Michael Muschalle
Ende zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home Michael Muschalle Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens (Stand 06.05.04) Kapitel 3.2 Exkurs I über unbewusstes Denken bei Eduard von Hartmann
a) Empirismus des Denkens bei Steiner und Hartmann Michael Kirn bespricht Steiners Auseinandersetzung mit Hartmann auf S. 204 und schreibt zu Hartmanns Auffassung: "Die ganze Konstruktion beruht auf der Annahme eines psychologischen und physiologischen Erklärungsmodells, das den Menschen als Manipulationsobjekt eines technomorphen Gottes erscheinen läßt. Der Mensch bleibt hiernach unter geistiger Vormundschaft, weil angeblich der Gott sein Wesen nicht offenbart, jedenfalls es im wesentlichen der Erkennbarkeit entzogen habe. Formuliert man jedoch den Einwand v. Hartmanns nicht theologisch, sondern philosophisch, dann verliert er seine Überzeugungskraft. Es müßte nämlich behauptet werden, daß das sich ereignende Denken nicht den ganzen Umfang dessen erkenne, was das protokollierende Mitdenken als die Wesenheit des Denkens durchschaue." Nun nützt es wenig, wenn man einen theologischen Einwand - falls hier überhaupt von einem solchen gesprochen werden kann - bloß philosophisch umformt, denn nur damit ist für die Sache nicht viel gewonnen. Der Kern der Kontroverse mit Hartmann liegt darin, wie es überhaupt möglich ist, das Denken in Richtung seiner Herkunft zu durchschauen. Er muß auf der Ebene der Empirie abgehandelt werden. Michael Kirn übersieht in seinem Kommentar, daß Steiners Antwort auf Hartmann empiristisch ausgerichtet ist, wie auch Hartmanns eigene Einwände empiristisch orientiert sind. Deswegen geht Kirns Erläuterung am Entscheidenden der Auseinandersetzung vorbei, nämlich an der Frage der Erfahrung des aktuellen Denkens. Diese Frage wird keine andere dadurch, daß vom theologischen auf den philosophischen Gesichtspunkt übergewechselt wird. Steiner referriert Hartmanns Einwand in der "Philosophie der Freiheit" auf S. 55 f. und schreibt: "Von einer Persönlichkeit, welche der Verfasser dieses Buches als Denker sehr hochschätzt, ist ihm eingewendet worden, daß so, wie es hier geschieht, nicht über das Denken gesprochen werden könne, weil es nur ein Schein sei, was man als tätiges Denken zu beobachten glaube. In Wirklichkeit beobachte man nur die Ergebnisse einer nicht bewußten Tätigkeit, die dem Denken zugrunde liegt. Nur weil diese nicht bewußte Tätigkeit eben nicht beobachtet werde, entstehe die Täuschung, es bestehe das beobachtete Denken durch sich selbst, wie wenn man bei rasch aufeinanderfolgender Beleuchtung durch elektrische Funken eine Bewegung zu sehen glaubt." Nach Hartmann war der Bewußtseinsinhalt des Denkenden nur das Endresultat einer Instanz oder Aktivität, die letztlich diese Ergebnisse zeitigte, aber selbst dem Bewußtsein unsichtbar blieb - gleichsam hinter den Kulissen agierte. Der Denker selbst wähnte sich als Tätiger, war aber in Wirklichkeit nur Zuschauer in einem Stück, dessen Regie ein anderer führte, nämlich das Unbewußte. Diese Hartmannsche Auffassung kommt in einem Punkt dem bedenklich nahe, was wir oben vorgetragen haben. Sie entspricht dem Eindruck vom Denken, den man haben muß unter der Voraussetzung, daß das aktuelle Denken stets unbewußt verläuft. Sie kommt an das heran, was sich ergibt, wenn man Steiners Behauptung von der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens irrigerweise mit der Unbewußtheit dieses gegenwärtigen Denkens gleichsetzt. Denn in diesem Fall tritt ein, was Hartmann annimmt: man hat nur die Ergebnisse einer nicht bewußten Tätigkeit vor sich. Wer diese Tätigkeit ausübt und wie er es im einzelnen vollbringt, das kann man nicht mehr genau wissen, sondern nur noch hypothetisch erschließen, weil die unmittelbare Erfahrungsbasis fehlt: "Die unmittelbaren Ursachen des jeweilig gegebenen Bewußtseinsinhaltes liegen jenseits des Bewußtseins, und ebenso die Gesetze, nach denen diese außerbewußten Ursachen wirken. Jeder Versuch, den Bewußtseinsinhalt und seine Veränderungen nach Ursachen und Gesetzen zu erklären, muß auf das außerbewußte Gebiet übergreifen, das der unmittelbaren Erfahrung verschlossen ist und nur hypothetisch erschlossen werden kann." So lautet die Meinung Eduard von Hartmanns.7 Weil ihm das Werden seiner Inhalte verschlossen ist, ist das Denken nach Hartmann außerstande sich selbst zu erklären. Folglich kann es nicht "durch sich selbst bestehen", sondern muß auf einen hypothetischen Urheber zurückgreifen, dem es das Werden seiner gedanklichen Inhalte zuschreibt. Dieser Urheber ist nicht das »Ich«. Auf den Hartmannschen Einspruch antwortet Steiner mit einem Gegenargument. Er schreibt (S. 56):" Auch dieser Einwand beruht nur auf einer ungenauen Anschauung der Sachlage. Wer ihn macht, berücksichtigt nicht, daß es das «Ich» selbst ist, das im Denken drinnen stehend seine Tätigkeit beobachtet. Es müßte das «Ich» außer dem Denken stehen, wenn es so getäuscht werden könnte, wie bei rasch aufeinanderfolgender Beleuchtung durch elektrische Funken. Man könnte vielmehr sagen: wer einen solchen Vergleich macht, der täuscht sich gewaltsam etwa wie jemand, der von einem in Bewegung begriffenen Licht durchaus sagen wollte: es wird an jedem Orte, an dem es erscheint, von unbekannter Hand neu angezündet." Steiner sagt: "Das »Ich« steht im Denken drinnen und beobachtet seine Tätigkeit." Es steht im Denken wie jemand im Leben steht. Wie jemand, der Teilhabe daran hat mit allen Fasern seiner Persönlichkeit, und auch weiß was er tut und wie er es tut. Ein Mensch, der nur die Ergebnisse seiner Handlungen kennt, sich aber über die Prinzipien ihrer Ausführung und seine Motive keine Rechenschaft ablegen kann, steht nicht im Leben, sondern handelt blind und ist ein Traumtänzer. Steiners Erfahrung beschränkt sich nicht auf die Resultate des Denkens, sondern schließt den Prozeß der Selbstgebung ein, das ist: das Werden des Gedankens, weil er diesen Prozeß unmittelbar erlebt. (Siehe hierzu Zusatz 1) Es ist Hartmann, der behauptet, daß dem Bewußtsein nur die Resultate zugänglich sind - nicht Steiner. Hartmann schreibt vom Denken: "Dass aber wirklich der eigentliche Process in jedem, auch dem kleinsten Schritte des Denkens intuitiv und unbewußt ist, darüber kann wohl ... kein Zweifel obwalten." 8 Es ist ein rein empirisches Argument, das er hier vorbringt: Die Erfahrung zeigt uns, daß das Denken in allen seinen Stadien unbewußt verläuft; es gibt von der eigentlichen Tätigkeit kein Bewußtsein. Dieser empirische Gesichtspunkt wird an anderer Stelle erneut von Hartmann aufgegriffen und ausführlicher behandelt. "Wäre die sogenannte unbewusste Geistesthätigkeit in Wahrheit nur eine minder bewusste, so müsste auch alle productive Geistesthätigkeit eine in irgend welchem Grade bewusste sein" schreibt er dort. 9 Und er fährt fort: "Nun ist so viel zweifellos, dass die sogenannten niederen Grade des Bewußtseins mit einer größeren Armuth und Enge des Inhalts verknüpft sind, wenn sie nicht wie ich meine, ganz auf ihnen beruhen. Es muß demnach angenommen werden, dass die Leistungsfähigkeit oder der Grad der Productivität, welchen die mehr oder minder bewusste Geistesthätigkeit aus sich entfaltet, mit dem Grade des Bewusstseins wechseln muß. Demnach müsste das hellste und reichste Bewusstsein auch den höchsten Grad geistiger Productivität aus sich entfalten, und in seiner Leistungsfähigkeit allen niederen Graden bewusster Geistesthätigkeit weit überlegen sein. Die Erfahrung lehrt uns aber, dass unser höchstes Bewusstsein gar keine Spur von Productivität besitzt, sondern alles ganz passiv aus unbewusster Geistesthätigkeit empfängt." Wiederum ist es die Erfahrung des produktiven Denkens, die Hartmann in Abrede stellt. Wenn Steiner auf die Erfahrung des tätigen Denkens verweist, um zu seiner Erklärung vorzudringen, so beruft sich Hartmann auf die fehlende Erfahrung, um der Überzeugung seiner Unbewußtheit Ausdruck zu verleihen. Für ihn existiert kein bewußter Zugang zum tätigen Denken. Eduard von Hartmann stützt sich maßgeblich, wenn auch nicht ausschließlich auf die Empirie, wenn er die ewige Unbewußtheit des Denkens behauptet. Daß er zusätzlich eine Reihe von theoretischen und metaphysischen Vorausannahmen macht, wie Michael Kirn schreibt, wollen wir nicht bestreiten. Aber an der entscheidenden Stelle ruft er die Erfahrung zum Zeugen auf. Wenn wir uns weiter unten Karl Bühler zuwenden, werden wir sehen, daß Hartmann in dieser Hinsicht offenbar ganz dem philosophischen mainstream folgte. Steiner schreibt dagegen in seinem "Lebensgang" (GA-28, S. 155): "Für ihn [Hartmann] lag das Wesen der Dinge im Unbewußten und muß für das menschliche Bewußtsein immer dort verborgen bleiben; für mich war das Unbewußte etwas, das durch die Anstrengungen des Seelenlebens immer mehr in das Bewußtsein heraufgehoben werden kann." Steiner sagt nicht, daß Hartmann in jeder Beziehung im Unrecht sei; er behauptet also nicht die vollständige Bewußtheit des Denkprozesses, sondern der Gegensatz beschränkt sich hier auf die Zugänglichkeit des Unbewußten, die in dem von Hartmann angenommenen absoluten Sinne für Steiner nicht zu halten war. Für Hartmann hingegen entzieht sich das Werden des Gedankens definitiv und immer dem direkten Zugriff und bleibt verborgen. Was dabei geschieht läßt sich allenfalls hypothetisch-schlußfolgernd mutmaßen. Dem Denker bleibt nur die Illusion von eigenem Handeln. Ein Einwand, der Hartmann nur philosophisch-formal widerlegen wollte, wäre ein solcher, der nur auf der mittelbaren, schlußfolgernden Ebene operiert, und dann müßte man sich die Prämissen ansehen, mit denen er arbeitet. Und falls Hartmann ebenfalls nur formal-logisch argumentieren sollte, dann hätten wir es wohl ausschließlich mit einer Kontroverse um grundlegende metaphysische Prinzipien zu tun. Steiner argumentiert jedoch, ebenso wie Hartmann, nicht formal-logisch sondern empirisch-inhaltlich, indem er an die Erfahrung appelliert. Ohne die Möglichkeit dieses sachlichen Hinweises auf die unmittelbare Erfahrung der Denktätigkeit wäre Steiner in einer der Hartmannschen vergleichbaren Ausgangslage, wenn er zu erklären hätte, wo die Ergebnisse des Denkens herstammen und was sie verursacht. Auf die Erfahrung des tätigen Denkens stützt sich die ganze Steinersche Kritik an Hartmann. Seine Argumentation ist durch und durch empiristisch. Aber sie ist natürlich - das muß man hier hinzufügen - völlig unzureichend. Es hätte mindestens ein ganzes Buch daraus werden müssen. 10 Die empirische Ausrichtung der Entgegnung Steiners gipfelt am Ende der Passage (S. 56) in dem Anwurf, die haltlose Auffassung Hartmanns wurzele darin, daß dieser sich der Erfahrung des Denkens verschließe: "Nein, wer in dem Denken etwas anderes sehen will als das im « Ich» selbst als überschaubare Tätigkeit Hervorgebrachte, der muß sich erst für den einfachen, der Beobachtung vorliegenden Tatbestand blind machen, um dann eine hypothetische Tätigkeit dem Denken zugrunde legen zu können. Wer sich nicht so blind macht, der muß erkennen, daß alles, was er in dieser Art zu dem Denken «hinzudenkt», aus dem Wesen des Denkens herausführt. Die unbefangene Beobachtung ergibt, daß nichts zum Wesen des Denkens gerechnet werden kann, was nicht im Denken selbst gefunden wird. Man kann nicht zu etwas kommen, was das Denken bewirkt, wenn man den Bereich des Denkens verläßt." Die Überschaubarkeit der Tätigkeit ist für Steiner definitorischer Bestandteil des Denkens. Zum Denken läßt sich nichts zählen, was nicht innerhalb dieser übersichtlichen Tätigkeit aufzufinden ist. Alles andere zählt nicht dazu. Wenn Hartmann also vom Denken redet und dieses auf der Oberfläche einer in der Tiefe wirkenden unbewußten Tätigkeit ansiedelt, dann spricht er nach Steiners Ansicht von etwas anderem, aber nicht vom Denken. Genau genommen geht es hierbei um den Begriff des Denkens, den Hartmann zugrunde legt, und der scheint Steiner nicht angemessen. Der Anlaß dafür liegt nach Steiner darin, daß Hartmann sich für bestimmte Seiten des Denkens verschließt - sich erst "blind macht", und dann das Denken durch eine hypothetische Tätigkeit substituiert. Der Boden für die Hartmannsche Überzeugung bestand in einer spezifischen Einschätzung des menschlichen Willens sowie in einem uneingeschränkten Bekenntnis zur Assoziationspsychologie. 11 Empirische Argumente bringt er reichlich vor und beruft sich dabei immer wieder auf die Selbstbeobachtung. Es ist keineswegs so, daß er das Denken nur über den Leisten seiner metaphysischen Vorwegannahmen schlägt, sondern er trachtet fortwährend danach, seine Auffassung durch die Tatsachen zu untermauern. Sieht man sich sein Kapitel "Das Unbewußte im Denken" im ersten Band seiner "Philosophie des Unbewußten" an, so kann man ihm ein mangelhaftes Bemühen um erfahrungsgestütze Belege wahrlich nicht vorhalten. Und dagegen läßt sich letzten Endes auch nur empirisch argumentieren.
