten"
in Kunst und Wissenschaft, Religion und Philosophie, den
Naturgesetzen, d. h. den Gesetzen ihrer Natur vollständig
unterworfen. Kurz: auch in seinem gesamten Denken, Wollen und
Handeln ist der Mensch notwendig und vollständig durch die
Gesetze seiner (jeweiligen) Natur determiniert." Georg
Geismann, Spinoza jenseits von Hobbes und Rousseau,
in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 43,1989, S
405 f) Dass Steiner dies kritisiert wird man ihm nicht als
Naivität oder Verwechselung von wirklicher mit
illusionärer Freiheit bei Spinoza vorhalten können.
Im Kern
wurzeln alle diese Zwangshandlungen Spinozas in der
Wesensnotwendigkeit und Vollkommenheit eines Gottes, den
er in der Ethik auf der Basis logischer Zwänge (nach
geometrischer Ordnung) erschliesst. Er steht folglich in dem
permanenten Dilemma sich entweder den Nötigungen der
Vernunft oder den Nötigungen der Affekte zu unterwerfen.
Und schliesslich gezwungenermassen ein höchstes Wesen (Gott)
zu lieben, das ihn selbst weder lieben noch hassen
kann, weil das in Gottes Natur nicht vorgesehen ist. (Siehe
dazu Lehrsatz 17 im Teil V. der Ethik) - Als
theoretisches Fundament in ein pädagogisches Gesamtkonzept
implementiert zweifellos eine gute Grundlage für
psychopathologische Entwicklungen aller Art. Oder um es
etwas moderater in den Worten Steiners zu formulieren:
"Und was wäre denn dieser ganze Mensch wirklich, wenn
die Behauptung des Spinoza wahr wäre, daß alles dasjenige,
was der Mensch tut und erlebt, so notwendig wäre, wie, wenn
eine Billardkugel von einer anderen getroffen wird, diese
andere, zweite, mit einer gewissen Notwendigkeit nach
gewissen Gesetzen weiterfliegt. Wenn das so wäre, dann könnte
der Mensch nimmermehr ertragen eine solche Weltordnung.
Wie wenig sie zu ertragen wäre, das würden insbesondere
diejenigen Naturen zu empfinden haben, die «alle
Wirkenskraft und Samen» schauen!" (GA 163, Dornach 1986,
S. 54, Vortrag Dornach 28. August 1915)
Mehr
theologisch betrachtet könnte man den Eindruck gewinnen, als
habe sich Spinoza eher an einem mitleidlosen,
alttestamentarischen Vatergott der strengen Gesetzgebung
und Notwendigkeiten orientiert. (Betrachtet man seinen
logisch-mechanistischen Denkansatz, so käme man vor dem
anthroposophischen Hintergrund unschwer auf so etwas wie eine
ahrimanische Wesenheit, die ihn vorzugsweise inspirierte.).
Steiner hingegen eher am christlichen Gott der (Nächsten)Liebe
- das heisst: an der Christuswesenheit. Und eine weitergehende
Fage, gewiss auch im Sinne Hartmut Traubs, wäre: Welchem Gott
folgt eigentlich Goethe? Dem Christengott der Liebe oder dem
Gott der Notwendigkeiten des Philosophen Spinoza, dem er so
vielerlei Anregung verdankt? Und wie spiegelt sich das
gegebenenfalls in seiner (Goethes), - und dadurch vermittelt
-, wiederum in Steiners, vor allem dessen früher Weltsicht
wieder?
Als weitere
Studienempfehlung kann ich dem Leser hier besonders Steiners
Die Rätsel der Philosophie, GA-18, Dornach 1985 ans
Herz legen. Steiner setzt sich da an sehr vielen Stellen mit
Spinoza auseinander. Zumeist in Verbindung mit der
Besprechung anderer Philosophen. Erkennbar wird dort, was
ich bislang schon angedeutet habe. Was Steiner an Spinozas
Freiheitsverständnis vor allem bemängelt ist dessen
Verquickung von Freiheit und Notwendigkeit, wie
sie in GA 18 exemplarisch auf S. 230 f aus einer Erörterung
Schellings hervorgeht: "Die menschliche
Einzelpersönlichkeit lebt in dem geistigen Urwesen und durch
dieses; dennoch ist sie im Besitze ihrer vollen Freiheit und
Selbständigkeit. Diese Vorstellung betrachtete Schelling
als eine der wichtigsten innerhalb seiner Weltanschauung.
