Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 6.8

Wissenschaftssoziologische Zwischenbemerkung

Ein vielleicht mehr wissenschaftssoziologisches Fazit meiner vorliegenden Arbeit möchte ich an dieser Stelle nicht zurückhalten, weil nach meiner Auffassung die anthroposophische Forschung sich zum großen Teil (auch) wegen ihrer Vorbehalte gegenüber nichtanthroposophischen Richtungen viele Jahre um ein Verständnis grundlegender Steinerscher Gedanken gebracht hat. Von einem Doktoranden der Philosophie oder der Pädagogik wird man vielleicht nicht apriori verlangen können, daß er sich mit der Psychologie der Steinerzeit ernsthaft befaßt, um Steinersche Positionen besser zu verstehen. Von einem Habilitanden sollte man es vielleicht schon erwarten und erst recht von einem Mann, der viele Jahre seines Lebens damit zugebracht hat, Steinersche Grundpositionen in Wort und Schrift zu erläutern. Mir persönlich bleibt es ein Rätsel, warum Herbert Witzenmann bei seinen über etwa vier Dekaden sich erstreckenden Untersuchungen des Denk-Beobachtungsbegriffes nicht ein einziges mal die psychologische Literatur der Steinerzeit ernsthaft zu Rate gezogen hat. Denn über diesen Begriff finden wir immerhin eine mehr als fünfzigjährige Diskussion seit Mitte des vorigen Jahrhunderts. Kann man denn wirklich als Anthroposoph der Überzeugung sein, diese ganze methodische Arbeit sei nur vorurteilsbelastet und für die anthroposophische Forschung nutzlos, so daß man unabhängig davon alles neu entwickeln muß? 79

Man muß ja nicht gleich alles, was diese Psychologie an methodischen Überlegungen zum Beobachtungsbegriff entwickelt hat, kritiklos übernehmen - das wäre auch angesichts des Diskurses innerhalb dieser Wissenschaft selbst gar nicht möglich. Auch die epochalen und von Steiner überaus geschätzten Untersuchungen Franz Brentanos lassen sich zur Frage der Denk-Beobachtung nicht ohne weiteres auf Steiner übertragen, weil ihnen ein expliziter erkenntnistheoretischer Bezugspunkt fehlt, der für Steiners Verständnis maßgeblich ist. 80 Aber man könnte sich ja einmal Gedanken darüber machen, warum die Psychologie zu bestimmten begrifflichen Unterscheidungen gekommen ist. Im Falle der Denk-Beobachtung hätte das ein Verständnis von Steinerschen Positionen außerordentlich erleichtert, manche überflüssige Diskussion mit der Psychologie (ich denke da insbesondere an Peter Schneider) verhindert, und Raum gegeben für eine wirklich konstruktive Auseinandersetzung, denn Unterschiede in den Aufassungen gibt es noch reichlich genug. Dieses hohe Maß an wissenschaftssoziologischer Isolation der Anthroposophie infolge spezifischer Vorbehalte ist in meinen Augen maßgeblich mit dafür verantwortlich, daß Steiners Begriff der Denk-Beobachtung bis heute nicht verstanden ist.

Ein anderer Grund für dieses Unverständnis, und wohl auch dafür, warum Witzenmann mit seiner Fragestellung nicht vorangekommen ist, liegt ohne Zweifel in dem weitgehenden Fehlen einer wissenschaftsfördernden Infrastruktur innerhalb der anthroposophischen Bewegung - das ist ein entsprechend (selbst)kritisches Bewußtsein und darauf aufbauend angemessene institutionelle und soziologische Bedingungen für kritisch-wissenschaftliches Arbeiten - z. B. die Existenz einer funktions- und diskursfähigen anthroposophisch orientierten scientific community. Ein einzelner ist mit einer Aufgabenstellung, wie sie sich Witzenmann vorgenommen hat, schlicht überfordert, wenn ihm nicht ein adäquates Korrektiv gegenüber- und zur Seite steht. Viele Gedanken klären sich erst im kritischen Diskurs in der Gemeinschaft. Und ein solches Korrektiv stand ihm offenbar nicht zur Verfügung. Witzenmann war sich sehr bewußt über eine Vielzahl philosophischer Probleme des Steinerschen Werkes, wie ich aus mündlichen Ausführungen Witzenmanns weiß. Aber er hätte zu seiner Zeit wohl kaum geeignete Adressaten in ausreichender Zahl innerhalb dieser Bewegung gefunden, wenn er sich allzu kritisch mit Steiners Gedankengängen auseinandergesetzt hätte. In meinen Augen ist dies das grundlegende Dilemma der anthroposophischen Bewegung - was ja auch von anderen in dieser Zeitschrift immer wieder ausgesprochen wurde. Wissenschaft - auch anthroposophische - ist nicht ausschließlich die Veranstaltung eines Einzelnen, sondern ein hochgradig soziales Phänomen, das vom Geiste der brüderlichen Gesprächsbereitschaft lebt, und ohne ein entsprechend aufklärungswilliges Freiheitsbewußtsein einer größeren Gemeinschaft, ohne geeignete institutionelle Rahmenbedingungen wird diese anthroposophische Wissenschaft als ernstzunehmender erkenntnisschaffender Bestandteil der Gegenwart wohl nicht allzuweit kommen. Wenn in der anthroposophischen Bewegung schon Zerrbilder der eigenen philosophischen Grundlagen entstehen und über Jahrzehnte hinweg Bestand haben, obwohl diese Grundlagen noch relativ leicht zugänglich und prüfbar sind, wie wird es dann erst im Bereich des Okkulten aussehen, wo Zugang und Kontrolle erheblich schwieriger sind? Ich muß gestehen, daß mir bei dieser Vorstellung sehr unbehaglich zumute ist.