b) Unbewußtheit des Denkwillens und der latenten Vorstellungen bei Hartmann Eduard von Hartmanns Überzeugung von der Unbewußtheit des Denkens äußert sich in zwei Aspekten: in der Unbewußtheit des menschlichen Willens einerseits und in der Unbewußtheit der latenten Vorstellungen andererseits. Der elementarere besteht in der Annahme, der menschliche Wille als solcher könne grundsätzlich kein Gegenstand direkter Erfahrung sein. Was von diesem Willen ins Bewußtsein fällt sind lediglich seine Resultate, aber niemals dieser selbst: "Das Wollen ist unmittelbar unfähig bewusst zu werden, weil es nicht produziertes Phänomen, sondern produktive Thätigkeit ist; es wird nur mittelbar aus Vorstellungen, Empfindungen und Gefühlen erschlossen." 12 erklärt er. Und an anderer Stelle: "Wenn nun der Mensch den Willen dreifach unmittelbar im Bewusstsein zu erfassen glaubt, 1) aus seiner Ursache, dem Motiv. 2) aus seinen begleitenden und nachfolgenden Gefühlen, und 3) aus seiner Wirkung, der That, und dabei 4) den Inhalt oder Gegenstand des Willens als Vorstellung wirklich im Bewusstsein hat, so ist es kein Wunder, dass die Täuschung, sich des Willens selbst unmittelbar bewusst zu sein, sehr hartnäckig und durch lange Gewohnheit festgesetzt ist, so dass sie die wissenschaftliche Einsicht von der ewigen Unbewusstheit des Willens selbst schwer aufkommen und festen Fuss in der Ueberzeugung fassen lässt. Aber man prüfe sich nur einmal sorgfältig an mehreren Beispielen und man wird meine Behauptung bestätigt finden. Wenn man zuerst glaubt, sich des Willens selbst bewusst zu sein, merkt man bei schärferer Betrachtung bald, dass man sich nur der begriff1ichen Vorstellung: "ich will" bewusst ist, und zugleich der Vorstellung, welche den Inhalt des Willens bildet, und wenn man weiter forscht, findet man, dass die begriffliche Vorstellung: "ich will" stets auf eine der angeführten drei Arten oder auf mehrere zugleich entstanden ist, und weiter findet man bei schärfster Prüfung nichts im Bewusstsein. Eins aber ist noch sehr merkwürdig, wenn man sich nämlich darüber ärgert (was Jeder thut), dass man seine bisherige Ansicht aufgeben soll, und sich sagt: "verdammt, ich kann doch wollen, was und wann ich will, und weiss, dass ich wollen kann, und jetzt z. B. will ich", so ist das, was man für directe Wahrnehmung des Willens hält, nichts Anderes, als reflctorische körper1iche Gefühle von unbestimmter Localisation, und zwar Gefühle des Trotzes, des Eigensinnes, oder auch bloss des entschiedenen festen Vorsatzes; hier entsteht also der Schein des Bewusstseins des Willens selber auf die zweite Art, aus begleitenden Gefühlen." 13 Damit wird auch das Denken, insofern es eine Willensbetätigung ist, in seinem eigentlichen Ursprung unerreichbar, denn die Vorstellung kann nach Hartmann von sich aus nicht existentiell werden. Nur der Wille kann ihr Existenz verleihen. 14 Der zweite Aspekt betrifft den Zugang des Bewußtseins auf die latenten Vorstellungen und die damit verknüpfte Frage, wie sich überhaupt Vorstellungen oder Gedanken gezielt mobilisieren lassen. Dieser Vorgang muß nach Hartmann noch aus einem etwas anders gelagerten Grund unbewußt verlaufen, weil das Bewußtsein die latenten Inhalte nicht umfaßt oder überschauen kann. So erläutert sein Biograph und Kommentator Wilhelm von Schnehen: "Ebenso verkehrt ist es, wenn man das Denken für eine Tätigkeit des Bewußtseins ausgibt ... Denn als solches müßte es auch ganz und gar dem Bewußtsein und seiner inneren Erfahrung offenliegen; davon aber ist das Gegenteil der Fall. Das Bewußtsein hat keinerlei Einblick in die verborgenen Kammern des Gedächtnisses und kann darum hier auch nicht zweckmäßig oder seinem Interesse gemäß auswählen; es kann immer nur warten, bis ihm die gewünschte Vorstellung »einfällt«; was bekanntlich sehr oft gerade zur rechten Zeit nicht geschieht. Nur die Ergebnisse des Denkens, die Vorstellungen werden bewußt; das Denken als solches aber, die Gedanken-erzeugende und verknüpfende Tätigkeit vollzieht sich hinter dem Bewußtsein und bleibt, ebenso wie das Wollen, ewig unbewußt." 15 Der Denkvorgang ist demnach im Sinne Hartmanns von doppelter Blindheit geprägt: in bezug auf seine produktive Herkunft als Willensvorgang ebenso wie in bezug auf seine Inhalte. Es existiert weder ein Bewußtsein des tätigen Denk-Willens, noch ein Bewußtsein der aufzurufenden Denk-Inhalte. Die Frage der Unbewußtheit des Denkens läuft damit auf die beiden Teilfragen hinaus: a) Verläuft das Wollen des Denkens stets unbewußt? b) Welche Rolle spielen die Erinnerungsprozesse beim Denken?
c) Dissens in der Willensfrage bei Steiner und Hartmann Bei Steiner können wir, was die Frage des Willens angeht, auf einige wenige explizite Äußerungen im philosophischen Schrifttum verweisen, die sich teils ausdrücklich, teils implizit auch auf Hartmann beziehen. Hinsichtlich der Frage der Erinnerung und seiner Bedeutung für den Vorgang des Denkens findet sich dort so gut wie nichts. Wir werden daher auch in dieser Arbeit wieder auf die denkpsychologischen Untersuchungen Karl Bühlers zurückgreifen, um uns wenigstens ansatzweise mit dem Standpunkt Hartmanns auseinandersetzen zu können. Bezüglich des Willens gibt es einen grundlegenden Dissens zwischen Steiner und Hartmann sowohl hinsichtlich seiner Reichweite als weltkonstituierendes Prinzip wie seiner unmittelbaren Erfahrbarkeit. Die von Hartmann angenommene relative Eigenständigkeit des Willens gegenüber der Idee weist Steiner als inakzeptabel zurück; für ihn war der Wille nur als Eigenschaft der Idee selbst denkbar, aber niemals selbständig neben ihr. Daneben war auch die von Hartmann angenommene Unwahrnehmbarkeit des Willens für Steiner nicht zutreffend. Der Wille war vielmehr ein Wahrnehmungsphänomen dem wie jeder anderen Wahrnehmung die begriffliche Ergänzung zuteil werden mußte. Zum Verhältnis Wille-Idee finden wir einen ersten klaren Hinweis schon in den "Grundlinien ...". Steiner schreibt dort, daß die Tätigkeit unseres Geistes und die Erscheinung einer in sich vollendeten Gesetzlichkeit "zwei Seiten derselben Sache" seien: "Was bei der übrigen Erfahrung zu überwinden ist, die Form des unmittelbaren Auftretens, das gerade ist beim Denken festzuhalten. Diesen in seiner ursprünglichen Gestalt zu belassenden Faktor der Wirklichkeit finden wir in unserem Bewußtsein und sind mit ihm dergestalt verbunden, daß die Tätigkeit unseres Geistes zugleich die Erscheinung dieses Faktors ist. Es ist eine und dieselbe Sache von zwei Seiten betrachtet. Diese Sache ist der Gedankengehalt der Welt. Das eine Mal erscheint er als Tätigkeit unseres Bewußtseins, das andere Mal als unmittelbare Erscheinung einer in sich vollendeten Gesetzmäßigkeit, ein in sich bestimmter ideeller Inhalt." 16 Der "Gedankengehalt der Welt" oder die "Idee" äußert sich hiernach in zweifacher Weise: als Tätigkeit oder Aktivität und als gesetzlicher Zusammenhang. Die denkende Tätigkeit des menschlichen Geistes ist ein Willensvorgang, oder wie Steiner in der "Philosophie der Freiheit" sagt: "es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem «Ich» nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint. Man muß sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit des Denkens erscheint dieses dem Beobachter als durch und durch gewollt." 17 Und für Steiner gehört es zum Wesen des Willens, eine Struktur zu haben, während Hartmann den Willen für sich genommen als strukturlos betrachtet, als "leeres Wollen" (S. 432), "absolut vorstellungslos und blind" (S. 433) 18 wie überhaupt das Verhältnis des Willens zur Idee von Hartmann in Form einer dichotomischen wechselseitigen Abhängigkeit gedacht wird: autonom bestehend, aber nur gemeinsam zur Wirksamkeit gelangend. Obwohl Wille und Idee im Prinzip unabhängig voneinander sind, sind sie ohne den jeweils anderen völlig ineffektiv und machtlos. Der Wille bleibt ohne die Idee blind und leer, während die Idee ohne den Willen keine Wirkung entfalten kann. Sie wird erst existent, "wenn der Wille sie als Inhalt erfaßt und somit realisiert; ..."19 Bevor dies geschieht verharrt sie in einem Zustand zwischen Sein und Nichtsein, von Hartmann als "latentes Sein" bezeichnet. 20 Die Diskrepanz zu Steiner wird schlagend durch eine Bemerkung Hartmanns wie die folgende deutlich: "Könnte die Idee von sich aus in`s Sein übergehen, so wäre sie ja Potenz des Seins, wäre also selbst Wille." 