Wegen dieser Vorstellung glaubte er in seiner idealistischen
Ideenrichtung einen Fortschritt gegenüber früheren
Anschauungen erblicken zu dürfen: weil diese dadurch,
daß sie das Einzelwesen im Weltengeiste gegründet sein
ließen, es auch ganz allein durch diesen bestimmt dachten,
ihm also Freiheit und Selbständigkeit raubten. <<Denn
bis zur Entdeckung des Idealismus fehlt der eigentliche
Begriff der Freiheit in allen neueren Systemen, im
Leibnizischen so gut wie im Spinozischen; und eine Freiheit,
wie sie viele unter uns gedacht haben, die sich noch dazu des
lebendigsten Gefühls derselben rühmen, wonach sie nämlich
in der bloßen Herrschaft des intelligenten Prinzips über das
sinnliche und die Begierden besteht, eine solche Freiheit
ließe sich nicht zur Not, sondern ganz leicht und sogar
bestimmter auch aus dem Spinoza noch herleiten.>>"
Für
Leser, die mit Steiners Gedankenwelt etwas näher vertraut
sind: Eine sehr viel weitergehende und intimere
Betrachtung der Persönlichkeit Spinozas im Lichte der
Weltanschauung Rudolf Steiners zeigt, dass der Philosoph
Spinoza, so wie er oben gezeichnet worden ist, - und infolge
dieser groben Zeichnung ist vielleicht einiges an Unbehagen,
Ablehnung oder Irritation über diese Persönlichkeit
hervorgerufen worden -, durchaus Überraschendes zu bieten
hat. Denn Spinoza ist, - der Auffassung des späteren
Steiner zufolge -, dieselbe Individualität, die sich später
in Johann Gottlieb Fichte inkarnierte. Rudolf Steiner macht
dies in verschiedenen Vorträgen deutlich. (Siehe etwa GA-88,
Dornach 1999, S. 184: "Als Beispiel für eine regelmäßige
Entwicklung einer Individualität können wir betrachten einen
Zeitgenossen von Jesus, Philo von Alexandrien. Seine
Individualität kam wieder als Spinoza und dann als Johann
Gottlieb Fichte. Wir haben hier also eine durchgehende
Individualität in drei Persönlichkeiten. Liest man Fichte
ohne Kenntnis dieser Vorgänge, so versteht man ihn nur wenig.
Mit dieser Kenntnis aber findet man, daß seine Worte mit
Feuerschrift geschrieben sind. Alle diese großen Geister
haben eine regelmäßige Entwicklung durchgemacht." Siehe
auch GA 158, Dornach, 1993, S. 213: "Wer würde nicht
unter scheiden können den eigentümlichen Grundton Fichtes,
des mitteleuropäischen Philosophen, und den
eigentümlichen Grundton Spinozas, der ja auch ein
europäischer Philosoph war. Es ist sogar in der
Menschheitsevolution so, daß dasjenige, was der allgemeinen
Kultur angehört, von derselben Individualität getragen
werden kann. Denn dieselbe Individualität ist ja Spinoza und
Fichte, wie vielleicht schon einige unserer Freunde wissen.
Aber Fichte ist als einzelne Persönlichkeit des 18., 19.