Wenn man sich die anthroposophische Sekundärliteratur in der Frage der Denk-Beobachtung anschaut, dann mutet die ganze Szenerie irgendwie bizarr an: seit Anbeginn gibt es zwischen Steiner und den Psychologen einen grundlegenden Konsens hinsichtlich der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens und niemand bemerkt das. Stattdessen konstruiert man sich seinen eigenen Begriff von dieser Beobachtung zusammen, ohne das, was Steiner in dieser Sache explizit sagt, ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen und ihn zu Wort kommen zu lassen. Auf der Grundlage von Halbwahrheiten werden Artikel und Buchkapitel über dieses Beobachten geschrieben und gar neue wissenschaftstheoretische Konzepte entwickelt, von denen man eines sicherlich sagen kann: sie gehen bezüglich dieser Beobachtung in die Irre. Schließlich und endlich wird sogar Steiners erkenntnistheoretische Basis ausradiert. Dabei hätte ein unbefangener Blick in Steiners einschlägige Darstellung und ein ebenso unbefangener Blick in die wissenschaftliche Nachbarschaft sowie ein anschließender Selbstbeobachtungsversuch gereicht, die Sache klarzustellen.

Es gibt bei anthroposophischen Autoren - eigenes früheres Vorgehen eingeschlossen - so etwas wie selektive Wahrnehmung und Vermeidungsverhalten im Hinblick auf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung, und der Anlaß dazu liegt in einem bestimmten Vorverständnis darüber, wie die von Steiner gemeinte Denk-Beobachtung auszusehen habe. Und weil Steiners Spaltungsargument mit diesem Vorverständnis nicht kompatibel erscheint, läßt man es im Zweifelsfall am besten ganz weg, selbst auf die Gefahr hin, Steiners erkenntnistheoretische Basis auszuhebeln - siehe Herbert Witzenmann. Bei allen Autoren, von Witzenmann über Schneider, Ravagli, Kühlewind, Gabriel, da Veiga Greuel, Muschalle - und eine Erweiterung dieser Liste läge vermutlich in der Nähe von einhundert Prozent anthroposophisch-philosophischer Bearbeiter des Steinerschen Oevres 81 - führt oder führte dieses Vorverständnis regelmäßig dazu, einen beträchtlichen Teil der Steinerschen Argumentation bezüglich der Unbeobachtbarkeit zu übergehen oder seine sachlichen Begründungen fehlzudeuten. Alles, was in dieses Vorverständnis nicht hineinpaßt, wird ausgemustert oder umgedeutet, zum Teil mit erstaunlichen Paralogismen und gedanklichen Verrenkungen. Anders als durch eine hartnäckige Form selektiver Wahrnehmung und Vermeidungsverhalten ist das durchgängige Ignorieren des Steinerschen Spaltungsargumentes kaum zu erklären. Ich meine die Existenz dieses Vorverständnisses hat mehrere Anlässe: Zum einen erklärt es sich aus der Tatsache, daß Steiner in seinen philosophischen Schriften das Denken als Wahrnehmungsorgang für Begriffe und Ideen bezeichnet und die denkende Wahrnehmung für diese demnach auch mit Recht als Begriffs- oder Ideenbeobachtung bezeichnet werden könnte. Eine entsprechende Bemerkung Steiners etwa im Zyklus "Grenzen der Naturerkenntnis" (GA-322, 1981, S. 51 ff) deutet in diese Richtung. Solche Ideenbeobachtungen im reinen Denken sind nicht psychologischer Natur und tendieren eher zu dem was Steiner auch als "intellektuell-geistiges Hellsehen" bezeichnet. Ein exemplarischer Musterfall dieser nichtpsychologischen Ideenbeobachtung wäre etwa die Beobachtung mathematischer Ideen.

Ein anderer Grund liegt darin, daß Steiner in den frühen Schriften nicht dezidiert genug unterscheidet zwischen einer nichtpsychologischen Ideenbeobachtung, die am objektiv-ideellen Inhalt des Denkens ansetzt und einer mehr denkpsychologischen Beobachtung, die bewußtseinsphänomenologisch an der subjektiven Seite des Denkens ansetzt. Es ist an diesem Ort nicht möglich, näher darauf einzugehen. Ich hoffe, in einer späteren Arbeit mehr darüber sagen zu können.

Ein weiterer und wohl nicht der letzte Anlaß  liegt in Steiners "Grundlinien ..." und der dort beschriebenen unmittelbaren Erfahrung des Denkens, die er auch als "reine Erfahrung" begreift. Die Art, wie Steiner diese "reine Erfahrung" des Denkens charakterisiert, führt offensichtlich bei vielen Rezipienten zu einer Verwechslung der Denk-Erfahrung mit Denk-Beobachtung. Ich meine, daß diese "reine Erfahrung" des Denkens noch einmal neu vor dem Hintergrund ihres argumentativen Kontextes einer Auseinandersetzung mit dem Positivismus zu überdenken ist. Ein Überdenken vor dem Hintergrund dieses Diskussionskontextes müßte eigentlich auf ein Verständnis kommen, das ich im Jahrbuch 97 schon einmal angedeutet habe und hier an späterer Stelle wieder aufgreifen werde: Diese "reine Erfahrung" des Denkens ist eine »begriffslose« oder »theoriefreie« "reine Erfahrung". An der empirischen Ausgangsbasis in Form dieser "reinen Erfahrung" des Denkens setzt die Beobachtung des Denkens erst an und ist nicht mit ihr gleichzusetzen.

Ende Kapitel 6.8            


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