21 Mit diesen Worten bringt er die entscheidende Differenz zu Steiner auf den Punkt, denn für diesen trifft genau das letztere zu. Der Wille ist Idee beziehungsweise die Idee auch Wille. Und zwar ist der Wille nichts anderes als eine Form des Auftretens der Idee. Für Steiner gibt es keinen von der Idee unabhängigen Willen; keinen Willen, der nicht in seinem Wesen Idee wäre. Er hat notwendig immer eine ideelle Seite. Es gibt also keine zwei Grundprinzipien des Seins, wie Hartmann annimmt, sondern nur eines in Gestalt der Idee, die sich je verschieden zu äußern vermag. Speziell der Denkwille ist die kraftende Idee selbst, die im menschlichen Bewußtsein wirkt. Anders gesagt: In der Aktivität des Denkens äußert sich die Idee oder der Totalnexus der Welt in kraftender Weise und zeigt dabei zugleich sein ideelles Moment - d. i. den Zusammenhang. Diese Auffassung vom Willen als Kraftaspekt der Idee hebt Steiner in den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften ausdrücklich in Verbindung mit einer Kritik Eduard von Hartmanns hervor. Steiner führt dort unter anderem aus: "Wenn wir einen Eindruck in dem Boden sehen, so suchen wir nach dem Gegenstande, der ihn gemacht hat. Das führt zu dem Begriff einer solchen Wirkung, wo die Ursache einer Erscheinung wieder in Form einer äußeren Wahrnehmung erscheint, d. i. aber zum Begriff der Kraft. Die Kraft kann uns nur da entgegentreten, wo die Idee zuerst an einem Wahrnehmungsobjekt erscheint und erst unter dieser Form auf ein anderes Objekt wirkt. Der Gegensatz hierzu ist, wenn die Vermittlung wegfällt, wenn die Idee unmittelbar an die Sinnenwelt herantritt. Da erscheint die Idee selbst verursachend. Und hier ist es, wo wir vom Willen sprechen. Wille ist also die Idee selbst als Kraft aufgefaßt. Von einem selbständigen Willen zu sprechen ist völlig unstatthaft." 22 Hier wie dort ist es die Idee, die eigentlich wirkt. In der Außenwelt erscheint sie als Kraft und im menschlichen Innern als Wille. Für Steiner konnte der Wille kein eigenständiges weltkonstituierendes Prinzip neben der Idee sein, wie er es für Hartmann war, sondern nur als Eigenschaft der Idee selbst auftreten. Wille ohne Idee war ein inhaltsleeres Abstraktum, ein blindes leeres Drängen. So schreibt er (S. 197 f) weiter: "Wenn der Mensch irgend etwas vollbringt, so kann man nicht sagen, es komme zu der Vorstellung noch der Wille hinzu. Spricht man so, so hat man die Begriffe nicht klar erfaßt, denn was ist die menschliche Persönlichkeit, wenn man von der sie erfüllenden Ideenwelt absieht? Doch ein tätiges Dasein. Wer sie anders faßte: als totes, untätiges Naturprodukt, setzte sie ja dem Steine auf der Straße gleich. Dieses tätige Dasein ist aber ein Abstraktum, es ist nichts Wirkliches. Man kann es nicht fassen, es ist ohne Inhalt. Will man es fassen, will man einen Inhalt, dann erhält man eben die im Tun begriffene Ideenwelt. E. v. Hartmann macht dieses Abstraktum zu einem zweiten weltkonstituierenden Prinzip neben der Idee. Es ist aber nichts anderes als die Idee selbst, nur in einer Form des Auftretens. Wille ohne Idee wäre nichts. Das gleiche kann man nicht von der Idee sagen, denn die Tätigkeit ist ein Element von ihr, während sie die sich selbst tragende Wesenheit ist." Und auf S. 233 heißt es gegen Hartmann gewendet: "Nach Hartmann kann der Wille allein niemals zur Schöpfung der Welt kommen, denn er ist der leere, blinde Drang zum Dasein. Soll er etwas hervorbringen, so muß die Idee hinzutreten, denn nur diese gibt ihm den Inhalt seines Wirkens. Allein, was sollen wir mit jenem Willen anfangen? Er entschlüpft uns, indem wir ihn erfassen wollen; denn wir können ja doch das inhaltslose, leere Drängen nicht erfassen. Und so kommt es, daß doch alles das, was wir wirklich von dem Weltprinzipe erfassen, Idee ist, denn das Erfaßbare muß eben Inhalt haben. Sollen wir also den Begriff Willen erfassen, so muß er ja doch am Inhalt der Idee auftreten; er kann nur an und mit der Idee als die Form ihres Auftretens, erscheinen, niemals selbständig." Den Willen zu erfassen als Äußerung oder Eigenschaft der Idee, konnte nach Steiner auf keinem anderen Wege erfolgen als auf dem der Wahrnehmung, der die entsprechende begriffliche Ergänzung zuteil wurde. "Im Wollen haben wir ebenfalls eine Wahrnehmung vor uns, nämlich die des individuellen Bezugs unseres Selbstes auf das Objektive. Was am Wollen nicht rein ideeller Faktor ist, das ist ebenso bloß Gegenstand des Wahrnehmens wie das bei irgendeinem Dinge der Außenwelt der Fall ist." 23 Im Hinblick auf das Denken bedeutet den Willen wahrzunehmen, die Betätigung des Ich zu erleben und auf die dabei hervorgebrachten Inhalte zu beziehen. Das Ich »erlebt« sich als Verursacher der Erscheinung seiner Begriffe und schließt nicht nur auf seine erzeugende Aktivität zurück. "Für jeden aber, der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten ... ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beobachtet. " 24 Es ist hier im Anschluß an das bisher dargelegte ausdrücklich festzuhalten, daß die Beobachtung des Denkens für Steiner dasselbe ist wie die Beobachtung der Idee in der Form ihres Auftretens im menschlichen Bewußtsein. Beides sind synonyme Ausdrücke. Weil der Wille eine Erscheinungsform ihres Daseins ist und zur Idee hinzugehört, deswegen impliziert ein grundlegendes Verständnis der Idee bzw. des Denkens auch die Einbeziehung des Willensmomentes. 25 Das Erleben oder Erfahren des Denkens schließt damit notwendig den Tätigkeitsaspekt in sich, oder wie Steiner sagt: "das Erleben der Wesenheit des Denkens, [ist] ... die tätige Erarbeitung der Begriffswelt". 26 Ohne das Tätigkeitserlebnis wird nicht die kraftende oder aktive Wesenheit des Denkens respektive der Idee erlebt, sondern gewissermaßen nur ein Teil davon, nämlich die abgestorbene, abstrakte Seite - "die Leichname des lebendigen Denkens", wie Steiner in einem Zusatz von 1918 erklärt. 27 Von den "zwei Seiten derselben Sache", die in den "Grundlinien ..." erwähnt werden, wäre nur eine Seite berücksichtigt. Das lebendige Denken ist so gesehen das kraftende, tätige, in Wirksamkeit befindliche Denken, während das tote seinen abstrakt gewordenen Inhalten entspricht. Das Tätigkeitsbewußtsein ist damit ein unverzichtbares Moment, um das Wesen des Denkens, das Wesen der Idee überhaupt begreifen zu können, denn der Denkwille ist eine unmittelbare Äußerung der Idee. Er ist die Idee, der Weltengrund oder Gott selbst, als Kraft aufgefaßt. 28 Mit anderen Worten: "Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut." 29 Wobei die "eigene Natur der Ideenwelt" sowohl das Wesen dieser Ideenwelt für sich genommen meint, als auch die Natur des Menschen selbst, insofern er ein Angehöriger dieser Ideenwelt ist. Zu dieser Anschauung gehört das Wollen und Werden des Gedankens unbedingt hinzu. Die Anschauung der Idee ist folglich gleichbedeutend mit der Beobachtung des »tätigen« Denkens und nicht nur des gewordenen Gedankens. Mit Blick auf Steiners Anmerkung in der "Philosophie der Freiheit" (S. 54)," daß nur in der Betätigung des Denkens das «Ich» bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß", ist zu sagen, daß dieses »Ich« gleichsam einen Doppelaspekt der Idee kennzeichnet, als tätige und sich selbst tragende und sich zugleich durch den Menschen anschauende. Ins Bildhafte gewendet möchte man davon sprechen, daß die Idee in Form des menschlichen Ich so etwas wie eine Knospe aus sich heraussetzt und sich damit selbst betrachtet. Das »Ich« wiederum lebt einerseits "von des Denkens Gnaden" (GA-4, S. 60) und ist zugleich eines Wesens mit ihm. Insofern es von der Gnade der Idee lebt, setzt es diese als etwas Bedingendes voraus. Soweit es sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß teilt es dessen Natur als Idee oder All-Eines. Es ist, im Anklang an den treffenden Ausdruck in Goethes "Kosmogonischem Mythos", »wie sie, unbedingt und doch zugleich in ihr enthalten und durch sie begrenzt«. 