Jahrhunderts ein Geist, der durchdrungen werden konnte von der
ganzen Kraft des Christus-Impulses; Spinoza, also
dieselbe Individualität, steht aber in der andern
Strömung darinnen und hat nichts davon.") Und Johann
Gottlieb Fichte wiederum war, - wie uns dies Hartmut Traub mit
einigem Recht und oftmals sehr guten Gründen, und manchmal
bis zum Überdruss versichert -, auch für Rudolf Steiner
ein ganz wesentlicher Vorläufer der Anthroposophie, dem
Steiner und die Anthroposophie viel verdanken. Unter einem
gewissen Blickwinkel könnte man, wenn man von Steiners ganz
individuellen Voraussetzungen einmal absieht, Fichtes Werke
als einen der ursprünglichen philosophischen Quellorte der
anthroposophischen Geisteswissenschaft bezeichnen. Das
wissen wir von Steiners autobiographischen Äusserungen
selbst. (Siehe Rudolf Steiner, Briefe I., herausgegeben
von Edwin Froböse und Werner Teichert, Dornach 1948. Dort
den mit Genehmigung von Marie Steiner abgedruckten
autobiographischen Vortrag Steiners vom 4. Februar 1913
in Berlin. S. 1 ff, insbes. S. 33 ff. [Im Internet in leicht
überarbeiteter Form erreichbar unter
http://www.anthroposophie.net/steiner/Lebensgang/bib_steiner_lebensabriss.htm
Ebenso unter http://bdn-steiner.ru/cat/Beitrage/D83_84.pdf
]) Interessant ist in diesem Zusammenhang zu sehen, mit
welcher Energie Fichte sein Erkenntnisinteresse auf etwas
richtet, wofür Spinoza allem Anschein nach vollkommen
blind war: Auf die Aktivität des denkenden und
handelnden Ich. Vermutlich hat Hartmut Traub sogar auch darin
recht, wenn er sagt, Steiner fusse weltanschaulich weit
mehr auf Fichte denn auf Goethe. Eine ernst zu nehmende und
diskutable These ist das allemal. Vor allem vor dem
Hintergrund der eben erwähnten autobiographischen Skizze
Steiners. Und zumindest methodisch lässt sich zeigen,
dass Fichte im Gegensatz zu Goethe eine absolut zentrale
Figur für Steiner war. Insofern nämlich, als es
Fichte war, der die philosophische Aufmerksamkeit so sehr auf
die Beobachtung des Denkens - genauer: auf die Tathandlung des
Ich beim Denken - gerichtet hat, auf der die anthroposophische
Empirie des Geistes eigentlich aufbaut. Und daran (an
die Beobachtung des Denkens) knüpft Steiner in der
Anthroposophie (vor allem schon in den philosophisch
geprägten Frühschriften) ganz explizit und eindrücklich
methodisch an. Steiners Methode der wissenschaftlichen
Geistesforschung ist ohne die Beobachtung des
Denkens weder möglich noch vorstellbar. (Wobei anzumerken
ist: Was Hartmut Traub zu diesem Thema - wissenschaftliche
Geistesforschung - schreibt, ist im wesentlichen
nichts als Nonsens. Er hat von diesem Aspekt der
Anthroposophie so gut wie nichts verstanden.) Während
Goethe demgegenüber einer bekannten Bemerkung zufolge,
angeblich nie über das Denken gedacht hat, - einer der
wenigen wirklich markanten Anlässe für Steiner, an
Goethe ernsthaft Kritik zu üben. Wobei er beides moniert:
Sowohl dessen mangelndes Erkenntnisinteresse dem Denken
gegenüber, wie auch die daraus resultierende fehlende
Einsicht bezüglich der Freiheit. (Siehe Goethes
Weltanschauung, GA06, Dornach 1990, S. 84 ff).
Jedenfalls hat Goethe niemals eine Weltanschauung darauf
gegründet wie Fichte oder Steiner. Da war Spinoza in der
neuen Gestalt Fichtes offensichtlich - zumindest in
dieser Frage - weiter als Goethe. Nimmt man hinzu, dass
Spinoza gewissermassen als eine philosophische Leitfigur
Goethes wiederum von dieser rezeptiven Seite in
Steiners philosophischen Gedankengängen, vor allem in seinem
frühen Idealismus einigen prägenden Eingang gefunden hat,
dann bekommt die Frage nach dem Verhältnis von Steiner zu
Spinoza noch eine vollkommen andere Dimension, als sie einer
vordergründigen rezeptionsgeschichtlichen Betrachtung
zugänglich ist.
*
Zurück zu
Popper: Hier zeigt sich nicht nur die bemerkenswerte Kraft des
Popperschen Argumentes, sondern auch die unglaublich enge
Verquickung der Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage.
Denn für die Anerkennung Gottes wie jedes anderen
Geistwesens, dessen manipulative Existenz vom spirituellen
Fatalisten vorausgesetzt wird, gilt das Prinzip seiner
rationalen Begründbarkeit. Ein Gott, für dessen Existenz es
keine Argumente gibt, ist eine leere und nichtssagende
Hypothese. Dasselbe gilt für alle anderen Entitäten der
geistigen Welt, von denen der Mensch möglicherweise gesteuert
werden könnte. An diese Entitäten kann dann nur noch
unbegründet geglaubt, aber nicht von ihnen begründet
gewußt werden. Das begründete Wissen wiederum setzt
die Überzeugung von der logischen Gültigkeit und
Verbindlichkeit der Gründe des Wissens voraus und damit
implizit den Freiheitscharakter des Erkennens. Im Sinne
Poppers ließe sich dazu sagen: «Wenn wir glauben, wir hätten
eine Theorie wie den geistigen Determinismus wegen der
logischen Kraft bestimmter Argumente angenommen, dann
täuschen wir uns gemäß der Theorie des geistigen
Determinismus; oder genauer: Wir befinden uns in einem
geistigen Zustand, der uns dazu bestimmt, uns zu
täuschen.» Das heißt bei Annahme eines geistigen
Determinismus bricht überhaupt das ganze Begründungsgebäude
nicht minder zusammen wie bei Annahme eines physikalischen
Determinismus. Es gibt dann weder rationale Gründe für
noch gegen den Geist, womit zwangsläufig auch die These vom
geistigen Determinismus nichtig wird und nur noch den Status
einer Glaubenüberzeugung oder unbegründeten geistigen
Ideologie einnimmt. Das heißt: im Vollzug des
Erkenntnisprozesses kann der Mensch weder materiell noch
geistig durchgängig determiniert sein. Wäre er es, dann
würde er nicht erkennen, sondern hätte lediglich den
Charakter eines subtilen Automaten, der im einen Fall
physikalisch, im anderen Fall geistig einen Prozeß vollführen
muß, auf den er nicht den geringsten Einfluß hat. Im
zweiten Fall wird der Mensch zum willenlosen Subjekt, Werkzeug
bzw Knecht des Geistes bzw der Idee. (Ein Gott, der dem
Menschen keine Freiheit gewährt, sondern ihn bis in
jedes kleinste Detail beherrscht, könnte von diesem gar nicht
erkannt werden. Auch nicht in marginalen Einzelheiten seiner
Gottesnatur.)
Die Freiheit
gegenüber der geistigen Welt verlangt also nicht minder nach
einer Begründung wie die Freiheit gegenüber der materiellen
Welt. Und in beiden Fällen wurzelt die Begründung der
Freiheit in der Erkenntnistheorie, die nicht nur unserer
Überzeugung von den materiellen Dingen sondern auch von
den geistigen Dingen die Rechtfertigungsbasis liefert.
Beide Fälle hat Rudolf Steiner mit der
Philosophie der Freiheit im Auge. Eben auch den Aspekt
der Freiheit von geistigen Determinationen. Schlaglichtartig
kommt dies zum Ausdruck, wenn er dort am Ende der Schrift im
zweiten Anhang zur Neuausgabe von 1918 schreibt: "Man muß
sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst
gerät man unter ihre Knechtschaft." (Die
analoge Stelle am Ende des ersten Kapitels der Erstausgabe
lautet weniger zurückhaltend: "Man muß sich der Idee
als Herr gegenüberstellen, sonst gerät man unter ihre
Knechtschaft.") Und auf S. 177 heisst es: "Wie der
materialistische Dualist den Menschen zum Automaten macht,
dessen Handeln nur das Ergebnis rein mechanischer
Gesetzmäßigkeit ist, so macht ihn der spiritualistische
Dualist (das ist derjenige, der das Absolute, das Wesen an
sich, in einem Geistigen sieht, an dem der Mensch mit seinem
bewußten Erleben keinen Anteil hat) zum Sklaven des Willens
jenes Absoluten."