30 Das im Denken tätige Ich ist für Steiner wesensgleich mit der Idee beziehungsweise dem Weltengrund oder dem Absoluten. Im Autoreferat Philosophie und Anthroposophie (GA-35, 1984, S. 66-110) hat er auf S. 100 ff dem Zusammenhang zwischen Ich und Idee eine etwas klarere philosophische Form gegeben, indem er dort von einem "dreifachen Ich" spricht. Gedanklicher Ausgangspunkt ist die erkenntnistheoretische Frage, in welchem Verhältnis unsere Gedanken oder Begriffe zu den Erfahrungsbereichen stehen, auf die wir sie anwenden. Unsere Begriffe, so Steiner auf S. 100 f, passen zwar auf Erfahrungswelt, aber sie stellen zunächst etwas rein Formales dar, etwas das wie ein Hinzugebrachtes für die übrige Welt aussieht und diese scheinbar gar nichts angehe: "Mein Gedanke, der zur Wirklichkeit hinzu kommt, ist für die um mich liegende Erfahrungswelt ganz gleichgültig. Diese besteht in sich, unabhängig von meinem Denken. Es kann also sein, daß das Denken zwar für den Menschen eine Objektivität ist, daß es aber die Dinge nichts angehe. Wie kommen wir über diesen scheinbaren Widerspruch hinaus? Wo ist der andere Pol, den wir jetzt ergreifen müssen? Wo gibt es innerhalb des reinen Denkens einen Weg, nicht nur die Form zu erzeugen, sondern mit der Form zugleich die Materie? Sobald wir irgend etwas haben, was mit der Form zugleich die Materie erzeugt, dann können wir an einen festen Punkt erkenntnistheoretisch anknüpfen. Wir sind ja überall, zum Beispiel wenn wir einen Kreis konstruieren, in dem besonderen Fall, daß wir sagen müssen: was ich von diesem Kreis behaupte, ist objektiv richtig; - ob es anwendbar ist auf die Dinge, das hängt davon ab, daß, wenn ich den Dingen begegne, sie mir zeigen, ob sie die Gesetze in sich tragen, die ich konstruiert habe. Wenn die Summe aller Formen sich auflöst im reinen Denken, so muß ein Rest bleiben, den Aristoteles Materie nennt, wenn es nicht möglich ist, aus dem reinen Denken selbst zu einer Wirklichkeit zu kommen." Aristoteles, so Steiner weiter, könne hier durch Fichte ergänzt werden. Für Aristoteles sei der Gottesbegriff eine reine Aktualität, "ein solcher Akt, bei dem die Aktualität, also die Formgebung, zugleich die Kraft hat, ihre eigene Wirklichkeit hervorzubringen, nicht etwas zu sein, dem die Materie entgegensteht, sondern etwas, das in ihrer reinen Tätigkeit zugleich selbst die volle Wirklichkeit ist." Das Abbild dieser Aktualität finde sich nun im Menschen selbst: " ... wenn er aus dem reinen Denken heraus zu dem Begriff des «Ich» kommt. Da ist er im Ich bei etwas, was Fichte als Tathandlung bezeichnet. Er kommt in seinem Innern zu etwas, das, indem es in Aktualität lebt, zugleich mit dieser Aktualität seine Materie mit hervorbringt.Wenn wir das Ich im reinen Gedanken fassen, dann sind wir in einem Zentrum, wo das reine Denken zugleich essentiell sein materielles Wesen hervorbringt. Wenn Sie das Ich im Denken fassen, so ist ein dreifaches Ich vorhanden: ein reines Ich, das zu den Universalien «ante rem» gehört, ein Ich, in dem Sie drinnen sind, das zu den Universalien «in re» gehört, und ein Ich, das Sie begreifen das zu den Universalien «post rem» gehört. Aber noch etwas ganz Besonderes ist hier: für das Ich verhält es sich so, daß, wenn man sich zum wirklichen Erfassen des Ich aufschwingt, diese drei «Ichs» zusammenfallen. Das Ich lebt in sich, indem es seinen reinen Begriff hervorbringt und im Begriff als Realität leben kann. Für das Ich ist es nicht gleichgültig, was das reine Denken tut, denn das reine Denken ist der Schöpfer des Ich. Hier fällt der Begriff des Schöpferischen mit dem Materiellen zusammen, und man braucht nur einzusehen, daß wir in allen anderen Erkenntnisprozessen zunächst an eine Grenze stoßen, nur beim Ich nicht: dieses umfassen wir in seinem innersten Wesen, indem wir es im reinen Denken ergreifen. ... So läßt sich erkenntnistheoretisch der Satz fundamentieren, «daß auch im reinen Denken ein Punkt erreichbar ist, in dem Realität und Subjektivität sich völlig berühren, wo der Mensch die Realität erlebt»." (S. 102) Sachlich liegt es auf der Hand, daß die Beobachtung des Denkens sich zunehmend jenen Aspekten des Denkens (der Idee) zuwendet, die gewissermaßen am verborgensten sind, und dazu gehört das Erscheinen des Gedankens aus seinem Wollen in das taghelle Bewußtsein. Das heißt, die Beobachtung wendet sich verstärkt dem produktiven Prozeß selbst zu und beschränkt sich nicht auf eine Beschreibung seiner Resultate. Damit ist aber zugleich auch ein Schritt in die eigentliche Geistesschulung vollzogen. 31 Denn nach Steiner wird der "Weg in die geistige Welt ... zurückgelegt durch die Bloßlegung dessen, was im Denken und im Wollen enthalten ist." 32 Ein wesentlicher Aspekt dieser Schulung besteht deswegen darin, die Aufmerksamkeit nurmehr auf den im Denken sich betätigenden Willen zu richten und zu einem differenzierten Erleben dieser Willenswirklichkeit zu gelangen, denn in dieser Willenswirklichkeit wird die Idee selbst anschaubar. Noch in philosophischer Sprache heißt es dazu in der Schrift "Goethes Weltanschauung": "Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee selbst. Die sonst erlebte Einheit von Anschauung und Idee ist hier Erleben der anschaulich gewordenen Geistigkeit der Ideenwelt." 33 Der Satz: "Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht" vergleicht hier die Anschauung des tätigen Denkens mit der sinnlichen Anschauung. Diese letztere ist von der Idee hervorgebracht und wir müssen uns durch die Sinnesanschauung erst zum Begriff bzw. der Idee hindurcharbeiten. Das ideelle Gegenstück zur Wahrnehmung erscheint dann in unserem Inneren, das Wahrnehmliche bleibt uns äußerlich. In der Beobachtung des tätigen Denkens dagegen bleibt nichts äußerlich. Hier schauen wir die Idee selbst in ihrer unmittelbaren Wirksamkeit an. Das heißt das kraftende Tätigkeitsmoment der Idee als Willensprozeß und das Bewirkte als erscheinender Zusammenhang oder Begriff. Die subjektive Tätigkeit des Denkens ist hier zugleich objektiver Weltprozess = schaffende Idee oder schaffender Weltengrund. "Anschauung der Idee" und "Beobachtung des »tätigen« Denkens" sind somit dieselbe Sache. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, wenn auf dem Weg in die geistige Welt das Willenshafte am Denken zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangt. Es wird das produktiv-kraftende Wesen der Idee fortschreitend einem differenzierteren Erleben und Betrachten zugänglich gemacht. Das gewöhnliche Denken reicht dazu allerdings nicht mehr aus, sondern hier sind besondere Verfahren des Zugangs nötig - bestimmte "Seelenverrichtungen" wie Steiner sagt. Namentlich methodisch-praktisch auf den anthroposophischen Schulungsweg bezogen heißt es dazu: "Eine Art dieser Seelenverrichtungen besteht in einer kraftvollen Hingabe an den Vorgang des Denkens. Man treibt diese Hingabe an die Denkvorgänge so weit, daß man die Fähigkeit erlangt, die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die im Denken vorhandenen Gedanken zu lenken, sondern allein auf die Tätigkeit des Denkens. Für das Bewußtsein verschwindet dann jeglicher Gedankeninhalt, und die Seele erlebt sich wissend in der Verrichtung des Denkens. Das Denken verwandelt sich so in eine feine innerliche Willenshandlung, die ganz vom Bewußtsein durchleuchtet ist. Im gewöhnlichen Denken leben Gedanken; die gekennzeichnete Verrichtung tilgt den Gedanken aus dem Denken aus. Das herbeigeführte Erlebnis ist ein Weben in einer inneren Willenstätigkeit, die ihre Wirklichkeit in sich selbst trägt." 34 Auf dem Wege der Vertiefung in das Willenselement des Denkens wird das kraftende Element der Idee, das zunächst nur wahrgenommen wurde, selbst begrifflich-ideell durchsichtiger. Daß diese im Rahmen einer vertieften Beobachtung des Denkens sich ergebende Willenswirklichkeit selbstverständlich ein psychologisch aufweisbares Faktum ist, sollte nicht eigens erwähnt werden müssen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Steiner in seinem diesbezüglichen Aufsatz sachlich direkt und explizit an die Fragestellung der Fachpsychologie anknüpft. 35 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die fundamentale Differenz zwischen Steiner und Hartmann in der Beurteilung des Denkwillens liegt. Während dieser tätige Denkwille bei Hartmann den Status eines metaphysischen Konstruktes hat, dem keine empirische Erfahrung je entsprechen kann, gehört er bei Steiner aus prinzipiellen Überlegungen heraus von Anfang an zur empirischen Gegebenheit des Denkens dazu. Das heißt, das Tätigkeitsmoment des Denkens, das immer wieder unter dem Terminus des "aktuellen Denkens" thematisiert wird, ist grundsätzlich als sein integraler Bestandteil und somit als Komponente der bewußten Erfahrung des Denkens zu bezeichnen. Das willentlich getätigte, sich vollziehende Denken ist für Steiner dasselbe wie die im menschlichen Bewußtsein kraftende Idee. Erkenntnis des tätigen Denkens auf dem Wege seiner Beobachtung ist somit gleichbedeutend mit dem unmittelbaren Gewahrwerden oder "Anschauen" der lebendigen Idee. Steiners weiterführende Methode zielt darauf ab, sich von einer anfänglich noch etwas undifferenzierten Wahrnehmung der Willenstätigkeit dem Prozeß der Tätigkeit selbst sukzessiv weiter empirisch zu nähern und ihn ideell durchsichtig zu machen, d.h. ihn begrifflich zu durchdringen und in seine ideellen Beziehungen weiter aufzulösen - ihn in den "Tiefen seiner Wirklichkeit" auszuloten. Alles in allem fällt ein Vergleich des Willensbegriffes von Steiner und Hartmann - wenn er hier auch noch sehr unvollständig durchgeführt wurde - verhältnismäßig leicht, weil sich Steiner explizit zu Hartmanns Verständnis dieser Sache geäußert hat. Schwieriger wird die Lage, wenn man sich den erinnerungstheoretischen Überlegungen Hartmanns zuwendet, weil vergleichbare Aussagen Steiners dazu im philosophischen Werk so gut wie nicht existieren.