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Wenden wir den
Blick kurz zurück auf die Abschnitte I und II dieser Arbeit,
dann können wir festhalten: Popper macht hier der Sache nach die
selben Argumente geltend wie Steiner, wenn dieser im dritten
Kapitel der Philosophie der Freiheit (S. 44 f) sagt:
"Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denkprozeß
ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis der physiologischen
Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier von dem Denken,
insoferne es sich aus der Beobachtung unserer geistigen Tätigkeit
ergibt. Wie ein materieller Vorgang meines Gehirns einen
andern veranlaßt oder beeinflußt, während ich eine
Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht.
Was ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang in
meinem Gehirne den Begriff des Blitz es mit dem des Donners
verbindet, sondern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in
ein bestimmtes Verhältnis zu bringen. Meine Beobachtung ergibt,
daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach
dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach
den materiellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich
mich." Der argumentative Kontext im engeren Sinne ist bei
Popper die Logik. Bei Steiner ist es vordergründig die
durch Beobachtung feststellbare Tatsache, daß sich das intuitive
Denken in seinem Fortgang ausschließlich nach begrifflichen
Inhalten richtet. Der Sachlage nach liegt aber die Argumentation
in beiden Fällen auf der gleichen Ebene. Denn der von Popper ins
Feld geführte Beweisgang: «Logische Erwägung ist
überhaupt nur möglich wenn und weil das begriffliche Denken von
den kausalen Vorgängen des Organismus unabhängig ist»,
setzt voraus, daß sich das Denken nach begrifflichen Inhalten
richten kann und nicht von den physiologischen Bedingungen seine
Bestimmungen erhält. Das heißt, er spricht hier von
denselben grundlegenden Tatsachen, die bei Steiner unter die
Rubrik Intuitives Denken; Woher erhält dieses seine
Bestimmungen?; Und in welchem Verhältnis steht es zu unserer
leiblichen Organisation? fallen. Es ist nur konsequent und
liegt in der Natur dieser Sache begründet, wenn Popper gemeinsam
mit Eccles den erheblichen hirnphysiologischen Impikationen
dieser Faktenlage nachzugehen versucht.
(Bemerkung vom
09.08.05: Man kann natürlich in dieser kurzen Gegenüberstellung
nur einige wenige Aspekte berücksichtigen, die für einen
Vergleich zwischen Steiner und Popper in der diskutierten Frage
von Belang sind. Ich sage das extra, um den Gedankengang
nicht zu arg zu verkürzen. Was bei Steiner unter allen
Umständen zu berücksichtigen ist, das ist die sich selbst
tragende und erklärende Eigenschaft des Denkens. Dafür
gibt es bei Popper, soweit ich bislang sehe, nichts
vergleichbares. Er hätte diesen Aspekt vermutlich an die von ihm
nicht übermäßig hoch geschätzte Denkpsychologie
verwiesen. Einer Wissenschaft, der er in jungen Jahren als
Schüler Karl Bühlers noch nahe gestanden hatte. Die er aber,
frustriert von ihrem unreifen methodischen Instrumentarium, sehr
bald verließ, um sich den aussichtsreicheren Naturwissenschaften
philosophisch zuzuwenden. Eine kontrastierende Abklärung
zwischen den logischen Gedankengängen Poppers und Steiners wäre
eigentlich ein (Teil)-Thema einer umfangreichen Arbeit - etwa
einer Dissertation. Und als solche durchaus interessant und
erfolgversprechend.)
Manche
Philosophen, die sich um das ausgehende 19. Jahrhundert mit dem
Verhältnis von Logik und Naturkausalität befaßt haben, waren
in dieser Hinsicht zielbewußter als etwa Peter Bieri. Karl
Popper habe ich hier nur pars pro toto angeführt. Tatsächlich
führt die Frage nach der Freiheit noch sehr viel tiefer in
Erkenntnisfragen hinein bis hin zu den Grundlagen von Logik
und Erkenntnis überhaupt. Sehr viel tiefer noch, als bei Popper
auf den ersten Blick deutlich wird. Aber es ist ein sehr
plastisches, sehr drastisches und folgerichtiges Beispiel, das er
hier gibt. Die problematische Beziehung zwischen logischen
Gründen einerseits und Kausalgründen andererseits findet
in der Erkenntnistheorie und Logik einen regelrechten
Kulminationspunkt. Und dort zeigt sich, daß ein durchgängiger
physikalischer Determinismus eine rein logisch begründete
Einsicht nicht nur ausschließt, sondern die Grundprinzipien des
Erkennens selbst zerstört und mit ihnen - wie es Popper
andeutet - auch die Möglichkeit für den Determinismus zu
argumentieren, weil es dann gar keine Argumente mehr gibt. Der
Determinist weiß es nur noch nicht, oder will es vielleicht auch
gar nicht wissen. Anders gesagt: Der physikalische Determinismus
des Erkennens ist mit den Grundprinzipien von Logik und
Erkenntnis, auf die sich der Physikalist inkonsequenterweise
selbst beruft, absolut unverträglich. Die Frage nach der
Freiheit des Erkennens ist also - wie bereits gesagt - eine der
Schlüsselfragen der Freiheitsphilosophie schlechthin. Und sie
ist auch - was den Physikalisten mit Recht sehr beunruhigt - eine
physikalische Schlüsselfrage. Denn falls es sich so verhält,
daß unser Erkennen kein Epiphänomen der Hirnphysiologie,
sondern unser eigenes von logischen Gründen geleitetes freies
Tun ist, dann ist in der Tat das physikalische Weltbild der
Gegenwart betroffen und in Frage gestellt. Denn Freiheit des
Handelns und Erkennens schließt eine durchgängige und
lückenlose Naturkausalität aus, und untergräbt damit eine der
stabilsten Grundüberzeugungen der gegenwärtigen Physik:
den Energieerhaltungssatz. 3) (Siehe
hierzu auch Anmerkung 1)
Anmerkungen:
1)
Vor allem in den Kritiken an der Philosophie des Geistes von
Popper und Eccles (Karl R. Popper, John C. Eccles, Das Ich und
sein Gehirn, München, 1982. Ebenso John C. Eccles, Daniel
N. Robinson, Das Wunder des Menschseins - Gehirn und Geist,
München 1985) kommen diese Argumente und Befürchtungen
zum Ausdruck. Siehe hierzu etwa:
Henrik Walter,
Neurophilosophie der Willensfreiheit, Paderborn 1998, S. 80
f. :
"Wie
wechselwirken die beiden Welten [gemeint sind die physikalische
Welt und die intelligible Welt unseres Geistes, MM] miteinander?
Wie wirkt die zweite Welt in die erste hinein und wie werden die
beiden Welten koordiniert? Jede Wechselwirkung verletzt den
Energieerhaltungssatz und ist daher eine wissenschaftliche
Anomalie."
Ebenso S. 123:
"Einerseits behauptet Eccles, daß der selbstbewußte Geist
nicht den üblichen Naturgesetzen unterworfen ist, andererseits
erklärt er, daß der selbstbewußte Geist in der Lage sei, mit
der physikalischen Welt, d.h. dem Gehirn, in Wechselwirkung zu
treten. Er hält also am Begriff der mentalen Verursachung fest.