d) Erinnerungstheoretische Verankerung des unbewußten Denkens bei Hartmann Eine erinnerungstheoretische Kernthese des Hartmannschen Denkbegriffes liegt in seinem Satz, daß: "bei aller geistigen Arbeit, gleichviel ob sie in der Auswahl geeigneter Mittel zu praktischen Zwecken, oder in künstlerischer Conception, oder in wissenschaf'tlichem Erfinden und Entdecken besteht, die Pointe des Gelingens immer darin liegt, dass einem »die rechte Vorstellung im rechten Moment einfällt.«" 36 Dieser Satz kommt - so oder ähnlich - bei Hartmann derart gehäuft vor, daß man ihn geradezu als Motto seiner Einstellung zum Denken betrachten kann. So lesen wir in der zehnten Auflage seiner "Philosophie des Unbewußten" von 1890: "Alles kommt beim Denken darauf an, daß Einem die rechte Vorstellung im rechten Moment einfällt; nur hierdurch unterscheidet sich (abgesehen von der Schnelligkeit der Gedankenbewegung) das Denkergenie vom Dummen, Thoren, Narren, Blödsinnigen und Verrückten. Denn das Schließen findet bei allen auf gleiche Weise statt; kein Verrückter und kein Träumender hat je einen falschen einfachen Schluß gedacht aus den Prämissen, die ihm gerade gegenwärtig waren, nur die Prämissen sind häufig unbrauchbar ..." 37 Oder an anderer Stelle: "wenn [beim abstrakten Denken, sinnlichen Vorstellen und künstlerischen Kombinieren, MM] ein Erfolg erzielt werden soll, so muß sich die rechte Vorstellung zur rechten Zeit aus dem Schatze des Gedächtnisses willig darbieten, und dass es eben die rechte Vorstellung sei, welche eintritt, dafür kann nur das Unbewusste sorgen; alle Hülfsmittel und Kniffe des Verstandes können dem Unbewussten nur sein Geschäft erleichtern, aber niemals es ihm abnehmen." 38 Dieses "Einfallen der rechten Vorstellung im rechten Moment" ist nach Hartmann ein Vorgang, der nicht bewußt zu steuern ist, oder nur höchst unvollkommen, weil daran die Erinnerung beteiligt ist. Beim Denken, so Hartmann verhalte es sich so, "dass jeder Eintritt einer Erinnerung zu einem bestimmten Zwecke der Hülfe des Unbewussten bedarf, wenn gerade die rechte Vorstellung einfallen soll, weil das Bewusstsein die schlummernden Gedächtnissvorstellungen ... nicht umfasst, also auch nicht unter ihnen wählen kann. Wenn eine unpassende Vorstellung auftaucht, so erkennt das Bewusstsein dieselbe sofort als unzweckmässig und verwirft sie, aber alle Erinnerungen, welche noch nicht aufgetaucht sind, sondern erst auftauchen sollen, liegen ausser seinem Gesichtskreise, also auch ausser seiner Wahl; nur das Unbewusste kann die zweckmässige Wahl vollziehen. Es könnte etwa Jemand meinen, dass die Erinnerungen absolut zufällig in Bezug auf das Interesse auftauchen, und das Bewusstsein so lange die falschen verwirft, bis endlich auch die richtige kommt. Beim abstracten Denken kommen allerdings solche Fälle vor, wo man fünf, auch mehr Vorstellungen verwirft, ehe Einem die richtige einfällt. In solchen Fällen handelt es sich aber, wie beim Rathen von Räthseln, oder Lösen von Aufgaben durch Probiren, darum, dass das Bewusstsein selbst nicht recht weiss, was es will, d. h. dass es die Bedingungen der Zweckmässigkeit nur in Gestalt abstracter Wort- oder Zahlformeln, aber nicht in unmittelbarer Anschauung kennt, so dass es in jedem einzelnen Falle erst den concreten Werth in die Formeln einsetzen muss, und zusehen, ob die Sache stimmt;..." 39 Für Hartmann war der Erinnerungsprozeß nicht nur integraler Bestandteil des Denkens sondern in gewissem Sinn ein rätselhafter Vorgang, der sich etwa so umschreiben läßt: »Was man sucht ist jedesmal unsichtbar - wieso findet man es dann trotzdem so regelmäßig?« "Wäre das Bewußtsein der Auswählende", schreibt er "so müßte es ja das Auswählbare bei seinem eigenen Lichte besehen können, was es bekanntlich nicht kann, da nur das schon Ausgewählte aus der Nacht des Unbewußtseins hervortritt. Wenn also das Bewußtsein doch wählen sollte, so würde es im absolut Finstern tappen, könnte also unmöglich zweckmäßig wählen, sondern nur zufällig herausgreifen." 40 Irgend eine unbewußte Instanz in uns mußte also Zugriff auf etwas haben, was dem Bewußtsein selbst unzugänglich ist. Das heißt, diese Instanz mußte eine Art Übersicht über eine Unzahl latent vorhandener Vorstellungen haben, die dem Bewußtsein selbst fehlte - anders war der Erinnerungsprozeß nicht zu erklären. Auf die praktische Ebene versetzt gleicht das Bewußtsein in der Hartmannschen Sicht etwa einem Studenten der Anglistik, der versehentlich in Biochemie geprüft wird. Er kann nur noch blind raten. Das Bewußtsein kann, weil es keinen Überblick hat, nur ziellos in den Heuhaufen hineingreifen - höchst unwahrscheinlich, daß es jedesmal die Nadel finden würde. Da wir offenkundig aber häufiger erfolgreich sind, als es einer zufallsbetonten Suchstrategie entspricht, muß etwas anderes dem Bewußtsein die Suche abnehmen. Es eilt uns demnach beim Denken immer irgend etwas Unbewußtes voraus und trifft aus einer unübersehbaren Fülle von Möglichkeiten gleichsam eine Vor-Auswahl, die uns dann präsentiert wird. Das unbewußt Tätige bei dieser Wahl agiere nun nicht nach Einsicht, sondern nach einer spezifischen Interessenlage. Und hier kommt der Assoziationspsychologe Hartmann zum Zuge: die Auswahl findet nach den Gesetzen der Assoziation statt. 41 Nun kann man Hartmann die Berechtigung zu manchem in seinen Gedankengängen gar nicht absprechen. Und darin scheint mir auch ein ausgesprochener Mangel der Steinerschen Auseinandersetzung mit ihm zu liegen, die in der gerafften Kürze auf das sachlich Gerechtfertigte des Hartmannschen Anliegens nicht weiter eingehen - aber auch an anderer Stelle nicht. Da ich hier das Thema auch nur sehr oberflächlich berühren kann, muß man sagen, daß eine solche Abklärung von seiten der Anthroposophie geradezu auf den Nägeln brennt. Zumal manche anthroposophische Autoren im Zusammenhang mit der Denk-Beobachtung - ohne daß sie es vielleicht wollen oder wissen - Positionen vertreten, die eher in Richtung der Hartmannschen Auffassung liegen als in der Steinerschen. Nicht nur Michael Kirn, der mit seiner Unbewußtheit des aktuellen Denkens die Grundposition Steiners durch diejenige Hartmanns ersetzt und es nicht bemerkt, sondern ebenso Herbert Witzenmann, den ich mit seiner "Paradoxie der Selbstgebung" auch eher bei Hartmann als bei Steiner ansiedeln würde. Man denke nur an den philosophischen Aufwand, den Herbert Witzenmann in seinen späten Arbeiten um das Problem der Erinnerung treibt. Wenn Witzenmann die Frage "Wie aus Unbeobachtbarem Erinnerungen werden können?" zur "erkenntnistheoretischen Grundfrage" erklärt, dann operiert er auf dem Territorium Hartmanns und nicht auf dem Steiners. Witzenmann hat mit seiner "Paradoxie der Selbstgebung" oder seiner "erkenntnistheoretischen Grundfrage" ein Problem getroffen, um das sich alles bei Hartmann dreht, nicht bei Steiner. Stellt man Witzenmanns erinnerungstheoretische Reflexionen neben die Hartmanns, dann kann man doch fast den Eindruck gewinnen als habe sich Witzenmann Hartmanns Erinnerungsproblem zu eigen gemacht und auf den philosophischen Begriff gebracht. Witzenmanns "Paradoxie der Selbstgebung" und seine "erkenntnistheoretische Grundfrage" sind die Folge eines Mißverständnisses. Die Folge desselben Mißverständnisses, das Michael Kirn zur Annahme der Unbewußtheit des aktuellen Denkens verleitet: nämlich die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens mit seiner Unbewußtheit oder aktuellen Nichterfahrbarkeit zu verwechseln. Als Resultat dieser Verwirrung wird Steiners eigentliches Fundament, die Erfahrung des tätigen Denkens, durch eben das ersetzt, wogegen er in der Debatte mit Hartmann so entschieden opponiert - durch das Unbewußte. Auf der anderen Seite muß man an Eduard von Hartmann die Frage richten, ob tatsächlich das Denken immer so verläuft wie von ihm beschrieben - assoziativ und nach Erinnerungen suchend. Verläuft es stets so, oder vielleicht nur in vielen Fällen - vielleicht sogar sehr vielen? Was ist mit den anderen, auf die seine Kennzeichnung unter Umständen nicht zutrifft? Wilhelm von Schlehen schreibt in seiner Werkübersicht das Bewußtsein könne "immer nur warten, bis ihm die gewünschte Vorstellung »einfällt«; was bekanntlich sehr oft gerade zur rechten Zeit nicht geschieht." Was ist aber wenn das "Einfallen" gar nicht nötig ist, weil der Gedanke vollinhaltlich präsent ist? Ist der Vorgang der Erinnerung wirklich essentiell für das Denken?
e)Doppelspekt der Denktätigkeit: Vertraute Gedanken und die Entdeckung von etwas Neuem Was bei Hartmann auffällt, ist eine erkennbare überschwängliche Akzentuierung des Neuen und Unbekannten bei Denkprozessen, die Betonung des Genialischen, und eine etwas pejorative Behandlung des mehr Routinehaften und Vertrauten, die etwa in der Wendung steckt: "Alle formellen Forschungsmethoden der deductiven und inductiven Logik dienen doch nur dazu, das durch kühne und glückliche Ideenassociation Concipirte objektiv sicherzustellen, resp. als Irrthum zu erweisen, der physikalische Experimentator wie der produktive Mathematiker leisten beide doch eigentlich nur dann Bedeutendes, wenn sie der Hauptsache nach schon vorher wissen, was bei ihrer Arbeit berauskommen muss; andernfalls bleiben sie ewig fleissige Stümper". 