Eine Veränderung physikalischer Gegebenheiten im Gehirn
erfordert jedoch Energie und eine mentale Verursachung, die
in der physikalischen Welt vorher nicht vorhandene Energie
einführte, bedeutet eine Verletzung des
Energieerhaltungssatzes."
Ausführlicheres
ebendort S. 178 ff.
Siehe auch: Mario
Bunge, Rubén Ardila, Philosophie der Psychologie, Tübingen
1990, S. 14:
"An der
Philosophie des Geistes von Popper und Eccles ist folgendes
offensichtlich: Erstens, sie ist unausgegoren, weil ihre
Schlüsselbegriffe - vor allem Welt, Geist und Interaktion -
undefiniert bleiben, und sie enthält überdies keinerlei präzise
Hypothese über den Geist und seine angebliche Interaktion mit
dem Gehirn. Zweitens verletzt sie ein fundamentales
physikalisches Prinzip, nämlich den Energieerhaltungssatz
(postuliert sie doch, der immaterielle Geist könne Materie in
Bewegung setzen). Drittens mißachtet sie eine jedweder
experimentellen Wissenschaft stillschweigend zugrunde
liegende Voraussetzung, daß nämlich der Geist nicht unmittelbar
auf Materie wirken könne, ...")
In seiner
grundsätzlichen Struktur wird dieses Problem der Interaktion
einer immateriellen mit der materiellen Welt erörtert bei
Peter Bieri (Hgr.), Analytische Philosophie des Geistes,
3. Aufl, Königsstein/Ts., 1997, S. 5 ff. Bieri schreibt dort
etwa (S. 6): "Wenn mentale Phänomene nicht-pysische
Phänomene sind und wenn es mentale Verursachung gibt, dann kann
der Bereich physischer Phänomene nicht kausal geschlossen sein.
Wenn er jedoch kausal geschlossen ist und wenn mentale Phänomene
nicht-physische Phänomene sind, dann kann es allem Anschein
zum Trotz keine mentale Verursachung geben. Und wenn es sie trotz
der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt gibt, dann
kann es nicht sein, daß mentale Phänomene nicht-physische
Phänomene sind."
Eine umfassende
Übersicht über die derzeitige Forschungslage zum Thema
mentale Verursachung aus der Sicht der analytischen Philosophie
gibt Godehard Brüntrup, Mentale Verursachung, Stuttgart,
Berlin, Köln, 1994.
2)
Ein Argument dieses Typs - daß es in einer völlig
deterministischen Welt keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne
geben könne bzw. "Wenn der Determinismus nun zutrifft, bin
ich gar nicht in der Lage, wirkliche Untersuchungen oder
Nachforschungen anzustellen; daher kann ich kein Vertrauen in die
Wahrheit des Determinismus haben. " - empfindet der oben
erwähnte Henrik Walter (S. 84) als ernstzunehmende
"Herausforderung". Siehe hierzu auch obiges
Selbstwiderlegungsargument Poppers gegen den Determinismus.
Siehe hierzu auch
Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn, a.a.O., S. 105 ff;
S. 641 f, dort die Anmerkung 3.
3) Zu
diesem Thema: Physikalische Implikationen des Denkens und
Erkennens finden Sie einen Artikel von mir in der
Zeitschrift Die Drei, 7, Juli 2005, S. 31-39: Michael
Muschalle, Errettung des Denkens. Roger Penroses Erkundungen des
Bewussten und Rudolf Steiners Bewußtseinsphilosophie
Siehe weiter dazu
die Kritik zu diesem Aufsatz von Ernst Oldemeyer, Dualistische
oder monistische Rettung des Denkens und der Freiheit, in Die
Drei, 10, Oktober 2005, S. 61 ff;
(http://www.diedrei.org/Heft%2010%2005/09%20Oldemeyer.pdf)
ebenso meine
Antwort an Ernst Oldemeyer, Quantenphysik und Gedankenleben,
in Die Drei 11, November 2005, S. 59 ff. Zu finden unter:
(http://www.diedrei.org/Heft%2011%2005/09%20Muschalle-Erwiderung.pdf)
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