42 Hartmanns abschätzige Behandlung des mehr Handwerklich-Routinehaften ist an dieser Stelle kaum zu übersehen. Vielleicht ist sie rhethorisch bewußt etwas überzeichnet. Seine grundsätzliche Einstellung zum Denken scheint allerdings weitgehend dem zu entsprechen, was das Zitat zum Ausdruck bringt. Es geht nach Hartmann beim Denken vorzugsweise um das Finden von etwas Fremdem, bzw. dem Bewußtsein Unsichtbarem. Das Entscheidende beim produktiven Denken ist die "kühne und glückliche Ideenassociation" und weniger der routinierte Umgang mit vertrauten Gedanken. Ob es um überragende wissenschaftlich-künstlerische Leistungen geht, um den einfachen Fall der Erinnerung, oder um treffende Witze: immer wird etwas gesucht, was man per se nicht überschaut. Geniale Inspirationen sind nur besonders paradigmatische Fälle für derart Gesuchtes. Und das Finden kann nur unbewußt-assoziativ erfolgen. Bei Steiner wiederum, wenn wir an das dritte Kapitel der "Philosophie der Freiheit" denken, stehen besonders die vertrauten und übersichtlichen Gedankenvorgänge im Mittelpunkt der Überlegungen, die Hartmann vorzugsweise bei den "fleißigen Stümpern" ansiedeln würde. Wenn Steiner sagt, daß wir uns beim Denken nach den Inhalten von Begriffen richten, dann sind genialische Neuschöpfungen von vornherein auszuschließen, denn nach Begriffen, die wir noch nicht haben, können wir uns nicht richten - die können wir höchstens aufspüren. Blitz und Donner sind keine Beispiele für "kühne und glückliche Ideenassociation", keine begnadeten Denkleistungen à la Hartmann und an genialen Einfällen läßt sich nicht das veranschaulichen, worum es Steiner geht. Beide wollen ganz offensichtlich sehr Unterschiedliches mit ihren Beispielen zeigen: Hartmann den Einfluß des Unbewußten und Assoziativen - Steiner das genaue Gegenteil. Die nachdrückliche Betonung des Vertrauten hier und die Akzentuierung des Neuen und Genialischen dort stellt in Bezug auf das Denken keinen unüberbrückbaren Gegensatz dar, denn das Denken enthält beide Aspekte in sich. Bei Steiner allerdings, so scheint es zunächst, kommt der von Hartmann hervorgehobene Gesichtspunkt zu kurz, während Hartmann den Steinerschen zu wenig berücksichtigt. In Bezug auf die Fragestellung der Philosophie der Freiheit läßt sich Steiners Vorgehensweise indessen theoretisch nachvollziehen. Denn es geht dort nicht um das Problem: Wie können wir im Denken und Erkennen etwas neues entdecken? sondern darum ein sicheres Fundament für die Freiheitsfrage zu veranlagen. Das heißt zu zeigen, daß wir einen Aspekt unseres (mentalen) Handelns mit vollkommener Klarheit zu durchschauen vermögen. Geführt wird dieser Nachweis, indem gezeigt wird, daß und wo wir mit definitiver Gewißheit den Fortgang unserer Gedankenoperationen zu durchschauen vermögen. Und dieser Fortgang orientiert sich beim reinen Denken ausschließlich am (logischen) Inhalt der Gedanken und an nichts sonst. Wer Geometrie gelernt und den Pythagoräischen Lehrsatz verstanden und zu seinem geistigen Eigentum gemacht hat, der weiß auch, und zwar mit vollkommener Klarheit, warum er ihn anwendet, wenn er in einem rechtwinkligen Dreieck mit bekannten Kathetenlängen die Länge der Hypothenuse bestimmt. Kein kognitiver Psychologe dieser Welt könnte ihn eines anderen belehren. Bei Hartmann hingegen lautet die bevorzugte Fragestellung: Wie können wir Neues entdecken und in unseren Gedankenverlauf integrieren? Beide Aspekte des Denkens und Erkennens sind nicht unabhängig voneinander. Aber sie müssen zunächst unabhängig voneinander betrachtet werden. Denn der gedanklich-ideelle Entdeckungsvorgang ist qualitativ etwas anderes als ein routinierter Denkprozeß mit vertrauten Inhalten. Er baut auf vertrauten Gedankenbildungen auf - was Hartmann sichtlich vernachlässigt - aber er ist andererseits auch mehr als bloß dieser Rückgriff auf unseren begrifflichen Erfahrungsschatz. Darin wiederum hat Hartmann recht. Bei schöpferisch-produktiven Gedankenprozessen, dort, wo es darum geht eine neue Idee zu fassen bzw. zu entwickeln, oder ein schwieriges Problem zu lösen, spielen unbewußte Vorgänge zweifellos oft eine große Rolle. Niemand wird glauben, ihm sei alles überschaubar, wenn er sich eine interessante Geschichte oder einen guten Witz ausdenkt (ein Beispiel, das übrigens Hartmann immer wieder gern vorträgt). Die beste Vorbereitung, um seinen Witz in Bewegung zu setzen, so sagt er einmal, sei nicht die absichtliche Anspannung des Geistes, sondern eine Flasche Wein. 43 Wenn es um Esprit, gelungene Pointen und produktive Leistungen geht, dann sind wir unserem Unterbewußsein oft hoffnungslos ausgeliefert, wenn auch nicht in allen Stadien dieser Produktion zu gleichen Teilen. Dann kommt nach mühevoller Arbeit der erlösende Einfall nicht selten wie ein Geschenk von oben. Etwa so wie Poincaré berichtet: "Die Vorfälle der Reise ließen mich meine mathematische Arbeit vergessen. Nachdem wir Coutences erreicht hatten, bestiegen wir einen Omnibus, um an irgend einen Ort zu fahren. In dem Augenblick, als ich meinen Fuß auf das Trittbrett setzte, kam mir die Idee - anscheinend ohne daß ihr etwas in meinen vorherigen Gedanken den Weg bereitet hätte ..." 44 Was führte zum unerwarteten Eintritt der Idee, wenn es die bewußte Tätigkeit erwiesenermaßen nicht war? Wie oft knobelt man wochenlang an einer Sache und findet nicht den entscheidenden Gedanken, bis irgendwann aus heiterem Himmel der zündende Funke einschlägt, ohne daß wir augenblicklich irgend etwas dazu beigetragen hätten. Mit unbewußten Prozessen, die in uns ablaufen, rechnet ja auch die Anthroposophie als einem ernstzunehmenden Faktor, und auch die Wissenschaftsgeschichte wüßte hier einiges zu erzählen. Die Frage ist allerdings, ob das immer und in jedem Fall so sein muß, und ob Hartmann mit seinen assoziationspsychologischen Erklärungen des Denkvorgangs grundsätzlich richtig liegt. Die Frage ist auch, ob die Entwicklung neuer Ideen nicht gerade ein geeigneter Ansatzpunkt ist, um die Wirksamkeit von unbewußten Seelenvorgängen daran zu veranschaulichen, der aber nicht repräsentativ ist für alle Denkprozesse. Denn das noch Fremde und Unbekannte ist nun einmal nicht durchschaubar, sonst wäre es nicht fremd und unbekannt. Hier sind dem Unbewußten geradezu Tür und Tor geöffnet. Hartmanns Auswahl scheint bestens geeignet, den Einfluß unbewußter Vorgänge mit Erfolg zu demonstrieren, weil ihm das Unbewußte sehr am Herzen liegt, und darin liegt ein deutlicher Selektionseffekt. Um den Sachverhalt des vollbewußten Denkens, beziehungsweise den Ausschluß des Unbewußten und der Assoziation - also das gerade Gegenteil - ebenso erfolgreich zu demonstrieren ließen sich entsprechende Beispiele von ganz anderer Art wählen, zum Beispiel solche aus der Mathematik oder Geometrie, wie etwa das folgende Beispiel von Wolfgang Köhler, der seinen Zuhörern das Prinzip der Einsicht daran demonstrierte. 45 Man kann mit ihm zeigen - und das war Köhlers spezielle Absicht - wie man zu neuen Einsichten auf der Grundlage vertrauter Beziehungen gelangt. Bezogen auf unseren Fragehintergrund heißt das, auch die Entdeckung neuer Zusammenhänge ist nicht notwendig ein von unbewußten Prozessen abhängiger Vorgang, sondern kann eine recht gut überschaubare Angelegenheit sein.
Abbildung a Abbildung b Betrachten wir zunächst den Kreis in Abbildung a mit dem eingeschriebenen rechtwinkligen Dreieck, dessen rechter Winkel den Kreisumfang berührt und fragen uns nach der Länge der Hypothenuse c. Wenn wir mit dem Sachverhalt nicht weiter bekannt sind wird uns das wahrscheinlich nicht auf Anhieb gelingen. Anders stellt sich die Sache dar, wenn wir auf Abbildung b übergehen. Wir sehen dann, daß die gestrichelte Linie d sowohl den Radius des Kreises als auch die Diagonale eines Rechteckes bildet, von dem das Dreieck im rechten und linken Bild einen Teil darstellt. Wenn wir jetzt daran denken, daß die Diagonalen im Rechteck gleich lang sein müssen, dann haben wir exakt die Länge der Hypothenuse c. Sie entspricht dem Radius des Kreises. Sobald wir den Begriff der Diagonale gebildet haben, verfügen wir über die Mittel, eine neue geometrische Beziehung zu erfassen, die uns bislang vielleicht noch fremd war. Hier ist alles klar, übersichtlich und logisch geordnet, und wenn man die Regeln der Geometrie gut beherrscht und nicht erst mühsam nach solchen suchen muß, dann folgt fein säuberlich ein Schritt auf den anderen, weil das in der Sache selbst liegt. Dann führt uns die begründete Einsicht in die Materie unmittelbar zum nächsten Schritt und nicht eine Assoziation, oder ein großer Einfall. Dann kommt es mehr auf Leistungen an, die nicht von der genialischen Art sind, sondern eher von der soliden handwerklichen. Das schließt nicht aus, daß ein Mathematiker, wenn er bis zu den Grenzen seines Fachgebietes vorstößt und neues Terrain sondiert, überragende Leistungen vollbringt. Dann könnte wieder, wie bei Poincaré, eintreten, was Hartmann von solchen Vorgängen sagt: Hier könnte wieder das Unbewußte ins Spiel kommen. Freilich muß nicht jede bedeutende neue Einsicht in so spektakulärer Weise auf diesem Weg über das Unbewußte zustandekommen. Vielmehr ist zu betonen, daß auch bei brillanten Leistungen das Gewicht des vertrauten Umgangs mit der Materie weit größer ist, als es Hartmanns obige Meinung vermuten läßt. Penrose, dem nach eigenen Angaben nie eine Einsicht in so überraschender Weise zuteil wurde wie Poincaré, spricht davon, daß die Idee bei Poincaré offensichtlich nur deshalb so voll entwickelt in sein Bewußtsein treten konnte, "weil viele lange Stunden ihn mit zahlreichen verschiedenen Aspekten des vorliegenden Problems vertraut gemacht hatten." (S. 409) Wissenschaftliche Entdeckungen zudem, wie etwa die der Röntgenstrahlen, waren ihrerseits nur möglich, weil Röntgen sein Metier exzellent beherrschte, so daß er überhaupt in der Lage war, die physikalische Dimension einer unerwarteten Wahrnehmung zu erkennen. 46 Die Entdeckung des Neuen hat Kuhn zufolge meist mehr Ähnlichkeit mit unserem Beispiel aus der Geometrie als allein mit kühner und glücklicher Ideenassoziation.
f) Eine entscheidende Frage bei Hartmann: Wie mobilisieren wir unbewußte Vorstellungen? Damit kratzen wir allerdings zugegebenermaßen noch etwas an der Oberfläche, denn Hartmanns Problem liegt tatsächlich eine Stufe tiefer. Es geht ihm nicht so sehr um die Makroebene, nicht darum, ob man im Prinzip eine Sache überschauen kann, sondern seine Frage zielt auf die Mikroebene des einzelnen Denkaktes und darauf, wie wir beim konkreten Denkakt Begrifflichkeiten oder Vorstellungen mobilisieren, die wir aktuell nicht überblicken, sondern die noch unbewußt - latent - sind. Wie ziehen wir diese ins Licht des Bewußtseins? Wie läuft der eigentliche Denkprozeß im Detail ab? Hier ist die Frage ob die Erinnerung bei Denkprozessen stets und ausschließlich die dominierende Rolle spielt, die ihr von Hartmann zugewiesen wird. Bei kompletten begrifflichen Neuschöpfungen geht es nicht primär um Bekanntes, sondern um Unbekanntes. Der Rekurs auf die Erinnerung ist da sicherlich nicht ganz angemessen, denn Erinnerungen können bestenfalls den Boden vorbereiten für den Eintritt der schöpferischen Idee, aber diese selbst kann keine Erinnerung sein, sonst wäre sie nicht neu. Auf der anderen Seite: Wenn ein routinierter Mathematiker bei der Lösung einer vertrauten Gleichung, oder ein Kraftfahrer angesichts einer Ampelanlage immer in seinem Gedächtnis graben müßte, dann dächte ein heutiger Zeitgenosse sorgenvoll an das Schicksal des früheren amerikanischen Präsidenten Reagan. Gewiß müssen wir einen Gedanken oft erst aus dem Gedächtnis hervorholen - aber was ist, wenn er dann da ist? - Aus wieviel Einzelheiten besteht eigentlich so ein Gedanke? - Müssen wir für all diese unser Erinnerungsvermögen jedesmal aufs neue bemühen? "Jede «einfache» Qualität des Bewußtseins hat nur insofern einen bestimmten Gehalt, als sie zugleich in durchgängiger Einheit mit anderen und in durchgängiger Sonderung gegen andere erfaßt wird." schreibt Ernst Cassirer. "Die Funktion dieser Einheit und dieser Sonderung ist von dem Inhalte des Bewußtseins nicht ablösbar, sondern stellt eine seiner wesentlichen Bedingungen dar. Es gibt demnach kein «Etwas» im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein «Anderes» und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird." 47 Wenn wir einen beliebigen Bewußtseinsinhalt, etwa einen Gedanken, fassen, so läßt sich Cassirer hier erläutern, dann haben wir nicht nur ein punktuelles Etwas im Bewußtsein, sondern weitaus mehr. Mit dem Gedanken »Haus« ist ein Vielfältiges mitgegeben: seine Funktion als Lebens- und Schutzbereich, sein Zusammenhang mit menschlicher Kultur und Zivilisation, sein Innen und Außen, sein Oben und Unten und so weiter. Aber nicht nur das. Es ist nicht nur gesetzt, was dem Begriff des Hauses im näheren oder weiteren Sinne inhäriert, sondern auch, was von ihm ausgeschlosen wird. Es ist auch gesetzt, was nicht Haus ist. Es ist kein Motorrad, keine Straße und kein Buch. Kein Regenwetter, kein Karussell und keine Algebra. Das alles ist "eo ipso und ohne weitere Vermittlung" gesetzt. Der Gedanke Haus schließt eine Fülle weiterer Gedanken in sich und er schließt eine Unzahl anderer Gedanken aus. All das wird in gewissem Sinne simultan gedacht, indem wir eine einzelne Vorstellung fassen. Allerdings ist dieses simultane Enthalten- oder Ausgeschlossensein nicht so zu verstehen, daß man all das gleichzeitig inhaltlich-anschaulich vor sich hat, sondern, wie Cassirer (S. 36) sagt, "wohl aber seiner allgemeinen Struktur und Form nach". Der einzelne Gedanke steht in unendlicher Vielzahl von Beziehungen, die ihm seine Eigenheit verleihen, und diese Beziehungen sind es, die mit der Setzung des einzelnen Gedankens mitgesetzt sind. Wenn wir demnach einen einzelnen Gedanken fassen, dann enthält dieser in sich die Verbindung zu anderen Gedanken. Und weil ein Gedanke immer mit allen anderen in Verbindung steht und ohne diese Verknüpfung zu ihnen nicht das wäre, was er ist, deswegen wird bei der Setzung eines Einzelnen immer das ganze System mitgesetzt. Den Überlegungen Ernst Cassirers entsprechen Ausführungen Steiners aus den "Grundlinien ..." zum systemischen Charakter der Gedankenwelt: "Wie erscheint uns unser Denken für sich betrachtet?" schreibt Steiner dort. "Es ist eine Vielheit von Gedanken, die in der mannigfachsten Weise miteinander verwoben und organisch verbunden sind. Diese Vielheit macht aber, wenn wir sie nach allen Seiten hinreichend durchdrungen haben, doch wieder nur eine Einheit, eine Harmonie aus. Alle Glieder haben Bezug aufeinander, sie sind füreinander da; das eine modifiziert das andere, schränkt es ein und so weiter. Sobald sich unser Geist zwei entsprechende Gedanken vorstellt, merkt er alsogleich, daß sie eigentlich in eins miteinander verfließen. Er findet überall Zusammengehöriges in seinem Gedankenbereiche; dieser Begriff schließt sich an jenen, ein dritter erläutert oder stützt einen vierten und so fort. So zum Beispiel finden wir in unserm Bewußtsein den Gedankeninhalt «Organismus» vor; durchmustern wir unsere Vorstellungswelt, so treffen wir auf einen zweiten: «gesetzmäßige Entwicklung, Wachstum». Sogleich wird klar, daß diese beiden Gedankeninhalte zusammengehören, daß sie bloß zwei Seiten eines und desselben Dinges vorstellen. So aber ist es mit unserm ganzen Gedankensystem. Alle Einzelgedanken sind Teile eines großen Ganzen, das wir unsere Begriffswelt nennen." 48 Auch bei Steiner haben alle Glieder "Bezug aufeinander". Es gibt keine isolierten Gedanken, sondern sie bilden eine "Einheit" oder "Harmonie". Cassirer spricht von der "Einheit des Bewußtseins", die durch den Zusammenhang seiner Inhalte hergestellt wird, Steiner von der "Einheit unserer Begriffswelt". Was hat das jetzt mit der Erinnerung zu tun? Wenn wir uns die Charakterisierungen Cassirers oder Steiners ansehen, dann auf den ersten Blick vielleicht noch nicht allzuviel. Bei Steiner zumindest hat man den Eindruck: Hier wird die Gedankenwelt skizziert ohne große Rücksicht auf den konkreten Prozeß, durch den wir zu ihr gelangen. Es ist eine Phänomenologie der Begriffe, die er uns hier einen kurzen Abschnitt lang vorstellt. Ernst Cassirer spricht schon etwas expliziter von Bewußtseinsvorgängen, bleibt aber auch noch in vornehmer Distanz zum tatsächlichen Prozeß. Worüber beide sich hier ausschweigen, ist der faktische Vorgang, wie das Denken oder das Bewußtsein handelt. Es gibt keinen näheren operativen Hinweis darauf, »wie« das "Setzen" bei Cassirer bzw. das "Durchmustern", "Durchdringen" oder "Vorstellen" bei Steiner geschieht, sondern nur unspezifische Wendungen, denen sich wenig Konkretes entnehmen läßt. Alles, was psychologisch daran aufschlußreich wäre, bleibt ausgeklammert. Aber die konkrete Operation kann man nicht einfach vernachlässigen. Stellen wir uns einmal eine fiktive Situation vor: Steiner und Hartmann sitzen miteinander im Gespräch und Steiner erläutert seinem Gegenüber die Ansicht, daß wir uns beim Denken nach den Inhalten der Begriffe richten. Jetzt fragt ihn Hartmann, woran er das denn eigentlich fest mache. Steiner antwortet darauf, der Begriff des Blitzes führe ihn zum Begriff des Donners. Hartmann: "Woher weißt Du das?" Steiner: "Ich habe die Erfahrung meiner Denktätigkeit." Hartmann: "Genauer! Sag` mir, was genau geschieht. Wie führt Dich der Begriff des Blitzes zu dem des Donners?" Steiner: "Wenn ich den Begriff des Blitzes denke, denke ich hinterher den des Donners." Hartmann: "Siehst Du den Begriff des Donners, wenn Du den Begriff des Blitzes denkst?" Steiner: "Nicht direkt - aber er fällt mir dann ein." Hartmann: "Du erinnerst Dich daran?" Steiner: "Das könnte man vielleicht sagen. Er fällt mir ein, weil ich vorher den Begriff des Blitzes gedacht habe. Die beiden stehen schließlich in einem Zusammenhang." Hartmann: "Weil Blitz und Donner in einem Zusammenhang stehen schließt Du also darauf, daß Dich der Erste zum Zweiten führt?" Steiner: "Das scheint mir plausibel." Hartmann: "Du vermutest es, aber Du weißt es nicht genau. Sagtes Du nicht, daß Du Dich an den Begriff des Donners erinnert hast?" Steiner: "Ja - gewiß. " Hartmann: "Hast Du genau gesehen, »wie« sich der Erinnerungsvorgang vollzog?" Steiner: "Das nun nicht direkt. - Aber ich habe bemerkt, »daß« die Erinnerung in mir aufgetaucht ist." Hartmann: "Siehst Du, da haben wir`s! Du hast Dich bloß erinnert. Die Sache ist Dir nur eingefallen. Warum ist Dir nicht der Blitzableiter eingefallen? Oder der blitzgescheite Hegel? Die stehen doch auch mit dem Blitz in einem Zusammenhang. Du denkst an den Donner, weil er Dir irgendwie eingefallen ist. Aber »warum« er Dir eingefallen ist, das weißt Du nicht genau, weil Du es gar nicht wahrgenommen hast. Und deswegen suchst Du nach bequemen Erklärungen. In Wirklichkeit ist die Sache unbewußt abgelaufen, weil das Denken immer unbewußt verläuft. Du hast den Donner nur assoziiert. Du hast es also gar nicht selbst getan, sondern Dein Unbewußtes hat Dich auf den Donner gebracht." Steiner: "Sag` mal Hartmann - was ist das eigentlich - eine Assoziation?" 49 Hätte Steiner tatsächlich so geantwortet wie hier geschildert, dann hätte er gegenüber Hartmann ziemlich schlecht dagestanden, weil er über den Grund seines Einfalls nur mutmaßen kann. Hartmann hätte ihm geantwortet, daß sich aus der Struktur der Gedankenwelt kein verläßlicher Hinweis über die Einzelheiten von Prozessen entnehmen läßt, die zur bewußten Repräsentanz dieser Strukturen führen. Gerade das »Wie« des Einfallens zeige ja, daß sich darüber gar nichts Gesichertes sagen läßt. Den eigentlichen Vorgang der Erinnerung habe Steiner gar nicht bemerkt, und konstruiere jetzt eine Hypothese über diesen Prozeß, die ihm einleuchtend erscheine. Aber belegen könne er sie nicht aus den Tatsachen heraus, denn die seien dem Bewußtsein nicht zugänglich. Nach Punkten hätte der Skeptiker in dieser Debatte erst einmal den Vorteil gehabt, wenn er darauf hinweist, der Schluß von Strukturen auf Operationen habe allenfalls hypothetischen Charakter. Freilich ist seine Stärke zugleich seine Schwäche. Denn auf Steiners abschließende Frage, was denn eine Assoziation sei und wie sie wirke, wären dem Skeptiker ebensobald die Argumente ausgegangen. Denn das kann er ja auch nur mutmaßen. Er trifft eine Aussage über Prozesse, die ihm per definitionem nicht zugänglich sind. Der Begriff der Assoziation täuscht eine Einsicht vor, die der Skeptiker Hartmann gar nicht haben kann. Denn das, was ihm ein halbwegs gesichertes Wissen darüber garantieren könnte, bestreitet er entschieden - die Erfahrung des Prozesses selbst. Der Begriff der "Assoziation" ist so gesehen ein etwas hilfloser Ausdruck des Bemühens, über Dinge zu Aussagen zu kommen, angesichts derer er nach Maßgabe der eigenen Überzeugung besser geschwiegen hätte. Er kann gemäß seiner eigenen Prämissen grundsätzlich nichts Fundiertes darüber äußern, und das läßt ihn jetzt schlecht dastehen. Dieses erfundene Gespräch dürfte eines klar machen: Schlüssig und sachlich fundiert beantworten läßt sich Hartmanns Frage an Steiner nur auf der Grundlage der konkreten Erfahrung des aktuell tätigen Denkens. Auf dieser Erfahrung ruht die Beweislast. Solange darauf nicht verwiesen werden kann, sind dem Philosophen des Unbewußten die Trümpfe nicht aus der Hand zu nehmen. Steiner könnte ihm allenfalls zeigen, daß Hartmann auch nichts Genaueres weiß. Aber damit ist nichts Positives verbunden - denn Hartmann wird ihn darauf hinweisen, daß es ihm nicht anders geht. Der Streit endet dann in einem Patt. Die Frage nach den Einzelheiten des Denk-Handelns ist also keineswegs müßig. Denn zu einer Beschreibung der Gedankenwelt, wie sie Steiner oben vorlegt, wäre wohl auch Eduard von Hartmann gekommen. Ihm wäre es dann als ein Resultat unbewußter Assoziationsprozesse erschienen, was bei Steiner als Ergebnis des denktätigen Ich zutage tritt. Herbert Witzenmann bringt in seinem Aufsatz "Intuition und Beobachtung" 50 einige Gedanken vor, die auf den hier vorliegenden Sachverhalt abzielen: "Der Denkakt ist als ein mittelbar bewußtes Hervorbringen selbst ein Hervorgebracht-Gegebenes, denn er tritt nicht ohne unser Zutun auf." schreibt Witzenmann. Und weiter: "Die Denkinhalte sind hervorgebracht, weil ihnen die Akte ihre eigene Beschaffenheit mitteilen. Der Einwand, diese Beschaffenheit sei Täuschung, weil hinter den Akten undurchschaute Ursachen stünden, trifft nicht. Denn die Beobachtung, auf die es hier ankommt, betrifft den Denkakt, wie er sich unmittelbar darstellt, wie er bewußt ist. Ferner könnte auch das Unbewußte, wenn es in diesem Zusammenhang von Belang wäre, nur durch Bewußtes interpretiert werden, nicht aber wäre das Umgekehrte möglich. Außerdem führt das Bewußte (nicht aber das Unbewußte) zu dem sich selbst bestimmenden Denken, durch welches nicht nur das Unbewußte als solches, sondern auch sein Zusammenhang mit anderen Erscheinungen bestimmt wird." Bei Eduard von Hartmann wird das Problem der Unbewußtheit des Denkens einerseits daran festgemacht, daß der Denkakt als Willenshandlung dem Bewußtsein nicht unmittelbar zugänglich sei, weil der Wille sich prinzipiell jeder Art von direkter Wahrnehmung entzieht und nur aus seinen Folgen oder Wirkungen erschlossen werden kann. Und andererseits daran, daß wir die latenten Bewußtseinsinhalte nicht zu überschauen vermögen. Bei Herbert Witzenmann ist von beidem nicht die Rede, sondern er beschränkt sich überwiegend auf formal-logische Gesichtspunkte. Das heißt, auf das spezifische Anliegen Hartmanns wird gar nicht eingegangen. Und dort, wo sich bei Witzenmann überhaupt so etwas wie Anklänge an empirische Hinweise finden, ist die Lage so dunkel und in sich widersprüchlich, daß man kaum versteht, worauf er überhaupt hinaus will. Schaut man sich indessen die Art und Weise an, wie Witzenmann sich die Erkenntnis des Denkaktes vorstellt, dann muß man sagen, daß er eigentlich die Position von Hartmanns eher bestätigt als widerlegt. Zur Widersprüchlichkeit in Witzenmanns Argumentation: Auf der einen Seite schreibt er, der Denkakt sei ein nur "mittelbar bewußtes" Hervorbringen, ohne uns näher darüber aufzuklären, was er hier unter diesem "mittelbar bewußt" genau versteht. Andererseits weist er die Ansicht, hinter dem Denkakt stünden undurchschaute Ursachen, mit dem Hinweis auf eben die Bewußtheit des Denkaktes zurück. "Die Beobachtung, auf die es hier ankommt, betrifft den Denkakt, wie er sich unmittelbar darstellt, wie er bewußt ist." Da stellt sich die Frage: Wie ist der Denkakt denn nun bewußt: mittelbar oder unmittelbar? Ein nur "mittelbar bewußter" Denkakt wäre uns so bewußt wie es etwa das infrarote oder ultraviolette Licht ist, für das wir keine Wahrnehmung haben, aber aus anderen physikalischen und biologischen Zusammenhängen erschließen können. Sollte also der Denkakt nur "mittelbar bewußt" sein, dann kann er kaum als Garant für die Durchschaubarkeit der Denktätigkeit herangezogen werden. 51 Das entspräche dann recht genau der Auffassung Eduard von Hartmanns, der uns erklärt: "Das Wollen ist unmittelbar unfähig bewusst zu werden, weil es nicht produziertes Phänomen, sondern produktive Tätigkeit ist; es wird nur mittelbar aus Vorstellungen, Empfindungen und Gefühlen erschlossen." 52 Mein Bewußtsein vom gewollten und getätigten Denkakt ist dann davon abhängig, daß ich auf etwas anderes zurückgreife, an dem oder mit Hilfe dessen ich ihn mir bewußt mache. Auf welches Mittel wird hier von Witzenmann hingewiesen? Von der unmittelbaren und bewußten »Erfahrung« oder »Wahrnehmung« des Denkaktes ist aber bei Witzenmann so wenig die Rede wie bei von Hartmann und Christoph Lindenberg hat recht, wenn er auf die Abwegigkeit von Witzenmanns Versuch hinweist das Denken zu Denken (genauer müßte es heißen: den Denkakt zu denken), freilich ohne selbst eine plausible Erklärung für den Sachzusammenhang vorzulegen. 53 Der zweite Teil von Witzenmanns Argumentation ist formaler Natur: "das Unbewußte könnte, wenn es in diesem Zusammenhang von Belang wäre, nur durch Bewußtes interpretiert werden, nicht aber wäre das Umgekehrte möglich." Dieses Argument zeigt zwar eine Schwäche des Hartmannschen Ansatzes auf, aber sie löst das von ihm aufgeworfene Problem noch nicht positiv und zur Zufriedenheit. Witzenmanns Einwand setzt an der evidenten Einsicht am Ende eines Denkprozesses an, und da ist die Frage tatsächlich angebracht, wie denn diese Einsicht überhaupt möglich sein sollte, wenn die Denkresultate nur durch unbewußte Assoziationen gezeitigt werden. 54 Doch zum faktischen Prozeß selbst äußert sich der Einwand nicht näher. Und gerade hier spielt Hartmann seine Stärke aus. Das Argument der Evidenz ist für ihn keines gegen die Unbewußtheit des Denkprozesses. Exemplarisch läßt sich hierzu folgende Bemerkung von ihm anführen: "Freilich ist der Mensch so sehr an das Finden von Resultaten in seinem Bewußtsein gewöhnt, von denen er nicht weiß, wie er dazu gekommen ist, daß er sich in jedem einzelnen Fall nicht im mindesten darüber zu wundern pflegt, und darum ist es auch natürlich, daß ein Forscher von diesem Ausgangspuncte nicht zuerst zum Begriffe des Unbewußten kommen konnte." 55 Aus dem Umstand, daß wir einsichtig entscheiden können, läßt sich leider nicht sicher entnehmen, »wie« wir zu dieser Einsicht gekommen sind, sondern lediglich, »daß« wir dort angelangt sind. Alles andere ist Hypothese. Hartmann hätte auch Witzenmanns dritten Einwand nicht gelten lassen, der da lautet: "Außerdem führt das Bewußte (nicht aber das Unbewußte) zu dem sich selbst bestimmenden Denken, durch welches nicht nur das Unbewußte als solches, sondern auch sein Zusammenhang mit anderen Erscheinungen bestimmt wird." Die Frage ist ja gerade für Hartmann, ob das bewußte Denken sich wirklich selbst bestimmen kann. Und er sagt im Prinzip: Nein! Das Denken bestimmt sich nicht selbst, sondern es wird durch unbewußte Vorgänge geleitet. Solange diese Vorgänge nicht eingesehen werden können, solange wir nicht wissen, wer oder was die Auswahl der erinnerten oder neu gezeugten Bewußtseinsinhalte trifft, und weil wir gar keine direkte Wahrnehmung unseres Denkwillens haben können, deswegen kann von selbstbestimmtem Denken nicht die Rede sein. Hartmann dreht Witzenmanns Beweisgang einfach um: Nicht das Bewußte führt zum Zusammenhang der Erscheinungen sondern das Unbewußte. Dem Denkenden entsteht im Nachhinein lediglich die Illusion eines selbstbestimmten Denkens. Solange man Hartmann nicht an seinem zentralen empirischen Argument - der Nichterfahrbarkeit des aktuellen Denkens - zu fassen bekommt, können die formalen Einwände wohl eine gewisse logische Plausibilität für sich beanspruchen. Sie stehen aber allesamt etwas kraftlos da, weil sie eben nicht auf die Erfahrung des tätigen Denkens, sondern im wesentlichen nur auf die Logik verweisen. Der einzige, der sich hier, wenn auch negativ, auf die (fehlende) Erfahrung stützt, ist Hartmann selbst. Wenn wir vom Begriff des Blitzes auf den des Donners kommen, dann gibt es mancherlei Möglichkeit, wie und warum wir dorthin gelangen. Nicht alle aber sind geeignet, Durchschaubarkeit der Tätigkeit zu demonstrieren. Nicht alle Möglichkeiten sind in der Lage, Hartmanns assoziationspsychologische Position zu entkräften. Denn es muß nicht immer der Gedankeninhalt sein, der uns dort hingelangen läßt. Vielleicht haben wir ja tatsächlich bloß assoziiert - vielleicht nur phasenweise. Wie aber sollen wir das verläßlich beurteilen, wenn wir keinen direkten Zugang zum Prozess selbst haben? Es macht einen Unterschied, ob der begriffliche Zusammenhang oder etwas anderes irgendwie unbewußt mein Erinnerungsvermögen aktiviert und ich diesen Vorgang erschließend aus dem Inhalt der Begriffe erkläre, oder ob ich den Denkprozeß vollständig in der Erfahrung vor mir habe, so daß eine unbewußte Erinnerungstätigkeit gar nicht mehr ins Spiel kommt. Die evidente Einsicht, »daß« ich angekommen bin gibt jedenfalls noch keinen sicheren Aufschluß darüber, »wie« ich angekommen bin. Aber was bedeutet "Denktätigkeit" bei Steiner? Der Ausdruck "tätiges Denken" oder "Selbstgebung" ist grob gesagt nicht viel mehr als eine black box, die sich mit allem möglichem Inhalt anfüllen läßt. Er ist wenig zielgenau, zu unscharf, als daß man ihm entnehmen könnte, wie die Tätigkeit im einzelnen abläuft. Er wird auch nicht viel treffsicherer wenn man ihn durch Zusatzprädikate spezifiziert und vom "reinen Denken" spricht. Damit wissen wir immer noch nicht, »wie« die Sache eigentlich vor sich geht, auch nicht durch Hinweise auf die Mathematik oder analytische Mechanik, denn die Denkvorgänge dort kennen wir ja auch nicht in den Einzelheiten. Aber gerade auf diesen Vorgang kommt es bei der Auseinandersetzung mit Hartmanns Unbewußtem an. Günter Röschert schreibt das Denken sei "intim bekannt ohne Beobachtung". 56 Diese Auffassung hinterläßt doch eine gewisse Ratlosigkeit und kann in dieser Globalität leicht fragwürdig werden. Sie gilt nämlich zunächst nur, wenn man die konkreten Denk-Wege außer Acht läßt und sich auf die idealen Wege der begrifflichen Beziehungen beschränkt. Für seine Inhalte mag diese Bekanntheit zutreffen. Aber für sein Tun ... ? Was wissen wir eigentlich von diesem Tun? Offenbar sind auch Steiners Ausführungen wenig dazu angetan, seine Bekanntheit wesentlich zu fördern, sonst wäre es kaum zu erklären, wieso ein anthroposophischer Interpret wie Kirn plötzlich den Feldherrn wechselt und unter Hartmanns Fahne streitet. Steiners Aussagen über das Denken bieten offenbar so wenig Hinweise auf konkrete Prozesse, daß er allen Ernstes zu dem Glauben kommen konnte, die Unbewußtheit des tätigen Denkens sei mit Steiners Ansicht kompatibel. Unsere logischen Denk-Wege vom Blitz zum Donner kennen wir, aber kennen wir auch die die faktischen? Rein hypothetisch ließe sich vermuten, daß sich darüber auch wenig aussagen läßt, weil das Tun selbst ein unbewußter Vorgang sei, der nur zu erschließen ist. Dies oder das muß geschehen sein, sonst wären die Inhalte des Bewußtseins und evidente Einsicht nicht vorhanden. Sein eigentliches »Wie« liegt im Dunkeln. Das entspräche der Position Eduard von Hartmanns. Im Nachhinein können wir zwar feststellen, daß und wie die Begriffe jeweils zusammenhängen und daß dieser Zusammenhang ein organisch-systematischer sein muß. Aber hervorkramen müssen wir sie erst einmal mit Hilfe des Gedächtnisses. Letztlich könnte es also so sein, daß ihre Aktualisierung selbst nur auf dem Wege der Erinnerung von Einzelvorstellungen erfolgt. Dann sind wir, mit Hartmann gesprochen, abhängig von der Tätigkeit eines Unbewußten, das uns die passenden Stücke zusammensucht. Häufig ist das auch so, das wird kaum jemand bestreiten. Der Streß von Prüfungen und Klausuren aller Art spricht da eine beredte Sprache. Interessant sind aber die Fälle, wo das nicht so ist. Und hier zeigt sich: Der strukturelle Zusammenhang der Begriffe ist ganz offensichtlich nicht nur ein logischer, sondern auch ein faktischer. Diese Beziehungen sind nicht nur eine theoretisch-deskriptive Größe der Bewußtseinsbeschreibung, sondern auch eine erlebbare, eine denkpsychologisch wirksame. Hartmanns Frage im obigen Disput, ob Steiner mit dem Begriff des Blitzes gleichzeitig den des Donners »gesehen« habe, ist sachlich nicht ganz abwegig. Es scheint eher die Regel zu sein. Was Eduard von Hartmann so entschieden betont, wenn er sagt: "Wäre das Bewußtsein der Auswählende, so müßte es ja das Auswählbare bei seinem eigenen Lichte besehen können, was es bekanntlich nicht kann, da nur das schon Ausgewählte aus der Nacht des Unbewußtseins hervortritt. Wenn also das Bewußtsein doch wählen sollte, so würde es im absolut Finstern tappen, könnte also unmöglich zweckmäßig wählen, sondern nur zufällig herausgreifen." 57 ist keineswegs allgemeingültig. Das Bewußtsein kann die Dinge bei seinem eigenen Lichte besehen und selbst auswählen. Es ist nicht ständig abhängig von einer unbewußten Instanz.
Top zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home
|